DAS FEUER BRACH IN DER KÜCHE AUS und griff auf den Speisesaal des Hotels über. Ohne Warnung, bis auf den einen erstickten Schreckensschrei vielleicht, wälzte sich eine Feuerkugel (ja, wahrhaftig, eine Kugel) durch den gewölbten, mit Läden versehenen Durchgang von der Küche, ein Knäuel wildbewegter Farbe, so gewaltig, daß ihm eine bedrohliche Lebensenergie innezuwohnen schien, was selbstverständlich nicht der Fall war; es war lediglich ein wissenschaftliches oder natürliches Phänomen, aber kein Zeichen Gottes. Einen Moment lang war ich wie gelähmt, und ich erinnere mich dieses Augenblicks bis ins kleinste Detail: Schnell und behende wie ein Eichhörnchen schoß die Flamme die langen zinnoberroten Vorhänge empor und sprang von Volant zu Volant, den Stoff zu Asche verbrennend, die auf die Speisenden herabfiel. Es war kaum möglich, als Zeuge eines solchen Ereignisses nicht auf den Gedanken zu kommen, hier sei eine Katastrophe als Strafe für vergangene oder zukünftige Sünden über die Gäste hereingebrochen.
Wenn die Realität des Feuers nicht sogleich zu meinem Bewußtsein vordrang, so ließ mich die Hitze schnell genug von meinem Sitzplatz aufspringen. Ich war umgeben von einem Chaos umgestürzter Tische und Stühle, von Menschen, die zur Tür des Speisesaals drängten, von den Geräuschen zerbrechenden Glases und Porzellans. Zum Glück hatte ein geistesgegenwärtiger Gast die Fenster zur Straße aufgerissen – große Fenster, durch die ein menschlicher Körper ins Freie gelangen konnte. Ich erinnere mich, daß ich mich seitlich durch eins der Fenster warf und mich, sobald ich draußen im Schnee gelandet war, zur Seite rollte, damit andere meinem Beispiel folgen konnten. Denn in diesem Moment begann ich endlich an andere zu denken, und ich sprang auf, um denen zu helfen, die Schnittwunden und Blutergüsse oder sogar Knochenbrüche erlitten hatten, die in der allgemeinen Panik getreten worden waren, die zuviel Rauch eingeatmet hatten. Die Gesichter der Entkommenen leuchteten im Schein der Flammen, die heller loderten als jedes Licht, das man in der Nacht hätte erzeugen können, und ich erkannte die Benommenheit derjenigen, die sich in meiner Nähe befanden. Viele husteten, manche weinten, und alle sahen aus, als hätten sie einen Schlag auf den Kopf erhalten. Einige Männer wollten heldenhaft sein und versuchten, ins Gebäude zurückzulaufen, um die zu retten, die noch drinnen waren, und ich glaube, einem Studenten gelang es tatsächlich, eine alte Frau ins Freie zu ziehen, die neben dem Büffet in Ohnmacht gefallen war; aber eigentlich war nicht daran zu denken, das Gebäude noch einmal zu betreten, dem man entkommen war. Die Hitze war so stark, daß wir draußen Versammelten immer weiter über die Straße zurückweichen mußten, bis wir alle unter den kahlen Bäumen – Eichen, Ulmen und stattliche Platanen – im viereckigen Hof des College standen.
Später erfuhren wir, daß ein paar Tropfen Öl, auf dem Herd vergossen, das Feuer verursacht hatten. Eine Küchenhilfe wollte es mit einem Krug Wasser löschen, hatte aber in ihrer Aufregung die Flammen mit einem Lappen noch angefacht. Etwa zwanzig Gästen in den oberen Etagen des Hotels gelang es nicht mehr, aus den Zimmern zu fliehen; sie verbrannten alle – unter ihnen Myles Chapin von der naturwissenschaftlichen Fakultät. Was er in einem Hotelzimmer zu suchen hatte, während sich seine Frau und sein Kind sicher und wohlbehalten daheim in der Wheelock Street aufhielten, darüber möchte ich hier keine Mutmaßungen anstellen. (Vielleicht zögerte der Mann gerade wegen der kompromittierenden Umstände, in denen er sich befand, eine Sekunde länger, als er sich erlauben konnte.) Erstaunlicherweise kam jedoch nur ein Angehöriger des Küchenpersonals um, was der Tatsache zu danken war, daß die Hintertür offenstand und das Feuer sich, vom Luftzug zwischen der Tür und den Fenstern getrieben, in Richtung Speisesaal ausbreitete. So konnte das Personal unbeschadet entkommen, auch die unselige Küchenhilfe, die durch ihre Ungeschicklichkeit die Katastrophe ausgelöst hatte.
Das Hotel stand genau gegenüber vom Thrupp College, an dem ich Englische Literatur und Rhetorik unterrichtete. Thrupp war und ist (auch heute noch, da ich meine Geschichte niederschreibe) eine reine Männerhochschule von, nun, sagen wir, bescheidenem Renommee. Das College besteht aus einer Ansammlung wahllos zusammengewürfelter Gebäude, unter ihnen einige wirklich häßliche, und wurde zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Stadtvätern erbaut, die ursprünglich ein Priesterseminar gründen wollten, sich später aber mit einer kleinen Enklave geisteswissenschaftlicher Forschung und klassischer Bildung begnügten. Zwar gab es für die Verwaltung einen imposanten Bau im georgianischen Stil, doch war er umgeben von allzu vielen düsteren Backsteingebäuden mit kleinen Fenstern und Türmchen an den merkwürdigsten Stellen, wie das für den wohl scheußlichsten amerikanischen Baustil, die viktorianische Neogotik, kennzeichnend war. Mehrere dieser Gebäude umschlossen den viereckigen Hof; die übrigen uferten in die Straßen eines Städtchens aus, das beinahe ganz im Schatten des College stand. Aber da das College Wert darauf legte, das typische Flair des neuenglischen Dorfs zu bewahren, hatte man die im Kolonialstil erbauten Holzschindelhäuser in der Wheelock Street zu Wohnungen für die höherrangigen Dozenten der verschiedenen Fakultäten umfunktioniert. Draußen am Ortsrand, noch vor den Granithügeln, lagen die Bauernhöfe: landwirtschaftliche Betriebe, deren Eigentümer seit Generationen mit dem ausgemergelten felsigen Boden kämpften, um ihm ein mageres Auskommen abzuringen.
Wir Entkommenen, vom Glück Begünstigten, standen im Zentrum dieser kleinen Welt, noch viel zu benommen, um unter der Einwirkung der Kälte und des Schnees, der unsere Schuhe durchnäßte, zu frösteln. Viele Menschen starrten mit zusammengekniffenen Augen in die Flammen oder wichen, die Arme über die Augen gelegt, taumelnd vor der Hitze zurück. Ich selbst schob mich in meiner Verwirrung ziellos durch das Gedränge und kam gar nicht auf den Gedanken, einfach über das Karree zur Woram Hall zu gehen, wo ich mich in mein Bett hätte verkriechen können. So geschah es, daß mein Blick mitten im Durcheinander auf eine Frau fiel, die an einem Lampenpfosten stand.
Ich gehöre zu den Männern, die, wenn sie einer Frau begegnen, zuerst ihr Gesicht mustern, dann die Taille (diese sanften Rundungen, die so sehr Jugend und Vitalität signalisieren), schließlich das Haar, um innerhalb eines Wimpernschlags seinen Glanz und seine Länge zu beurteilen. Ich weiß, es gibt Männer, bei denen es genau umgekehrt ist, und andere, die unweigerlich zuerst auf das Mieder eines Kleids schauen und dann auf einen Schimmer Bein hoffen. Doch diese Frau konnte ich nicht auf so klinische Art zergliedern, weil ich gebannt war von ihrer ganzen Erscheinung.
Ich will nicht sagen reizlos, denn wer von uns ist in der Jugend schon ohne Reiz? Aber ich kann auch nicht sagen reizvoll; ihr Gesicht und ihre äußere Erscheinung zeichneten sich durch eine Frische der Farben und eine Kraft der Züge aus, die keinen Gedanken an Zartheit und Lenksamkeit aufkommen ließen, zwei Eigenschaften, die für mich bisher eine Voraussetzung weiblicher Schönheit waren. Zudem war sie übermäßig groß, und das kann ja bei Frauen abschreckend wirken. Doch es ging eine Ruhe von ihr aus, die unbestreitbar faszinierend war; und wenn ich heute, in diesem ratternden Eisenbahnabteil, die Augen schließe, kann ich mich mühelos mehr als drei Jahrzehnte zurückversetzen und ihre reglose Gestalt inmitten der beinahe hysterischen Menge vor mir sehen. Und ebenso – wie damals, als ich mich der Stelle näherte, wo sie unter der Laterne stand – das Goldbraun ihrer Augen, zu dem ihr topasfarbenes Kleid die perfekte Ergänzung bildete (wobei dies übrigens ein Geschick Etnas war, in dem niemand sie übertraf: Kleidung und Schmuck genau auf die besondere Eigenart ihrer Reize abzustimmen).
