15. Schwierige Wahrheit

Obwohl ich es nicht wollte, löste ich mich aus seiner Umar-

mung. Der Versuch, mich von ihm frei zu machen, gefiel Ist-

van gar nicht. Er war noch viel zu besorgt um meine Sicher-

heit, als dass er mich einfach so gehen lassen wollte. Doch es

gab einen wichtigen Grund für mich, noch einmal zurück in

die Mühle zu gehen, auch wenn mir davor graute.

„Ich muss noch mal zurück, um etwas zu holen. Ich bin

auch vorsichtig, versprochen!“, versicherte ich ihm und lä-

chelte ihn dabei schwach an.

Obwohl er seinen Griff lockerte, folgte er mir auf dem

gesamten Weg, nur zwei Schritte hinter mir wachend. Als ich

den Raum wieder betrat, jetzt im Morgenlicht, konnte ich

kaum glauben, dass es sich dabei um denselben Ort handel-

te. Ich betrachtete den Ort meiner Gefangenschaft, an dem

so viele schreckliche Wahrheiten enthüllt worden waren, die

ich nun gezwungen war weiterzugeben. Von der Türschwelle

aus sah ich sofort, weshalb ich eigentlich gekommen war.

Das schwarze Notizbuch lag auf dem staubigen Kaminsims,

wo Farkas es unbeachtet zurückgelassen hatte. Für ihn hatte

es seinen Zweck erfüllt und besaß nun keinerlei Wert mehr,

außer dem schriftlichen Beweis, dass sein Sohn nicht das

Geringste mit seinem verkommenen Wesen gemein hatte.

Ich nahm es vom verdreckten Steinkamin, wischte es ab

und gab es Istvan, der es völlig überrascht entgegennahm.

„Was macht mein Buch ausgerechnet hier? Ich wusste

nicht mal, dass es weg war!“, stieß er verwundert hervor,

noch immer fest in seine Decke gehüllt.

„Ich werde es dir erklären. Ich werde dir alles erzählen,

aber nicht hier“, versprach ich und ging erleichtert aus der

Tür.

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Er folgte mir aufgeregt und beunruhigt durch meine An-

deutungen. Ich glaube, auch er wartete noch immer darauf,

dass ich endlich zusammenklappen würde, was völlig normal

gewesen wäre. Aber dazu war ich zu aufgekratzt und jetzt, da

Istvan sich bei mir befand, fühlte ich wieder diese geborgene

Sicherheit, die mir die Stärke verlieh weiterzumachen und

die mir hoffentlich auch den Mut gab, ihm die Wahrheit zu

sagen.

Schneller als ein Wimpernschlag hatte er mich eingeholt

und ging nun, seinen warmen Arm um meine Schultern ge-

legt, zusammen mit mir den Waldweg entlang, der zurück

zum Stausee führte.

„Wie konntest du mich eigentlich finden? Woher hast du

bloß gewusst, dass ich dich gebraucht habe?“, fragte ich ihn

und lehnte meinen müden Kopf dabei gegen seine Schulter.

„Ich war auf Patrouille und kam, wie üblich, an deinem

Haus vorbei, doch ich konnte keinen Herzschlag darin aus-

machen. Da bekam ich die erste Herzattacke. Ich konnte

mir nicht vorstellen, wo du mitten in der Nacht hingegangen

sein könntest. Als ich mich dann näherte, um mich umzu-

sehen, nahm ich die schwache Fährte eines fremden Man-

nes wahr. Sie war noch ganz frisch und es gab noch einen

anderen Geruch, den nach einem Betäubungsmittel. Da be-

kam ich dann Herzattacke Nummer zwei. Ich folgte der Spur

seines Wagens, die ich vor deiner Straßeneinfahrt gefunden

hatte. Sie führte mich zum See. Er hat den Wagen dort am

Anfang des Waldweges versteckt und dich bis zur Mühlen-

ruine getragen“, berichtete er mir und ich konnte jedes Mal,

wenn er das Wort Herzattacke aussprach, deutlich sehen,

wie panisch er gewesen sein musste.

„Woher kannst du wissen, dass er mich von da an getra-

gen hat?“, fragte ich verblüfft.

„Seine Fußabdrücke sind viel zu tief. Er muss etwas Schwe-

res getragen haben“, bemerkte er trocken und bitter. Vermut-

lich dachte er an das Bild des Mannes, meines Entführers,

von dem mir dämmerte, dass es nicht Farkas sein konnte.

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„Aha, ich verstehe. Aber das kann dann unmöglich Far-

kas selbst gewesen sein“, wandte ich nun, etwas verwundert

über diese Erkenntnis, ein.

„Nein, er musste sich vom Mondlicht ferngehalten ha-

ben. Dein eigentlicher Entführer war ein Mensch, das roch

ich schon an seiner Spur. Aber ich verstehe die ganze Sache

nicht. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass du Schreck-

liches nur wegen mir durchmachen musstest. Das ist das

Einzige, was Sinn ergibt“, sagte er vor sich hin und sah da-

bei bedrückt zu Boden. Er hatte nun wieder diese schuld-

bewusste Stimme, die mir Angst machte.

„Hör auf damit! Wenn du erst weißt, worum es geht, wirst

du sehen, dass es nur einen Mann gibt, der daran Schuld

hat, und der heißt Farkas, verstanden?“, warf ich ein und

machte klar, dass ich nicht bereit war, seine Selbstzerflei-

schungsattacken zu dulden.

Als wir am Ende des Weges ankamen, sahen wir, dass der

versteckte Wagen, den Istvan zuvor gesehen hatte, bereits

weg war. Er diente Farkas und seinem Helfer vermutlich als

Fluchtauto.

„Ich weiß, du hast dich bisher immer geweigert, von mir

getragen zu werden, auch wenn das viel schneller gegangen

wäre, aber ich kann dich nicht allein zurücklassen, um das

Auto zu holen. Das kannst du gleich vergessen. Also muss

ich dich tragen!“, sagte er und machte, schon allein durch

seinen festen Blick, klar, dass es zu diesem Thema keine Dis-

kussion geben würde.

„Na gut. Aber wir lassen das hier nicht zur Gewohnheit

werden. Ich bin schließlich ein großes Mädchen!“, merkte

ich an und hob meine Arme zum Zeichen des Einverständ-

nisses.

„Du kannst wohl immer Witze machen. Selbst nach einer

Nacht wie dieser“, sagte er und schüttelte verwundert den

Kopf. Dann nahm er mich in die sehr warmen Arme und

lief, als wäre der Teufel hinter uns her. Vorbei an der hin-

teren Seite des Sees zu einem Waldpfad, den ich gar nicht

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kannte. Er führte direkt von Rohnitz über die Forstwälder zu

dem Wald hinter meinem Haus. Während des ganzen Laufs

musste ich meine Arme ganz fest um seinen Hals schlin-

gen, um bei dieser Geschwindigkeit nicht hinunterzufallen.

Ich ließ auch größtenteils meine Augen geschlossen, da mir

von den vorüberziehenden Bäumen, den verschwommenen

Streifen von Braun und Grün nach meiner schlaflosen Nacht

ganz übel wurde. Er ließ mich erst dann wieder hinunter, als

wir schon in meinem Garten standen. Istvan hatte sorgsam

darauf geachtet, dass niemand uns zusah. Vor der Hinter-

tür des Wintergartens wurde mir wieder bewusst, was noch

vor mir lag, welche schwierigen Wahrheiten ich ihm noch

gestehen musste. Ich wurde von einer Minute zur anderen

ganz schweigsam und bedrückt. Natürlich nahm Istvan so-

fort Notiz davon. Er fragte mich aber nicht danach. Er ver-

mutete bestimmt, es hätte mit meinen Erlebnissen in der

Tal-Mühle zu tun, und wollte mich nicht ausfragen, ehe ich

selbst davon anfing.

Ich ging nun ohne ein weiteres Wort ins Haus, den

Schlüssel hatte ich noch immer im Parka, und ließ ihm

die Tür offen, damit er mir folgen konnte. Wir standen im

Wohnzimmer, wo wir noch nie zusammen gewesen waren,

und ich hatte gleich so ein unbestimmtes Gefühl, dass ich es

ihm hier niemals sagen könnte. Dieser Ort war viel zu sehr

mit Familienerinnerungen verbunden, um Enthüllungen von

solchen Schreckensgeschichten zuzulassen. Ich ging schnell

aus dem Zimmer, ohne Erklärung, warum ich plötzlich so ge-

hetzt und durcheinander war. Er ließ mir meinen Freiraum.

