Kapitel 32

Die Basis

Nach vierzehn Stunden unentwegter Hast waren die beiden am Ende ihrer Kräfte, die ständige Konzentration zerrte an ihren Nerven. Die Fahrt mit den Motorschlitten war anstrengender, als sie gedacht hatten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihren ausgelaugten Körpern eine Rast zu gönnen.

Sie bauten zuerst das Zelt auf und machten dann den Gaskocher an, um sich Tee und etwas zu essen zuzubereiten. Grace setzte dem geschmolzenen Schnee im Topf eine Mineralstofftablette und das Instantpulver zu, das außer einer Kräutermischung auch Glucose und Vitamine enthielt.

In dieser Umgebung enorm wichtig, um körperlich fit zu bleiben. Das heiße Getränk brachte schnell wohltuende Wärme in ihre ausgekühlten Körper. Besonders Grace machten die mörderischen Temperaturen zu schaffen. Der stetige, eisige Wind, der ihr unaufhörlich Energie raubte in dieser feindlichen Umgebung.

Nach dem Essen schlüpften sie in ihre Schlafsäcke, um ein paar Stunden auszuruhen.

Vierzehn Uhr, am Tag nach der Abfahrt vom Anlegeplatz.

Grace fuhr erschrocken nach oben, rüttelte Willy wach.

„Was ist?“, fragte er schlaftrunken, sah sie blinzelnd an.

„Ich habe etwas gehört!“

„Wie? Was gehört?“

Grace schlüpfte aus dem Schlafsack und öffnete den Reißverschluss des Zeltes. Sie kroch hinaus und spähte in alle Richtungen.

Willy folgte ihr. „Jetzt sag schon!“

„Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört. Einen Motor, Flugzeuge, was weiß ich.“

Willy sah sich um, konnte nichts Verdächtiges erkennen. „Du musst geträumt haben!“

„Kann sein“, kam es zögerlich über ihre Lippen, während sie weiterhin die Umgebung musterte. Sie setzte ihre Schneebrille auf und machte den Reißverschluss des Anoraks zu. „Scheiß Kälte! Wie lange haben wir geschlafen?“

Willy schob den Ärmel zurück, machte das Display an, das immer nach zehn Sekunden automatisch erlosch, um Strom zu sparen. „14:23 Uhr, gut sechs Stunden.“

„Das muss reichen, wir fahren weiter! Wie weit ist es noch bis zur Basis?“

„Nicht ganz hundert Meilen, etwa ein Drittel der Strecke.“

„Dann liegen wir gut in der Zeit. Hoffentlich kommt uns nichts dazwischen.“

„Ja, hoffentlich! Wenn wir unsere Durchschnittsgeschwindigkeit halten können, sind wir in sechs Stunden beim Ringgebirge.“

„Ich kann es kaum noch erwarten.“

Willy nickte. Sie bauten das Zelt ab und verstauten es im Schlitten.

Dann tranken sie den Rest des Tees, der in der Thermoskanne nur wenig von seiner Temperatur eingebüßt hatte. Als ihre Gefährte aufgetankt waren, machten sie sich wieder auf den Weg. Was würde sie am Ort des Verweilens erwarten? Waren am Ende ihre Gegner schneller als sie? Die Neugier auf das Unbekannte stieg unaufhörlich.

Wie gehofft kamen die beiden innerhalb der berechneten Zeit an das ersehnte Ziel. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, ließ sie nach all den leidvollen Erfahrungen der letzten Tage wieder neue Hoffnung schöpfen. In der Ferne erhoben sich erste Felsspitzen aus der strahlend weißen Schneedecke, die sich mit zunehmender Annäherung immer weiter in die Breite zogen. Der Kreis aus unterschiedlich hohen Felsen maß etwa vier Meilen im Durchmesser. Die beiden hielten auf einen schmalen Pass zu, der den Weg ins Innere des Gebirges freigab. Er lag exakt bei den Koordinaten, die auf der alten deutschen Karte vermerkt waren.

Nach wenigen Minuten hatten sie es geschafft, ließen die ersten Erhebungen hinter sich. Willy hielt direkt auf die Mitte des Areals zu, blickte aufgeregt immer wieder nach hinten zu Grace. Ein Alptraum ging zu Ende. Die ganzen Strapazen, die Gefahren, die schwierige Entschlüsselung der Zeichen, alles fiel von ihnen ab und wurde ersetzt durch ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Endlich waren sie am Ziel.

Willy reduzierte die Geschwindigkeit, blieb nach einer Weile stehen. Er holte das Fernglas aus dem Gepäck, stellte sich auf den Sitz des Motorschlittens und suchte die Umgebung nach Auffälligkeiten ab.

Grace stand neben ihm, blickte ihn nervös an. „Und? Siehst du schon was?“

Willy schüttelte den Kopf. „Nichts! Nichts, was aus dem Schnee ragen würde. Verdammt!“

Er sah zu Grace. „Gibst du mir bitte mal das Foto?“

„Du meinst das von Sergeant Havering?“

„Genau das!“

Grace entfernte die Schutzplane über dem Schlitten und öffnete Jacks Fototasche. Sie holte das Bild heraus und reichte es Willy.

„Danke.“ Er hielt es mit ausgestrecktem Arm gegen das Gebirge im Hintergrund, drehte sich langsam. Plötzlich stoppte er. „Das ist es! Dieselbe Formation wie auf dem Foto. Sie müssen also von da aus angeflogen sein.“ Dabei zeigte er direkt nach hinten. „Die Entfernung dürfte meines Erachtens auch zutreffen. Die Basis muss hier ganz in der Nähe sein!“

„Wahrscheinlich über die ganzen Jahre hinweg wieder zugeschneit“, meinte Grace, „wie der Sergeant schon erwähnte. Aber sie muss hier irgendwo sein, das steht fest! Alles, was wir herausgefunden haben, passt perfekt zusammen. Wir haben bestimmt keinen Fehler gemacht!“

„Mit Sicherheit nicht. Das Foto ist der beste Beweis dafür. Wir müssen nur weitersuchen!“

Sie starteten wieder ihre Motorschlitten, fuhren im Schritttempo auf die Mitte des Ringgebirges zu. Willy sah immer wieder auf das Display, bis er nach einer Weile seine Hand erhob und stoppte. Er blickte über seine Schulter.

„Laut Anzeige am Navigationsgerät befinden wir uns jetzt genau in der Mitte des Ringgebirges.“

Die beiden stiegen von ihren Fahrzeugen und musterten die Gegend rund um ihren Standort.

„Da!“, rief Willy plötzlich, zeigte dabei auf einen nicht weit entfernten, dunklen Fleck. „Was ist das? Eine Vertiefung?“

„Komm, lass uns nachsehen!“, antwortete Grace und marschierte sofort darauf zu. Doch sie war noch nicht weit entfernt, als der Boden unter ihren Füßen zu knacken begann. Sie blieb sofort stehen, regte sich nicht mehr.

„Beweg dich nicht!“, schrie Willy ihr entgegen, so laut er konnte. Das Wissen um tiefe Spalten, die sich manchmal unter der Schneedecke verbargen, jagte ihm gehörige Angst ein. Er eilte zum Schlitten, löste die Haltegurte und griff sich die Aluminiumschiene. Dann rannte er, so schnell er konnte, zu Grace. Er legte die Rampe auf den Boden und schob sie ihr langsam entgegen. Doch die Aktion war umsonst, Grace bekam sie nicht mehr zu fassen. Die Schneedecke gab in kurzen, ruckartigen Bewegungen weiter nach.

„Leg dich sofort hin, ganz flach!“, rief Willy ihr in Panik zu.

Sie wollte seinem Rat folgen und bückte sich, als sie mit dem lauten Geräusch brechenden Eises unter der weißen Decke verschwand.

„GRACE!“, schrie Willy aus Leibeskräften. Er hatte die schlimmsten Befürchtungen, wollte ihr sofort zu Hilfe kommen. Doch die Vernunft hielt ihn zurück. Er holte ein Seil aus seinem Gepäck, befestigte ein Ende am

Motorschlitten und näherte sich vorsichtig der Bruchstelle. Dabei ließ er das Tau langsam durch seine Handschuhe gleiten. Immer darauf bedacht, kein unnötiges Risiko einzugehen. Was war mit Grace geschehen? War sie verletzt? Oder gar noch schlimmer, tot? Ein befremdlicher Gedanke, der ihm ungeheure Angst einjagte.

Kurz vor der Bruchkante. Ein lautes Knacken. Auch er verlor den Boden unter den Füßen, sauste in die Tiefe. Er konnte das Seil durch die dicken Handschuhe nicht richtig greifen, fast ohne Halt glitt es durch seine Hände.

Polternd schrammte er eine steil abfallende Schneewand entlang, bis er in weichem Matsch landete. Zum Glück überstand er die Tortur ohne Verletzungen. Nur die Handschuhe hatten sich durch die Reibung stark erhitzt. Er riss sie von seinen Fingern, kühlte seine Hände im Schnee.

Es war sehr dämmrig, nur wenige Lichtstrahlen drangen von oben durch das Loch. Schlagartig kehrten seine Gedanken zurück. Wo war Grace? Sie konnte nicht weit von ihm entfernt sein. Hektisch begann er im Schneehaufen zu graben. Plötzlich spürte er etwas, grub weiter. Ein Handschuh. Grace! Der Arm von Grace. Wie von Sinnen räumte er die tödliche Last beiseite. Er keuchte vor Anstrengung, rief immer wieder ihren Namen.

Grace bewegte sich, konnte sich mit Willys Hilfe aus ihrer misslichen Lage befreien. Sie schnappte nach Luft, blieb zunächst völlig entkräftet liegen.

Willy war bestürzt. „Bist du verletzt?“

Grace atmete schnell, wischte den nassen Schnee aus ihrem Gesicht. „Ich glaube nicht, aber ich wäre fast erstickt in diesem verfluchten Matsch.“ Sie blickte nach oben. „Das ist alles nachgerutscht, als ich schon hier unten lag.“

Willy half ihr auf die Beine, doch dann fuhr ihm plötzlich ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Die Elektronik in seinem Rucksack! Der Sturz! Funktionierte noch alles? Hektisch schob er den Ärmel seiner Jacke zurück und machte das Display an. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als die aktuellen Daten darauf erschienen. „Glück gehabt“, sagte er und schaute sich dann um, wo sie sich überhaupt befanden. Was er erblickte, raubte ihm den Atem. Mit großen Augen, den Mund weit aufgerissen, starrte er auf das riesige Gebilde, das in unmittelbarer Nähe langsam Gestalt annahm. Schemenhaft. Mächtig. Mit unbändiger Neugier ging er wortlos, fast mechanisch Schritt für Schritt darauf zu.