Sie hatte mandelförmige Augen und dichte dunkelbraune Wimpern. Ihre Nasenflügel und ihre Wangenknochen waren stark ausgeprägt, als flösse fremdländisches Blut in ihren Adern, und ich stellte mir vor, daß ihr das nußbraune Haar in gelöstem Zustand bis zur Taille herabfallen würde. Sie hielt ein Kind in den Armen, und ich glaubte, es wäre das ihre. Mein Verlangen nach dieser Unbekannten flammte augenblicklich mit einer solchen unangemessenen Heftigkeit auf, daß es mich erschreckte; ich habe mich oft gefragt, ob dieses qualvolle Begehren, dieses Feuer im Leib, dieser heiße Wunsch zu berühren, nicht einfach eine Folge der erregenden Umstände des Feuers waren? Wäre ich ebenso hingerissen gewesen, wenn ich Etna Bliss im Speisesaal gesehen hätte? Hätte ich mich nach ihr umgedreht, hätte ich sie überhaupt bemerkt, wenn sie hinter mir an einer Straßenecke gestanden hätte? Und meine Antwort ist immer die gleiche: Ich weiß, daß es überhaupt keine Rolle gespielt hätte, an welchem Ort oder Tag ich der Frau zum erstenmal begegnet wäre – meine Reaktion wäre genauso spontan und genauso erschreckend gewesen.
(In einer weiteren Nebenbemerkung möchte ich an dieser Stelle hinzufügen, daß ich in meinen vierundsechzig Lebensjahren beobachtet habe, daß Leidenschaft die Persönlichkeit gleichermaßen zerrüttet und bereichert, und dies nicht langsam und allmählich, sondern augenblicklich und auf eine Weise, daß das, was bleibt, nicht ausgewogen ist, sondern in beiden Richtungen völlig aus dem Lot gerät: Die Zerrüttung resultiert aus der Bereitschaft, alles zu tun, um das Objekt der Begierde für sich zu gewinnen, selbst wenn das heißt, sich zu Lug und Trug herzugeben und das herabwürdigen zu lassen, was einem einmal teuer war; die Bereicherung resultiert aus der Erkenntnis, daß man fähig ist, mit großem Herzen zu lieben, eine Einsicht, die einem trotz aller blutigen Kämpfe paradoxerweise ein Gefühl von Dankbarkeit und Stolz beschert. Aber damals hatte ich von alledem natürlich keine Ahnung.)
Nachdem ich mich recht ungeduldig und zerstreut um einen älteren Mann gekümmert hatte, der verzweifelt seine Frau suchte und sich mit feuchten Augen an meinen Arm geklammert hatte, wandte ich mich wieder der Stelle zu, wo die Frau mit dem Kind gestanden hatte, und bemerkte, daß sie fort war. Mit einem Gefühl der Panik, das ich nur als völlig uncharakteristisch und möglicherweise wahnsinnig beschreiben kann – zum Glück fiel ein solcher Zustand heftiger Gemütserregung in dieser Menge gar nicht auf –, suchte ich sie auf dem ganzen Karree wie ein Vater sein verlorenes Kind. Viele Menschen begaben sich bereits auf den Weg nach Hause oder zu wartenden Wagen, was keineswegs zur Beruhigung meiner ängstlichen Erregung beitrug, während andere mit Decken und Mänteln, Wasser und Kakao und sogar geistigen Getränken für die Opfer des Brands aus den umliegenden Häusern kamen. Manche der Leute, die im Speisesaal gesessen hatten, waren jetzt in Mäntel und Jacken gehüllt, die ihnen entweder zu groß oder zu klein waren; sie sahen aus wie Flüchtlinge, die sich in den Hof des College gerettet hatten.
Inzwischen war endlich die Feuerwehr eingetroffen, und die Männer richteten die Schläuche auf das Hotel. Meines Wissens retteten sie an diesem Abend nicht ein einziges Menschenleben, auch wenn sie das verkohlte Gebäude in Wasser ertränkten, das vor Morgengrauen zu Eis gefror.
Ich wischte mir Wangen und Stirn mit meinem Taschentuch. Soweit ich mich erinnere, war mir überhaupt nicht kalt. Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander, während ich in der sich lichtenden Menge umherlief. Wie war es möglich, daß diese Frau mir in der ganzen Zeit, die ich am Thrupp College lehrte, nie aufgefallen war? Der Ort war nicht groß genug, um seinen Einwohnern Anonymität zu erlauben. Und warum hatte sie im Hotel zu Abend gegessen? Hatte sie hinter mir gesessen, während ich einsam und allein meine gedünstete Seezunge verspeiste? War das Kind bei ihr gewesen?
So machte ich eine ganze Weile weiter, bis meine Schritte langsamer wurden. Es war nicht etwa so, daß das Verlangen nachgelassen hatte, ich wurde einfach von Erschöpfung überwältigt. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich einen ungeheuren Schock erlitten hatte: Die Knie wurden mir weich, und meine Hände begannen zu zittern. Jetzt endlich wurde ich auch der Kälte gewahr: Es kann an diesem Abend nicht mehr als vier Grad gehabt haben. Ich beschloß, Zuflucht in der Wärme zu suchen, und durchquerte vielleicht zum fünftenmal den Hof, als ich den Schrei eines Kindes hörte. Sofort drehte ich mich nach dem Geräusch um und sah zwei Frauen in der Dunkelheit stehen. Die größere war halb verborgen unter einer Decke, die um ihre Schultern lag und auch das Kind umhüllte. An ihrem Arm hing eine ältere Frau, der nicht wohl zu sein schien. Sie hustete stark.
Als ich mich der kleinen Gruppe näherte, bemerkte ich, daß die Ruhe, die mich an der Frau mit den goldbraunen Augen so sehr fasziniert hatte, jetzt Besorgnis gewichen war.
»Madam«, sagte ich, geschwind näher tretend (so geschwind wie das Feuer?), »brauchen Sie Hilfe?«
Ob Etna Bliss mich in diesem Augenblick überhaupt wahrnahm oder vielleicht erst am folgenden Tag, kann ich nicht sagen; sie war in verständlicher Erregung.
»Ich muß meine Tante und die Tochter meiner Cousine nach Hause bringen«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie eine Droschke für uns auftreiben könnten. Meine Tante hat sehr viel Rauch eingeatmet und kann den Weg bis zum Haus unmöglich zu Fuß bewältigen.«
»Selbstverständlich«, sagte ich. »Würden Sie hier warten?«
»Ja«, antwortete sie schlicht, mir das höchste Vertrauen gewährend, indem sie das Wohl ihrer Tante in meine Hände legte.
An diesem Abend wurde mir klar, daß ein Mann niemals so tatkräftig und wachsam ist wie im Dienst einer Frau, der er zu gefallen hofft. Unverzüglich trat ich auf die Straße hinaus, in der Hand einige Geldscheine, die das Augenmerk eines Droschkenkutschers auf sich zogen, der zwar bereits Fahrgäste hatte, aber zweifellos eine Gelegenheit sah, noch mehr zu verdienen, indem er weitere Leute in sein Gefährt mit den zerschlissenen Sitzpolstern quetschte. Während er noch rechnete, sprang ich auf den Wagen und gab sofort Anweisungen.
»Sir, das geht nicht«, protestierte er, auf ein zusätzliches Trinkgeld erpicht.
Aber ich herrschte ihn an, und mit Recht. »Hier ist ein schreckliches Unglück geschehen, und überall sind die Menschen in großer Not. Sie sollten helfen, ohne etwas dafür zu verlangen«, sagte ich.
Zu meinem Erstaunen, denn ich hatte mittlerweile an der Realität meiner Begegnung mit der Frau zu zweifeln begonnen (und, genauer gesagt, Zweifel bekommen, daß eine so faszinierende Frau lange ohne Beistand bleiben würde), standen die beiden Frauen mit dem Kind noch dort, wo ich sie zurückgelassen hatte. Ich half zuerst der älteren, die jetzt heftig zitterte, in den Wagen und danach der jüngeren mit dem Kind: Ihre Hand lag überraschend warm in meiner eiskalten. Die anderen Fahrgäste, die nach Hause wollten, um ein heißes Bad zu nehmen, konnten ihre Verärgerung über die Verzögerung kaum bezähmen, aber sie rückten doch zusammen, um meinen Schützlingen und mir Platz zu machen.
»Madam, ich brauche eine Adresse«, sagte ich.
