Meine Mutter hasste es zu arbeiten. Seit ich denken konnte, hatte sie noch nie einen Job gehabt, der ihr auch nur im Entferntesten Spaß gemacht hätte (und bei denen, die sie hatte, verhielt sie sich ganz bestimmt nicht wie die Angestellte des Monats). Arbeit galt bei uns als Schimpfwort, Arbeit machte allem Spaß am Leben offiziell den Garaus, zur Arbeit schleppte man sich höchstens, über Arbeit schimpfte man grundsätzlich. Und wann immer man konnte, vermied man es ganz und gar zu arbeiten.
Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn sie eine Ausbildung für irgendeinen hippen oder auch nur halbwegs angesehenen Beruf gehabt hätte, wie Reisekauffrau oder Modedesignerin. Aber sie hatte es – teils aufgrund eigener Entscheidungen, teils wegen Bedingungen, die zu beeinflussen nicht in ihrer Macht lag – immer nur zu niederen, miserabel bezahlten Jobs ohne irgendwelche Absicherungen wie Renteneinzahlungen oder sonstige Vergünstigungen gebracht: Kellnerin, Verkäuferin, Callcenter, Zeitarbeit. Die Stelle bei Commercial Couriers, die sie schließlich ergatterte, schien daher fast so etwas wie ein Volltreffer zu sein. Okay, sie war weder hip noch sonst irgendwie glamourös. Aber zumindest war sie anders.
Die Firma Commercial Couriers firmierte unter »Lieferservice für alles und jeden«, machte ihr Hauptgeschäft allerdings damit, verloren gegangenes Gepäck zu transportieren. Sie hatten ein kleines Büro am Flughafen, wo selbst Koffer und Taschen, die in die falsche Stadt verfrachtet oder ins falsche Flugzeug verladen worden waren, unweigerlich irgendwann enden würden; dann übernahm einer der Kuriere von Commercial Couriers und lieferte das Gepäck bei der richtigen Adresse ab, sei es in einem Hotel oder einer Privatwohnung.
Vor Commercial Couriers hatte meine Mutter als Empfangsdame bei einer Versicherung gearbeitet, ein Job, den sie besonders hasste, weil sie dabei genau die zwei Dinge tun musste, die sie am meisten verabscheute: früh aufstehen und mit Leuten umgehen. Nachdem ihre Chefs ihr nach sechs Monaten gekündigt hatten, verbrachte sie ein paar Wochen damit, auszuschlafen und vor sich hin zu grummeln. Erst dann widmete sie sich mal wieder den Stellenanzeigen, wo sie das Angebot von Commercial Couriers entdeckte. »KURIERFAHRER GESUCHT« stand da. »ARBEITEN SIE UNABHÄNGIG UND WANN SIE MÖCHTEN, TAGSÜBER UND NACHTS«. Eine Arbeit als okay oder gar perfekt zu bezeichnen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, aber diese Stellenbeschreibung kam, zumindest auf den ersten Blick, der Sache ziemlich nah. Deshalb rief sie an, um einen Termin für ein Vorstellungsgespräch zu vereinbaren. Zwei Tage später hatte sie den Job.
Beziehungsweise wir hatten ihn. Denn meine Mutter hatte, ehrlich gesagt, kein sonderlich gutes Orientierungsgefühl. Anders ausgedrückt: Sie fand nichts beim Fahren. Dass sie zum Beispiel ständig rechts und links miteinander verwechselte (was ich mir in Ermangelung einer besseren Theorie mit ihrer leichten Legasthenie zu erklären versuchte), wäre bei einer Arbeit, bei der man ständig irgendwelche schriftlichen Wegbeschreibungen befolgen musste, auf jeden Fall zu einem ziemlichen Problem geworden. Doch glücklicherweise begann ihre Schicht erst um fünf Uhr nachmittags, was bedeutete, ich konnte mitfahren. Allerdings war ich zunächst wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese Regelung bloß für ein paar Tage gelten würde, also bis sie sich besser zurechtfand und überhaupt an die neue Arbeit gewöhnt hatte. Doch nichts dergleichen – ehe ich michs versah, waren wir Kolleginnen: Acht Stunden pro Tag, fünf Tage pro Woche hockten wir Seite an Seite in ihrem verbeulten Subaru und brachten Menschen ihr Gepäck wieder.
Unsere Abende begannen stets am Flughafen. Nachdem die Taschen und Koffer im Auto verstaut worden waren, gab sie mir die Liste mit Adressen und Wegbeschreibungen, und los ging’s, zunächst zu den nahe gelegenen Hotels, dann weiter und weiter weg in die unterschiedlichen Stadtviertel zu den Wohnungen und Häusern der jeweiligen Empfänger.