Nichts hätte ihn in diesem Augenblick dazu bewegen können, seinen Blick abzuwenden.

Grace bekam zunächst nichts mit, suchte verzweifelt nach ihrer Brille. Schließlich fand sie sie im Matsch, öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und rieb die Gläser mit ihrem Pullover trocken. Sie setzte sie auf, wollte ihre Jacke wieder zumachen. Doch zu ihrer Verwunderung verspürte sie eine angenehme Wärme, was ihr zuvor in der ganzen Aufregung gar nicht aufgefallen war. „Wo sind wir hier?“, brachte sie gerade noch über ihre Lippen, als sie, nach Willy suchend, in seine Richtung sah. Sie stand auf, erkannte den Grund seines Schweigens. Genau wie er, wurde sie von der Silhouette eines gigantischen Gebildes überwältigt. Mit kleinen Schritten folgte sie ihm, ihr Blick haftete an dem Objekt. Sie blieb neben ihm stehen.

Nie zuvor in ihrem Leben waren so viele Gedanken gleichzeitig durch ihren Kopf geschwirrt. Sie hatten ihr Ziel erreicht. „Wow!“ Ein kurzer Blick zu Willy. „Die Basis!“

Willy nickte fast unmerklich, der Anblick dieses Objekts aus einer anderen Welt raubte ihm für einen Moment die Sprache. Die Aufregung ließ sein Herz rasen.

„Spürst du die Wärme? Woher kommt die?“, fragte Grace.

Achselzuckend setzte sich Willy in Bewegung, ging langsam auf die Station zu. „Die Taschenlampe, in einer Seitentasche des Rucksacks“, sagte er, streckte ihr dabei seine Hand entgegen.„Gib sie mir bitte!“

Er blieb stehen, Grace öffnete den Reißverschluss, holte die Maglite heraus und drückte sie ihm in die Hand. Willy war wie gefesselt. Sein Blick entfernte sich keine Sekunde von dem außerirdischen Artefakt. Er machte die Lampe an und stellte den Strahl auf maximale Breite. Erst jetzt erkannten sie, womit sie es bei diesem Objekt zu tun hatten. Der mächtige Rumpf, mindestens 50 Yards lang, 25 breit und 5 hoch, hatte eine abgerundete Außenkante und stand auf mehreren, massiven Standbeinen, die in regelmäßigen Abständen an beiden Längsseiten und in der Mitte das augenscheinlich enorme Gewicht dieses Monstrums trugen. Die beiden näherten sich dem schaurigen Koloss mit langsamen Schritten. Willy richtete die Lampe nach oben.

Sie hatten das Gefühl, als ob sie sich in einem überdimensionalen Iglu oder einer Art Tropfsteinhöhle befinden würden. Riesig, überwältigend, wie eine Kathedrale aus Schnee und Eis. Vereinzelte Stellen der Kuppel waren bereits so dünn, dass sie durch das eindringende Sonnenlicht in hellem Blau erschienen. Wasser tropfte permanent von der eisigen Kuppel und erzeugte ein Plätschern in den unzähligen Pfützen, das von den eisigen Wänden als hallendes Echo zurückgeworfen wurde.

Sie blieben stehen, erkannten sechs riesige, zylindrische Gebilde an der hinteren Querseite der Basis. Sie ragten etwas aus dem Korpus heraus, die äußeren weiter als die inneren. Triebwerke?

Willy ging direkt darauf zu, erkannte sofort die Ähnlichkeit mit heutigen Aggregaten. Triebwerke! Er war sich sicher! Bei der Basis handelte es sich zweifelsfrei um ein Raumschiff. Das Raumschiff, mit dem die Anunnaki vor der Zerstörung ihres Heimatplaneten entkommen waren und mit dem sie Zuflucht auf der Erde gesucht hatten.

Grace berührte die Hülle des Objektes. „Es ist warm“, sagte sie verwundert. „Fühl mal!“

Willy schob seine Schneebrille auf die Stirn und legte beide Hände an die glatte, mattgraue Oberfläche. Auch er spürte die hohe Temperatur, wich zurück und starrte wieder nach oben. Dann sah er zu Grace. „Das Ding schmilzt sich selber frei, damit wir es finden können.“

Grace nickte. „Weil die Zeit gekommen ist.“ Dann sah sie wieder zum Raumschiff. „Wahnsinn! Alle Details aus dem Vermächtnis fügen sich nach und nach zusammen. Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass alles der Wahrheit entspricht. Es wird passieren!“

Willys Blick ging zu Grace. „Und wir stecken mittendrin.“

„Ja, wir haben es geschafft!“

„Freu dich nicht zu früh, noch sind wir nicht in der Basis! Und denk an unsere Verfolger!“

„Wenn die wüssten, wo dieses Ding liegt, wären sie doch längst hier.“

Willy sah sorgenvoll zu ihr. „Ich habe trotzdem ein ganz mieses Gefühl. Außerdem wird wohl die Decke bald einstürzen, man kann stellenweise schon Licht durchschimmern sehen. Wir sollten uns also beeilen.“

Er wollte weitergehen, blieb abrupt stehen. „Scheiße!“, sagte er, die Hand an die Stirn gelegt. „Das Vermächtnis. Im Schlitten. Die Fototasche ist im Schlitten. Wir müssen sie holen!“

Grace blickte zurück. „Oh Gott, da rauf?“

„Uns bleibt nichts anderes übrig.“

Sie gingen zu der Stelle zurück, wo sie eingebrochen waren. Willy griff nach dem Seil, sah kurz nach oben, dann zu Grace. „Dann wollen wir mal!“

„Du solltest deinen Rucksack abnehmen!“

„Nein, das mache ich bestimmt nicht.“

„Wieso nicht?“

„Erkläre ich dir später.“

„Aber so kommst du nie rauf. Das Ding ist viel zu schwer.“

Willy versuchte es trotzdem. Vergeblich.

„Lass mich!“, sagte Grace und schob ihn beiseite. Sie zog ihre Handschuhe aus, fasste das Seil und kletterte zu Willys Verwunderung zügig nach oben, stieß sich dabei immer wieder von der steilen Eiswand ab. Das Schwierigste war, sich über die obere Kante zu ziehen, aber sie schaffte es.

„Alles klar?“, rief Willy ihr nach.

„Ja, alles klar.“

„Dann beeil dich!“

Wenige Augenblicke später kam Grace zurück, ließ erst die Fototasche an einem weiteren Seil nach unten und kletterte sofort hinterher.

Sie gingen los, um nach einem Zugang zu suchen. Schritt für Schritt stapften sie am Raumschiff entlang. Der matschige Schnee machte ihnen schwer zu schaffen, reichte ihnen an manchen Stellen bis zu den Knien. Der Schein der Taschenlampe huschte holprig über die gewölbte Kante der Basis. Etwa in der Mitte der linken Längsseite blieb Willy abrupt stehen, richtete den breiten Strahl auf ein markantes Detail. In einer Vertiefung der Außenhülle präsentierte sich ihnen eine rechteckige Luke. Willy führte den Schein der Taschenlampe nach unten.

„Ein Aufgang!“, rief Grace.

Ungewöhnlich weit auseinander liegende Stufen führten bis ganz nach unten. Willy leuchtete wieder nach oben. „Eindeutig der Zugang. Komm!“

Sie kletterten die Treppe nach oben. Durch den großen Abstand der Tritte und die sie umgebende Dunkelheit war es schwierig, normal hinaufzugehen. Gebückt, die seitlichen Führungsschienen fest im Griff, nahmen sie Stufe um Stufe.

Endlich standen sie am Eingang zur Basis, der letzten Barriere auf ihrem beschwerlichen Weg.

Sofort stach ihnen ein auffälliges Objekt ins Auge. Ein goldener, abgerundeter Deckel. Er befand sich links neben der Tür und sah haargenau so aus wie das Medaillon, das sie in der Pyramide gefunden hatten. Auch die Schriftzeichen waren bis auf den ersten Abschnitt identisch.

Gebt zurück das Vermächtnis, Bewohner der Erde. Zu retten euren Planeten. Zu leben mit euch in Frieden.

Willy fasste es vorsichtig an, wollte herausbekommen, wie es zu öffnen war. Erschrocken schnellte seine Hand zurück. Unverhofft, schon durch die erste Berührung aktiviert, schob sich eine quadratische Klappe mit dem Ebenbild des Medaillons in der Mitte aus der breiten Umrandung der Tür, bewegte sich mit leisem Summen nach oben, bis sie sich in der Waagerechten befand. Dann drehte sich die Kappe zur Seite und gab die kreisrunde Innenseite frei. Willy wusste sofort, was zu tun war.

„Das Vermächtnis!“, sagte er, hielt dabei Grace seinen ausgestreckten Arm entgegen. Er rührte sich nicht von der Stelle, sein Blick verharrte an der faszinierenden, technischen Einrichtung.

Grace nahm die Kamera aus der Tasche, entfernte die Sonnenblende des Objektivs und holte vorsichtig die Scheibe heraus. Willy nahm sie an sich und legte sie in die dafür vorgesehene Vertiefung. Nun startete der Vorgang in umgekehrter Richtung. Der Deckel schloss sich und die Klappe fuhr nach unten.

Stille. Nervenaufreibende Sekunden warteten die beiden darauf, dass etwas passieren würde. Tat sich überhaupt etwas? Oder verhinderte die beschädigte Stelle der Scheibe ein weiteres Vorgehen?

Ein lauter, metallischer Schlag war zu hören, als ob die Luke entriegelt würde. Die beiden zuckten zusammen. Dann bewegte sich die Tür nach oben, gab den Zutritt frei.