Die Fahrt kann keine halbe Stunde gedauert haben, obwohl der Kutscher zuerst die andere Gruppe nach Hause brachte. Ich saß der immer noch hustenden Tante gegenüber und einem Paar, das vielleicht der Besitztümer gedachte, die es in der Hotelgarderobe verloren hatte (einen gefärbten Fuchsmantel?, einen Krokodillederkoffer?), aber ich nahm einzig den leichten Druck an meinem Ellbogen wahr, der einmal stärker, einmal schwächer wurde, je nachdem, ob die Frau an meiner Seite sich um das Kind kümmerte oder sich vorbeugte, um ihrer Tante die Hand auf den Arm zu legen. Und allein dieser leichte Druck, dessen sich die Frau neben mir zweifellos überhaupt nicht bewußt war, bescherte mir den Moment intensivster Körperlichkeit, den ich bis dahin erlebt hatte – so beeindruckend, daß ich nur die Augen zu schließen brauche, um hier, in meinem Eisenbahnabteil, seine köstliche Verheißung und, ja, seine Erotik wieder heraufzubeschwören, trotz allem, was danach folgte und eine so fragile Erinnerung hätte zerstören können.
Wir fuhren die Wheelock Street hinauf, bis wir zu einem altmodischen bienenwachsfarbenen Holzschindelhaus kamen, einem schmucklosen Bau wie die meisten Häuser in dieser Straße. Mir persönlich war diese Schnörkellosigkeit weit sympathischer als die Zuckerbäckerarchitektur in der benachbarten Gill Street mit diesen großen, winkligen Häusern, überall mit Ziergiebeln und Balkonen befrachtet, ohne jede Symmetrie. Allerdings boten diese neueren Häuser bessere Möglichkeiten zum Einbau sanitärer Anlagen, was einen vielleicht dazu bewegen konnte, die Ästhetik hintanzustellen.
Das Haus der Familie Bliss hatte elf Zimmer – die Dienstbotenunterkünfte in der Mansarde nicht mitgerechnet –, davon zwei Salons, ein Speisezimmer und ein Arbeitszimmer. Es wurde seit dem vergangenen Jahr mit Dampf beheizt, der so geräuschvoll zischend und glucksend durch silberne Heizkörper strömte, daß ich manchmal, wenn wir in diesen überladenen Räumen mit den aufdringlichen Tapeten Backgammon spielten oder Tee tranken oder auch beim Abendessen saßen, fürchtete, die Geräte könnten jeden Moment explodieren und uns alle mit kochendheißem Dampf verbrühen.
»Ach, dieses Haus kenne ich, Madam«, sagte ich. »Hier wohnt William Bliss.«
»Er ist mein Onkel.«
Erst da sah ich, daß die Frau mir gegenüber, die ich für alt gehalten hatte, allenfalls mittleren Alters war: die Ehefrau des Physikprofessors, und ich war ihr bei mindestens drei Veranstaltungen im College schon begegnet.
»Mrs. Bliss«, sagte ich zu ihr, »bitte verzeihen Sie. Ich wußte nicht …«
Sie war ihrer Stimme nicht mächtig und winkte mit flatternder Hand ab.
Ich brachte die beiden Frauen zur Haustür, die beinahe unverzüglich von William Bliss geöffnet wurde.
»Van Tassel! Was hat das zu bedeuten?« fragte er.
»Ein Brand im Hotel«, erklärte ich eilig. »Wir können von Glück sagen, daß wir mit dem Leben davongekommen sind.«
»Guter Gott!« Er legte den Arm um seine Frau und führte sie ins Haus. »Wir haben uns schon über das schaurige Bimmeln und Tuten gewundert.«
Ein Hausmädchen nahm der Frau mit den goldbraunen Augen das Kind ab, worauf diese sich mir zuwandte. Sie schob die Wolldecke von ihren Schultern und reichte sie mir.
»Bitte, nehmen Sie die für die Heimfahrt«, sagte sie. »Meine Tante und ich stehen tief in Ihrer Schuld.«
»Nicholas Van Tassel«, sagte ich.
»Etna Bliss.«
Wieder legte sie ihre warme Hand in meine Hand. »Wie kalt Sie sind.« Sie blickte zu Boden und entzog mir ihre Hand gleich wieder. »Wollen Sie nicht hereinkommen und sich aufwärmen?«
Obwohl ich nichts sehnlicher wünschte, als in dieses Haus einzutreten, das Wärme bot und mögliche Liebe (wie schnell Hoffnung wächst!), wußte ich, daß das unter den Umständen nicht schicklich wäre.
»Das ist sehr liebenswürdig, danke, aber ich möchte mich verabschieden«, sagte ich. »Sie müssen jetzt hineingehen.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Van Tassel«, sagte sie, und ich hatte den Eindruck, daß sie in Gedanken bereits bei ihrer Tante und dem Kind war und bei dem heißen Bad, das sie gewiß erwartete, denn mit diesen Worten schloß sie die Tür.
An dieser Stelle vielleicht ein Wort über meine eigenen Lebensumstände zu jener Zeit, im Dezember 1899. Ich halte es für wichtig, die Tatsachen seiner Herkunft und Geburt an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Es wird über den Forderungen des Alltags häufig versäumt, über diese Dinge zu sprechen, und dann versinken sie mit der Zeit in den Nebeln der Vergangenheit. Mein Vater, Thomas Van Tassel, kämpfte im Sezessionskrieg beim 64. New Yorker Regiment und verlor in Antietam ein Bein, was seiner Manneskraft jedoch keinerlei Abbruch tat; ich war eines von elf Kindern, die er mit drei einander ablösenden Ehefrauen zeugte. Meine Mutter, seine erste Frau, starb bei meiner Geburt, so daß ich sie nicht kennengelernt habe. Ich kannte nur die beiden anderen Frauen. Mein Vater war nicht nur ein produktiver, sondern auch ein wagemutiger Mann, der im Lauf seines Lebens drei beachtliche Geschäftsunternehmen aufbaute: eine Druckerei, wo ich in jungen Jahren in die Lehre kam; eine Wagnerwerkstatt; und dann, als das Pferd vom Motor verdrängt wurde, eine Automobilhandlung. Erinnerungen an meinen Vater spielen vor allem in der Druckerei, sonst kannte ich ihn kaum. In diese Räume, in denen es nach Papier und Druckerschwärze roch, floh ich oft aus unserem überfüllten Haus in Tarrytown, New York, wo zunächst die zweite und dann die dritte Ehefrau herrschte, die eine kalt, die andere schwermütig, keine von beiden mir besonders gewogen. Ich war ja der Sohn der ersten Frau, der einzigen, die mein Vater geliebt hatte, wie er in regelmäßigen Abständen hemmungslos zu verkünden pflegte, ohne sich darum zu kümmern, daß diese Äußerung unklug war und stets Traurigkeit oder Kälte hervorrief. Jedoch fehlte es mir in der Kindheit nicht ganz an mütterlicher Wärme; ich hatte eine Schwester, der ich sehr nahestand, Meritable, ebendie Schwester, zu deren Begräbnis ich jetzt reise.
Vielleicht weil ich so viel mit dem Druckereigewerbe zu tun hatte, entwickelte sich bei mir schon früh eine Leidenschaft zu lernen, und so wurde ich mit sechzehn aufs Dartmouth College geschickt. Ich erinnere mich noch heute, wie glücklich ich war, als ich entdeckte, daß ich ein Zimmer für mich allein haben würde. Zu Hause hatte ich mir das Zimmer stets mit mindestens drei Geschwistern teilen müssen.
Das College genießt einen beachtlichen Ruf und ist weithin bekannt, ich lasse mich deshalb an dieser Stelle nicht weiter darüber aus, sondern beschränke mich auf die Bemerkung, daß ich dort kurze Zeit mit dem Gedanken spielte, Geistlicher zu werden, diese Absicht jedoch später wieder aufgab, da mir die rechte Frömmigkeit fehlte.
Nach meiner Promotion, ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt, reiste ich zwei Jahre im Ausland, dann wurde mir der Posten eines Lehrbeauftragten für Englische Literatur und Rhetorik am Thrupp College angeboten, einer Hochschule etwa fünfzig Kilometer südöstlich meiner Alma mater. Ich sagte mit dem Gedanken zu, daß ich an einer kleineren und weniger bekannten Hochschule wahrscheinlich bessere Aufstiegschancen hätte und es bald zum ordentlichen Professor bringen würde, eines Tages vielleicht sogar zum Fakultätsdekan, während mir diese Positionen bei einem Verbleib in Dartmouth möglicherweise verwehrt bleiben würden. Einen Posten außerhalb Neuenglands anzunehmen kam mir nicht in den Sinn, obwohl es entsprechende Gelegenheiten gab; ich hatte mir die Sitten und Gepflogenheiten Neuenglands so gründlich angeeignet, daß ich mich längst nicht mehr als New Yorker betrachtete. Ich war von Anfang an bestrebt, mich als alteingesessener Bürger Neuenglands darzustellen, wobei ich mich, wie ich nur ungern gestehe, während meiner ersten Monate in Dartmouth sogar zu einer Fälschung meiner Biographie hinreißen ließ, die aufrechtzuerhalten allerdings höchste Schwierigkeiten bereitete. Ich gab auf, noch ehe ich mein erstes Jahr absolviert hatte. (In Dartmouth strich ich das zweite »a« aus meinem Vornamen Nicholaas.)
