Kapitel sechzehn

»Im Prinzip buddelt man also ein Loch, füllt es mit Wasser und schmeißt ein paar Fische hinein«, sagte Olivia.

»Nein«, antwortete ich. »Erst muss man ein Pumpsystem und einen sogenannten Schwimmschlammräumer installieren. Dann braucht man Steine, Pflanzen und eine Vorrichtung, um die Fische vor den Vögeln zu schützen, die scharf auf die Fische sind. Ganz zu schweigen von den diversen Methoden zur Wasseraufbereitung und Algenbekämpfung.«

Olivia beugte sich nachdenklich vor, spähte in den Teich. »Ich habe das Gefühl, so ein Teil macht echt Arbeit«, meinte sie. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass man nicht einmal drin schwimmen kann.«

Olivia und ich hatten schon seit Stunden an unseren jeweiligen Englisch-Projekten gearbeitet und hatten die Tatsache, dass ich sie ja endlich einmal Jamie – der wie jeden Samstagmorgen geschäftig um den Teich herumwuselte – vorstellen musste, als willkommenen Vorwand für eine Pause genommen. Doch wir waren kaum aus dem Haus getreten, da rief Mr Cross Jamie zu sich. Seit einer Viertelstunde standen die beiden am Gartenzaun und unterhielten sich angeregt. Das heißt, Mr Cross quasselte ohne Punkt und Komma, während Jamie aussah, als würde er sich am liebsten so schnell wie möglich wieder loseisen und zu uns gesellen. Immer wieder trat er einen halben Schritt vom Zaun weg, nur um dann doch von Mr Cross’ konstantem Redefluss aufgehalten zu werden.

»Andererseits könnte man mit einem Garten, der so riesig ist wie eurer, gut beides haben: Teich und Pool.« Olivia lehnte sich auf der Bank zurück, blickte sich um. »Wenn man wollte.«

»Schon«, erwiderte ich. »Man kann es aber auch übertreiben.«

»Nicht in dieser Gegend«, sagte sie. »Ich meine, sei mal ehrlich. Sind dir nie die Felsbrocken aufgefallen, wenn man in dieses Viertel hineinfährt? Stonehenge ist nichts dagegen, oder wie oder was?«

Ich lächelte belustigt. Jamie trat erneut einen Schritt vom Gartenzaun zurück, nickte höflich, nach dem Motto: okay, alles klar, bis dann. Mr Cross verstand den Wink mit dem buchstäblichen Zaunpfahl nicht. Wollte das vielleicht auch gar nicht, sondern redete immer weiter und trat seinerseits einen Schritt vor, damit der Abstand zwischen Jamie und ihm nicht zu groß wurde.

»Er kommt mir übrigens irgendwie bekannt vor.« Olivia deutete mit dem Kinn Richtung Zaun.

»Ja, das ist Nates Vater.«

»Nein, ich meine deinen Schwager. Ich könnte schwören, dass ich ihn schon mal gesehen habe.«

»Er hat unserer Schule ein paar Fußballfelder gestiftet«, sagte ich.

»Vielleicht deshalb«, antwortete sie. Ließ die beiden allerdings nach wie vor nicht aus den Augen, während sie fortfuhr: »Und Nate wohnt also gleich da drüben?«

»Ich habe dir doch erzählt, wir sind Nachbarn.«

»Klar, trotzdem war mir nicht klar, wie nah ihr beieinanderwohnt. Sind ja echt bloß ein paar Meter. Das macht eure Trennung oder Beziehungspause oder was auch immer bestimmt nicht einfacher.«

»Weder Beziehungspause noch Trennung. Schlicht und einfach, weil wir keine Beziehung hatten.«

»Ach, ihr habt also mal eben aufgehört, euch zu sehen und miteinander zu reden, obwohl ihr vorher unzertrennlich und im Prinzip schon fast ein Paar wart? Und ignoriert euch von heute auf morgen total?«, meinte sie. »Klar. Logisch. Leuchtet mir absolut ein.«

»Müssen wir wirklich über das Thema reden?«, fragte ich. Denn Jamie hob gerade grüßend die Hand und machte einen so entschiedenen Schritt nach hinten, dass Mr Cross sich seinerseits nicht mehr rührte. Allerdings hörte er nicht auf zu quatschen.