Ich konnte aber ständig seinen besorgten, prüfenden Blick

auf mir fühlen. Das machte alles noch schwieriger für mich.

Ich musste einen kurzen Augenblick allein sein, um wieder

zu mir zu finden, um ein paar Gedanken ordnen zu können.

„Macht es dir etwas aus, wenn ich dich kurz allein lasse?

Ich könnte sterben für ein paar frische Klamotten und ein paar

Spritzer kaltes Wasser“, fragte ich ihn und versuchte mich in

einem warmen Lächeln, das mir nur gezwungen gelang.

263

„Natürlich nicht. Ich warte in der Küche auf dich. Zieh

dich um und lass dir Zeit dabei. Kann ich mir ein paar Sa-

chen von deinem Bruder borgen? Ich werde diesmal be-

stimmt nicht weggehen!“, stellte er nochmals klar.

Ich nickte schwach und ging die Treppe zu meinem Zim-

mer hinauf. Jeder Schritt fiel mir schwer. Meine Füße schie-

nen aus Blei zu sein. In meinem Zimmer angekommen, fühlte

ich mich etwas wohler. Die vertraute Umgebung half tatsäch-

lich, zumindest etwas. Ich zog mir den Parka, den Pullover

und die Jeans aus, befreite mich von meiner Unterwäsche

und schlüpfte in ein neues Paar aus Slip und BH. Die erste

Jeans vom Stapel nahm ich mir und zog sie über. Auf dem ers-

ten griffbereiten Kleiderbügel sah ich ein hellblaues Hemd,

das ich mir dann auch gleich anzog. Ich war schnell fertig und

ging danach ins Bad. Ich schloss hinter mir ab, wieso, konnte

ich nicht genau sagen. Mit ein paar schnellen Handgriffen

wusch ich mir das Gesicht und bürstete meine zerzausten

Haare, ohne dabei auch nur einmal in den Spiegel zu sehen.

Ich war wenig darauf erpicht, mein Spiegelbild zu überprü-

fen und konnte mir sehr gut vorstellen, welches Bild sich mir

bieten würde. Bevor ich zurückging, zu ihm, setzte ich mich

noch eine Weile auf den Rand der Badewanne und atmete

mit geschlossenen Augen ein paar tiefe Züge, um mich etwas

zu beruhigen. In Gedanken ging ich die Punkte durch, die ich

Istvan wissen lassen musste, und überlegte mir, wie ich es in

Worte fassen könnte, dass Farkas sein Vater war. Doch jedes

Mal, wenn ich glaubte, eine halbwegs brauchbare Fassung

gefunden zu haben, blitzte ein Bild vor meinen Augen auf,

das mir den Wind aus den Segeln nahm. Es war das Bild von

Maria, wie sie von diesem Monster Farkas, seinem eigenem

Vater, umgebracht wird, und ich war wieder genau dort, wo

ich angefangen hatte, nämlich mutlos und unfähig, ihm alles

zu erzählen. Ich musste lange im Bad gewesen sein, denn

plötzlich hörte ich sein Klopfen an der Tür.

„Joe, ist alles in Ordnung da drin?“, fragte er und ich konn-

te hören, wie die Sorge seine schöne Stimme beeinflusste.

264

„Ja, ich komme gleich. Warte doch in meinem Zimmer,

ja?“

„Gut, aber du sagst mir doch, wenn du mich brauchst?“,

fragte er, noch immer voller Fürsorge für mich. Aber er konn-

te ja nicht ahnen, dass nicht ich es war, um die man sich jetzt

Sorgen machen musste.

Ich wartete, bis ich hörte, dass er in mein Zimmer gegan-

gen war, dann erst schloss ich auf. Mit zögerlichen Schritten

folgte ich ihm. Mein Zimmer, ansonsten ein sicherer Hafen

für mich, war plötzlich der letzte Ort, an dem ich sein wollte.

Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass er auf meinem Bett

saß. Ein verlorener Ausdruck verdunkelte seine schönen Ge-

sichtszüge. Istvan hatte eine Wasserflasche in der Hand. Er

drehte sich zu mir hin. Als ich seine Augen sah, konnte ich

nicht länger zögern und setzte mich zu ihm auf den Rand

meines Bettes. Er reichte mir die Flasche und meinte dazu:

„Du musst ja völlig ausgetrocknet sein. Bitte trink etwas!“,

befahl er mir beinahe und ich nahm einen gierigen Schluck,

der mich erst erkennen ließ, dass er damit recht hatte. Ich

wollte nicht gleich mit der Tür in Haus fallen und kehrte zu

einer altbekannten Methode im Umgang mit Istvan zurück

aus der Zeit, als wir nur Freunde waren. Ich fragte ihn aus,

während ich mir überlegte, wie ich meinerseits vorgehen

sollte.

„Wer könnte eigentlich dieser menschliche Helfer von

Farkas gewesen sein?“, fragte ich und versuchte, meinen

Tonfall so neutral wie möglich klingen zu lassen, um ihm

den Eindruck zu vermitteln, dass ich das Schlimmste bereits

verwunden hätte.

„Ich habe schon davon gehört, aber bis heute Nacht

dachte ich nicht, dass es tatsächlich wahr sein könnte. Als

Valentin mir damals in Rumänien das erste Mal von Farkas

erzählte, ging ein Gerücht um, er würde Menschen für nie-

dere Aufgaben benutzen, vor allem, wenn ihn seine Wolfs-

form dazu zwang“, erklärte er und versuchte nun seinerseits,

so unbestimmt wie möglich zu klingen.

265

„Und wer sind diese Menschen?“, bohrte ich weiter.

„Farkas selbst nennt sie seine geringeren Söhne. Angeb-

lich sind es tatsächlich seine Söhne, die er mit Menschen-

frauen gezeugt hat, die aber als reine Menschen geboren wur-

den. Er soll sie den Müttern weggenommen und ihnen von

den unglaublichen Kräften vorgeschwärmt haben, die auf sie

warteten, wenn sie bereit wären, sich zuerst als würdig zu er-

weisen. Dieser Bastard! Er zwingt diese Burschen, sich den

Biss zu verdienen. Kannst du dir das vorstellen, Joe?“, schrie

er mir fassungslos entgegen.

Ich konnte nur ertappt zu Boden sehen, denn nach allem,

was ich über Farkas wusste, konnte ich es mir leider nur allzu

gut vorstellen.

„Was ist, was hast du? Hat er dir etwas darüber erzählt?“,

fragte er erstaunt, als er meine Reaktion mitbekam.

„Istvan ich … ich weiß einfach nicht, wie ich es dir sagen

soll. Ja, er hat mir davon erzählt, dass er versucht, mit Frauen

Werwölfe zu zeugen. Das ist aber nicht alles, was er erzählt

hat.“ Diesen Satz vollendete ich und verstummte wieder. Ich

konnte es ihm einfach nicht sagen, nicht, wenn er mich so

besorgt ansah. Nicht, wenn ich dabei in seine grünen Augen,

die ich so sehr liebte, sehen musste. Er sah, dass ich in Be-

drängnis war, und versuchte, mir da herauszuhelfen. Istvan

legte mir besänftigend den Arm um die Schultern und blick-

te mir innig in die Augen, nicht wissend, dass er es mir damit

noch schwieriger machte.

„Gott, was hat er dir bloß angetan? Was wollte er von dir?

Woher wusste er von dir? Ich dachte, wir wären so vorsichtig.

Wie konnte ich so dumm sein, dich in Gefahr zu bringen? Wie

konnte ich nur zulassen, dass dich meine verkommene Welt

erreicht?“, stammelte er, sich selbst anklagend, unaufhaltsam

vor sich her. Ich musste nun schnell handeln, bevor er begann,

sich in seinem Selbsthass zu verlieren. Ich nahm sein Gesicht

in meine Hände und blickte ihn fest und entschlossen an.

„Es ist nicht deine Schuld, verstehst du? Es ist nicht

deine Schuld. Er ist es, er ganz alleine!“, deklarierte ich mit

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überzeugender Stimme. Doch am Ende meiner Feststellung

brach ich dennoch in Tränen aus, verursacht durch die Un-

ausweichlichkeit der schrecklichen Wahrheit.