Summend, ungeahnt leise, trotz der augenfällig wuchtigen, sehr widerstandsfähigen Konstruktion. Freudestrahlend fielen sich die beiden in die Arme. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl ließ sie neue Hoffnung schöpfen.

„Wir sind die ersten Lebewesen seit Tausenden von Jahren, wahrscheinlich sogar die ersten Menschen, die diese Station betreten werden“, flüsterte Willy, während er eine Hand über die glatte Oberfläche einer Seite des Türrahmens gleiten ließ.

„Und was ist mit den Nazis?“, entgegnete Grace. „Die waren hier, das steht fest.“

„Daran habe ich auch schon gedacht, deshalb suche ich nach Spuren. Wenn die aber versucht haben sollten, den Zugang zu öffnen, müsste etwas zu erkennen sein. Schleifspuren, Einschüsse, was weiß ich. Aber hier ist nichts, nicht der geringste Kratzer.“

„Du glaubst, die haben sich nur an den Flugscheiben zu schaffen gemacht?“

„Sieht ganz so aus. Die befanden sich doch oben auf dem Mutterschiff, wie man auf dem Foto erkennen kann. Genaueres können wir allerdings erst sagen, wenn wir jeden Winkel der Anlage durchsucht haben. Vielleicht haben sie es ja doch geschafft, irgendwie reinzukommen. Auf jeden Fall werde ich später raufklettern und nach diesen Scheiben sehen, aber wir sollten uns erst um die wichtigen Sachen kümmern.“

„Los, gehen wir rein!“, sagte Grace und wagte sich als Erste in das stockdunkle Innere. Sie tastete sich die Wand entlang, drehte sich aber nach wenigen Schritten um. „Gib mir die Taschenlampe!“, sagte sie und hielt Willy dabei ihren Arm entgegen.

„Nicht so eilig, warte noch einen Moment!“

„Was ist?“, fragte sie mit einem Blick über die Schulter. „Du musst mir helfen!“ Grace kam zurück. „Und wie?“

„Mach den Rucksack auf! Ganz oben liegt ein kleines Gerät mit einer Antenne dran. Sieht aus wie ein Walkie-Talkie. Hol es heraus!“

Sie öffnete den Reißverschluss und reichte Willy den Apparat. „Was ist das?“

„Das soll die Funkverbindung aufrechterhalten. Eine Art Relaisstation. Es könnte sein, dass wir hier drinnen keinen Empfang haben.“

Grace reagierte verwundert. „Aber wir brauchen hier doch kein Navigationsgerät. Ich weiß nicht, was du …“

Willy unterbrach sie, schickte ihr einen entschlossenen Blick. „Ich fühle mich einfach sicherer, wenn die Verbindung bestehen bleibt. Vertrau mir!“ Dann kniete er sich nieder, schaltete das Gerät ein und befestigte es mit einer angebrachten Klemme an der Unterseite der letzten Treppenstufe. „Okay, jetzt können wir.“

Er stand auf und betrat mit Grace das Raumschiff. Kaum hatten sie ein paar Schritte ins Innere getan, wurden der Gang, in dem sie sich gerade befanden, sowie ein vor ihnen liegender Raum in weißes Licht getaucht. Zwar nur spärlich, doch es reichte für die beiden aus, um sich zurechtzufinden.

„Die haben an alles gedacht“, sagte Willy. „Sie weisen uns den Weg. Ich nehme an, wir finden des Rätsels Lösung da hinten.“

„Sehr wahrscheinlich, komm mit!“

Von Neugier getrieben, eilte Grace voraus. Und tatsächlich! Vor ihnen, in der Mitte des Raumes, präsentierte sich eine große, rechteckige, in bläulichem Schimmer leuchtende Scheibe aus durchsichtigem Material, die in Augenhöhe an drei Metallstangen von der Decke hing.

Ein Monitor, wie sich gleich darauf herausstellte. Als sie den ersten Schritt über die Schwelle taten, leuchtete in zeitlich kurzen Abständen von links nach rechts ein Segment nach dem anderen auf, zeigte neben allerlei einfachen Skizzen auch unzählige Schriftzeichen, die für die beiden zum Großteil kein Geheimnis mehr darstellten. Doch dann erlosch die Anzeige wieder, bis auf die wenigen Informationen der linken Sequenz.

„Ich denke, sie wollten uns damit zeigen, in welcher Reihenfolge wir vorgehen müssen“, sagte Willy.

Im Raum befanden sich etliche weitere Geräte, die selbst für den technisch versierten Willy ein Rätsel darstellten.

Die gesamte Einrichtung war zudem überdimensional proportioniert, erschaffen für die Bewohner von Phaeton, die offensichtlich sehr viel größer waren als Menschen.

„Sollen wir uns gleich an die Arbeit machen, oder wollen wir uns erst mal umsehen?“, fragte Grace, während sie ihren Blick durch den Raum schweifen ließ.

„Wir sollten Schritt für Schritt vorgehen, wie uns die Anunnaki mit dieser Präsentation zu vermitteln versuchen. Ich bin zwar auch neugierig, was es hier alles zu entdecken gibt, aber für eine genaue Untersuchung haben wir später noch genügend Zeit. Mir wäre echt wohler zumute, wenn wir zuerst die wichtigen Aufgaben erledigen würden.“

Es war angenehm warm im Raum. Willy öffnete den Reißverschluss seines Anoraks, wollte jedoch seinen Rucksack nicht ablegen.

„Okay, dann an die Arbeit!“, sagt Grace, zog ihre Jacke aus und holte auf Willys Bitte hin sämtliche Blätter mit der Übersetzung der Schriftzeichen aus der Fototasche. Dann widmeten sie sich der Entschlüsselung des ersten Segments.

Willy notierte die einzelnen Wörter, ersetzte das eine oder andere durch ein Synonym, um den Text verständlicher zu gestalten. Für einzelne Symbole, die noch nicht übersetzt waren, fand er schnell eine passende Bedeutung, um den Ablauf der Anleitung begreifbar und logisch erscheinen zu lassen.

Entfacht die Macht der Sonne im Ort des Verweilens, zu vollenden das Werk.

Grace blickte Willy verwundert an. „ Die Macht der Sonne?

Dann erst begriff sie die Bedeutung der Worte. Sie atmete tief ein, war für einige Sekunden sprachlos. „Die meinen damit doch nicht etwa …?“

„Ich denke, schon!“, fiel ihr Willy ins Wort. Er war total verblüfft von dem Gedanken an die geniale Energieversorgung dieses Schiffes. „Die meinen damit einen Fusionsreaktor. Was sollte das wohl sonst für eine Bedeutung haben? Die Kraft der Sonne! Kernfusion! Die Anlage läuft seit Tausenden von Jahren auf Sparflamme. Notstrom. Alleine das ist schon eine Sensation. Aber ein Fusionsreaktor in diesem Raumschiff? Unsere modernsten Versuchsanlagen haben Dimensionen, dagegen erscheint diese Station wie ein Puppenhaus. Und wir schaffen es noch nicht einmal, mehr Energie herauszuholen, als wir hineinstecken. Unglaublich! Diese Technik könnte unsere Energieprobleme für immer lösen.“

„Das wird sie hoffentlich auch, wenn wir mit unserem Wissen an die Öffentlichkeit gehen.“

„Ja, wenn! Aber noch ist es nicht überstanden.“

Willy richtete seine Aufmerksamkeit auf ein blinkendes Zeichen, welches nach seinen Erkenntnissen das Wort Beginn darstellte. Offensichtlich das Symbol, um den Reaktor zu starten. Er bewegte seinen Zeigefinger langsam darauf zu, hielt kurz inne und sah zu Grace.

„Los, mach schon!“, drängte sie ihn.

Er berührte das Display. Für ein paar Sekunden tat sich nichts, absolute Stille. Die beiden hielten vor gespannter Erwartung den Atem an. Dann eine kurze Erschütterung, die durchs Raumschiff jagte, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren, tiefen Brummen, das sie von nun an ständig begleiteten sollte.

Sämtliche Räume wurden taghell erleuchtet. „Er läuft!“, sagte Willy mit einem Strahlen im Gesicht. Er sah sich nach allen Seiten um, blickte dann wieder zu seiner Gefährtin.

„Die erste Aufgabe wäre damit erledigt.“

Grace kniff für einen Moment die Augen zusammen, um sich gegen die unerwartete Helligkeit zu schützen. „Das haben sie extra für uns eingerichtet.“

„Was meinst du damit?“ „Das helle Licht.“ „Wie kommst du darauf?“

„Phaeton kreiste weit außerhalb der Marsbahn. Die Anunnaki waren wohl eher an spärliche Beleuchtung gewöhnt. Ich glaube kaum, dass sie ohne Schutz ein solch grelles Licht vertragen konnten.“

Willy nickte. „Du hast recht, diese Betrachtungsweise macht wirklich Sinn.“

Er richtete seinen Blick sofort wieder zum Bildschirm, als er eine Veränderung bemerkte. Alle weiteren Sequenzen öffneten sich wieder, erstrahlten nacheinander in leuchtenden Farben. Bewegte Bilder waren zu sehen, animierte Grafiken, die immer wiederkehrende Abläufe zeigten.

Die beiden waren überwältigt von der bloßen Existenz dieses faszinierenden Blickfangs außerirdischer Technologie und machten sich sogleich an die Entschlüsselung des zweiten Segments.

Beginnt die Rettung eures Planeten an jenem Tag, wenn die Sonne den hohen Punkt verlässt für lange Zeit der Dunkelheit. Befehlt unserem Mond, zu besiegen den Feind. Wenn er euch ruft, so bringt ihn auf den Weg.

Wenn die Sonne den hohen Punkt verlässt? “, fragte Willy, blickte dabei zu Grace. „Was meinten sie damit? Wintersonnenwende?“

„Ziemlich sicher sogar.“

„Also am 21. Dezember.“

Als Grace dieses Datum hörte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. „21. Dezember 2012?“ Für einen Moment stockte ihr der Atem, ihre Augen wurden größer. „Der Maya-Kalender!“

„Der Maya-Kalender? Verdammt, du hast recht! Das Ende des letzten Zyklus und der Beginn eines neuen Zeitalters. Es gibt einen Zusammenhang, das kann kein Zufall sein!“

Grace strahlte. „Die Mayas wussten also auch Bescheid, was passieren würde. Weshalb wohl sollte der Kalender ausgerechnet an diesem Tag enden? Nur symbolisiert dieses Datum nicht, wie so viele befürchten, den Untergang der Erde, sondern genau das Gegenteil. An diesem Tag beginnt die Rettung der Erde und des gesamten Lebens, wie wir es kennen.“

„Genau so ist es! Ein Glück nur, dass sich die Anunnaki damals für die Asaru als Hüter des Vermächtnisses entschieden haben, sonst wäre es wohl für alle Zeiten verschollen geblieben.“

„Und die Erde wäre ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert“, fügte Grace hinzu.