»Es kommt nicht oft vor, dass man auf diesem Planeten jemanden findet, den man wirklich mag«, sagte Olivia. »Die meisten Menschen sind ziemlich unerträglich.«

»Ach ja?«

Sie schnitt eine komisch entnervte Grimasse. »Ich meine ja nur, dass das zwischen euch beiden definitiv etwas Gutes war. Deshalb solltest du dir vielleicht mal überlegen, ob du dir nicht doch die Mühe machen willst, das Ganze zu klären. Was auch immer euer Problem ist.«

»Du hast selbst mal gesagt, dass Beziehungen nur funktionieren, wenn beide Seiten wissen, wo die Grenzen sind«, antwortete ich. »Wir waren uns in dem Punkt nicht einig. Deshalb haben wir jetzt keine Beziehung mehr.«

Sie schwieg einen Moment, dachte anscheinend über meine Worte nach. Schließlich meinte sie: »Das hast du jetzt aber schön gesagt. Mir gefällt vor allem, wie du dich ausgedrückt hast, ohne mir irgendetwas wirklich Wesentliches mitzuteilen.«

»Na gut, noch mal von vorn: Ich denke, ich habe endlich geschnallt, was du mir sowieso schon dauernd erzählst«, erwiderte ich. »Nämlich dass du deine Zeit mit nichts und niemandem verschwenden möchtest, wovon du nicht überzeugt bist. Und mir geht es eben inzwischen genauso.«

»Also, du denkst, so bin ich?«

»Willst du etwa behaupten, dass nicht?«

Jamie schlenderte, endlich frei, über die Wiese auf uns zu. Er hob die Hand, winkte grüßend. »Ich behaupte gar nichts.« Olivia lehnte sich auf der Bank zurück, schüttelte den Kopf. »Überhaupt und rein gar nichts.«

»Meine Damen«, verkündete Jamie munter, während er sich der Bank näherte – er war einfach der geborene Gastgeber. »Gefällt es euch am Teich?«

»Sehr«, erwiderte Olivia höflich. »Vor allem der Schwimmschlammräumer.«

Ich warf ihr einen nicht ganz ernst gemeinten entnervten Blick zu, doch Jamie strahlte. Alles andere wäre auch untypisch gewesen.

»Jamie, das ist meine Freundin Olivia«, sagte ich.

»Nett, dich kennenzulernen. Wir können uns gern duzen.« Er hielt ihr seine Hand hin.

Die beiden begrüßten einander per Handschlag. Dann hockte Jamie sich an den Rand des Teichs, hielt seine Hand ins Wasser, schöpfte ein wenig davon, ließ es durch seine Finger rinnen. Olivia sog unvermittelt scharf die Luft ein. »Hilfe, jetzt weiß ich, woher ich dich kenne. Du bist der UMe-Typ!«

Jamie sah erst sie an, dann mich. »Mh«, meinte er. »Ja, könnte sein.«

»Du erkennst ihn wegen UMe wieder?«, fragte ich.

»Na klar. Sein Foto ist auf der neuen Startseite abgebildet. Auf die ich ungefähr zehn Millionen Mal am Tag gehe.« Olivia schien fast unter Schock zu stehen. »Ich fasse es nicht. Ruby hat nie auch nur einen Ton gesagt.«

Jamie stand auf. »Tja, Ruby ist nicht leicht zu beeindrucken.«

Olivia anscheinend dafür umso mehr. »Deine Website hat mein Leben gerettet, als ich die Schule wechseln musste«, sprudelte sie aufgeregt hervor, was ganz untypisch für sie war. Und sie legte eine Hand auf ihr Herz. So viel Pathos kannte ich gar nicht von ihr. Ungläubig blickte ich sie an.

»Ach ja?« Jamie wirkte erfreut.

»Absolut. Ich habe jede Mittagspause in der Bibliothek verbracht und via UMe mit meinen alten Freunden gechattet. Natürlich auch die ganze Nacht lang.« Sie seufzte wehmütig. »Es war wie eine Nabelschnur, meine einzige Verbindung zu ihnen.«

»Plus dein Handy.« Ich konnte mir nicht verkneifen, kurz darauf hinzuweisen.