Also erzählte ich alles von Anfang an. Ich erzählte von

meiner Entführung, von meiner Gefangennahme, von Far-

kas’ Gemeinheiten und Brutalität. Ich erzählte von seinem

perfiden Plan, davon, wie er über mich, über meine Zweifel

an Istvan herankommen wollte, ließ aber noch im Unklaren,

wer Farkas tatsächlich war. Ich berichtete von meiner Angst,

er könne mich verwandeln, von meiner Angst, Istvan zu ver-

lieren. Er hörte aufmerksam zu. Er versuchte es. Ich konnte

aber sehen, wie der Zorn in ihm immer größer wurde und

wie ihm jedes Mal, wenn ich von meiner Angst oder von der

Grobheit Farkas’ berichtete, fast das Herz stehen blieb. Als

ich eine Minute still war und er etwas Zeit zum Nachdenken

hatte, wurde er sich der Fehler und Auslassungen in meiner

Erzählung bewusst.

„Ich hatte bei Farkas von Anfang an so ein scheußliches

Gefühl. Aber ich verstehe nicht, wieso er so viel Aufwand auf

sich nimmt und ausgerechnet mich dazu zwingen will, sein

neuer Leitwolf zu werden. Wieso ich?“, fragte er völlig frust-

riert und ich spürte, dass er sich nicht um sich selbst grämte,

sondern dabei an mich, an uns dachte.

„Weil du …“, begann ich und verstummte sofort wieder.

Mein Herz pochte nun.

„Du hast Angst. Ich kann es deutlich hören. Wieso hast

du so große Angst? Doch nicht vor mir?“, fragte er mit aufge-

rissenen Augen. Er war aus seiner sitzenden Position hoch-

geschnellt und stand nun vor mir. Istvan blickte auf mich

herab, vor Furcht verdunkelte sich sein ganzes Wesen. Ich

sah nicht zu ihm auf. Ich konnte es nicht. Ich schloss die

Augen und sprach es aus, flüsternd:

„Weil er dein Vater ist!“

Es war totenstill. Im ganzen Zimmer schien sich nicht ein-

mal die Luft zu bewegen. Als ich endlich den Mut fand, die

Augen zu öffnen, entdeckte ich Istvan an der Wand gegen-

267

über. Er war in sich selbst zusammengesackt und lehnte mit

dem Rücken gegen die Wand. Er raufte sich die Haare. Seine

Finger waren verkrampft mit seinen Sandsträhnen bedeckt.

Sein Blick war leer, verletzt und auf den Boden geheftet. Er

wiederholte immer wieder, kaum hörbar.

„Nein. Das kann nicht sein. Das ist nicht möglich. Nein.“

Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Ihn in dieser

Verzweiflung zu wissen und nichts dagegen tun zu können,

war unerträglich. Vielleicht hätte ich es ihm nicht erzählen

sollen. Aber das war nur ein unerfüllbarer Wunschtraum. An

dieser Wahrheit führte kein Weg vorbei.

„Istvan“, sein Name klang nun aus meinem Mund wie ein

Klagelied.

„Es tut mir so leid. Ich wünschte, es wäre nicht wahr.

Aber es ist das, was er sagte. Er hat nicht gelogen. Er ist

dein … Er ist es wirklich.“

„Wieso bist du dir so sicher? Ich muss es wissen. Sag es

mir!“, befahl er mir in einem beinahe harten Ton.

„Ich kann nicht“, sagte ich ihm mit Tränen in den Augen

und in der Stimme.

Ich atmete lange ein und ließ die Wahrheit aus mir he-

rausströmen, um mich von ihr endlich zu befreien und ihn

damit im selben Moment zu belasten.

„Er hat mir erzählt, wie er dich gebissen hat, als du fünf-

zehn warst, und wie er dich davor gezeugt hat. Er hat deine

Mutter verführt und danach verlassen. Sie muss irgendwie

gemerkt haben, was er war. Als er sah, dass du als Mensch

geboren wurdest, zog er sich zurück. Er war aber besessen

von dem Gedanken, dich an seiner Seite haben zu müssen.

Also kam er wieder. Doch deine Mutter beschützte dich,

deshalb …“

Mir brach die Stimme weg. Er vollendete meinen Satz. Den

Satz mit der schmerzhaftesten Erkenntnis für Istvan, die ihn

noch mehr verletzte als die Tatsache, Farkas Sohn zu sein.

„Hat er sie getötet? Er hat sie mir weggenommen. Mein

eigener Vater. Und dann hat er mich zu diesem Ding ge-

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macht. Und jetzt wagt er es, zurückzukommen und die Frau,

die ich liebe, zu quälen.“ Er stand auf, tigerte im Zimmer hin

und her. Dann schrie er unerträglich laut:

„Bastard!“, und rammte dabei seine Faust gegen die Wand.

Der Verputz bekam sofort eine deutliche Delle von seinem

frustrierten Verzweiflungsschlag. Schreiend, mit Tränen in

den Augenwinkeln, sank er erneut zu Boden. Ich stürzte so-

fort zu ihm und umarmte ihn ungeschickt. Ich versuchte, ihn

mit meiner Umarmung zu halten, doch er fiel und fiel. Wer

könnte es ihm verdenken nach allem, was er erfahren und

ertragen musste. Sein Schmerz zerriss mich im Inneren. Ich

umarmte ihn weiterhin und er riss an meinem Hemd, um

sich festzuhalten. Ich weinte ebenfalls, für ihn, für uns. Ich

fühlte seinen Schmerz beinahe so deutlich, als wäre es mein

eigener. Es dauerte eine ganze Weile, dann erst beruhigte er

sich und umarmte mich fest und flüsterte mir ins Ohr:

„Es tut mir so leid. Verzeih mir, dass er dir das angetan

hat, meinetwegen. Bitte verzeih mir.“

„Es gibt nichts zu verzeihen. Du hast mich noch rechtzei-

tig gefunden und wir sind zusammen. Das ist alles, was zählt.

Wir finden einen Weg, damit klarzukommen“, versicherte ich

ihm und küsste ihn zärtlich auf die Wange und den Mund.

Istvan beruhigte sich etwas, doch ich konnte sehen, dass er

sich noch immer nicht verzeihen konnte.

„Hast du das Notizbuch noch?“, fragte ich ihn und merk-

te, dass ihn das völlig überrumpelte.

„Ja, es liegt in der Küche. Wieso?“, wollte er irritiert von

mir wissen.

„Du solltest es ab jetzt sehr gut verstecken. So, dass nur

noch du und ich Zugang dazu haben. Das war nämlich das

Schlimmste für mich. Zu sehen, wie Farkas aus dem Buch

vorgelesen hat und sich darüber lustig machte, es für seine

Zwecke ausnutzte.“

„Niemand wird je wieder eine Chance haben, es in die

Finger zu bekommen. Versprochen!“, beteuerte Istvan mir

und ich wusste, er würde schon dafür sorgen.

269

„Ich denke, dieser geringere Sohn ist es gewesen. Der

Mann, der auf deinem Dach war. Ich war mir zuerst sicher,

dass es Farkas gewesen sein musste, aber du hast ja gesagt,

es wäre ein Mann. Er kam vermutlich, um das Buch zurück-

zulegen, damit uns sein Fehlen nicht auffällt“, folgerte ich

nun zusammenfassend. Istvan stimmte meiner Annahme ni-

ckend zu.

„Istvan, was machen wir jetzt?“, fragte ich verunsichert

und hatte Angst vor seiner Antwort.

„Ich werde Serafina bitten, zu uns zu kommen, damit sie

auf dich aufpassen kann, während ich versuche, Farkas zur

Strecke zu bringen“, legte er kühl dar und die Klarheit seines

Vorhabens ließ mir das Blut zu Eis gefrieren.

„Bist du wahnsinnig? Das kannst du nicht machen. Das

ist genau, was er will. Er erwischt dich oder er schickt jeman-

den aus seinem Rudel, um mich zu holen und als Druck-

mittel zu missbrauchen. Der einzige Vorteil dieser Nacht

ist, dass ich durch seine Ausführungen einen, leider, ganz

guten Blick in seine kranken Gedankengänge erhalten habe.

Deshalb glaube mir, das wäre ein Fehler. Wir dürfen uns auf

keinen Fall trennen“, versuchte ich ihm klarzumachen. Die

Angst um ihn verstärkte meine Überzeugungskraft.