Die Augenbrauen nach oben gezogen, machte Willy das Display an seinem Handgelenk an. „Wir haben jetzt ein ganz anderes Problem.“

„Und das wäre?“

„Heute ist der 31. Oktober, die Aktion soll aber erst am 21. Dezember stattfinden. Das heißt, wir müssen länger als sieben Wochen hierbleiben.“

„Verdammt, du hast recht. Aber wie sollen wir das anstellen? Geheimdienst und Militär sind uns auf den Fersen. Und das Ding hier hat sich bestimmt bald komplett frei geschmolzen, dann liegen wir auf dem Präsentierteller. Außerdem wartet Ethan auf uns.“

„Um Ethan brauchen wir uns keine Sorgen machen. Wir können ihn anrufen, dass wir länger bleiben und er zurückfahren soll.“

„Du weißt, was er gemacht hat. Sie suchen bestimmt nach ihm.“

„Das ist mir klar, aber er kennt mit Sicherheit einen Ort, an dem er sich für eine paar Wochen verstecken kann.

So hart es sich anhört, aber das erscheint mir jetzt eher nebensächlich.“

Grace beruhigte sich. Sie nickte. „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Sache früher zu starten?“

„Kann sein. Wenn ja, dann werde ich es herausfinden. Wenn nicht, müssen wir uns eben auf einen längeren Aufenthalt einrichten. Wenn wir die Lebensmittel vernünftig einteilen, schaffen wir das.“

Sie konzentrierten sich wieder auf die zweite Sequenz, genauer gesagt auf den Ablauf der bevorstehenden Umlenkung von Vesta. Zu ihrem Erstaunen erzeugte der Monitor ein dreidimensionales Bild. Man sah in einer perfekten Animation den einstigen Mond Phaetons auf seiner Bahn um die Sonne kreisend, dabei drehte er sich auch um die eigene Achse. An einem bestimmten Punkt angelangt, symbolisierte eine rot gestrichelte Linie den Ruf des Kleinplaneten. Sie zog sich schlagartig zum links unten am Bildschirm gelegenen Zeichen für Beginn und anschließend zurück zu Vesta. Ein kleiner Blitz sollte offensichtlich eine Explosion andeuten, die ihn aus seiner Umlaufbahn und somit gegen den Braunen Zwerg leitete. Die Animation wiederholte sich immer wieder, und zu ihrem Erstaunen war sie auch auf der anderen Seite der Scheibe zu verfolgen. Plastisch, als ob man die Bilder anfassen könnte.

„Alles sehr leicht zu verstehen“, sagte Willy und zeigte dabei auf die nächste Sequenz. Nachdem er die Zeichen übersetzt hatte, konnte er seine Neugier kaum noch in Zaum halten. Er las Grace den Text vom Zettel ab, den er mit zittrigen Händen vor sich hielt.

Erweckt uns aus tiefem Schlaf, Bewohner der Erde. Lasst uns wachsen in euch, zu leben mit euch in Frieden.

Erweckt uns aus tiefem Schlaf? Soll das etwa bedeuten, dass sie noch am Leben sind?“ Er starrte Grace mit großen Augen an. „Ich kann das nicht glauben!“

Auch Grace geriet völlig aus der Fassung. „Lebende außerirdische Wesen! Kannst du dir etwas Aufregenderes vorstellen? Komm mit, ich muss sie sehen!“

„Warte noch einen Moment!“ Unter dem Text zeigte der Monitor einen Grundriss des Schiffes. Sämtliche Gänge und Räume waren klar aufgeführt und entsprechend ihrem Zweck beschriftet. Willy konnte auch den Sitz des Hauptrechners bestimmen, den Sitz des Wissens unseres Volkes.

Sein strahlender Blick richtete sich nach oben, triumphierend ballte er seine Fäuste. „Wir können uns noch nicht im Geringsten vorstellen, welche unglaublichen Informationen in diesem Speicher schlummern.“

„Du glaubst, du kommst an deren Daten ran?“

„Ich bin sogar ziemlich sicher. Wir kennen die wichtigsten ihrer Symbole, und Computer ist Computer“, sagte er achselzuckend. „Sogar ein Gehirn arbeitet mit binären Codes. Es ist völlig egal, wer den gebaut hat, die funktionieren alle nach demselben Prinzip. Also dürfte es nicht überaus schwierig sein, ihn zu knacken.“

Er nickte Grace zu. „Aber jetzt sehen wir uns erst die Anunnaki an. Komm!“

Sie verließen den Raum und gingen zum hinteren Teil des Schiffes. Willy hatte sich den Plan exakt eingeprägt, führte Grace in einen Sektor, der sich in direkter Nachbarschaft zum Reaktor befand. Alle Türen waren geöffnet, sie hatten freien Zugang. Grace verspürte Kälte, als sie den Raum betraten. Sie standen einem Quader aus nicht definierbarem Material gegenüber, der auf drei Säulen stand und sehr an den steinernen Sarg in der Pyramide der Asaru erinnerte. Die gesamte Oberfläche war mit einer feinen Schicht aus Reif überzogen. Willy näherte sich, berührte vorsichtig die Oberseite. Sofort zog er seinen Arm zurück. „Verdammt, ist das kalt!“ Er bückte sich, wischte mit schnellen Bewegungen seiner Hand den gefrorenen Tau von der Längsseite des Objekts. Die darunterliegende Fläche gab Schriftzeichen frei, die er sogleich zu übersetzen begann.

Macht euch zu eigen unser Wissen des Lebens, Bewohner der Erde. Dann lasst uns wachsen in euch, uns Herren von Phaeton, zu leben mit euch in Frieden.

Unter der Nachricht waren in gleichmäßigen Abständen 22 Symbole über die gesamte Länge verteilt, die er keinem der bekannten Zeichen zuordnen konnte. Zum Teil bestanden sie aus mehreren verschränkten Buchstaben und Wörtern, die zunächst keinen Sinn ergaben. Links unten am Quader befanden sich die Zeichen für Öffnen und Schließen.

„Jetzt bin ich aber gespannt!“, sagte er und berührte das Symbol für Öffnen. Er erhob sich und trat einen Schritt zurück.

Leises Summen erfüllte den Raum. Ein Deckel schob sich langsam nach oben, gefolgt von 22 tiefgekühlten Röhrchen aus durchsichtigem Material. Durch die enorme Kälte wurden sie in Sekundenschnelle von gefrierender Luftfeuchtigkeit umhüllt. In grelles Licht getaucht, das aus dem Inneren des Schreins drang, stoppte die Konstruktion. Weißer Nebel kroch aus dem Objekt, fiel in zarten Schwaden über dessen Außenwand nach unten und verbarg den Boden des gesamten Raumes unter einem knöcheltiefen Schleier.

Willy klatschte die Hand auf seine Stirn, sah mit offenem Mund zu Grace. „Oh Gott! Jetzt weiß ich endlich, was das zu bedeuten hatte!“

„Was meinst du?“, fragte Grace, die sich schon darauf eingestellt hatte, den tiefgekühlten Körper eines Anunnaki zu erblicken. Eher enttäuscht starrte sie auf die Konstruktion, der sie zunächst noch keinen Sinn zuordnen konnte.

„Denk mal an das Skelett im Sarkophag der Pyramide und die Aussage des Stammesältesten! Wir konnten doch mit seinen Worten nichts anfangen. ‚Inatta, die Auserwählte, Mutter der Anunnaki‘. Sie solle ihnen zu neuem Leben verhelfen, wenn die Zeit gekommen sei.“ Dann zitierte er noch einmal die Inschrift: „Lasst uns wachsen in euch!

Erst jetzt realisierte Grace, was ihnen die Botschaft vermittelte. „Dann sind das Embryonen?“, kam es stockend aus ihr heraus. Dabei deutete sie auf die Röhrchen, ihre Augen weit aufgerissen. Die Aufregung ließ sie schnell atmen.

„Ja!“ Willys Stimme klang euphorisch. „Sie haben dieser Inatta Eizellen entnommen und sich selbst geklont. Alles wurde vorbereitet, um ihre Spezies wiederauferstehen zu lassen.“

Er bückte sich erneut. „Und das sind ihre Namen. Die letzten 22 ihrer Rasse, denen die Flucht zur Erde gelang, bevor ihr Planet vernichtet wurde.“

„Aber warum haben sie sich nicht auf natürlichem Wege fortgepflanzt und ein neues Volk gegründet?“

Uns Herren von Phaeton“, antwortete Willy. „Das hat wahrscheinlich zu bedeuten, dass die Crew nur aus männlichen Mitgliedern bestand. Für diese Wesen gab es nur zwei Möglichkeiten. Sich selbst zu klonen oder ihre Rasse für immer aussterben zu lassen. Sie hatten keine andere Wahl.“

Jetzt wurde für Grace alles klar. „Das meinten sie also mit ihrer Andeutung. Helft uns, wie wir euch geholfen, zu leben mit euch in Frieden.

Willy erhob sich. „Dafür werden wir sorgen, das verspreche ich dir!“ Er sah zum Quader, nickte. „Und ich verspreche es euch!“

„Das wird aber nicht einfach. Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen, das alles hier gehört in professionelle Hände. Wissenschaftler, Ärzte, Genetiker. Wer hätte gedacht, dass diese Entdeckung solche Dimensionen annehmen würde?“

„Das konnte niemand ahnen. Unglaublich! Aber jetzt kümmern wir uns erst mal um diesen Mond, das kriegen wir alleine hin.“

Er berührte das Symbol für Schließen, dann schauten die beiden über den Rand ins Innere des Behälters. Die Apparatur bewegte sich nach unten, tauchte die Röhrchen in eine leicht sprudelnde Flüssigkeit, bis sie der Deckel mitsamt dem hellen Licht unter sich begrub. „Jetzt sind sie wieder sicher aufgehoben. Das ist flüssiger Stickstoff, dieselbe Technik, die auch wir inzwischen anwenden. Bei minus 196 Grad Celsius sind die Eizellen unbegrenzt lebensfähig.“

„An eine solche Überraschung hätte ich im Traum nicht gedacht“, sagte Grace noch völlig aufgeregt.