»Auf dem ich meine UMe-Seite auch checken kann«, konterte sie. An Jamie gewandt, fuhr sie fort: »Die Website ist übrigens super aufgebaut. Sehr benutzerfreundlich.«

»Findest du? Wir hatten in letzter Zeit ein paar Beschwerden.«

»Quatsch.« Olivia winkte lässig ab. »Alles ganz einfach. Das System mit den Freundeslisten allerdings . . . Das müsste noch mal überarbeitet werden. Ich finde es bescheuert.«

»Wirklich?«, fragte Jamie. »Wieso?«

»Vor allem, weil sie total umständlich sind, wenn man einen Suchlauf startet«, antwortete sie. »Wenn man eine Menge Freunde und Listen hat, sie aber neu zusammenstellen will, muss man alle einzeln durchscrollen, was Ewigkeiten dauert.«

Ich dachte an meine eigene UMe-Seite, die seit Monaten brachlag. »Wie viele Freunde hast du denn?«, erkundigte ich mich.

»Ein paar Tausend«, erwiderte sie. Ich sah sie zweifelnd an. »Glaubst du mir etwa nicht? Online bin ich megabeliebt.«

»Muss wohl so sein«, sagte ich.

Als Olivia ging, schleppte sie glücklich eine UMe-Umhängetasche mit, bis zum Anschlag mit UMe-T-Shirts und -Aufklebern vollgestopft. Nachdem ich sie zur Tür begleitet hatte, ging ich zu Jamie in die Küche. Er marinierte Hühnchen fürs Abendessen. Als ich reinkam, begann das Telefon zu läuten. Ich wollte abnehmen, doch er warf einen Blick aufs Display und schüttelte den Kopf, als er sah, wer der Anrufer war. »Nein, lass den Anrufbeantworter rangehen.«

Auch ich warf nun einen Blick aufs Display. Dort stand CROSS, BLAKE. »Du gehst nicht ans Telefon, wenn Mr Cross anruft?«

»Ja«, meinte er seufzend, träufelte etwas Olivenöl über das Huhn und schüttelte leicht die Backform, in der es lag, damit das Öl sich verteilte. »Eigentlich mag ich so was gar nicht. Aber er fängt immer wieder hartnäckig mit dieser Investitionsmöglichkeit an, deshalb . . .«

»Was für eine Investitionsmöglichkeit?«

Er musterte mich, als wäre er sich nicht sicher, ob er sich mir gegenüber weiter darüber auslassen sollte oder nicht. Fuhr jedoch schließlich fort: »Ach weißt du, Blake ist ziemlich umtriebig. Er hat immer irgendwelche großen, vielversprechenden Pläne und Geschäftsideen.«

Ja, heute Morgen hatte Mr Cross Jamie im Garten regelrecht aufgelauert. »Und er möchte mit dir Geschäfte machen?«

»So ungefähr.« Jamie trat an den Küchenschrank über dem Herd, öffnete ihn, wühlte suchend darin herum. Holte schließlich eine große Flasche Essig heraus. »Er möchte seine Firma erweitern und sucht stille Teilhaber. Aber ich vermute, er ist schlicht und einfach knapp bei Kasse, wie beim letzten Mal.«

Ich schaute zu, wie er ein paar Tropfen Essig über das Huhn träufelte, sich vorbeugte, daran roch, noch etwas mehr Essig hinzufügte. »Er hat sich also schon mal an dich gewandt?«

Er nickte. Verschloss die Flasche wieder. »Letztes Jahr, kurz nachdem wir eingezogen waren. Wir haben ihn eingeladen, wie man es unter Nachbarn eben so macht. Einfach mal einen zusammen trinken. Doch ehe ichs mich versah, kaute er mir das Ohr ab, erzählte mir eine lange traurige Geschichte, wie viel Pech er finanziell gehabt hätte. Alles nicht seine Schuld, natürlich. Und dass sich mit seinem neuen Unternehmen das Blatt garantiert zum Guten wenden würde. Wie sich herausstellte, meinte er damit seinen Hilfsarbeiten- und Botengängeservice.«

Roscoe trottete aus der Waschküche. Er hatte gerade eines seiner zahlreichen, geliebten Nickerchen hinter sich. Als er uns bemerkte, gähnte er, lief schnurstracks zur Hundeklappe, hoppelte hindurch. Flatsch machte die Hundeklappe, und Roscoe war draußen.