„Na gut, du hast mich überredet. Aber ich werde irgend-

etwas unternehmen müssen. Ich kann nicht zulassen, dass er

noch einmal eine Chance bekommt, in deine Nähe zu gelan-

gen. Ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass er dir das-

selbe antut wie meiner Mutter“, sagte er und blickte mich er-

schrocken über seine eigenen Worte mit gesenkten Lidern an.

„Er ist ein Monster, aber er ist auch clever. Er wird nicht

so dumm sein, sofort wiederzukommen. Du solltest nichts

überstürzen, nur weil du mich beschützen und sie rächen

willst, bitte!“, flehte ich ihn an.

„Vielleicht hast du ja recht. Allein hätte ich sowieso

schlechte Karten gegen seine Rudel, besonders wenn er „Die

Drei“ bei sich hat“, deutete er kryptisch an und schien ange-

strengt über sein weiteres Vorgehen nachzusinnen.

270

„Die Drei?“, fragte ich ahnungslos.

„Farkas hat ein sehr großes Rudel und neben ihm als Leit-

wolf kämpfen drei sehr starke Werwölfe, die als seine Krieger

fungieren. Er hat sie um ihre Position im Rudel kämpfen las-

sen. Sie mussten sogar Wölfe aus dem eigenen Rudel töten,

um sich ihre Führungsstellung zu verdienen. Sie sind sehr

gefährlich, alle drei. Ihre Namen sind Dimitri, Vladimir und

Jakov.

Dimitri und Vladimir sind Russen. Wobei Dimitri Weiß-

russe ist und auch so aussieht. Beide wurden von Farkas

gebissen, wann, weiß niemand genau. Jakov soll sein Sohn

sein. Sicher bin ich mir da nicht. Macht ihn das zu meinem

Halbbruder? Ein schrecklicher Gedanke. Vor allem wenn

man bedenkt, was „Die Drei“ in Farkas’ Namen schon für

Unheil in ganz Europa angerichtet haben. Sie sind gnaden-

lose Raubtiere. Der Gedanke, dass auch nur einer von ih-

nen, in Wolfsform oder auch nur als Mensch, in deine Nähe

kommt, bringt mich fast um“, gestand er mir zögerlich.

„Und wie finden wir heraus, ob Farkas allein hier ist oder

nicht und wo er sich befindet?“, wollte ich wissen

„Er kann nicht mit den dreien gekommen sein. Das hätte

ich auf meinen Patrouillen bemerkt. Wie gesagt, wir spüren

uns gegenseitig auf, sobald wir in unserer Wolfsform sind. In

meinem Revier waren keine anderen Werwolfspuren. Farkas

war schlau. Er hat für alles seinen geringeren Sohn geschickt.

Er selbst ist nur heute Nacht in Erscheinung getreten. So-

dass ich keine Möglichkeit hatte, ihn aufzuspüren.“ Die letz-

te Feststellung spie er voller Verachtung für Farkas aus.

Ich sank völlig erschöpf in mein Bett. Diese ganze Auf-

regung packte mich jetzt und auch die Schlaflosigkeit der

letzten Nacht zeigte Wirkung. Istvan kam an meine Seite

und deckte mich zu. Ich fasste automatisch im Halbschlaf

nach ihm und bat ihn zu bleiben. Er legte sich zu mir. So,

ganz nahe bei ihm, konnte ich die Gefahr, in der wir offen-

sichtlich schwebten, gar nicht wahrnehmen. Ich schlief nur

ein paar Minuten, bevor ich aus einem Albtraum erwachte,

271

an den ich mich nicht mehr erinnern konnte. Was mir auch

recht war. Es musste nach der letzten Nacht etwas sein, an

das ich mich nicht erinnern wollte.

Ich lag die ganze Zeit in seinen Armen und bemerkte jetzt,

dass Istvan angestrengt an die Decke starrte und voller Sorge

war. Das konnte man fast körperlich spüren. Ich konnte mir

seine düsteren Gedanken gar nicht vorstellen. Er musste ein

jahrzehntelanges Martyrium neu bewerten, jetzt, da er wuss-

te, wer für seinen Zustand verantwortlich war. Was für ein

Schlag es für Istvan gewesen sein musste, herauszufinden,

wessen Sohn er ist, war unmöglich nachzufühlen. Jemanden

wie Istvan, der sich für alles immer die Schuld und die Ver-

antwortung aufbürdete, traf es noch viel mehr, zu wissen,

dass sein Vater seine eigene Mutter getötet hatte, um an ihn

heranzukommen. Ich fühlte förmlich seine Angst davor, dass

sich dieser Teil seines Schicksals bei mir wiederholen könn-

te. Aber ich würde nicht zulassen, dass seine Sorge und seine

Schuldgefühle mich von ihm fernhielten. Ich liebte ihn zu

sehr, um ihn aufzugeben. Auch wenn ich Angst hatte und

die Gefahren, die er mir immer ins Gedächtnis rief, jetzt viel

deutlichere Konturen hatten, war ich noch immer bereit, für

ihn und für uns durchs Feuer zu gehen. Nichts sollte das je

ändern, dafür würde ich sorgen.

Er sah, dass ich nicht mehr schlief, und küsste mich zö-

gerlich.

„Worüber denkst du nach? Sei ehrlich, ich kann es ver-

kraften“, wies ich ihn an.

„Ich habe darüber nachgedacht, wie ich dich am besten

beschützen kann. Was mir die größten Sorgen macht, ist Far-

kas’ Bösartigkeit. Du musst wissen, im Grunde ist jeder Wolf

ein Hetzjäger. Er spielt nicht mit seiner Beute oder setzt auf

seine Kraft. Der Wolf ist ein perfekter Jäger und für nieman-

den trifft das so genau zu wie für Farkas. Unsereins hetzt sei-

ne Beute so lange, bis sie erschöpft zusammenbricht. So ist

es für die Werwölfe leicht, sie dann endgültig zur Strecke zu

bringen. Das macht mir die größten Sorgen. Ich habe Angst,

272

dass Farkas so lange keine Ruhe geben wird, bis er dich mir

weggenommen hat. Bis er bekommt, was er will. Das kann

und will ich nicht zulassen.“

„Du wirst einen Weg finden. Und jetzt, da wir es wissen,

sind wir im Vorteil. Farkas hat seine beste Waffe verloren,

das Überraschungsmoment“, erinnerte ich ihn.

„Das ist wahr. Und soweit ich weiß, jagt er nur in Wolfs-

form. Hat er vor, uns erneut anzugreifen, wird er auf den

nächsten Vollmondzyklus warten. So lange können wir uns

vorbereiten. Ich versuche, Serafina und die anderen Valen-

tins zu kontaktieren. Zusammen mit ihnen hätten wir eine

gute Chance. Aber bis dahin müssen wir vorsichtig sein“, er-

mahnte er mich nochmals.

Ich nickte zustimmend und schmiegte mich an seine

Brust. Ich hatte Angst vor dem, was noch vor uns lag, Angst

davor, ihm könne etwas passieren. Wie sollten wir fast

einen ganzen Monat überstehen, in dem wir nichts anderes

taten, als uns zu sorgen, was uns in der ersten Vollmond-

nacht erwarten würde? Ich konnte kaum glauben, dass wir

erst vor Kurzem so glücklich gewesen waren. Istvan hatte

endlich angefangen, sich zu entspannen und meine Nähe

zuzulassen. Wir hatten doch erst vor ein paar Wochen zu-

einandergefunden, waren ein Liebespaar geworden und sa-

hen uns nun mit diesen Hürden und Gefahren konfrontiert.

Istvans Vergangenheit schien ihn immer wieder einzuholen

und langsam konnte ich verstehen, wieso er ständig Angst

gehabt hatte, sich auf mich einzulassen, sich überhaupt ein

menschliches Leben einzurichten, wenn es ständig zu zer-

brechen drohte. Obwohl ich seine Wärme und Geborgen-

heit noch fühlte, spürte ich auch etwas anderes. Ich konnte

die dunklen Wolken sehen, die in Istvans Gedankenwelt

aufzogen und sein neu entdecktes Leben überschatteten.

Ich hatte Angst, sie könnten eine Gefahr für unsere noch

junge Liebe sein, und diese schrecklichen Wahrheiten aus

seiner Vergangenheit könnten unser Band, das wir gerade

erst geknüpft hatten, wieder zerreißen. Das Einzige, was ich

273

hoffen konnte, war, dass Istvan es nicht so weit kommen

lassen würde.