Wenn wir mit ihrem verloren gegangenen Gepäck bei ihnen auftauchten, verhielten sich die Leute entweder so oder so – eine dritte Art der Reaktion gab es nicht. Entweder freuten sie sich und waren richtiggehend dankbar, oder sie beschlossen, ihre Wut auf die gesamte zivile Luftfahrt an uns auszulassen, also im Prinzip dem Boten den Kopf abzuschlagen. Wie wir ziemlich bald merkten, bestand die beste Taktik darin, Verständnis zu heucheln. »Ich weiß genau, wie das ist«, sagte meine Mutter beispielsweise und hielt dem Empfänger die Liste auf dem Klemmbrett zum Unterschreiben hin, während ihr jeweiliges Gegenüber gar nicht mehr aufhören konnte, darüber zu meckern, wie lästig es gewesen war, in einer fremden Stadt Kleidung oder Drogerieartikel kaufen zu müssen. »Wirklich eine Unverschämtheit, so was von unmöglich.« Meistens genügte das schon, zumal es mehr war, als die meisten Fluggesellschaften ihren Passagieren an Aufmerksamkeit und Verständnis entgegenbrachten. Aber gelegentlich rastete irgendwer dermaßen aus und hörte überhaupt nicht mehr auf, dass meine Mutter der betreffenden Person das Corpus Delicti einfach vor die Füße knallte, sich umdrehte, zum Auto zurückging und gar nicht mehr weiter darauf achtete, was ihr nachgezetert wurde. »Karma«, meinte sie zu mir, während sie ausparkte. »Wart’s ab, ich wette, wir sind in null Komma nichts wieder hier.«
Hotels waren besser, weil wir da bloß mit dem Concierge oder dem Team an der Rezeption zu tun hatten. Außerdem zeigten sie sich erkenntlich, je früher wir sie in unsere Route einplanten, was dazu führte, dass wir an fast allen Hotelbars Stammgäste wurden oder zwischen unseren einzelnen Stopps schnell mal einen Hamburger für lau essen konnten.
Gegen Ende der Schicht waren die Straßen in der Regel leer; oft war unser Auto um die Zeit das einzige Gefährt, welches in dunklen Wohngegenden stille Hügel erklomm. Die meisten Leute wollten um diese späte Stunde nicht mehr gestört werden und hinterließen uns daher Zettel an der Haustür mit der Bitte, das Gepäck auf der Veranda abzustellen. Oder sie baten uns – wenn wir anriefen, um die Lieferung anzukündigen –, den Kofferraum ihrer Wagen zu öffnen und die Sachen hineinzuladen. Für mich waren das immer die schrägsten Fahrten: Wenn wir um Mitternacht oder sogar noch später bei einem dunklen Haus ankamen und dabei versuchten, so leise wie möglich zu sein. Wie Einbrecher, bloß umgekehrt, weil wir uns anschlichen, um etwas zurückzulassen, nicht, um es zu stehlen.
Trotz allem fühlte es sich irgendwie beruhigend an, für Commercial Couriers zu arbeiten. Beinahe hoffnungsvoll. Als könnte man auch andere Dinge, die verloren gegangen waren, wiederfinden. Wenn wir wieder wegfuhren, versuchte ich mir immer vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn man die Tür öffnete und davor plötzlich etwas entdeckte, das man eigentlich schon aufgegeben hatte. Vielleicht hatte es Orte gesehen, die man selbst nicht kannte, war umgeleitet worden und durch unzählige fremde Hände gegangen – und dennoch hatte es irgendwie seinen Weg zu dir zurückgefunden, noch ehe der nächste Tag begann.
***
Ich hatte angenommen, dass ich genauso schlafen würde wie im Poplar House – schlecht und wenig –, schreckte allerdings am nächsten Morgen regelrecht hoch, als Jamie an meine Tür klopfte und meinte, in einer Stunde würden wir aufbrechen. Ich hatte derart tief und fest geschlafen, dass ich im ersten Moment nicht einmal genau wusste, wo ich war. Doch sobald ich das Oberlicht über meinem Kopf mitsamt der adretten kleinen Jalousie bemerkte, fiel mir alles wieder ein: Coras Haus. Meine Beinah-Flucht. Und – Perkins Day. Noch vor drei Tagen hatte ich mein Bestes gegeben, irgendwie allein im gelben Haus klarzukommen, für Commercial Couriers gearbeitet und war auf die Jackson Highschool gegangen. Doch im Hier und Jetzt hatte sich wieder einmal alles verändert. Allerdings gewöhnte ich mich allmählich auch daran.