»Hast du das gesehen?«, meinte Jamie begeistert. »Dinge können sich ändern!«

»Sehr beeindruckend«, pflichtete ich ihm bei.

Wir sahen gemeinsam zu, wie Roscoe über die Wiese zu einem Baum lief, das Bein hob und pinkelte. Wahrscheinlich war selten jemand so stolz auf etwas gewesen wie Jamie in diesem Moment auf Roscoe. (Und Roscoe vielleicht auch auf sich selbst . . .) Doch dann kehrte Jamie zu seinem ursprünglichen Thema zurück: »Letztendlich habe ich ihm einen Scheck ausgestellt, mich also tatsächlich in seine Firma eingekauft. Kein großer Betrag, wirklich nicht, aber als deine Schwester davon erfuhr, rastete sie aus.«

»Cora?«

»Ja«, antwortete er. »Aus irgendeinem Grund kam er ihr von Anfang an nicht koscher vor. Sie behauptet, es liege daran, dass er immer und ausschließlich über Geld redet. Doch das tut mein Onkel Ronald auch, und ihn vergöttert sie geradezu. Verstehe das, wer will.«

Ich zum Beispiel. Ich verstand ziemlich genau, warum Cora Mr Cross nicht leiden konnte. Auch wenn sie selbst, hätte man sie darauf angesprochen, es wahrscheinlich nicht hätte erklären können.

»Jedenfalls glaube ich, dass Blake mittlerweile wieder ziemlich am Knapsen ist. Seit Thanksgiving – als ich ihn fragte, ob wir seinen Backofen benutzen dürften – liegt er mir mit dieser neuen Idee in den Ohren: ein System, wie man Rechnungen stellt, damit dafür gesorgt ist, dass sie automatisch bezahlt werden. Doch um das zu verwirklichen, braucht er ein gewisses Startkapital, das er nicht hat. Ich halte ihn immer wieder hin, aber der Mann ist extrem hartnäckig. Wahrscheinlich denkt er, er kriegt mich auf jeden Fall irgendwann rum, weil ich eben ein gutmütiger Idiot bin.«

Olivia hatte genau dieselben Worte benutzt, an dem Samstagmorgen, als wir zusammen vor dem Kino auf der Bordsteinkante gehockt hatten. »Du bist kein Idiot. Sondern einfach nur nett. Weil du den Menschen nicht von vornherein das Schlechteste unterstellst.«

»Aber am Ende gucke normalerweise ich in die Röhre«, erwiderte er. Das Telefon begann erneut zu klingeln. Wir blickten gleichzeitig aufs Display: CROSS, BLAKE. Außerdem blinkte das Licht am Anrufbeantworter – er hatte also bereits eine Nachricht hinterlassen. »Andererseits«, fuhr Jamie fort, »gibt es auch Leute, die meine Erwartungen im Positiven übertreffen. Du zum Beispiel.«

»Heißt das, du stellst mir jetzt auch einen Scheck aus?«, frotzelte ich.

»Nö«, konterte er trocken. Ich grinste. »Aber ich bin stolz auf dich, Ruby. Du hast dich echt super gemacht. Dabei war der Weg bis dahin lang und steinig.«

Später am Abend, oben in meinem Zimmer, dachte ich über diese Bemerkung nach. Die Vorstellung, dass man eine Entfernung überwindet, um etwas zu erreichen. Je weiter man kommt, umso mehr gibt es, worauf man stolz sein kann. Andererseits muss man erst einmal zurückliegen, damit man diesen langen, steinigen Weg überhaupt antreten und bewältigen kann. Aber letztlich ist es vielleicht vollkommen egal, wie man wo hinkommt, und es zählt ausschließlich, dass man es geschafft hat.