„Joe, an eines musst du dich gewöhnen“, deutete er an.

„Woran denn?“, fragte ich kleinlaut und sah zu ihm hoch.

Seine grünen Augen blickten mich ernst an. Mit seiner be-

sorgten, rauen Stimme ließ er mich wissen:

„Von nun an bin ich dein Schatten!“

274

16. Ruf nach Verbündeten

Istvan hatte es mir ja prophezeit. Aber es war dennoch schwer

für mich, mich daran zu gewöhnen. Er wurde tatsächlich

zu meinem Schatten. War ich zu Hause und arbeitete an

meinen Kritiken, blickte er mir über die Schulter. Nachts

überwachte er meinen Schlaf, ängstlich, ständig davor ban-

gend, dass ich doch noch Albträume von meiner Entführung

bekommen würde. Doch ich konnte gar keine Angstträume

haben, da ich meistens sowieso nicht einschlafen konnte.

Seine ständige Angespanntheit übertrug sich auf mich und

wühlte mein Inneres auf. Hatte ich einen Auftrag für das

Lokalblatt zu erledigen, folgte er mir tatsächlich im Camaro

und beobachtete jeden meiner Schritte durch die getönten

Scheiben hindurch. Es funktionierte überhaupt nicht. Sei-

ne Anwesenheit und Besorgnis führten dazu, dass ich mich

nicht konzentrieren konnte. Meine Interviewpartner muss-

ten mich für völlig zerstreut oder unprofessionell halten. Ich

stammelte die meisten Fragen und stellte manche mehrmals

wie ein grüner Anfänger. Es war unangenehm und, wie ich

fand, vollkommen überzogen. Ich war mir sicher, dass Far-

kas nicht so bald wiederkommen würde, und ich hatte nicht

vor, in der Zwischenzeit eine Gefangene in meinem eige-

nen Leben zu sein. Bereits nach vier Tagen wusste ich mit

Bestimmtheit, dass es so nicht weitergehen konnte. Wann

würde sich Serafina endlich melden? Er hatte ihr immerhin

schon vor Tagen die Botschaft im Internet hinterlassen.

Ich liebte Istvans Nähe ohne Zweifel, aber das hier hatte

nichts mehr mit Nähe zu tun. Es war eine 24-Stunden-Über-

wachung. Er konnte noch nicht mal die Ruhe finden, mich

zu küssen oder gar etwas mehr. Er fing an, sich wieder in sich

selbst zurückzuziehen. Für sich hatte er beschlossen, dass

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er keinen Vater hätte, nur eine Mutter. Er griff das Thema

seiner neu entdeckten Herkunft nicht wieder auf und an-

gesichts seiner Dauerbesorgtheit versuchte auch ich, diese

Reizthemen zu vermeiden. Ich bat ihn, immer mit meinem

sanftesten Tonfall, um etwas mehr Freiheiten. Keine Chan-

ce. Ich wünschte mir verzweifelt, endlich Nachricht von

Serafina zu erhalten, damit er wieder zu sich selbst finden

könnte und damit auch zu einem normalen Verhalten mir

gegenüber. In den Nächten dieser vier Tage hielt er mich

zwar in seinen Armen, aber niemals als Mann, der eine Frau

liebt, sondern als eine schuldbewusste, verlorene Seele, die

das Einzige beschützt, was ihr noch geblieben war. Ich hass-

te dieses Gefühl. Diese Schuld, die ihn zwang, sich von mir

fernzuhalten und mich damit jeder Berührung beraubte.

Am Ende des vierten Tages kam endlich Bewegung in

unseren kleinen Käfig. Wir waren gerade ins ehema lige

Pfarrhaus gekommen, nachdem er mich wieder mal auf

einen Außentermin begleitet hatte, da läutete sein Telefon.

Er stürmte sofort zum Hörer und hob ab.

„Hallo“, sagte er in der eindeutigen Hoffnung, Serafinas

Stimme am anderen Ende zu hören.

„Na endlich. Ich warte schon seit Tagen. Hast du es ge-

lesen? … Ja, ich fürchte, es ist wahr.“

Er schwieg lange und hörte angestrengt zu. Ich war mir

sicher, es musste Serafina sein, die jetzt mit ihm sprach.

„Ja, ihr alle … So schnell wie möglich. Ich schicke dir die

weiteren Details.“

Wieder eine ewig lange Pause. Und ich hatte keine Ah-

nung, was besprochen wurde, und lauschte gebannt der Stil-

le. Dann antwortete er hastig:

„Nein, sie ist nicht verletzt, aber … Natürlich passe ich

auf, aber ich brauche euch. Bitte Serafina. Ich würde nie

darum bitten, wenn ich es allein könnte. Ja, du auch. Bis

bald.“

Er legte den Hörer auf und wirkte zum ersten Mal seit

Tagen erleichtert und zuversichtlich. Sogar seine Hautfarbe

276

schien mir etwas gesünder. Er kam langsam auf mich zu, ich

saß gebannt auf der Ledercouch. Istvan setzte sich nun zu

mir und ließ sich auf die Rückenlehnen fallen, als wäre eine

schwere Last von ihm abgefallen. Er zog mich an seine Brust

und ich konnte seinen etwas ruhigeren Herzschlag hören,

der in den vergangenen Tagen ähnlich verrückt gespielt hat-

te, wie ich es eigentlich nur von meinem kannte. Ich musste

nun wissen, was Serafina ihm gesagt hatte, wie die Dinge

standen.

„Und, was hat sie gesagt?“, fragte ich ungeduldig.

„Sie wird kommen. Sie kommen alle. Serafina konnte zu-

erst nicht glauben, was ich ihr geschrieben habe. Sie macht

sich übrigens große Sorgen, dass dir etwas passieren könnte“,

ließ er mich wissen.

„Wieso sorgt sie sich derart um mich, wir kennen uns

doch kaum?“, fragte ich und war ganz verwundert über ihre,

anscheinend aufrichtige, Sorge.

„Die Valentins wissen leider so gut wie niemand sonst,

wie schwer es ist, Menschen vor unserer Welt und deren Ge-

fahren zu schützen. Ich habe dir doch erzählt, dass sie Men-

schen vor gewissen Übergriffen schützen. Außerdem weiß

Serafina genau, was du mir bedeutest“, erklärte er mir und

ich sah wieder diesen grünen, liebevollen Blick auf seinem

Gesicht, den ich schon so vermisst hatte.

„Oh, daran hätte ich denken können. Wann kommen sie

und wo wirst du sie eigentlich unterbringen?“, fragte ich Ist-

van und wurde mir des Platzproblems bewusst.

„Ich habe noch ein anderes Haus, einen Weinkeller auf

dem Rohnitzer Weinberg. Eigentlich benutze ich es nicht.

Ich brauche es nur, weil es eine Garage für den Camaro hat

und genug Platz für das Spezial-Archiv, das besser niemand

sehen sollte!“

Da also stellte er den Camaro ab. Ich hatte mich schon

die ganze Zeit gewundert, wo er den Wagen ließ, wenn er

nicht vor dem Haus oder der Bibliothek stand. Schließlich

hatte das Pfarrhaus weder eine Garage noch eine Einfahrt.

277

Das würde auch das Platzproblem lösen. Die Valentins wür-

den also dort schlafen. Gut. Ich könnte mir ohnehin nicht

vorstellen, wie es diese rumänischen Fremden schaffen soll-

ten, hier bei uns nicht aufzufallen.

„Und bis wann werden sie hier eintreffen?“, fragte ich

nochmals und konnte es kaum noch erwarten, endlich ein

paar Verbündete zu haben, die Istvan zur Seite standen.

„Morgen Abend sind sie bestimmt schon hier. Wir wer-

den dort auf sie warten.“ Die wiederentdeckte Zuversicht

war seiner Stimme deutlich anzuhören.