„Glaubst du etwa, ich? Bin gespannt, welche Entdeckungen noch auf uns warten. Ich würde mich jetzt gerne mit dem Hauptrechner beschäftigen. Vielleicht kriegen wir ja raus, ob man die Aktion auf Vesta früher starten kann. Das würde mich ungemein beruhigen.“

„Mich auch, glaub mir!“

Sie gingen zurück, in den mittleren Raum im vordersten Teil des Schiffes. Sie erkannten sofort, dass es sich bei diesem Sektor um das Cockpit handeln musste. Willy sah sich akribisch um. Keine Fenster oder Luken. Kein Blick nach draußen möglich. Die Piloten steuerten das Raumschiff offensichtlich mittels indirekter Sicht. Über die gesamte vordere Front zog sich ein Steuerpult mit acht Terminals.

Alle konnten von hohen, drehbaren Schalensitzen aus bedient werden. Die Bildschirme ähnelten dem Monitor, den sie im ersten Raum ihrer Exkursion vorfanden. Diese waren jedoch erheblich kleiner und nicht aktiviert. Willy drehte einen Stuhl zu sich und kletterte mit Grace’ Hilfe auf die Sitzfläche. Es gab keine Tastatur, deshalb tippte er mit dem Finger gegen den Bildschirm. Sofort erschienen linienartig angeordnete Symbole. Ein Menü, wie er vermutete. Voller Enthusiasmus begann er, den einzelnen Fenstern eine Bedeutung zuzuordnen.

Grace stand dicht bei ihm, verfolgte das Geschehen mit regem Interesse. Plötzlich spürte sie etwas Kaltes auf ihrer Kopfhaut. Sie griff sich in die Haare, zu ihrer Überraschung spürte sie Feuchtigkeit. Sie schaute auf ihre Hand, führte sie zur Nase. Kein außergewöhnlicher Geruch.

Was war das? Wasser? Aber woher?

Sie blickte nach oben. Erneut kam ein Tropfen herunter, klatschte auf ihre Stirn. Erschrocken drehte sie den Kopf zur Seite, wischte über ihr Gesicht und sah wieder nach oben. Sie entdeckte einen kleinen Zylinder, der aus der grauen Decke ragte.

„Was ist das?“, fragte sie, tippte dabei Willy auf die Schulter.

„Was?“

Sie zeigte nach oben. „Dieses Teil, da tropft Wasser heraus.“

Erschrocken sprang Willy auf, blickte argwöhnisch auf den auffälligen Gegenstand. Alle Wände waren trocken, lediglich rings um diese eine Stelle war Feuchtigkeit zu erkennen. Er hatte eine schreckliche Ahnung, fasste Grace am Arm und zog sie zu sich. „Du musst raufsteigen und versuchen, es abzumachen! Mein Rucksack ist zu schwer.“

„Hast du etwa eine Ahnung, was das sein könnte? Dein Blick macht mir Angst.“

Willy zuckte mit den Achseln, er wirkte sehr aufgeregt.

„Wir können nur hoffen, dass es nicht das ist, was ich befürchte. Du musst es abmachen!“

Er half ihr, auf den Stuhl zu klettern und hielt sie an den Beinen fest. Die drehbare Sitzfläche bot keinen sicheren Stand.

Grace streckte sich nach oben, stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie konnte das Teil gerade noch erreichen, umfasste es und zog daran. „Es sitzt fest, aber es lässt sich bewegen. Ich glaube, es hängt an einer Schnur oder einem Kabel.“

„Zieh fester, häng dich dran!“

Grace umklammerte es krampfhaft, zerrte und rüttelte mit aller Kraft, bis es mit einem Ruck abriss. Sie wankte, wäre fast heruntergestürzt. Willy konnte sie gerade noch festhalten, half ihr vom Stuhl. Sofort reichte sie ihm den Gegenstand. Willys Blick offenbarte nichts Gutes. Seine Hand zitterte, als er den Zylinder zwischen den Fingern drehte.

„Sag schon!“, drängte ihn Grace. „Was ist das?“

Er hielt das Röhrchen vor ihre Augen. Ein Schriftzug war rings um das untere Ende angebracht. Grace starrte erschrocken auf die Buchstaben, die Willy mit Entsetzen aussprach. „Panasonic! Das ist eine Minikamera!“

Grace atmete durch den offenen Mund ein, bekam große Augen. „Scheiße!“, hauchte sie aus.

Willy schüttelte langsam den Kopf. „Genau das habe ich befürchtet!“

„War jetzt alles umsonst?“

„Wir werden sehen.“

Die beiden waren nicht überrascht, als sie plötzlich Schritte hörten. Viele Schritte. Keine Möglichkeit zur Flucht, sie drehten sich zur Tür. Drei Männer in dunklen Anoraks betraten den Raum, begleitet von zwei bewaffneten Soldaten. Willy machte einen zaghaften Schritt nach vorne, stellte sich schützend vor Grace.

„Tja, das wars dann wohl. Das Spiel ist aus!“, sagte einer der Männer. „In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie hastige Bewegungen unterlassen, das macht mich nervös!“ Er lächelte kurz, dann wurde sein Blick ernst. Ein finsterer Blick, angsteinflößend. „Grace McClary und William Boyle, die Superdetektive. Sie beide haben mich verärgert! Ich hasse es, verärgert zu werden!“

Willy blieb besonnen. „Wir haben Sie nicht darum gebeten, uns zu folgen.“

„In Ihrer Lage wäre es wohl besser, solche dummen Kommentare zu unterlassen! Ihnen steht das Wasser bis zum Hals. Und versuchen Sie nicht zu fliehen, Sie haben keine Chance!“

Willy wusste das. Die Läufe der Sturmgewehre waren auf sie gerichtet. Es blieb nur die Hoffnung, möglichst viele brisante Informationen aus den Beamten herauszuholen.

„Dürfen wir wenigstens erfahren, wer uns die ganze Zeit verfolgt hat?“

„Agent Bedell ist mein Name, CIA. Besser gesagt eine Sonderabteilung des CIA. Wir kümmern uns ausschließlich um unbelehrbare Subjekte wie Sie.“ Er sah nach oben zu der Stelle, wo sich die Kamera befunden hatte. „Schade, dass Sie das Ding so schnell entdeckt haben. Ihre Exkursion durch das Raumschiff war sehr lehrreich für uns, Sie haben uns viel Arbeit erspart.“

Grace drängte sich nach vorne. „Wie lange sind Sie schon hier?“

„Seit etwa einer Woche. Einige unserer Leute waren ständig auf Tuchfühlung mit Ihnen, seit Sie das Boot verlassen haben. Wir müssen uns auch bei Ihnen bedanken, Sie haben gute Arbeit geleistet. Einfach genial, mit welchen Tricks Sie diese Station hier gefunden haben. Ihre Aufzeichnungen waren sehr aufschlussreich.“

„Aufzeichnungen?“ Grace war wie vor den Kopf geschlagen.

„Sie haben doch nicht etwa …“

„Ja, wir haben ihren Freund erwischt, diesen Nico. Ziemlich ängstlicher Zeitgenosse. Der hätte uns bestimmt alles erzählt, war aber gar nicht nötig. Alles was wir brauchten, haben wir in seiner Wohnung gefunden. Den Rest in Ihrem Haus. Und keine Angst, Ihr Freund Joe ist bei uns in besten Händen.“

Grace fiel aus allen Wolken. „Sie haben auch Joe verhaftet?“

„Dachten Sie wirklich, dass er in Ihrem Haus sicher sei? Lächerlich! Sie hätten für ihn ein besseres Versteck organisieren sollen. Aber dieser Joe ist ein guter Freund, mein Respekt. Der schweigt beharrlich.“

„Wenn keiner etwas gesagt hat, woher wussten Sie dann, dass ich an der Sache beteiligt bin?“, fragte Willy.

„Tja, daran sind Sie wohl selber schuld. Auch ein Genie macht mal Fehler. Wie Sie ja wissen, haben meine Kollegen nach Ihrem unerlaubten Eindringen in die Datenbank der NASA die Computeranlage der Universität untersucht. Was glauben Sie wohl, haben wir im Laufwerk des Rechners aus dem Observatorium gefunden?“ Er zog die Augenbrauen nach oben.

„Na?“

Willy schloss die Augen, drehte den Kopf zur Seite und verharrte einen Moment schweigend. Dann blickte er zu Grace. „Meine DVD!“ Er sah enttäuscht nach oben, seine Lippen formten dabei ein lautloses „Verdammt“!

„Bravo!“, sagte Agent Bedell, klatschte in die Hände.

„Solche Programme wie auf dieser Scheibe konnten nur von einem professionellen Hacker stammen. Wir mussten auch nicht lange ermitteln, einfach nur die Fingerabdrücke vergleichen. Bingo! William Boyle, unser alter Bekannter. Intelligent, aber gefährlich, wie meine Kollegen im Schnellboot schmerzlich erfahren mussten.“

Agent Bedells spontane Stimmungsschwankungen machte den beiden Angst. Von einer Sekunde auf die andere verfiel sein überhebliches Lächeln in ein Abbild mitleidsloser Kälte.

Die Mundwinkel zitterten. Dieser Blick offenbarte seinen Zorn. „Sie haben Regierungsbeamte angegriffen und ihren Tod billigend in Kauf genommen. Das nennt man versuchten Totschlag!“

Willy wies jegliche Anschuldigung vehement zurück, wollte aber auf keinen Fall Ethan als Alleintäter preisgeben.