***

Mädchen in der Mittelstufe bewegen sich nur im Rudel durch die Welt. Die Erfahrung hatte ich jedenfalls gemacht. Und dass man ihnen, sobald man sie kommen sah, am besten aus dem Weg ging, nach dem Motto: Rette sich, wer kann.

»Schaut mal, Leute! Das sind die Teile, von denen ich euch erzählt habe«, rief eine Brünette in Pink aus; sie trug tatsächlich von Kopf bis Fuß Pink und schien die Anführerin der kleinen Clique zu sein, die gerade Harriets Boutique stürmte und zielsicher auf die Schlüsselcolliers zusteuerte. »Wahnsinn. Genau so eins hat die Freundin meines Bruders, das mit den pinkfarbenen Steinen. Ist das nicht megacool?«

»Mir gefällt das mit den Diamanten«, sagte eine mollige Blondine, die eine Art Lederhose trug. »Das finde ich am schönsten.«

»Das sind keine Diamanten«, widersprach Miss Pink. Ihre beiden anderen Freundinnen – Zwillinge, wie es aussah, denn sie hatten exakt dasselbe rote Haar und sahen sich auch sonst sehr ähnlich – wandten sich bereits den Armreifen zu. »Sonst würden die Kette ja eine Million Dollar kosten oder so.«

»Das sind Diamonellen, künstliche Diamanten, die aber ebenso beständig sind und nicht an Glanz verlieren«, erklärte Harriet. »Und die Kette kostet sagenhaft günstige fünfundzwanzig Dollar.«

»Ich persönlich stehe auf reines Silber.« Die Brünette legte sich das Collier mit den pinkfarbenen Schlüsselsteinen um, drapierte es so, dass es sich genau in den V-Ausschnitt ihres Pullovers schmiegte. »Ganz klassisch. Es passt zu meinem neuen, schlichten Look. Klare Linien, kein Schnickschnack. Öko-Chic eben.«

»Öko-Chic?«, fragte ich.

»Umweltfreundlich«, antwortete sie. »Grün. Du weißt schon, nur natürliche Metalle, Steine, bei deren Abbau weder Natur noch Menschen ausgebeutet wurden, alles ganz minimalistisch, aber nachhaltig und mit großer Wirkung. Die Promis fahren voll drauf ab. Liest du keine

Vogue

»Nein.«

Achselzuckend nahm sie die Kette wieder ab und ging zu ihren Freundinnen, die sich um die Ringe versammelt hatten und in null Komma nichts das Arrangement auflösten, welches ich gerade in zwanzigminütiger, mühseliger Kleinarbeit hingefummelt hatte. »Findest du nicht, dass sie die Dinger wenigstens wieder an ihren Platz zurücklegen könnten?«, fragte ich Harriet, während wir ohnmächtig zusahen, wie sie einen Ring nach dem anderen ansteckten, wieder abzogen, achtlos irgendwo hinlegten. »Oder wenigstens so tun könnten, als ob?«

Harriet winkte großmütig ab. »Ach, lass sie ruhig ein bisschen Chaos verbreiten. Das ist doch schnell wieder aufgeräumt.«

»Sagt diejenige, die es nicht tun muss.«

Sie blickte mich ein wenig pikiert an, nahm ihren Kaffeebecher von der Ladentheke. »Na schön«, sagte sie gedehnt. »Du hast schlechte Laune. Was ist los?«

»Tut mir leid«, erwiderte ich. Die Mädchen zogen endlich weiter und hinterließen eine Spur verstreuter Ringe in der Auslage. Ich ging hin, begann, sie wieder ordentlich nebeneinander aufzureihen. »Ich glaube, ich bin einfach bloß ein bisschen im Stress.«

»Verständlich.« Harriet stellte sich neben mich, um mir zu helfen. Legte einen Onyxring auf seinen Platz zurück, einen mit einem roten Stein daneben. »Das ist dein letztes Schuljahr, du wartest darauf, von den Colleges zu hören, bei denen du dich beworben hast. Wie es mit dir weitergeht, ist völlig offen. Aber dadurch bräuchtest du dich doch nicht runterziehen oder gar nerven zu lassen. Sondern kannst es als große Chance begreifen, dass du bald dein Nest verlassen wirst und damit die Schutzzone, in der du dich bisher aufgehalten hast.«

Ich unterbrach meine segensreiche Tätigkeit und sah sie grimmig an. Wovon sie sich allerdings überhaupt nicht aus der Ruhe bringen ließ, sondern unbeirrbar fortfuhr, Ringe in Reih und Glied zu arrangieren. »Ich höre wohl nicht recht«, sagte ich.