Mein Vater hatte es bei meiner Rückkehr aus Europa zu bescheidenem Wohlstand gebracht, und ich hätte mir durchaus ein eigenes Haus in Thrupp leisten können, aber ich zog es vor, in die zum College gehörige Woram Hall zu ziehen, einen klassizistischen Bau, der allgemein Worms genannt wurde. Mir lag nichts daran, ganz isoliert zu leben, und ich glaubte irrigerweise, daß ich, wenn ich näher bei den Studenten lebte, sie besser verstehen und entsprechend ein besserer Lehrer werden würde. In Wirklichkeit war es wohl eher umgekehrt: Nähe erzeugte, wie ich feststellen mußte, meist eine schlecht verhohlene Feindseligkeit, die mich manches Mal verblüffte.
Meine Räume in der Woram Hall umfaßten eine Bibliothek, ein Schlafzimmer und einen Salon, in dem ich Gäste empfing und private Unterrichtsstunden abhielt. Wie in Neuengland seit zweihundert Jahren strenger kalvinistischer Lebensführung Brauch, richtete ich diese Räume mit soliden, schmucklosen Möbelstücken ein – fünf Stühle mit geradem Rücken, ein Himmelbett, eine Frisierkommode, eine Truhe aus Zedernholz, dazu ein hoher Hocker und ein Schreibpult, in dem ich meine Papiere aufbewahrte – und verzichtete auf die überladene Pracht, die zu jener Zeit andernorts so sehr in Mode und allenthalben zu besichtigen war. (Ich muß dabei an Moxons Wohnung denken: Man konnte sich kaum drehen vor Sofas und Sitzkissen, englischen Sekretären, Samtportieren, verschnörkelten Marmoruhren, Kamingittern und Mahagonitischchen.) Und wie die Form den Inhalt bestimmen kann, so paßte ich meine täglichen Gewohnheiten meiner spartanischen Umgebung an, stand morgens sehr zeitig auf, machte mir Bewegung, kam pünktlich zum Unterricht, griff, wo nötig, mit fester Hand durch und verlangte viel von meinen Studenten. Die Vorstellung, daß meine Studenten und Kollegen mich streng fanden, freut mich zwar nicht, aber ich bin sicher, allgemein so gesehen worden zu sein. Und mit der Versöhnlichkeit, die sich mit der Nachdenklichkeit der späteren Jahre einstellt, denke ich heute, daß ich häufig allzu verbissen bestrebt war, mich, wenn ich schon nicht der leibliche Sproß meiner selbstgewählten Vorväter war, wenigstens als ihr geistiger Sohn zu zeigen, obwohl mein New Yorker Erbe, ein Hang zur Zügellosigkeit, wie sie sich in der exzessiven Zeugungsfreudigkeit meines Vaters äußerte, mich gelegentlich von diesem schmalen Pfad der Askese wegführte, allerdings selten in der Öffentlichkeit und niemals in Thrupp. Wollte ich meinem abseitigen Vergnügen nachgehen, so reiste ich, wie viele meiner unverheirateten und nicht wenige meiner verheirateten Kollegen, hinunter nach Springfield, Massachusetts. Ich erinnere mich gut an diese heimlichen Wochenenden, wenn man in White River Junction mit der Hoffnung in den Zug stieg, auf der Hin- oder Rückfahrt im Speisewagen keinem Kollegen zu begegnen, aber immer schon für den Ernstfall eine Erklärung parat hatte. Mit der Zeit war ich auf Grund solcher Begegnungen, es waren vielleicht fünf oder sieben oder zehn, gezwungen, eine »Schwester« in Springfield zu erfinden, die ich zweimal im Monat besuchte. In Wirklichkeit lebte besagte Schwester in Virginia, bevor sie nach Florida zog, und sie schrieb mir hin und wieder Briefe, die ich wegen ihrer Absenderadresse mit einem gewissen ängstlichen Unbehagen in Empfang zu nehmen pflegte. Ich werde hier nicht näher auf meine Unternehmungen in Springfield eingehen, möchte allerdings bemerken, daß ich mich in dieser Stadt, während meiner Aufenthalte in ihren weniger appetitlichen Vierteln, ebenso als Mann von Loyalität und Gewohnheit zeigte wie innerhalb der Backstein- und Granitmauern des College.
Eher wie in Trance als bei klarem Verstand fuhr ich mit der Droschke zum Hotel zurück, an dessen Ruine sich nach den Fluten aus den Spritzschläuchen der Feuerwehr bereits grandiose Eiszapfen bildeten. Doch ich verweilte nur kurz, da ich, von Kälte und Schock überwältigt, nun heftig fröstelte. Ich kehrte in meine kleine Wohnung in der Woram Hall zurück, wo ich den Aufsichtsstudenten anwies, ein kräftiges Feuer zu machen und ein heißes Bad einlaufen zu lassen.
Private Badezimmer gab es damals in der Woram Hall nicht – gibt es übrigens auch heute noch nicht –, ich sperrte deshalb die Tür zum Gemeinschaftsbad ab, wie ich das stets zu tun pflegte. Auf den Drehspiegel hatte sich Dampf gelegt, und ich wischte eine kreisrunde Stelle blank, um mein entgeistertes Gesicht zu betrachten. Auf einer Wange war eine blutige Schramme, die ich bis zu diesem Moment gar nicht zur Kenntnis genommen hatte. Es war nicht meine Gewohnheit, vor dem Spiegel zu stehen, denn ich wollte mich nicht als eitler Fant sehen, aber an diesem Abend versuchte ich, mir vorzustellen, wie ich als Mann auf eine Frau wirken mochte, der ich zum erstenmal begegnete. Ich hatte zu jener Zeit – ich war dreißig – ziemlich volles Haar von einem nichtssagenden hellen Braun (meinen Sohn wird das überraschen, denn er kennt mich seit einem Jahrzehnt nur kahlköpfig) und einen stark gewölbten Oberkörper. Das heißt, ich hatte einen kräftigen Körper, einen Körper, der mit meiner geistigen Tätigkeit, die ich vornehmlich im Sitzen ausübte, nicht recht in Einklang stand. Es war mir nie gelungen, die Robustheit dieses Körpers zu verfeinern, statt dessen hatte ich gelernt, damit zu leben. Ich kann nicht behaupten, daß ich je als gutaussehend bezeichnet wurde, nicht einmal bei meinen Besuchen in Springfield; von meinen niederländischen Vorfahren hatte ich ziemlich wulstige Lippen mitbekommen, und die Struktur meines Gesichts war kaum zu erkennen unter Schichten allzu festen Fleisches, ein Erbe, das ich Generationen satter niederländischer Bürger zu verdanken hatte. Um den unvorteilhaften Eindruck abzuschwächen und durchgeistigter zu erscheinen, trug ich eine Brille, obwohl ich sie gar nicht brauchte.
Nach dieser Musterung, die mich nichts lehrte, was ich nicht schon wußte, außer vielleicht, daß man seine Emotionen nicht so gut verbergen kann, wie man sich das wünschen würde, ließ ich mich ins Wasser gleiten, das so heiß war, daß meine Haut augenblicklich anlief, als wäre sie verbrüht worden. Der Aufsichtsstudent, der, wie ich wußte, auf ein A in Logik und Rhetorik aus war, hatte mir eine Tasse heißen Kakao hingestellt, und während ich mich diesen unschuldigen Genüssen hingab, sah ich unentwegt die Gestalt und das Gesicht Etna Bliss’ vor mir und verspürte von neuem den köstlichen Druck ihres Arms an meinem. Zum Glück rief das heiße Bad, wie das häufig geschieht, eine Schläfrigkeit hervor, stark genug, mich in mein Bett zu treiben.