„Moment mal, wir wurden von denen angegriffen! Dabei haben Ihre Kollegen unseren Kapitän angeschossen. Das war reine Notwehr!“

„Sie haben Glück, dass wir die Beamten noch rechtzeitig retten konnten, sonst würde ich nicht so sanft mit Ihnen umgehen.“

„Wie geht es Ethan?“, fragte Grace. „Ich wette, Sie sind so erbärmlich und haben ihn trotz seiner Verletzung eingesperrt.“

„Dieser alte Seemann? Um den kümmern sich die Kollegen, die er ins Jenseits befördern wollte. Das hätte er wohl besser nicht versuchen sollen.“

Grace steigerte sich immer mehr in Rage. Wutschnaubend wollte sie auf den Beamten losgehen. Die beiden Soldaten traten ihr entgegen, doch Willy behielt die Nerven, hielt Grace zurück. „Lass das!“, sagte er in rauem Ton. „Du machst es nur noch schlimmer.“

„Sehr vernünftig“, stimmte Agent Bedell ihm zu, „hören Sie auf Ihren Freund!“

Grace schrie den Beamten trotzdem an. „Warum haben Sie uns nicht gleich festgenommen, nachdem wir das Boot verlassen hatten? Sie wussten ja die ganze Zeit, wo wir waren. Dann hätten wir uns den verdammten Weg bis hierher sparen können.“

Auch Agent Bedell erhob seine Stimme. „Natürlich wussten wir das. Aber wir machten uns Sorgen um dieses wichtige Teil aus der Pyramide, das durfte auf gar keinen Fall beschädigt werden. Es gab viel zu verlieren, das Risiko war einfach zu groß. Wir hatten natürlich versucht, in diese Anlage hier zu gelangen, aber das wäre uns nur mit erheblicher Gewalteinwirkung gelungen. Dieses Raumschiff ist aus sehr robustem Material gebaut, härter als alles, was wir kennen. Für die Löcher der Kameras mussten wir extra einen Hochleistungslaser aus Massachusetts herschaffen. Also haben wir uns dazu entschlossen, die Füße still zu halten und einfach hier auf Sie zu warten. Und wie Sie sehen, hat es sich gelohnt. Sie haben uns alle Türen geöffnet.“

Grace fühlte nur noch Hass. „Hinterhältiges Arschloch!“, brüllte sie ihm entgegen. Agent Bedell lächelte höhnisch, schüttelte den Kopf.

„Jetzt wirds persönlich. Aber egal, Sie werden Ihre Strafe bekommen.“

Willy wurde ungehalten. „Strafe für was? Weil wir unser Leben riskiert haben, um die Erde zu retten?“

„Das können wir besser als Sie, glauben Sie mir!“

„Ach ja? Das ist ja interessant. Und weshalb sind diese Soldaten hier? Militär? Weshalb keine Wissenschaftler? Ihr Interesse an diesem Raumschiff basiert doch lediglich auf dem Vorhaben, mit dessen Technik neue Waffen zu entwickeln.“

„Auch Waffen sind wichtig“, antwortete Agent Bedell nach kurzem Schweigen.

„Schön, das zu hören! Und wofür?“

„Um unser Land zu schützen, unsere Freiheit und unsere Werte.“

„Unsere Werte? Gehören da Verlogenheit und Missachtung der Menschenrechte auch dazu?“

Agent Bedell überging Willys Äußerung mit einer abfälligen Geste seiner Hand und drehte dabei den Kopf zur Seite, als ein weiterer Beamter den Raum betrat und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Er nickte zuversichtlich, wandte sich wieder Grace und Willy zu. „Wir bekommen Besuch, das wird Sie freuen.“

„Weshalb sollte uns das wohl freuen?“, schrie Grace ihm entgegen. Willy musste sie immer noch festhalten.

Aus allen Winkeln des Schiffes war mit einem Mal reges Treiben zu vernehmen. Ein Team von Technikern machte sich umgehend daran, die außerirdische Technologie unter die Lupe zu nehmen.

Zeitgleich betrat ein großer Mann den Raum, schüttelte zunächst seinem Kollegen Bedell die Hand und richtete dann seinen Blick auf ihre Widersacher. Er warf die Kapuze seines Anoraks zurück und nahm die Sonnenbrille ab.

Grace verfiel in regungslose Starre, ihr stockte der Atem. Der Anblick dieses Gesichts fuhr wie ein Blitz durch ihren Körper. Für einen kurzen Augenblick sah sie zu Willy, dann wieder zu ihrem Gegenüber. „George?“

„Hallo, mein Schatz.“

„Moment mal!“, sagte Willy verwundert. „Das ist doch wohl nicht dieser George, von dem du mir erzählt hast? Dein Ex?“

Grace nickte Willy zu, sah dann wieder zu George. „Was machst du hier?“

„Na ja, sagen wir mal, ich habe etwas Geschäftliches zu erledigen.“

Grace war verunsichert, konnte sich keinen Reim auf Georges plötzliche Anwesenheit machen. „Geschäftlich? Hier? Der Manager einer Elektronikfirma?“

George sah zu seinen Kollegen. Alle zeigten ein ähnlich überhebliches Lächeln.

Grace ließ nicht locker. „Sag schon!“ Intuitiv ahnte sie, dass nicht alles mit rechten Dingen zugehen konnte, wollte es jedoch nicht wahrhaben.

Willy packte Grace am Arm, drehte sie zu sich. „Merkst du das nicht?“, sagte er mit erhobener Stimme und unterbrach damit die plötzliche Stille. „Wie naiv bist du denn?“ Er sah seine Gefährtin vorwurfsvoll an, deutete dabei auf die Beamten. „Die stecken alle unter einer Decke. Der feine Herr hat dir die ganze Zeit etwas vorgemacht.“

Grace fiel aus allen Wolken. „Du arbeitest gar nicht für Weiland Elektronics?“

George zuckte mit den Achseln, zog gleichzeitig eine Augenbraue nach oben. „In gewisser Weise schon, nur dass Weiland kein Elektronikkonzern ist. Die Firmenbezeichnung dient uns lediglich als Tarnung. Jedes Kind braucht schließlich einen Namen, und der soll in unserem Fall möglichst unauffällig sein.“ Er blickte nach hinten. „Das hier sind übrigens alles Mitarbeiter von mir. Eine Spezialeinheit des CIA. Wir kümmern uns um Leute wie dich, die sich in den Kopf gesetzt haben, in geheimen Angelegenheiten rumzuwühlen und vertrauliche Informationen an die Medien zu verraten. Wie du weißt, habe ich wiederholt versucht, dich davon abzubringen, solange wir zusammen waren.“

Grace konnte es immer noch nicht glauben, dermaßen geblendet worden zu sein. „Du wusstest also immer, dass diese Phänomene tatsächlich existieren, und hast mich trotzdem für verrückt erklärt?“

„Die Bevölkerung ist noch nicht bereit für die ganze Wahrheit. Sie muss erst Schritt für Schritt darauf vorbereitet werden. Aber leider gibt es unbelehrbare Personen wie euch, die das einfach nicht abwarten können.“

„Du hast mich also von Anfang an belogen?“, fragte Grace fast flüsternd. „Unsere Beziehung … alles nur gespielt?“

Sie war den Tränen nahe. Der schreckliche Gedanke an das niederträchtige Verhalten ihres vermeintlichen Lebensgefährten schnürte ihr die Kehle zu. Georges Blick blieb hart, er zeigte keinerlei Emotionen.

„Na gut, weshalb sollte ich dir jetzt noch etwas vormachen? Ich bin der Chef dieser Abteilung und habe mich praktisch selbst auf dich angesetzt. Du wurdest zum Risiko, als du damals das geheime Foto von deinem Freund Joe bekamst. Wir wussten das, obwohl du es vehement abgestritten hast. Ich habe es auf deinem Computer gefunden.“

Grace wurde erneut von einer Welle der Schmach getroffen. Jetzt wurde ihr alles klar. Die ewigen Querelen, verschwundenes Material aus ihren Recherchen. Alles nur, um sie mundtot zu machen. Ihr enttäuschter Blick haftete an seinem kalten Gesicht.

„Deine Reportagen wurden uns zu gefährlich“, fuhr George fort. „Ich habe wirklich versucht, dir diese Floskeln auszutreiben, aber gegen deinen verdammten Dickschädel kommt niemand an! Schade, fast hätte ich mich in dich verliebt.“

Das gab ihr den Rest. Sie ging langsam auf ihn zu, ohne ihren Blick auch nur einen Millimeter von ihm weg zu bewegen. Sie wischte über ihre tränenden Augen, stand nahe bei ihm und starrte ihm ungläubig in die Augen. Leere Augen. Emotionslos. „Du hättest dich … fast … in mich verliebt? Fast?“, kam es mit weinerlicher Stimme über ihre zitternden Lippen.

Georges Gesicht zeigte keine Regung, er zuckte nur mit den Schultern. „Inzwischen bin ich froh, dass ich es nicht getan habe.“

Grace verlor die Nerven, wollte zuschlagen. Doch George war schneller und umklammerte ihr Handgelenk mit festem Griff, drehte ihren Arm zur Seite. Sie holte mit der anderen Hand aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Die beiden Soldaten packten zu und zerrten sie zurück. Grace wehrte sich heftig.

„Tun Sie ihr nicht weh!“, sagte George mit rauem Befehlston, rieb sich dabei mit einer Hand die Wange. „Wir bringen sie sowieso gleich weg, dann bekommt sie genügend Zeit, um über ihr impertinentes Verhalten und ihre gescheiterte Karriere nachzudenken.“

„Sie bringen uns weg?“, fragte Willy. „Und wohin, wenn ich fragen darf?“

„Wo die Menschheit vor euch sicher ist. Ihr seid geistig nicht zurechnungsfähig und eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ihr beiden habt Regierungseigentum entwendet und den Tod hochrangiger Beamter billigend in Kauf genommen. Wisst ihr eigentlich, wie viel den Steuerzahler euer Erpressungsversuch in Argentinien gekostet hat? Das alles reicht für einen längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, verlasst euch drauf!“

Willy wusste etwas, von dem alle anderen nichts ahnten, Grace eingeschlossen. Er stichelte weiter, um den Beamten möglichst viele Einzelheiten zu entlocken. „Psychiatrie?“, sagte er erstaunt. „Weshalb in die Psychiatrie? Die Einweisung dahin kann nur ein Gericht anordnen. Auf diesen Prozess freue ich mich, dann kommen endlich Ihre dubiosen Machenschaften auf den Tisch. Alles wird an die Öffentlichkeit kommen, das garantiere ich Ihnen. Wir haben genügend Beweise.“

„Gar nichts haben Sie. Ihre gesamten Aufzeichnungen sind in unserem Besitz. Wir haben sogar die Fotos gefunden, die ihr aus der geheimen Datenbank der NASA gestohlen habt.“ Er schüttelte lächelnd den Kopf, drehte die Augen nach oben.