Also besorgten wir den gesamten nächsten Tag lang Vor-

räte für unsere besonderen Gäste. Wir konnten nicht zusam-

men zum Supermarkt. Die, immer noch geltende, Geheim-

haltung und die Ankunft der bevorstehenden Hilfstruppen

bewirkten, dass Istvan mich tatsächlich allein Besorgungen

machen ließ. Ein kleines Wunder. Wir teilten die Aufgaben

unter uns auf. Während ich genug Essen im Supermarkt

einkaufte und Decken in Wart besorgte, richtete Istvan den

Weinkeller für die Ankunft der Besucher her. Am späten

Nachmittag kam ich nach St. Hodas zurück und fuhr noch

schnell zu mir, um mich für die kommende Nacht umzu-

ziehen. Er wartete bereits im Inneren des Hauses. Ich hatte

zwar abgeschlossen, wollte jetzt jedoch nicht wissen, wie er

es dennoch ins Haus geschafft hatte. Er saß in der Küche

und trank ein Glas Wasser, als ich hereinkam. Er schien gu-

ter Dinge, was auch mich freute.

„Hi! Ich habe alles bekommen. Es ist alles bereit. Jetzt

müssen wir die Sachen nur noch zu dir schaffen“, erzählte ich

ihm schnell und küsste ihn zu Begrüßung auf die untere Wan-

ge. Seine Stoppeln kitzelten mich. Ich musste leicht lächeln.

„Gut zu wissen, danke. Wir werden dein Auto nehmen.

Ich habe den Camaro dort gelassen, falls wir zwei Wagen

brauchen. Mal sehen. Sag, soll das etwa ein Begrüßungskuss

gewesen sein?“, fragte er mich gespielt verärgert.

„Ja, wieso?“, spielte ich mit und ging einen Schritt auf

ihn zu.

278

„Deswegen“, flüsterte er und zog mich zu sich hinunter.

Seine warmen Lippen umschlossen meine und seine Hän-

de zogen am Kragen meiner Jacke. Sein Kuss wirkte stark.

Nach einer Woche Einschränkung in dieser Hinsicht wurde

mir wieder ganz heiß, so wie ganz am Anfang, und der alt-

bekannte, leichte Schwindel packte mich. Ich wäre beinahe

gestolpert, als er mich wieder losließ.

„Verzeihung. Ich werde mich ab sofort bemühen, dich

richtig zu begrüßen!“, scherzte ich und grinste zufrieden in

mich hinein.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, fuhren wir gemein-

sam in den Weinberg. Sein Haus war nicht leicht zu finden.

Man musste zuerst ganz Rohnitz durchqueren und dann die

schmalen Weinbergstraßen am Ende des Dorfes so lange hi-

nauffahren, bis man beinahe den Wald erreicht hatte. Dort

blieb man auf der Parallelstraße, und erst wenn man fast

schon die ungarische Seite des Weinberggebietes erreicht

hatte, führte eine 180-Grad-Kurve zurück in die entgegen-

gesetzte Richtung. Am Ende dieser kleinen Sackgasse stand

sein Weinkeller. Ein alter Steinkeller mit braunen Schindeln,

an den ein moderner, weißer Zubau angeschlossen war. Am

Ende des zweigeschossigen Zubaus befand sich die Garage.

Obwohl der Rohnitzer Weinberg sehr dicht besiedelt war,

stand sein Haus etwas ab vom Schuss allein da. Keine Nach-

barn zu haben, war in Istvans Fall unabdingbar, was Immo-

bilienkäufe betraf.

Er fuhr zur Garage und parkte meinen Wagen auf der

Seite davon. Er lächelte mich an und wartete, bis ich ausge-

stiegen war. Ich sah mir das Haus nochmals ganz genau an.

Der alte Steinkeller und der Neubau hatten eine auffäl lige

Gemeinsamkeit. Beide hatten ein dunkles Holzdach, fast

schon schwarz. Die spitzen Dächer waren allerdings unter-

schiedlich hoch. Ich kannte fast jeden Weinkeller in St. Ho-

das und Rohnitz, aber diesen hatte ich definitiv noch nie ge-

sehen. Von der Hauptstraße aus wäre ich sowieso überzeugt

279

gewesen, dass dieses Haus bereits jenseits der ungarischen

Grenze lag.

Istvan öffnete den Kofferraum und nahm sich beide Kis-

ten mit Lebensmitteln. Er deutete auf den neueren Zubau,

ich nahm mir ein paar der Decken und folgte ihm dahin. Vor

der Tür sagte er:

„Nimmst du bitte die Schlüssel aus meiner Tasche?“

Ich fasste in die Vordertasche seiner braunen Hose und

holte den Schlüssel hervor. Mit einem kleinen Kraftaufwand

gelang es mir, das leicht verzogene Schloss aufzuschließen.

Istvan trat vor mir ein und stellte die Kisten eilig im Vor-

raum ab. Das Licht war derart diffus, dass man kaum etwas

sah. Ich suchte nach dem Lichtschalter und fand ihn nach

einigen Fehlversuchen. Gleich neben dem kleinen Vorraum,

der kaum eingerichtet war, befand sich die Küche, eine not-

dürftig eingerichtete Spüle und eine alte Anrichte, auf der

eine Kochplatte und ein Wasserkocher standen. Am Ende

des Ganges kam man in einen einzigen großen Raum, in

dessen Mitte ein großer, runder Tisch mit sechs Holzstüh-

len stand. Auf der linken Seite befand sich eine Bar, eben-

falls aus hellem Holz. Auf der rechten Seite waren zwei gro-

ße Kommoden und ein Kasten. Istvan brachte die meisten

Sachen in die Küche und tat sie in den Kühlschrank. Die

Getränke verstaute er hinter der Bar. Ich stand mit meinen

Decken etwas eingeschüchtert im Raum, weil ich mir nicht

sicher war, ob ich mich hier einfach so frei bewegen konnte.

Die Erwähnung seines Geheimarchivs hatte diese Unsicher-

heit bei mir bewirkt. Gleich hinter mir war die Treppe zum

Dachausbau.

„Du kannst die Decken raufbringen. Das Schlafzimmer

und das Bad sind oben“, deutete er mir an und ließ mich

allein hinaufgehen.

Die Holzstiegen waren nicht besonders alt, dennoch

krächzten sie bei jedem meiner Schritte. Das Dachgeschoss

selbst war eigentlich ein einziges Schlafzimmer. Es standen

drei Schlafsofas um einen kleinen Tisch gruppiert, so, als

280

hätte er es bereits für eventuelle Besuche der Valentins ein-

gerichtet. Immerhin hatten exakt sechs Personen Platz zum

Schlafen und das entsprach genau der Größe des Valentin-

Rudels. Ich legte jeweils zwei Decken auf jedes Sofa und sah

mir das kleine Badezimmer am Ende des Raumes an. Eigent-

lich war es nur ein Abstellraum mit einer winzigen Dusche

und einem etwas größeren Waschbecken. Allerdings fragte ich

mich schon, wo ich mit Istvan bleiben sollte? Oder plante er

etwa, dass wir beide nicht die Nacht hier verbringen sollten?

Ich ging wieder die Treppe hinab und rief seinen Namen.

„Hier draußen“, hörte ich ihn vor dem Haus rufen. Ich

ging zurück zu meinem Auto und fand ihn, vergraben in wei-

teren Einkäufen, in den Kofferraum gebeugt.

„Sag mal, wo sollen eigentlich wir schlafen?“, fragte ich

etwas verwirrt.

„Keine Sorge, daran habe ich gedacht. Im alten Steinkeller

lagern noch zwei Feldbetten, die für uns reserviert sind. Hast

du eigentlich keine Probleme damit, die Nacht mit sieben

Werwölfen verbringen zu müssen, besonders nach dem, was

passiert ist?“, wollte er von mir wissen und fixierte mich prü-

fend. Ich spürte genau, dass er jetzt auf jede kleine Reaktion

meines Herzschlages und meines Atems achten würde, und

war bemüht, mich so selbstsicher wie möglich zu geben.

„Nein, natürlich nicht. Serafina ist deine Freundin und

nach allem, was du mir über Valentin und die anderen er-

zählt hast, wäre ich verrückt, irgendwo anders sein zu wollen

als in ihrer Nähe, besonders nach alledem!“

Ich denke, ich hatte es geschafft, ihm diese Sorge aus-

zutreiben. Zumindest eine, blieben noch neunundneunzig

andere Sorgen, von denen ich Istvan befreien musste.