Am Morgen erwachte ich in einem Zustand der Erregung und mußte in aller Eile Toilette machen und das Frühstück ganz ausfallen lassen, um nicht zu spät zu meinem ersten Seminar, Die Dichter der Romantik (Landon, Moore, Clare und so weiter) zu kommen. Als ich den Seminarraum betrat, bemerkte ich gleich, daß das Feuer im Ofen ausgegangen war, weil niemand sich darum gekümmert hatte, und die Studenten in Mänteln und Schals dasaßen. Der Raum war, wenn auch im Moment kalt, keineswegs unerfreulich. Vor kurzem hatte man die untere Wandtäfelung weiß gestrichen, eine glänzende Idee, denn so wurde eine Illusion von Licht und Luftigkeit erzeugt, wie sie die in den Unterrichtsräumen allgegenwärtige dunkle Walnußverkleidung bisher nicht zugelassen hatte. Oberhalb der Sockeltäfelung waren große Fenster mit Blick in den von Ulmen und Platanen bestandenen viereckigen Hof. Man konnte diese Aussicht nur im Stehen genießen, und häufig stützte ich mich, wenn meine Studenten ihre Übungen oder Prüfungen schrieben, auf eines der breiten Fensterbretter und schaute hinaus. An diesem Tag war der Blick aus dem Fenster natürlich stark getrübt durch die verkohlten Überreste des ausgebrannten Hotels und den rußgeschwärzten Schnee; aber ich war ohnehin viel zu durcheinander, um irgendeinen Ausblick zu würdigen – ob nun schön oder nicht.
Man spürte sofort, daß auch die Aufmerksamkeit der Studenten nicht dem Unterricht galt. Die Gespräche drehten sich einzig um den Brand, und ich erwarb mir im Lauf der Diskussion ein gewisses Ansehen, weil ich das Unglück miterlebt hatte; wie alle guten Geschichtenerzähler schmückte ich manches vielleicht ein wenig aus, um die Geschichte spannender zu machen. Ich beschrieb den Einbruch der Feuerwalze und das nachfolgende Chaos.
»Viele Menschen brauchten Hilfe«, sagte ich, in untypisch nonchalanter Pose auf der Kante meines Pults hockend. Ich entfernte einen Fussel von meiner Hose.
»Gab es Verletzungen, Sir?«
Die Frage kam von Edward Ferald, einem jungen Mann mit hängenden Kinnbacken und eng beieinanderstehenden Augen, der ständig versuchte, sich lieb Kind zu machen, mich jedoch, wie ich wohl wußte, hinter meinem Rücken genau wie einige andere Studenten Mopsus nannte. Warum, weiß ich nicht. Ich war zwar keine Schönheit, aber mit einem Mops hatte ich wahrlich keine Ähnlichkeit. Nun ja, fast alle Dozenten hatten wenig schmeichelhafte Spitznamen: John Runciel hieß Ranzig; Benjamin Little, soweit ich mich erinnere, Kleinlich; und Jonathan Whitley Witzlos. (Ranzig ist auf jeden Fall schlimmer als Mopsus, finde ich.)
Ferald lag nichts am Lernen, er machte sich vielmehr ein Vergnügen daraus, seine Lehrer zu einem ungefällig humorlosen Ernst zu provozieren, den er höflich nicht zu begreifen vorgab. Eine private Unterrichtsstunde mit Ferald konnte infolgedessen eine Qual sein. Bei den wenigen Versuchen, ihm Paroli zu bieten, war ich elend gescheitert, da Schlagfertigkeit leider nicht zu meinen starken Seiten gehört.
»Viele Schnittwunden, Quetschungen und Knochenbrüche«, antwortete ich. »Und Rauchvergiftungen. Zwanzig Menschen sind ums Leben gekommen.«
»Und Sie selbst, Sir?« erkundigte sich Ferald mit salbungsvoller Anteilnahme. »Ich hoffe, Sie sind unverletzt geblieben.«
»O ja, mir ist zum Glück nichts passiert.«
»Zum Glück«, sagte Ferald mit einem impertinenten Lächeln.
»Zwanzig Menschen sind verbrannt, Sir?« fragte Nathan Foote, ein blondhaariger junger Mann, mit einem Ausdruck echten Entsetzens im Gesicht, obwohl ihm das nicht neu sein konnte. Seit dem vergangenen Abend war im College von nichts anderem als dem Brand die Rede gewesen.
»Man kann nur hoffen …«, begann ich. Aber in diesem Augenblick bewegte sich die Zeit plötzlich langsamer und kam zum Stillstand. Durch das Fenster sah ich eine Frau mit einem Kind, und das Bild war so lebendig und ergreifend, daß ich fürchtete, Wahnvorstellungen zu haben. Ich griff mir mit der Hand an die Stirn, die heiß und feucht war trotz der Kälte im Seminarraum.
»Sir?« fragte Foote, erschrocken nicht nur über die plötzlich abgebrochene Rede, sondern auch über mein Aussehen.
Ich zwang meinen Blick, zu seinem Gesicht zurückzukehren.
»Man kann nur hoffen, daß die unglücklichen Opfer durch das Einatmen des Rauchs umgekommen sind, nicht durch die Flammen«, sagte ich, bemüht, mich wieder in die Gewalt zu bekommen.
Es folgte ein langes Schweigen.
»Mir ist eben klargeworden«, sagte ich hastig, »daß es völlig unangemessen wäre, an einem Tag zu unterrichten, an dem wir der unglücklichen Menschen gedenken sollten, die ihr Leben verloren haben und für die unser College heute morgen auf Halbmast geflaggt hat. Ich werde deshalb den Unterricht ausfallen lassen. Sie können sich in Ihre Zimmer oder in die Kapelle zurückziehen, um dort über die Flüchtigkeit des Lebens, die Willkür des Schicksals und die Notwendigkeit nachzudenken, stets im Zustand der Gnade zu leben.«
Die Lebhaften unter meinen Studenten, Ferald zum Beispiel, sahen gleich die unerwartete Gelegenheit zu einer Stunde Nichtstun und waren sofort auf den Beinen, während die anderen noch einen Moment verblüfft sitzen blieben, ehe auch sie Hefte und Unterlagen zusammenpackten; in welchem Tempo der Seminarraum sich leerte, weiß ich nicht, denn bevor der letzte Student gegangen war, befand ich mich schon auf dem Weg zur Wheelock Street.
(Mir kommt jetzt der Gedanke, ob nicht mein Spitzname sich weniger auf mein Aussehen bezog als auf meine Art. Hatte der Erfinder des Namens damit vielleicht sagen wollen, daß man sich bei mir im Unterricht mopste, ich also ein Langweiler sei?)
Die Eisruine des Hotels hatte in der hellen Vormittagssonne zu schmelzen begonnen. Es tropfte von tausend Eiszapfen, als ich daran vorüberkam, ein unaufhörlich fallender glitzernder Regen mit einem Klang wie von zartem Kristall. Ich sah zwei kleine Jungen, Schulschwänzer offensichtlich, in den Trümmern herumstochern, vielleicht auf der Suche nach irgendwelchen Schätzen, die das Feuer überstanden hatten, und befahl ihnen barsch, auf der Stelle zu verschwinden. Jeder Dummkopf konnte sehen, daß das Gebäude jeden Moment einzustürzen drohte (wie es drei Wochen später nach einem besonders dichten und nassen Schneefall tatsächlich geschah).
Der Drang, die Frau wiederzusehen, die mein ganzes Denken gefangengenommen hatte, war so stark, daß es mich Mühe kostete, in normalem Tempo zu gehen, um nicht unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte so schnell wie möglich zu dem wachsgelben Kolonialhaus der Familie Bliss, weil ich fürchtete (unbegründet, wie sich zeigte), Etna Bliss habe es bereits wieder verlassen, um zurückzukehren, woher auch immer sie gekommen war. Ich glaubte nicht, daß sie bei Professor Bliss lebte. Sonst hätte ich, sagte ich mir, zweifellos von ihr gehört oder wäre ihr, was wahrscheinlicher war, bei irgendeiner Veranstaltung des College begegnet. In Thrupp gab es ungefähr fünfzig Dozenten, die meisten von ihnen führten ein Leben wie auf dem Präsentierteller, ständig der aufmerksamen Beobachtung von Studenten und Kollegen ausgesetzt. Manchmal war es, als wüßte man alles, was es an diesem College und in diesem Städtchen über den anderen zu wissen gab, aber das stimmte natürlich nicht; Geheimnisse wurden hier so sorgsam gehütet wie der wertvollste Besitz.
Mein Schritt wurde schleppend, als ich mich dem Haus näherte, das jetzt, im Dezember, ohne das Blätterdach der umgebenden Ulmen nackt dastand. Der spontane Entschluß, der Familie Bliss meine Aufwartung zu machen, entsprach so gar nicht meinen Gewohnheiten, ich fühlte mich daher unangenehm nervös und unsicher. Doch eine unwiderstehliche Kraft, die ich mir nicht leicht erklären konnte, trieb mich zur Haustür. Ich hob den Klopfer und ließ dem Schicksal seinen Lauf.
Es dauerte eine Weile, bis mein Klopfen Antwort fand, und als die Tür geöffnet wurde, stand Etna Bliss selbst vor mir.