„Sehr originelles Versteck!“

Willy blieb gelassen. „Und wenn wir Beweise haben, von denen Sie nichts wissen?“

„An die kommen Sie nur leider nicht mehr ran. Und zu Ihrer Information: Wir brauchen kein Gericht, um Sie in die Psychiatrie zu stecken. Wir haben unsere eigenen Anstalten, und zudem ausgezeichnete Spezialisten. Die werden sich mit Hingabe um Sie kümmern, glauben Sie mir! Danach denken Sie bestimmt nicht mehr an irgendwelche Beweise oder unser amüsantes Treffen hier.“

„Gehirnwäsche also?“, sagte Willy. Er war total aufgebracht. „Eine wirklich feine Methode, um sich aus der Affäre zu ziehen.“

„Welch böses Wort, ich mag es nicht. Sagen wir einfach, wir helfen Ihnen dabei, das eine oder andere aus Ihrem turbulenten Leben zu vergessen.“

Grace schickte George einen verachtenden Blick. „Du seelenloses Etwas! Dich kann man einfach nur bedauern!“

„Wie dem auch sei“, antwortete George unberührt, „wir bringen euch jetzt hier weg. Ihr stört uns nur bei unserer Arbeit.“

Das war das Stichwort für Willy. Lächelnd, fast übermütig trat er auf sein arrogantes Gegenüber zu. Langsam und gelassen, die Hände leicht erhoben, um keine Gegenwehr zu provozieren. Er senkte seinen Kopf, drehte die Augen nach oben, um Georges Reaktion auf keinen Fall zu verpassen.

„Ich habe jetzt alles, was ich wollte. Das reicht! Sehen Sie die Kamera?“

George war überrascht von dieser Andeutung. „Was meinen Sie damit?“

„Na, die Kamera. Das dünne, schwarze Röhrchen am linken Rand meiner Brille. Auf der anderen Seite befindet sich ein Mikrofon. Können Sie die Teile erkennen?“

George blickte kurz zu seinen Kollegen, sah dann wieder zu Willy. „Was soll das werden?“

„Die Kamera lief die ganze Zeit mit, ich habe unser gesamtes Gespräch gefilmt.“

Grace sah ihn überrascht an. „Davon hast du nie etwas erwähnt. Deshalb also diese Geheimniskrämerei um dein Navigationssystem.“

„War auch besser so, glaub mir. Das machte die Sache nur überzeugender.“

George lächelte, schüttelte erneut den Kopf. „Sie werden doch wohl nicht ernsthaft glauben, dass Sie diese Aufzeichnung behalten können?“ Doch dann stieg ein seltsames Gefühl in ihm auf. Willy war sehr intelligent, das wusste er. Dieses selbstbewusste Verhalten. Was hatte das zu bedeuten?

„Welche Aufzeichnung?“, fragte Willy und erwiderte das überhebliche Lachen achselzuckend. „Ich habe nichts dergleichen erwähnt.“

„Jetzt reichts mir. Nehmt ihm diesen verdammten Rucksack weg!“

Willys Blick wurde ernst. „Das würde ich mir an Ihrer Stelle gut überlegen, das könnte für Sie schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen.“

„Wieso, ist da eine Bombe drin?“

„Etwas ähnlich Brisantes!“

Die beiden Beamten, die den Rucksack an sich nehmen wollten, wichen verunsichert zurück. George wurde ungehalten, begann zu brüllen. „Schluss jetzt mit dem Theater! Wir haben lange genug nach eurer Pfeife getanzt. Führt sie endlich ab, ich will sie hier nicht mehr sehen!“

„Einen Moment noch!“, sagte Willy. Er hatte jetzt wieder dieses schelmische Lächeln im Gesicht, das George und Agent Bedell fast zur Weißglut brachte. „Was würden Sie dazu sagen, wenn wir jetzt den Spieß umdrehen?“

„Könnten Sie sich vielleicht etwas klarer ausdrücken?“

„Sie machen ab jetzt, was wir sagen, oder unser nettes Gespräch wird morgen weltweit von allen wichtigen Radio-und Fernsehsendern übertragen. Von den unzähligen Printmedien ganz zu schweigen.“

George lachte. „Aha, und wie wollen Sie das anstellen?“

„Sie haben bestimmt erfahren, dass ich schon vor Jahren mit kreativen Tricks gearbeitet habe. Einige Ihrer Kollegen können ein Lied davon singen. Aber ich war damals zu leichtsinnig, das wurde mir zum Verhängnis. Das passiert mir allerdings nie wieder. Glauben Sie wirklich, ich würde mich hierher wagen, ohne mich abzusichern? Das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?“

Langsam bekamen die Beamten Zweifel. Hatte Willy tatsächlich einen Trumpf im Ärmel? Ein besorgniserregender Gedanke. Doch sie schwiegen, ließen ihn weiterreden.

„Ich habe von Anfang an befürchtet, dass sich hier unsere Wege kreuzen würden und wir in einen Hinterhalt geraten. Es fällt mir zwar schwer, das zuzugeben, aber Sie sind leider auch nicht auf den Kopf gefallen. Ich musste also vorsorgen und habe unser Treffen live per Satellit übertragen, und zwar an viele meiner Freunde auf der ganzen Welt. Die haben alles aufgezeichnet und geben das Material an die Presse weiter, wenn ich mich nicht alle 24 Stunden in einer Live-Schaltung melde und ihnen bestätige, dass alles in bester Ordnung ist. Mit der Öffentlichkeit haben wir die größte und schlagkräftigste Armee der Welt hinter uns. Und wie gesagt, das ging über Satellit. Sie können also nicht verfolgen, wer die Sendung empfangen hat. Ein sehr aufschlussreiches Gespräch übrigens. Vielen Dank dafür.“ Er stützte seine Arme in die Hüften. „Na, was sagen Sie jetzt?“

Grace sah Willy mit großen Augen an, verstand endlich, was er mit seiner Andeutung einer Lebensversicherung gemeint hatte, ebenso erklärten sich jetzt die Telefongespräche im Hotel in Stanley. Sie wusste genau, dass sie ihm in dieser heiklen Situation blind vertrauen konnte. Ihre Angst war wie weggeblasen.

George, genau wie seinen Kollegen, waren die aggressiven Gesichtszüge entglitten. Er überlegte einen Moment. „Und das soll ich Ihnen glauben?“

„Sie werden es wohl glauben müssen!“

Agent Bedell wandte sich an seinen Vorgesetzten. „Die bluffen! Sie sitzen in der Falle und sehen keinen Ausweg mehr. Wie Ratten, die zum letzten Sprung ansetzen. Denken Sie nur an die Aktion in Argentinien!“

„Okay“, sagte George mit erhobener Stimme, „eure Pokerspielchen ziehen bei uns nicht mehr. Nehmt sie fest!“

Die beiden wurden nach Waffen durchsucht. Einer der Beamten riss Willy seine Brille und den Rucksack vom Rücken, trennte dabei sämtliche Anschlüsse und ließ alles ohne Bedenken auf den Boden fallen. Willy ließ das Geschehen mit Kopfschütteln über sich ergehen, während ihm Handschellen angelegt wurden. Er blickte zu George, lächelte trotz der rüden Aktion. „Jetzt sind Sie geliefert!“

„Wir werden sehen, wer hier geliefert ist.“ Er wandte sich an seine Leute. „Macht sie irgendwo fest und passt auf, dass sie keinen Schaden anrichten können!“

Die beiden saßen auf dem Boden, angekettet am Standfuß einer der Gerätschaften im Cockpit des Raumschiffs. Bis auf einen Wachsoldaten hatten alle den Raum verlassen.

„Wie wird das jetzt weitergehen?“, fragte Grace.

Willy zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist es sogar besser so. Dann bekommt diese verlogene Bande morgen ihre Quittung.“ Er lächelte Grace an. „Ich würde mich sogar darauf freuen, ganz ehrlich.“

„Und wenn eine Pressesperre verhängt wird? Schließlich geht es um ein Ereignis, das weltweite Unruhen auslösen könnte.“

„Unmöglich! Das wäre vielleicht bei uns in den Staaten möglich. Eventuell auch in einigen Ländern, zu denen wir enge Beziehungen pflegen. Aber auf der ganzen Welt, geschweige denn in diesem kurzen Zeitraum? Weißt du eigentlich, wie viele Menschen es auf diesem Planeten gibt, die uns Amerikanern am liebsten in den Arsch treten würden? Nein, das klappt nicht … nicht in allen Ländern. Und meine Freunde sitzen überall um den Globus verteilt.“

„Dann ist es vielleicht doch besser so, wie es ist. Die können uns nicht festhalten, oder?“

„Auf keinen Fall!“

„Und weshalb schaust du dann so grimmig?“

„Ich ärgere mich maßlos darüber, dass ich so ein Arschloch bin!“

„Arschloch? Wieso Arschloch?“

„Wegen meiner DVD, die ich im Rechner der Sternwarte vergessen habe. Kannst du dich noch an mein seltsames Verhalten vor dem Flug nach Córdoba erinnern? Ich wusste genau, dass ich einen Fehler gemacht hatte, kam aber nicht dahinter, welchen.“

Grace nickte. „Jetzt wissen wirs.“

„Dieser scheiß Alkohol, ich könnte mich ohrfeigen! Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn Jack noch bei uns wäre. Ich bin schuld daran, dass sie ihn erwischt haben! Hoffentlich geht es ihm gut! Hoffentlich geht es allen gut!“

„Wir können sowieso nichts mehr daran ändern. Wir können nur abwarten, was noch alles auf uns zukommt. Und was das Arschloch anbelangt … dann bin ich auch eines.“

„Ach ja? Und weshalb?“

„Weil ich auf George hereingefallen bin und nicht gemerkt habe, was er im Schilde führt.“