»Was meinst du?«, fragte sie.

Ich sah sie an. Wartete darauf, dass sie die Zweideutigkeit ihrer Worte bemerkte. Fehlanzeige. »Harriet«, fuhr ich deshalb schließlich fort, »wie lange hing das Schild AUSHILFE GESUCHT da draußen, ehe du mich engagiert hast?«

»Ach so.« Sie deutete verschmitzt mit dem Finger auf mich. »Aber am Ende habe ich dich engagiert, oder etwa nicht?«

»Und wie lange hat es gedauert, bis du es geschafft hast, wegzugehen und mich den Laden auch mal allein schmeißen zu lassen?«

»Na gut, zuerst hatte ich meine Bedenken«, räumte sie ein. »Aber du musst zugeben, mittlerweile lasse ich dich ziemlich oft allein, und zwar ohne mir groß vor Angst in die Hose zu machen.«

Ich überlegte, ob ich sie darauf hinweisen sollte, wie verräterisch die Formulierungen »ziemlich oft« und »ohne groß« waren. Verkniff es mir aber und fragte stattdessen: »Und was ist mit Reggie?«

Sie strich mit den Händen über ihre Hose, wandte sich geflissentlich den Schlüsselcolliers zu, drapierte das mit den pinkfarbenen Steinen wieder auf dem Auslagegestell. »Was soll mit ihm sein?«

»Er hat mir von eurem Gespräch an Weihnachten erzählt. Wie hast du dich noch mal genau ausgedrückt? Du seist nicht ›im richtigen Beziehungsmodus‹? Hat das vielleicht irgendetwas damit zu tun, dass du aus deinem geschützten Single-Nest auch nicht rauswillst?«

»Reggie ist ein guter Freund.« Sie entwirrte einen Verschluss, der sich in der Kette verhakt hatte. »Wenn wir den nächsten Schritt machen, es mit uns aber nicht funktioniert, wäre hinterher alles anders. Und wir womöglich keine Freunde mehr.«

»Woher willst du wissen, dass es nicht funktioniert?«, fragte ich.

»Woher soll ich wissen, ob es funktioniert?«, konterte sie.

Ich hielt weiter dagegen: »Und das ist Grund genug, es nicht einmal zu probieren?«

Harriet ignorierte die Frage, konzentrierte sich nun auf die Armreifen.

»Als du mich engagiert hast, wusstest du auch nicht, ob es klappen würde«, fuhr ich fort. »Aber du hast es trotzdem getan. Und wenn nicht . . .«

». . . könnte ich jetzt in Ruhe und Frieden in meinem eigenen Laden stehen und arbeiten, ohne psychoanalysiert zu werden«, warf sie ein. »Wäre das nicht wunderbar?!«

». . . hättest du niemals die Schlüsselcolliers entworfen und solchen Erfolg damit gehabt.« Ich ließ mich nicht beirren. Vollendete meinen Satz trotz ihrer blöden Zwischenbemerkung. »Außerdem wärest du nie in den Genuss dieses kleinen Plausches und meiner reizenden Gesellschaft gekommen.«

Harriet schnitt eine Grimasse, trat an die Ladentheke, setzte sich auf ihren Hocker, klappte den Laptop auf, den sie vor Kurzem gekauft hatte, damit sie mit dem ganzen Internetkram hinterkam. »Schau mal, wenn alles perfekt und die Welt ein romantischer Ort wäre, täte ich mich mit Reggie zusammen und wir wären für den Rest unseres Lebens glücklich miteinander.« Sie drückte auf den Einschaltknopf. »Aber manchmal muss man seinen Intuitionen trauen. Und meine verrät mir, eine Beziehung mit Reggie würde mir nicht guttun. Okay?«

Ich nickte langsam. Wenn ich an all das dachte, das ich gerade mitgemacht hatte, war es wahrscheinlich wirklich ratsam, Harriet in dem Punkt ausnahmsweise nachzueifern, anstatt sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen.