Hätte ich in den Stunden, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, daran gezweifelt, daß eine Frau mich wirklich so behexen konnte, so lösten diese Zweifel sich bei ihrem Anblick in Luft auf. Obwohl sie sich rasch bewegt haben mußte, um zur Tür zu kommen und zu öffnen, strahlte sie auch jetzt wieder eine so tiefe Ruhe aus, daß man sich besinnungslos zu ihr hingezogen fühlte, ähnlich wie mancher beim Überqueren eines Berggrats gelegentlich die gefährliche Versuchung verspürt, sich in den Abgrund zu stürzen. Sie trug ein in Schwarz und Bronze gestreiftes Kleid mit bronzefarbener Spitze an Kragen und Manschetten, das so geschnitten war, daß es ihren Busen wie auf einem Untersatz darbot, ein Anblick, der mir den Atem raubte. Ihr Gesicht leuchtete im vom Schnee reflektierten Sonnenlicht, ihr Haar war frisch gewaschen und in gedrehten Zöpfen hochgesteckt, die es einen (mich) zu lösen verlangte. Ich war in diesem Augenblick, von Angesicht zu Angesicht mit ihr, selbst nahe daran, mich aufzulösen.
»Miss Bliss«, sagte ich und nahm meinen Hut ab.
»Professor Van Tassel«, erwiderte sie, mich ansehend, jedoch ohne die erwarteten Höflichkeitsfloskeln hinzuzufügen.
Schon da hatte ich das Gefühl – ja, was für ein Gefühl eigentlich? –, daß sie meinen zerbrechlichen Panzer mit ihrem Blick durchdringen konnte? Daß sie bereits alles wußte, was es von mir zu wissen gab? Daß sie wußte, warum ich gekommen war und was ich tun würde, noch ehe ich selbst es wußte? Doch es war nur ein flüchtiger Eindruck, den ich schon im nächsten Moment verwarf.
»Verzeihen Sie die Störung«, sagte ich, »aber ich kam gerade vorbei, und da wollte ich mich doch erkundigen, wie es Ihrer Tante geht. Hat sie sich von dem Schrecken erholt? Ich hoffe, ich störe nicht, aber erst heute morgen dachte ich, was für ein Schock das Ganze war und wie sehr es sie angegriffen haben muß.« Ich hielt kurz inne. »Und Sie natürlich auch.«
»Danke, daß Sie fragen«, antwortete sie. »Der Arzt hat sich um meine Tante gekümmert«, fügte sie hinzu, und merkwürdigerweise bat nicht sie mich ins Haus, wie es der Anstand erfordert hätte, sondern Bliss, der mit den Halbgläsern auf der Nasenspitze ins Vestibül trat und sagte: »Ah, die Stimme kam mir doch gleich bekannt vor. Kommen Sie herein, Van Tassel, kommen Sie herein, damit ich Ihnen in angemessener Weise dafür danken kann, daß Sie meine Frau, meine Enkelin und meine Nichte gestern abend sicher nach Hause gebracht haben. Für meine Frau war es ein schlimmer Schreck. Und für Sie sicher auch.«
»Nein, nein«, entgegnete ich, »aber für manche andere natürlich, und mit gutem Grund.«
Ich trat ins Haus.
»Bleiben Sie und trinken Sie etwas Warmes mit uns.« Bliss nahm seine Brille ab und faltete die Zeitung, die er in der Hand hielt. »Ja, ich hätte gern einen Bericht über die Ereignisse gestern abend, wenn ich Ihnen das zumuten darf.«
»Aber natürlich«, versicherte ich.
Kann es sein, daß Etna Bliss einen Augenblick zögerte, ehe sie mir Hut und Mantel abnahm? Ja, ich bin sicher. Ich erinnere mich deutlich, was für ein Gefühl das war, als ich mit meinen Sachen in der ausgestreckten Hand dastand und sich einen Moment lang kein Abnehmer fand. Was gewahrte sie an mir, das sie zu zögern veranlaßte? Das unersättliche Begehren, das mich bis ins Mark erschüttert hatte? Erkannte sie es, weil sie es früher schon in den Zügen anderer Männer wahrgenommen hatte, oder wußte sie einfach intuitiv um menschliche Wünsche und Begierden?
(Und warum, warum, habe ich mich oft gefragt, mußte es ausgerechnet diese Frau sein und nicht eine andere? Warum die Rundung gerade dieser Wange und nicht einer anderen? Warum das Goldbraun dieses Augenpaars und nicht das Blau eines anderen? Ich habe in meinem Leben hundert, nein, tausend schöne Frauen gesehen – wenn sie mit gerafften Röcken über Schneehaufen hinwegstiegen; im Restaurant den schlanken Hals befächelten; sich beim trüben Schein elektrischer Lampen in gemieteten Zimmern entkleideten –, aber keine hat je eine solche Wirkung auf mich ausgeübt wie Etna Bliss: ein Empfinden, das jeder wissenschaftlichen Erklärung spottet.)
Sie nahm mir endlich den Mantel ab, und nachdem sie ihn an einem Garderobenständer in der Ecke aufgehängt hatte, wandte sie sich mir halb zu.
»Etna, würdest du wohl …«, begann William Bliss durchaus freundlich, aber vielleicht in der Absicht, durchblicken zu lassen, welchen Platz Etna im Haus einnahm. Er brauchte nicht mehr zu sagen, sie war schon auf dem Weg zur Küche, um der Köchin mitzuteilen, daß Tee gewünscht wurde.
Welch eine Erleichterung für mich, sie davongehen zu sehen! Ein Aufschub war mir gewährt, der mir erlaubte, mich zu sammeln und mit Bliss so zu sprechen, wie wir beide es gewohnt waren, wie zwei Männer also, die einander nicht gut kennen, aber Kollegen sind und daher ein gemeinsames Vokabular besitzen, das zu respektieren ist, noch bevor sich Abneigung oder Sympathie bilden kann.
Am College begegnete ich William Bliss selten. Er war verheiratet und lebte nicht auf dem Gelände; und da wir unterschiedlichen Fachrichtungen angehörten, hatten wir auch keine Gelegenheit, zusammen zu arbeiten. Außerdem war Bliss gut zwanzig Jahre älter als ich, gehörte also in meinen Augen einer anderen Generation an.
Er führte mich in den Salon und bot mir einen Platz ihm gegenüber an.
Ich kann das klaustrophobische Gefühl, das der Aufenthalt in diesem Salon bei mir hervorrief, nicht drastisch genug beschreiben – ein Gefühl, als hätte man monatelang keinen Fuß vor die Tür gesetzt, als würde der Luft von der Überfülle der Bibelots und der zahllosen Objekte, von denen jedes Aufmerksamkeit forderte, der Sauerstoff entzogen, so daß man sich nicht nur atemlos und eingeengt fühlte, sondern so, als zöge eine Migräne auf. Dieser Raum mit den gedrechselten Rosenholzschnecken und den in Eiche geschnitzten Dreiblättern, mit den goldgerahmten Spiegeln und den Marmortischen, dem verschlungenen Gerank wuchernder Pflanzen und den gußeisernen Laternen, mit den Stoffen in Streifen und Blumenmustern, den beflockten Tapeten und Vorhängen aus Glasseide, den Orientteppichen, chinesischen Vasen und gefransten Tischdecken und der eisernen Uhr – ganz zu schweigen von Dutzenden von Daguerreotypien in Rahmen aus Silber und Holz, mit und ohne Einlegearbeiten, die auf sämtlichen verfügbaren Flächen herumstanden – sog einem alle Vitalität aus dem Körper. (Zumindest wenn man ein Mann war; es war sofort klar, daß der Raum den Geschmack einer Frau spiegelte; selbst Moxons Wohnungseinrichtung war im Vergleich dazu als karg zu bezeichnen.) Die unzähligen Pflanzen, die auf Konsolen und Etageren herumstanden oder an Haken von der Zimmerdecke herabhingen, ließen kaum Licht ins Zimmer; wie Bliss hier hatte Zeitung lesen können, war mir schleierhaft, aber vielleicht war er ja aus seinem Arbeitszimmer gekommen. Es zeugte mindestens von William Bliss’ Liebe zu seiner Frau, daß er sich diesen Bombast gefallen ließ.