„Nein, vergiss es! Dieser hinterhältige Fatzke hat deine Gefühle doch nur dazu benutzt, um sich an dich heranzumachen. Der ist noch ein größeres Arschloch als alle anderen zusammen, uns eingeschlossen.“

„Du hast ja recht“, seufzte Grace. „George ist einer von der ganz üblen Sorte.“

„Sag’ ich ja! Und seine Kollegen auch. Die haben einfach nur Angst vor dir. Schließlich bist du Journalistin und damit ein Teil der schlagkräftigsten Armee dieses Planeten. Du hast die Öffentlichkeit hinter dir, das sind Millionen von Menschen, die zu dir halten. Also hat sich dieses Schwein an dich herangemacht, um die Bombe zu entschärfen, bevor sie hochgeht. Drecksack!“

Grace nickte. „Ist ihm Gott sei Dank nicht gelungen, sonst säßen wir nicht hier.“

„Und hätten die Welt nicht retten können“, fuhr Willy fort. „Es ist schon gut so, wie alles ist. Vertrau mir!“

Nach einer Weile kam einer der Agenten zurück, würdigte die beiden keines Blickes. Wortlos griff er sich den Rucksack und verließ den Raum. Willy ahnte, was der Grund dafür war. Er sah Grace zuversichtlich an, warf dann dem Beamten einen verachtenden Blick hinterher. „Siehst du? Es wird nicht lange dauern, bis sie rauskriegen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Und dass sie mehr zu verlieren haben als wir.“

„Glaubst du wirklich?“

„Jede Wette! Die haben Techniker hier, die sich mit solchen Gerätschaften auskennen. Keine Angst, uns passiert nichts! Die kommen bald angekrochen und bitten uns um Verzeihung.“

Und tatsächlich. Ein Experte für Funktechnik konnte die Arbeitsweise der Vorrichtung nachvollziehen und bei einem Test sogar das gesendete Signal vom Satelliten empfangen. Beeindruckt von der ausgefeilten Konstruktion konfrontierte er die Beamten mit den Ergebnissen und zeigte ihnen die kleine Relaisstation an der Treppe, die er kurz zuvor entdeckt hatte. George traf es wie ein Schlag, er musste schon wieder eine schmerzliche Niederlage hinnehmen. Es gab keine andere Möglichkeit, als mit den beiden zu kooperieren. Er ging mit seinen Kollegen zurück zum Cockpit, ließ Grace und Willy die Handschellen abnehmen.

„Wir werden ab jetzt zusammenarbeiten.“

„Sie glauben gar nicht, wie sehr ich diesen Moment herbeigesehnt habe“, antwortete Willy. „Das ist meine Art, mich für das zu rächen, was mir angetan wurde. Und Ihrer Einsicht nach zu urteilen gehe ich davon aus, dass Sie bereit sind, unsere Forderungen zu akzeptieren.“

George blieb ruhig, um das Beste aus der Situation zu machen. „Wie stellen Sie sich alles Weitere vor?“

Willy legte einen Arm um Grace’ Schulter, schenkte ihr einen zuversichtlichen Blick. Dann sah er wieder zu George.

„Sie können diese Station gerne studieren, kein Problem. Aber wir bleiben hier und bringen unsere Mission zu Ende, und niemand wird uns davon abhalten. Wir werden die Erde retten, das hat absolute Priorität. Und jetzt würde ich mich gerne mit Ihren Technikern unterhalten.“

„Moment noch!“, fiel ihm Grace ins Wort. „Ich habe noch eine Bedingung.“

„Und die wäre?“, fragte George. Dabei nahm er all seine Kräfte zusammen, um nicht niedergeschlagen zu wirken und dadurch vor Grace sein Gesicht zu verlieren. In Wirklichkeit war er ratlos, bloßgestellt, von der neuen Situation total überrumpelt. Es war eine Schmach, von ihr Befehle entgegennehmen zu müssen. „Ihr lasst sofort unsere Freunde frei! Joe, Jack, Nico und Ethan. Ich möchte umgehend mit ihnen sprechen. Das ist meine Bedingung.“

George schwieg einen Moment, dachte nach. Dann nickte er und wandte sich an seinen Kollegen Bedell. „Sie werden das unverzüglich veranlassen! Und sagen Sie dem Leiter der Technikercrew Bescheid, dass Mr. Boyle sich mit ihm unterhalten möchte!“

Willy hatte gewonnen, umarmte Grace und wandte sich dann wieder George zu. „Sehr vernünftig, Mr. …?“ „Brody.“

„Okay, Mr. Brody. Ich kümmere mich wohl zuerst darum, für meine Gerätschaften eine geeignete Stromquelle zu finden, damit der Kontakt zu meinen Freunden nicht abreißt. Sie sind doch sicher damit einverstanden? Schließlich ist es auch in Ihrem Interesse.“

„Tun Sie das!“, sagte er kurz und bündig und verließ mit seiner Mannschaft den Raum.

Einen Moment später kam ein Mann in Willys Alter zur Tür herein, Spezialist für Informatik und Elektrotechnik und Leiter der wissenschaftlichen Abteilung einer geheimen Forschungseinrichtung der Regierung. Willy begrüßte den Experten und sie begannen sofort ein intensives Gespräch.

Mit fachwissenschaftlichen Ausdrücken, binären Codes und allerlei unverständlichen Bezeichnungen über die Funktionsweise hochtechnischer Geräte konnte Grace nur wenig anfangen. Nach einer Weile tippte sie Willy auf die Schulter, holte ihn aus seinem Element. Die Begeisterung über die Aussicht, in den nächsten Wochen alle Geheimnisse über die Anunnaki erfahren zu dürfen, spiegelte sich in seinen Augen. Grace erkannte diese Leidenschaft, doch ihre Gedanken drängten seit der Konfrontation mit den Beamten des CIA in eine ganz andere Richtung. „Sei mir bitte nicht böse, aber ich fühle mich hier überflüssig. Wie das fünfte Rad am Wagen.“

Willy blickte sie schweigend an, schüttelte den Kopf.

„Nein, Grace. Soll ich dir die Wahrheit sagen? Du bist genauso neugierig wie ich, was uns hier alles erwartet.

Aber du machst dir viel mehr Sorgen um unsere Freunde. Hab’ ich recht?“

Sie nickte.

„Ich verstehe das, du kannst gerne verschwinden. Und mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff!“

„Wirklich?“

„Klar! Die können uns nichts mehr antun, wir haben alle Fäden in der Hand.“

Willy nahm Grace in den Arm. Tränen liefen über ihre Wangen. Tränen der Freude, in Willy einen verständnisvollen Mitstreiter zu haben und ihre anderen Freunde bald wiederzusehen. „Ich komme nach, sobald ich unseren Job hier erledigt habe. Du weißt, was ich meine.“

„Ich weiß. Danke. Und pass auf dich auf!“

„Mach ich.“

Grace wurde mit einem Helikopter zur Küste geflogen. Sie landeten zum Auftanken auf dem Raketenkreuzer, der schon auf den Falklandinseln Jagd auf sie gemacht hatte. Zu ihrer großen Freude durfte sie Ethan in der Krankenstation des Schiffes besuchen.

Er schlief, als sie sein Zimmer betrat. „Ethan?“, sagte sie leise. „Ethan?“

Behäbig öffnete er seine Augen, war ziemlich erstaunt, als er sie plötzlich sah. „Hallo, mein Mädchen. Was machst du denn hier? Ich dachte schon, ich würde euch nie wiedersehen.“

„Das dachte ich auch“, sagte Grace, setzte sich auf einen Stuhl neben seinem Bett und drückte seine Hand. „Aber das Blatt hat sich gewendet. Wie wurden Sie behandelt? Hat man Sie ordentlich verarztet?“

Ethan rutschte in seinem Krankenbett nach hinten, um etwas aufrechter zu sitzen. „Zunächst nicht so toll“, sagte er missmutig, „aber plötzlich sind alle so nett zu mir. Ich werde auch nicht mehr bewacht. Jetzt hatte ich auch endlich die Gelegenheit, etwas zu schlafen. Was ist bloß in die gefahren?“

Grace lächelte. „Das ist eine lange Geschichte. Ich werde gleich nach Stanley geflogen, der Hubschrauber wartet schon. Ich wollte mich nur überzeugen, dass es Ihnen gut geht. Und ich kann Ihnen versichern, dass es auch Ihnen an nichts mehr fehlen wird, dafür hat Willy gesorgt. Diese Leute werden Sie behandeln wie ein rohes Ei, glauben Sie mir!“

Ethan nickte, lächelte dabei. „Natürlich glaube ich dir, mein Mädchen. Aber jetzt erzähl mir doch, was ihr alles erlebt habt! Und weshalb ich plötzlich nicht mehr verhört werde!“

„Später, ich rufe Sie an. Ich habs wirklich eilig. Ich brauche nur noch Ihre Telefonnummer.“

„Telefon? Hab’ ich nicht. Aber du kannst es bei Edward versuchen. Der gibt mir Bescheid, wenn du anrufst.“

Grace notierte sich die Nummer. „Wie lange werden Sie noch hier sein?“

„Der Arzt sagte mir vor wenigen Minuten, dass ich in spätestens einer Woche nach Hause gebracht werde. Und meine Philomena auch.“ Der krause Bart hob sich durch das Strahlen in seinem Gesicht.

„Schön, ich freue mich“, sagte Grace, gab Ethan einen Kuss auf die Wange. „Und sehen Sie zu, dass Sie schnell wieder gesund werden!“

Sie verließ das Zimmer und machte sich auf den Weg zum Hubschrauber.

Nach sechs weiteren Zwischenlandungen bei antarktischen Forschungseinrichtungen und auf Grahamland kamen nach fast dreitausend Meilen Flug endlich die Falklandinseln in Sicht. An Schlaf war durch die lauten Turbinen des Militärhubschraubers, trotz Gehörschutz, nicht zu denken gewesen. Den holte Grace nach, als sie die Nacht über auf das Flugzeug warten musste, das sie schließlich am nächsten Morgen nach Chile ausflog. Am Flughafen von Punta Arena war bereits ein Linienflug nach Harrisburg für sie reserviert.