Nach einer Stunde war alles Mitgebrachte verstaut und

wir versuchten, es uns etwas gemütlich zu machen. Ich

nahm mir einen der sechs Stühle und setzte mich an das

große Fenster, durch das man den ganzen Abhang des Wein-

gebietes überblicken konnte. Es wurde langsam kalt. Immer-

hin war es noch Februar, und auch wenn Istvan und seine

281

Freunde die Kälte nicht spürten, ich nahm sie überdeutlich

wahr. Als Istvan sah, dass ich mich in eine Decke gehüllt hat-

te, zündete er den Kamin an. Es dauerte nicht lange und es

breitete sich diese duftende, schwere Hitze eines Holzfeuers

im ganzen Raum aus. Istvan nahm sich ebenfalls einen Stuhl

und setzte sich zu mir. Wir starrten schweigend aus dem

Fenster. Er legte seinen Arm um mich und ich konnte füh-

len, wie die Hitze des Kamins und die Wärme seines Arms

mich müde machten und beinahe einschläferten.

Doch noch bevor ich meine Augen schließen konnte, fuhr

Istvan in seinem Sitz hoch, wie er es immer tat, wenn er ein

Geräusch gehört hatte, das noch nicht bis zu mir vorgedrun-

gen war.

„Sie kommt. Ihr Wagen ist bereits an der Kurve“, bemerk-

te er schnell und stürzte zum Eingang. Ich konnte ihm erst

folgen, nachdem ich mich von der Decke befreit hatte. Er

wartete am Hauseingang, und bis ich zu ihm getreten war,

kam auch schon der Wagen auf uns zu. Es war schon sehr

dunkel, also sah ich nur, dass es ein dunkler BMW war, der

sehr langsam auf uns zusteuerte. Er schien auch getönte

Scheiben zu haben, denn ich konnte nicht sehen, wer am

Steuer saß. Jemand ließ die Scheiben herunter und bald lä-

chelte uns Serafinas schönes Gesicht schwach an.

„Hallo! Schön, euch wiederzusehen, auch wenn ich mir

andere Umstände gewünscht hätte“, begrüßte uns die noch

immer umwerfend schöne Serafina.

„Hallo“, stammelte ich, etwas eingeschüchtert von ihrer

Gegenwart.

„Es ist auch schön, dich zu sehen. Kommen die anderen

nach?“, fragte Istvan und spielte damit auf Serafinas leere

Autositze an.

„Ich glaube, ich muss dir einiges erklären. Lass uns doch

erst hineingehen, ja?“, bat sie höflich, woraufhin Istvan zu-

stimmend nickte. Ich konnte aber ganz genau sehen, wie

wieder dieser sorgenvolle Blick auf sein Gesicht kam. Sera-

finas geheimnisvolle Andeutung gefiel ihm gar nicht. Auch

282

ich fürchtete schon schlimme Nachrichten. Noch ließ ich

mir nichts anmerken.

Wieder im Haus setzten wir uns alle an den runden Tisch.

Ich wollte nicht untätig herumsitzen und auf die Hiobsbot-

schaft warten und versuchte Gastgeberin zu spielen. Ich

schnappte mir drei Gläser von der Bar und schenkte jedem

von uns ein Glas Eistee ein. Serafina bedankte sich und trank

das halbe Glas in einem Zug. Es musste eine lange Fahrt ge-

wesen sein. Istvan schien wenig Geduld für Höflichkeit zu

haben, ganz anders als sonst.

„Was soll das? Wieso bist du allein gekommen? Wir hat-

ten doch am Telefon alles besprochen“, stammelte Istvan

sichtlich genervt hervor und bestand auf einer klärenden

Antwort.

„Beruhige dich, Istvan. Es ist nicht so schlimm, wie es für

dich vielleicht aussieht“, versicherte Serafina ihm und legte

ihre Hand auf seine. Er zog sie sofort weg. Auch wenn ich

wusste, dass es nur eine freundschaftliche Geste war, konnte

ich sofort den Stachel der Eifersucht fühlen.

„Wie kann ich mich beruhigen? Sie könnte jeden Mo-

ment in Lebensgefahr geraten, schon wieder!“, schrie er und

deutete dabei auf mich, das menschliche Problem. Serafina

sprach weiter in diesem sanften, ruhigen Ton. Nichts schien

sie aus der Ruhe bringen zu können. Es war beeindruckend.

„Ich will doch auch nicht, dass ihr wieder etwas passiert.

Aber ich habe, sofort als ich deine Nachricht gelesen hatte,

unser Rudel ausgeschickt, um uns der Sache anzunehmen.

Nur deshalb hab ich mich so spät bei dir gemeldet. Ich habe

von ihnen erst wieder nach unserem Telefonat gehört. Ich

weiß, wir hatten abgemacht, alle zu kommen, doch die Lage

hat sich verändert, Istvan!“, stellte sie klar und schien noch

immer die Ruhe selbst.

„Wie meinst du das? Was hat sich verändert?“, fragte er

völlig verwirrt.

„Woltan hat sich aufgemacht, um Farkas’ Spur aufzuneh-

men, was ihm auch gelang. Er hat sich vom Günser Gebirge

283

entfernt. Über die ungarische Seite ist er über die Slowakei

zurück nach Polen, wo er sich wieder mit seinem Rudel ver-

eint hat. Woltan ist dort auf die anderen von uns getroffen,

die den Auftrag hatten, das Farkas-Rudel zu finden. Er und

seine Werwölfe verstecken sich dort in den polnischen Teilen

der Karpaten. Farkas ist seither nicht von dort weggegangen

und einer von uns beobachtet jeden seiner Schritte. Sollte

er sich in unsere Richtung aufmachen, hat Woltan von Vater

die Anweisung erhalten, uns sofort eine Nachricht zu sen-

den“, versicherte sie uns und zog eines dieser hypermoder-

nen Handys aus der Tasche, die eigentlich schon mehr Com-

puter als Mobiltelefone sind. Nach dieser Botschaft atmete

Istvan auf. Farkas mehrere Hundert Kilometer weit weg zu

wissen, erleichterte ihn ungemein. Doch bald fiel ihm etwas

Neues ein, was ihn besorgt machte.

„Was ist mit Dimitri, Jakov und Vladimir? Sind sie auch

bei ihm?“

„Ja, das ganze Rudel ist versammelt. Es scheint eine ihrer

Basisstationen zu sein. Es gibt noch sehr viel Wild in diesen

Teilen der Karpaten. Das hält sie dort, du verstehst?“, bemerk-

te sie kryptisch, vermutlich um mich zu schonen, was ich et-

was lächerlich fand. Ich ließ es mir aber nicht anmerken.

„Gut. Aber wie kann ich mir sicher sein, dass er nicht

zurückkommt. Schließlich hat er nicht bekommen, was er

wollte, und ihr könnt ihn nicht ewig beobachten“, merkte

Istvan an und versuchte, alle möglichen Gefahrenquellen zu

bedenken.

„Du unterschätzt uns gewaltig, Istvan. Wir beobachten

ihn, rund um die Uhr. Wir lösen uns alle zwei Wochen ab

und jeder von uns trägt ständig sein Handy mit herum. Ich

habe mir eine Art Vorwarnsystem ausgedacht“, sagte sie und

konnte den Stolz dabei nicht ganz verbergen.

„Was für ein System denn?“, fragte ich Serafina, ganz be-

geistert von den Möglichkeiten ihrer Andeutungen.

„Jeder von uns trägt ein Handy bei sich, wenn er auf Farkas-

Überwachung ist, das man mit GPS orten kann. Sollte Farkas

284

oder auch nur einer der „Drei“ sich irgendwie eurem Standort

nähern, schickt derjenige sofort eine Nachricht mit seinem

Standort an das ganze Rudel und an euch weiter“, erklärte sie

und zog dabei ein zweites Handy aus der Tasche, das sie an

Istvan weiterreichte. Er nahm es an und wir sahen beide, dass

es dasselbe Modell wie Serafinas war. Auf dem Bildschirm sah

man eine Karte, auf der ein gelber Punkt blinkte.

„Der gelbe Punkt ist übrigens Woltan. Er ist gerade dran“,

bemerkte sie, auf den Bildschirm tippend, und lächelte.

Istvan schien noch nicht ganz überzeugt von ihrem Plan

zu sein und ich warf Serafina einen flehenden Blick zu, den

sie sofort verstand. Ich hoffte, zusammen mit ihr, Istvan von

der Notwendigkeit ihres Vorgehens zu überzeugen.