»Setzen Sie sich, Van Tassel.«
»Danke.«
»Dort vielleicht. Oh, warten Sie, ich nehme das weg.«
»Nein, nein, das geht schon.«
»Ich kann Ihnen nicht genug danken. Meine Frau sagt, Sie hätten sich wirklich heldenhaft verhalten.«
»Unsinn, ich habe nicht mehr getan, als jeder andere auch getan hätte.«
»Sie sind zu bescheiden. Im College wird vermutlich von nichts anderem gesprochen.«
»Richtig. Ich habe meine Seminare ausfallen lassen.«
»Ach? Eine ausgezeichnete Idee.«
Manchmal kommt es mir so vor, als sei das Leben wie ein einziger Kampf, die natürlichen Impulse zurückzudrängen, und das, was wir Charakter nennen, verkörpere lediglich das Maß unseres Erfolgs bei diesem Bemühen. In jener Zeit meines Lebens war es häufig ein verzweifelter Kampf – den Körper zu trainieren, wenn man keine Lust dazu hatte; einem Studenten gegenüber nicht handgreiflich zu werden, obwohl er den Schlag verdient hätte; den eigenen Ehrgeiz im Dienst der anderen zurückzustellen; Leidenschaften zu zügeln, die sich, unbezähmt, in schockierendem Verhalten hätten äußern können –, und ich ging, wie die meisten Kämpfer, nicht immer siegreich aus diesen Schlachten hervor. Es kam leider viel zu häufig zu erschreckenden Brüchen meiner Selbstbeherrschung, zum Beispiel wenn ich völlig außer mir einen Studenten aufs schärfste abkanzelte und damit zwar meinen eigenen Zorn besänftigte, den Studenten aber zu einem zitternden Häufchen Elend machte; oder wenn ich es nicht lassen konnte, einen Kollegen schlechtzumachen, um die Gunst eines anderen zu erlangen; oder wenn einen Moment lang die Maske untadeligen Betragens fiel und sich die tiefe Bedürftigkeit dahinter zeigte; wie es vermutlich, wenn auch nur flüchtig, in dem Augenblick der Stille geschah, der auf Etnas Eintritt in das Zimmer folgte, in dem ihr Onkel und ich saßen.
Bliss und ich erhoben uns höflich, und schon befürchtete ich, die Röte, die ich von meinem Hals in mein Gesicht emporsteigen fühlte (auch dies ein Erbe meiner niederländischen Vorfahren), könnte mich verraten. Mein Mund bebte, und ich versuchte, das Zucken zu verbergen, indem ich einen Finger auf die Oberlippe drückte; dabei entdeckte ich zu meiner Bekümmerung, während die Röte weiterstieg wie die Flut in einer Vollmondnacht, daß ich es an diesem Morgen versäumt hatte, mich zu rasieren, und nun ein rauher brauner Stoppelbart mein Kinn und meine Wangen überzog.
(Ich habe mich in Etnas Gegenwart niemals wohl gefühlt – oft freudig erregt, aber niemals wohl.)
Sie stellte das Tablett ab und bedeutete uns, wieder Platz zu nehmen.
»Professor Van Tassel. Ich hoffe, Sie haben nicht infolge des Dienstes, den Sie unserer Familie erwiesen haben, gelitten«, sagte sie.
»Van Tassel hat mir eben erzählt, daß zwanzig Menschen bei dem Brand umgekommen sind«, berichtete Bliss seiner Nichte.
Etna nahm dies, ganz anders als viele Frauen, die bei so trauriger Nachricht vielleicht einen Aufschrei für angebracht halten, mit bemerkenswertem Gleichmut auf.
»Unsere Feuerwehr hat sich bei diesem Anlaß leider als inkompetent in höchstem Maß erwiesen«, sagte ich. »Ich bin überzeugt, das wird ein Nachspiel haben.«
»Ich würde gern wissen, wer so geistesgegenwärtig war, die Fenster im Speisesaal zu öffnen.« Etna reichte mir eine Tasse Tee. »Ich würde mich gern bei ihm bedanken.«
Augenblicklich war ich eifersüchtig auf diesen Unbekannten – für mich gab es keinen Zweifel, daß es ein Mann war, auch wenn sich bisher noch niemand gemeldet hatte –, dem Etna Bliss’ Dank galt. »Manchmal möchte man nicht als Held herausgestellt werden«, sagte ich völlig unsinnig.
Etna Bliss hatte, wie ich später feststellen sollte, die Gewohnheit, mit ausdruckslosem Blick leicht zu lächeln, wodurch sie den Eindruck vermittelte, in Gedanken zu sein, ohne unhöflich zu wirken; genau das tat sie in diesem Moment; und ich muß sagen, als sie lächelte (die Lippen nur andeutungsweise nach oben gezogen), wurde ihr Gesicht so sanft, daß sie ganz wie das fügsame Weibchen aussah, das man sich als Geliebte wünscht – und hübsch dazu. Ja, sie war keine schöne Frau, aber in diesen Momenten war sie hübsch. Und in späteren Jahren war es mir manches Mal eine Qual, von den tiefen Gedanken ausgeschlossen zu sein, die dieses zarte Lächeln hervorriefen.
Meine Finger rutschten am Tassenhenkel ab, so daß Tasse und Untertasse klirrend aufeinanderstießen und mir nichts andres übrigblieb, als den Kopf wie ein ungehobelter Klotz zu meinem Tee hinunterzusenken. Das brachte mich so sehr aus der Fassung, daß ich die Tasse absetzen und die zitternden Hände im Schoß falten mußte. Ich schlug die Beine übereinander und bemerkte, daß mein Fuß zuckte.
»Und wie geht es dem kleinen Mädchen?« fragte ich. »Hat sie sich von dem Schrecken erholt?«
»Ich habe den Verdacht, daß sie, wenn es nicht so kalt gewesen wäre, die Sache unheimlich spannend gefunden hätte«, sagte Etna. »Sie konnte heute morgen kaum von etwas anderem sprechen.«
Ich beobachtete, wie Etna ihre Tasse zum Mund führte, und diese langgliedrigen Finger zitterten nicht.
»Professor Van Tassel unterrichtet Englische Literatur und Rhetorik am College«, bemerkte Bliss.
»Eine angenehme Tätigkeit«, fügte ich hinzu und lächelte ihr zu. Sie erwiderte das Lächeln nicht, aber sie sah auch nicht weg. Ich denke, sie nahm sich diesen Moment, um mich kurz zu mustern. »Halten Sie sich zu einem längeren Besuch in Thrupp auf?« fragte ich, unfähig, meine Neugier länger zu zügeln.
»Ja«, antwortete sie. »Schmeckt Ihnen der Tee nicht?«
»Doch, sehr«, erwiderte ich und hob die Untertasse mit der Tasse, um noch einen Versuch zu machen.
»Meine Nichte«, warf Bliss ein, »bleibt bei uns, bis sie sich etwas Eigenes suchen kann. Wir hoffen, bis dahin wird noch eine Weile vergehen, denn wir genießen ihre Gesellschaft sehr.«
»Meine Mutter ist vor kurzem gestorben«, erklärte Etna, »und ich mußte ihr Haus leider verkaufen. Bis der Nachlaß geregelt ist, wohne ich bei Tante und Onkel.«
»Oh, es tut mir leid, daß Sie Ihre Mutter verloren haben«, sagte ich. Aber wie hätte es mir leid tun sollen, da doch dieser Tod Etna Bliss nach Thrupp geführt hatte? »Ich hoffe, ihr Tod hat Sie nicht aus heiterem Himmel getroffen.«
»Nein, sie war schon eine geraume Zeit krank.«
»Und Ihr Vater?« fragte ich.
»Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben.«
»Verzeihen Sie«, sagte ich.
»Aber bitte«, erwiderte sie. »Ich habe noch zwei verheiratete Schwestern.«
»Ah, ja. Und wo waren Sie zu Hause?«
»In Exeter.«
»Etnas Ankunft hier war ein äußerst glücklicher Zufall«, sagte Bliss, »da meine Tochter mit ihrem Mann über Weihnachten nach San Francisco gereist ist, um ihre Schwiegereltern zu besuchen.«
»Ah, ja«, sagte ich wieder und erinnerte mich vage einer mageren, elegant gekleideten jungen Frau, in deren Begleitung ich Bliss bisweilen bei gesellschaftlichen Veranstaltungen des College gesehen hatte.
»Evelyn und ich wären recht einsam hier ohne Etna und unsere Enkelin. Ich hoffe, sie wird nach der Rückkehr meiner Tochter noch lange bleiben.«
Ich bin sicher, daß ich in diesem Moment zum erstenmal einen schwachen Schimmer der Beunruhigung über die Züge von Etna Bliss huschen sah, die mir gegenübersaß, und ich begriff sofort, daß die Aussicht auf längerwährende Gefangenschaft in diesen überladenen Räumen nichts Verlockendes für sie besaß. Vielleicht hatte auch sie das Gefühl, ihr würde die Luft aus dem Körper gesogen von all der erdrückenden Pracht. Eine Tür öffnete sich in meinem Inneren.
Ich beugte mich vor, in diesem Moment schon ein Bittsteller. »Ich weiß, daß Ihr Onkel Ihnen ein hervorragender Begleiter ist«, sagte ich, »aber es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen einige der bescheidenen Schätze zu zeigen, die Thrupp zu bieten hat, die Metcalf-Bibliothek zum Beispiel oder die Elliot-Kollektion. Haben Sie die schon besichtigt?«
»Nein«, antwortete sie, und wieder hatte ich den Eindruck, daß ihr der Gedanke, aus diesem Haus hinauszukommen, durchaus angenehm war.