Ich stürzte mich noch einmal auf die Ringe und arrangierte sie genau so, wie ich es ursprünglich getan hatte, nämlich akribisch nach Größe und Farbe geordnet. Abschließend ging ich noch mal rasch mit dem Staubwedel drüber. Plötzlich ertönte von Harriet ein: »Häh? Das ist aber merkwürdig.«

»Was?«

»Ich bin gerade im Online-Banking und stelle fest, dass mein Konto leicht überzogen ist«, antwortete sie. »Ich weiß, dass ein paar Schecks ausstanden und auch Beträge, die automatisch eingezogen werden. Aber insgesamt dürfte es keine so große Summe sein.«

»Vielleicht wurde der Kontostand einfach noch nicht wieder aktualisiert«, meinte ich.

»Ich hab’s gewusst. Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl dabei, mich auf Blakes neues Rechnungssystem einzulassen. Mir ist es einfach lieber, jeden Scheck persönlich auszustellen und zu unterschreiben, da behalte ich besser den Überblick.« Seufzend angelte sie sich ihr Handy, wählte eine Nummer. Klappte es jedoch einem Moment später wieder zusammen. »Anrufbeantworter. War ja klar. Weißt du zufällig Nates Nummer auswendig?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sorry, nein.« (Es klingt verrückt, aber es war tatsächlich so – als Nachbarn hatten wir es fast nie nötig gehabt, einander anzurufen . . .)

»Falls du ihn siehst, könntest du ihm bitte ausrichten, ich würde gern mit ihm sprechen? Möglichst bald, okay?«

Ich wollte ihr gerade erklären, dass ich ihn nicht so schnell sehen würde, geschweige denn irgendwelche Botschaften übermitteln konnte. Doch Harriet hatte sich bereits wieder ihrem Computer zugewandt, war völlig vertieft. Die Maus machte klick, klick, klick.

Harriet war an diesem Tag allerdings nicht die Einzige, die sich nicht beruhigt zurücklehnen konnte, obwohl REST ASSURED sich doch angeblich um alles kümmerte. Denn als ich heimkam, hockte Cora in der Eingangshalle auf dem Boden und wischte eine verdächtig wirkende Flüssigkeit mit Papierhandtüchern auf. Roscoe, der sich normalerweise nicht davon abhalten ließ, mich mit vollem Körpereinsatz zu begrüßen, glänzte ebenso verdächtig durch Abwesenheit.

»Das gibt’s nicht.« Vor lauter Verwunderung ließ ich fast meine Tasche fallen. »Er hat das mit der Hundeklappe doch mittlerweile hingekriegt.«

»Wenn niemand im Haus ist, verriegeln wir sie.« Cora stand auf. »Was normalerweise kein Problem ist. Aber ein gewisser Jemand hat es heute anscheinend nicht für nötig gehalten, mit Roscoe Gassi zu gehen.«

»Ehrlich?«, sagte ich. »Ganz sicher? Auf Nate kann man sich doch eigentlich verlassen.«

»Heute nicht«, antwortete sie. »So viel steht fest.«

Es war seltsam. So seltsam, dass ich mich zu fragen begann, ob Nate möglicherweise abgehauen war oder so etwas. Denn es schien die einzig plausible Erklärung dafür zu sein, dass er etwas verdaddelte, das er sonst pünktlich und gewissenhaft erledigte. Doch das Licht in seinem Zimmer ging an, wie jeden Abend. Und die Poolbeleuchtung ebenfalls. Erst als ich gegen Mitternacht zufällig noch einmal aus dem Fenster blickte und dann genauer hinschaute, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches: Jemand pflügte durchs Wasser. Hin, her, her, hin, mit langen, kräftigen, regelmäßigen Schwimmzügen. Dunkel hob sich die Gestalt vor dem bläulichen Licht ab. Ich beobachtete ihn ziemlich lang. Doch als ich schließlich mein eigenes Licht ausmachte, schwamm er immer noch.