„Serafina, ich bin dir, euch allen, sehr dankbar für euren

Einsatz. Aber mal im Ernst, wieso dieses Hin und Her? Wir

sollten ihn direkt angreifen. Zusammen haben wir eine gute

Chance. Wieso dieses unnötige Risiko eingehen?“, fragte er

sie eindringlich, wobei ich immer wieder bemerkte, wie sein

Blick in meine Richtung streifte.

„Istvan, du weißt, dass ich ohne seine Zustimmung nicht

eingreifen darf, und damit würde er, so wie die Dinge liegen,

niemals einverstanden sein. Du kennst doch meinen Vater.

Er schickt seine Familie nur dann in einen Kampf, wenn es

unbedingt sein muss. Und gegen das Farkas-Rudel braucht

er schon einen weiteren Anlass. Würde es nach mir gehen,

könnte ich entscheiden, würde ich diesen Bastard lieber heu-

te als morgen zur Rechenschaft ziehen. Nach allem, was er

sich mit dir, mit euch, geleistet hat!“, stellte sie aufgebracht

fest und ich konnte die Entschlossenheit in ihren dunkel-

braunen Augen funkeln sehen.

„Danke. Du bist eine wahre Freundin. Ich hätte mir aber

denken können, dass Valentin nicht bereit ist, euch in einen

Kampf mit dem Farkas-Rudel zu schicken. Mein alter Freund

liebt seine Familie genauso sehr wie ich meine“, beteuerte

Istvan und legte seinen Arm um meine Schultern, während

er seine andere Hand auf Serafinas Unterarm platzierte.

285

„Dann haben wir also einen Plan“, fasste ich zusammen

und schloss erleichtert die müden Augen.

„Ja, den haben wir und er wird funktionieren. Das Ein-

zige, worauf ihr achten müsst, sind die Vollmondnächte. Wir

können unsere Handys dann nicht bei uns behalten, also

solltest du in diesen Nächten in Istvans Nähe bleiben. Ein-

verstanden?“, wollte sie von mir wissen.

„Abgemacht“, versicherte ich ihr und blickte auch zu-

versichtlich in Istvans grüne Augen. „Du bleibst doch heute

Nacht? Wir haben Vorräte für ein Dutzend hungriger Wer-

wölfe!“, bat ich sie mit einem breiten Lächeln.

„Du hast mir nie gesagt, wie witzig sie ist!“, schalt sie jetzt

Istvan freundschaftlich.

„Es gibt vieles, was du nicht über sie weißt“, deutete er

schmunzelnd an und hatte dabei dieses zweideutige Grinsen,

von dem ich schon dachte, er hätte es für immer verloren.

Ich machte uns einen Salat und ein paar Brote. Wir aßen

und Serafina erzählte Istvan alle Neuigkeiten aus ihrer Welt

und von zu Hause. Woltan schien sich wieder verliebt zu ha-

ben, wieder in eine Menschenfrau. Er überlegte, es ihr bald zu

sagen. Sein Vater war natürlich wenig begeistert, konnte aber

den Wunsch seines Sohnes verstehen. Serafina versprach mir

zu berichten, sobald sie selbst wüsste, ob er den Mut dazu ha-

ben würde. Als es fast Mitternacht war, wurde ich hundemü-

de und ging zu Bett. Istvan und Serafina plauderten noch ein

oder zwei Stunden lang. Ich vermutete, Istvan wollte ihr alle

Details der vergangenen Tage berichten, und war mir sicher,

es wäre besser, wenn ich dann nicht im selben Raum wäre.

Ich hatte schon tief und fest geschlafen, auf einem der

ausgezogenen Schlafsofas, als mich Istvans Anwesenheit

weckte.

„Hey, wo ist Serafina?“, wollte ich, mit vom Schlaf beleg-

ter Stimme, wissen.

„Sie wollte lieber unten auf einem der Feldbetten schla-

fen. Sie möchte uns unsere Privatsphäre lassen“, gestand er

zögerlich und leicht schmunzelnd.

286

„Nett von ihr, aber sie kann dennoch jedes Wort und je-

des noch so kleine Geräusch von hier hören!“, bemerkte ich

etwas peinlich berührt.

„Es ist der Gedanke, der zählt!“

Ich nickte und winkte ihm mit einem Finger, zu mir zu

kommen. Er folgte meinem Ruf und legte sich an meine Sei-

te. Ich konnte nicht einmal richtig die Augen offen halten,

so schwer waren sie schon von dem Schlaf zuvor. Doch jetzt

suchte ich dennoch, mit geschlossenen Augen, nach seinem

Mund. Sobald ich seine weichen Lippen an meiner Wange

fühlen konnte, presste ich meinen Mund auf seinen und leg-

te mich mit der Schwere meines ganzen Körpers auf ihn. Als

ich mich wieder etwas von ihm entfernt hatte, fragte ich ihn:

„Also darf ich jetzt wieder eine Frau sein und wie eine

Frau handeln?“

Mein leicht provokanter Ton passte so gar nicht zum The-

ma des heutigen Abends. Und obwohl ich wusste, Serafina

würde unten vermutlich alles mithören und dass er noch

immer sehr besorgt war, wollte ich ihn dennoch verführen,

wenigstens ein bisschen. Ich gab der langen Abstinenz die

Schuld an meiner jetzigen Dreistigkeit. Aber ich gierte nach

seiner Nähe, lauschende Werwölfin hin oder her.

„Vielleicht sollte ich es ja nicht erwähnen, aber Serafina

trägt heute Nacht Ohrstöpsel. Ihre Idee, nicht meine. Ich

würde mir nie anmaßen, etwas in dieser Art zu erwarten“, de-

klarierte er etwas schwülstig und ich wusste, das Verspielte

war in Istvan wieder erwacht.

„Das ist eine interessante Information und eine unerwar-

tete Wendung“, scherzte ich weiter und versuchte, meine

Stimme etwas tiefer klingen zu lassen, weil ich wusste, dass

ihm das gefiel.

Auch wenn wir in dieser Nacht nicht miteinander schlie-

fen, war es dennoch eine Nacht, in der wir zum ersten Mal

seit Langem frei atmen konnten. Endlich konnten wir uns

wieder berühren und küssen, ohne dieses ständige Damokles-

schwert über uns zu haben.

287

Am nächsten Morgen weckte er mich sehr früh, damit

ich mich noch von Serafina verabschieden konnte. Sie um-

armte mich und ich bekam, genau wie bei der letzten Ver-

abschiedung, wieder dieses Gefühl, sie bald wiederzusehen.

Nur war diese Vorstellung jetzt ungemein beruhigend. Bevor

sie sich in ihren Wagen setzte, gab es einen kurzen Moment,

in dem wir ganz unter uns waren. Ich hatte endlich Gelegen-

heit, mich zu bedanken.

„Serafina. Ich danke dir für alles. Du hast ihn mir zu-

rückgebracht. Ich dachte schon, er würde noch den Verstand

verlieren. Danke tausendmal und richte auch deiner Familie

meinen Dank aus, ja? Ich kann wohl nie gutmachen, was ihr

für uns auf euch nehmt!“, stellte ich traurig fest.

„Doch, das tust du bereits. Du hast einen von uns ge-

rettet, auch wenn du dir dessen noch nicht ganz bewusst

bist. Aber wir tun das gerne. Es gehört zu unserer Aufgabe

im Leben. Aber das kannst du nicht verstehen“, deutete sie

mir gegenüber an und umarmte mich nochmals, bevor sie

in den Wagen stieg. Istvan kam aus dem Haus, um sich zu

verabschieden.

„Komm gut nach Hause. Pass auf dich auf! Ihr alle, achtet

gut auf euch, ja?“ Er küsste sie brüderlich auf die Wange und

zum ersten Mal war ich nicht eifersüchtig auf sie trotz ihres

atemberaubenden Äußeren.

„Wir bleiben in Kontakt“, waren ihre letzten Worte, ehe

sie davonfuhr. Und ich wusste, dass sie sich wieder melden

würde, und dieses Mal freute ich mich richtig darauf. Ir-

gendwie, ohne es bewusst zu merken, wurde sie für mich

eine Freundin. Vielleicht weil sie mir ein unglaubliches Ge-

schenk gemacht hatte. Sie gab mir wieder Luft zum Atmen

und Istvan eine Art von Seelenfrieden, bis zu einem gewissen

Grad, der es ihm wieder erlaubte, ein Mann zu sein statt ein

Beschützer oder ein von Rache besessener Wolf.

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