»Etna kümmert sich sehr viel um unsere Enkelin Aurelia«, bemerkte Bliss zur Erklärung. »Ich fürchte, wir haben sie daran gehindert, sich mit jungen Menschen ihres eigenen Alters zu vergnügen.«
Es hätte mich interessiert, wie alt genau Etna Bliss war. Sicher doch mindestens vierundzwanzig, aber nicht älter als achtundzwanzig? Knapp an der Grenze des heiratsfähigen Alters. Ich meinte zu bemerken, daß Etna mich, wohl auf Grund meines kühnen Vorschlags, mit anderen Augen musterte. Ich wünschte, ich hätte am Morgen mehr Zeit auf meine Toilette verwendet, um ihr und Bliss das gefälligere Bild eines gepflegten und gutsituierten Mannes zu bieten. Er würde das Gehalt eines Professors gewiß nicht für ausreichend halten, eine Familie zu gründen (und er hatte recht damit), und ich würde ihn im gegebenen Moment davon unterrichten müssen, daß ich über ein bescheidenes privates Vermögen verfügte und es mir leisten konnte, eine Ehefrau zu ernähren. Auf solch kühnen Wegen ließ ich meiner Phantasie die Zügel schießen, bis Etna unvermittelt aufstand.
»Ich fürchte, ich habe meine Tante allzulange allein gelassen«, sagte sie und bot mir die Hand. »Leben Sie wohl, Professor Van Tassel.«
Wieder lag ihre Hand warm in der meinen. Ich konnte nicht umhin, meinen Blick zu ihrem kunstvoll dargebotenen Busen zu senken, ein liebliches Vorgebirge, das der Entdeckung harrte, und fragte mich (wie schnell doch Besitzdenken die Eifersucht erblühen läßt!), ob schon ein anderer Mann seine Hand dort hatte wandern lassen; ob diese gutaussehende und beeindruckende Frau schon viele Liebhaber gehabt hatte. Vielleicht verriet mich dieser Gedanke – ganz gewiß mein schweifender Blick –, denn als wollte sie sich bedecken, legte sie eine Hand auf genau jene Stelle, auf der mein Blick ruhte.
Und dann war sie fort.
Ich tauschte noch einige Förmlichkeiten mit Bliss, um nicht unhöflich zu erscheinen, aber ich hielt es kaum einen Augenblick länger in diesem stickigen Treibhaus aus. Ich bedurfte nicht nur dringend der frischen Luft, sondern auch der Gelegenheit, über Etna Bliss nachzudenken und meinem kleinen Schatz an Erinnerungen, in dem ich in ihrer Abwesenheit unaufhörlich herumkramen würde, Neues hinzuzufügen: einige gesprochene Worte; den Anblick schwarzer und bronzefarbener Seide, die über einem Busen spannte; ein unverhülltes, wenn auch flüchtiges Aufblitzen von Furcht in ihren Augen bei dem Gedanken an Gefangenschaft. Mit diesen spärlichen, aber unvergleichlichen Kostbarkeiten in meinem Besitz begab ich mich endlich zu meinem Frühstück.
Die gedämpften Lavendeltöne der Hügel Vermonts und das tiefblaue Band des Connecticut River schwinden aus dem Blickfeld, während wir von White River Junction, wo ich in den Zug gestiegen bin, nach Süden fahren. Mit etwas Glück ist es mir gelungen, für diese erste Etappe meiner Reise ein Abteil für mich allein zu reservieren; und da ich von New York aus einen Schlafwagen habe, kann ich hoffen, für mich zu bleiben, wie ich mir das bei der Reservierung wünschte. Ich gestehe, daß der Gedanke an den bevorstehenden Besuch in Südflorida mich etwas beunruhigt nach den alarmierenden Geschichten, die ich über Skorpione, Feuerameisen und malariaverseuchte Moskitos sowie über die drückende Hitze gehört habe. Eben der Hitze wegen habe ich neben meinen Büchern und Papieren und Etnas Kuchendose zwei weiße Leinenanzüge, mehrere leichte Baumwollhemden und ein neues Paar Leinenschuhe eingepackt. Schwierig wird es nur mit der Trauerkleidung werden, die ich zur Beerdigung meiner Schwester, eigentlicher Anlaß dieser Reise, wohl oder übel werde tragen müssen. Ich habe die Sachen aus der Aufbewahrung holen und direkt zu meinem Schneider zum Aufbügeln liefern lassen, weil ich sie nicht sehen wollte, diese Kleider, aus denen unweigerlich der Geruch nicht nur des Todes, sondern beinahe vernichtender Schuld aufsteigen wird – ganz zu schweigen vom Schmerz eines gebrochenen Herzens.
Wir kommen jetzt durch die Industriestädte Holyoke und Chicopee in Massachusetts, Schandflecke in der Landschaft Neuenglands, die mir stets gewisse ermüdende Aufsätze Hazlitts und Carlyles ins Gedächtnis rufen. Aber ich habe festgestellt, daß ich nur auf eine bestimmte Art und Weise die Augen zusammenzukneifen brauche, um das Bild dieser Landschaft zu verwischen und meinen gebündelten Blick auf die Eigenarten dieser Städte zu konzentrieren, deren Anblick erträglich ist: die gewellten Glasscheiben in den Fenstern der verödeten Fabrikgebäude zum Beispiel; oder eine geheimnisvolle schwarz-braune Limousine, die am Ende einer verlassenen Straße steht; oder eine Frau, die sich in kurzem Rock und Kopftuch gegen den Wind zu irgendeiner Kirche vorankämpft. Vielleicht ist dieser Trick des absichtlich verwischten, aber an bestimmten Punkten scharfen Blicks, vielleicht auch das Schwanken des vorwärtseilenden Zuges oder das beruhigende Klopfen der Gleisschwellen unter den Rädern oder, was wahrscheinlicher ist, die Vorstellung, hier, in einem fahrenden Zug, ein Pult zu haben (genauer gesagt, ein Tischlein), auf dem Feder und Schreibheft liegen – die Vorstellung vom rollenden Arbeitszimmer –, schuld daran, daß ich mich jetzt veranlaßt fühle, mit der Erzählung einer persönlichen Geschichte zu beginnen, die ich seit langem schreiben wollte, ohne daß ich je die notwendige Stärke dafür besessen hätte … (Die drei Pünktchen stehen für eine längere Debatte, die ich an dieser Stelle mit mir selbst darüber führte, ob ich die Ereignisse, von denen ich berichten möchte, mit rückhaltloser Ehrlichkeit aufdecken soll; und ich habe mir überlegt, daß dieses Dokument so wertlos wäre wie ein im Wasser treibendes Fetzchen Asche, wenn ich mich in die Lüge flüchtete, und sei es auch die Lüge durch Verschweigen einzelner Begebenheiten. Darum werde ich auf diesen Seiten die ganze Wahrheit sagen, auch wenn mir das den schlimmsten Schmerz bereitet – und das wird es tun, ganz sicher!) … (Mir ist allerdings, wie ich in dieser weiteren Parenthese bemerken muß, durchaus klar, daß ich Passagen, die mir nicht behagen, später jederzeit streichen, den Text noch einmal abschreiben und bearbeiten kann, sollte ich die Lektüre der sich ergebenden Wahrheit allzu leidvoll finden. Und gilt das nicht für jede Geschichte, die man zu seinen Lebzeiten erzählt, sei es schriftlich oder mündlich? Wie zum Beispiel wird man mir nach der Ankunft am Ziel meiner Reise den Tod meiner Schwester darstellen? Werden nicht die Erzählungen über die Totenwache sich erheblich voneinander unterscheiden, je nach Erzähler und unterschlagenen Details, wie etwa bestimmten körperlichen Heimsuchungen, die zu enthüllen eine Tochter oder Cousine vielleicht für unziemlich hält?)
Ich weiß von den Vorteilen, die es haben kann, seine Gedanken – Erinnerungen in diesem Fall – zu Papier zu bringen, nicht umsonst habe ich im Rahmen meines Fachgebiets diverse Monographien und Aufsätze veröffentlicht, unter ihnen vor allem meine berühmte Abhandlung über Scotts Marmion und mein nicht ganz so bekannter, aber von den Kritikern ebenso günstig aufgenommener Kommentar zu den Sir Roger de Coverley Papers im Spectator. Natürlich ist ein Unterfangen wie dieses – ich nehme es am heutigen 20. September 1933 in Angriff – mehr mit Furcht verbunden als mit Gedanken an Anerkennung, da man nicht weiß, was für Gefühle eine solche Erzählung wecken wird; aber ich bin entschlossen, es für meinen Sohn Nicodemus zu wagen, der beinahe mit Sicherheit eines Tages eine Frage stellen wird, die zu beantworten seinen Vater allen Mut kosten wird.