Als meine Mutter sich absetzte, glaubte ich zunächst, sie würde schon irgendwann zurückkommen. Ich dachte, es handelte sich um eine ihrer üblichen Eskapaden, die in der Regel bloß so lange dauerten, bis sie kein Geld mehr hatte oder – wo auch immer – nicht länger willkommen war. Also höchstens ein paar Tage. Die ersten Male war ich fast gestorben vor Angst und Sorge und entsprechend unendlich erleichtert, wenn sie wieder auftauchte; ich bombardierte sie dann mit Fragen, wo sie gewesen sei, was ihr tierisch auf den Keks ging. »Ich brauchte bloß ein bisschen Abstand, okay?«, sagte sie gereizt und rauschte ab in ihr Zimmer, um zu schlafen. Was sie nach den Tagen, die hinter ihr lagen, anscheinend bitter nötig hatte – so wie sie aussah.
Sie musste noch mehrfach verschwinden (übrigens jedes Mal ein paar Tage länger), bis mir dämmerte, dass dies exakt die falsche Reaktion war. Dass ich deswegen auf keinen Fall einen großen Aufstand machen durfte. Stattdessen gewöhnte ich mir an, relativ cool und überlegen zu reagieren, fast so, als wäre mir ihre Abwesenheit gar nicht richtig aufgefallen. Unabhängigkeit – ihre, meine, unsere – gehörte zu den Hauptthemen meiner Mutter. Sie war sicher alles Mögliche, aber kein Klammertyp. Ich kam zu dem Schluss, dass sie, indem sie abhaute, mir vermutlich beibringen wollte, mich um mich selbst zu kümmern. Nur Schwächlinge brauchen ständig Gesellschaft. Jedes Mal, wenn sie verschwand, bewies sie Stärke; es lag bei mir – bei mir und meinem Verhalten –, mit ihr gleichzuziehen.
Nachdem sie allerdings zwei Wochen weg gewesen war, ohne dass ich irgendetwas von ihr gehört hätte, zwang ich mich schließlich dazu, in ihr Zimmer zu gehen und ihre Sachen durchzuschauen. Ihr Notgroschen – dreihundert Dollar in bar, wie ich von meiner letzten kleinen Überprüfung her wusste – war natürlich verschwunden, logo, ebenso ihre Sparbücher, ihr Make-up sowie, was am verräterischsten war, ihr Badeanzug und ihr Lieblingssommerkleid. Wohin auch immer sie sich abgesetzt hatte – dort war es jedenfalls warm.
Wann genau sie dieses Mal verschwunden war, hätte ich gar nicht sagen können, da wir zu dem Zeitpunkt nicht wirklich gut miteinander klarkamen. Andererseits kamen wir auch nicht nicht wirklich gut miteinander klar. Aber in jenem Herbst waren wir irgendwann dazu übergegangen, überhaupt nichts mehr miteinander zu tun zu haben; das lag zunächst einmal an den Umgangsformen, die wir über die Jahre entwickelt hatten, nach dem Motto: Lässt du mich in Ruhe, lass ich dich in Ruhe. Doch dieses Mal hielt das nicht bloß ein paar Tage an, sondern wurde zum Dauerzustand. Außerdem ging sie nicht mehr zur Arbeit, schlief noch, wenn ich morgens zur Schule ging, schlief immer noch, wenn ich zurückkehrte und dann erneut das Haus verließ, um zu Commercial Couriers zu fahren. Wenn ich dann mit dem Ausliefern des Gepäcks fertig war, hielt sie sich nicht mehr daheim auf, sondern war in der Regel ausgegangen. Wir hatten also nicht sonderlich viele Gelegenheiten, uns zu unterhalten. Zumal sie in den seltenen Fällen, in denen sie sowohl zu Hause als auch wach war, Gesellschaft hatte.
Wenn ich den verbeulten alten Cadillac ihres aktuellen Freundes, Warner, in der Zufahrt zum Haus entdeckte, parkte ich meistens auf der Straße und lief ums Haus herum zu meinem Schlafzimmerfenster, das ich grundsätzlich nicht verriegelte, damit ich stets eine Möglichkeit hatte, unauffällig ins Haus zu gelangen. Es bedeutete zwar, dass ich meine Zähne mit Mineralwasser putzen musste und keine Chance hatte, mir das Gesicht zu waschen, aber das war es mir wert, um Warner aus dem Weg zu gehen, der das Haus mit Pfeifenrauch erfüllte und immer gerade das auszuschwitzen schien, was er am Vortag getrunken hatte. Er hockte schweigend, wie angeklebt auf dem Sofa, Bier in der Hand, und ließ mich nicht aus den Augen, wenn ich aus irgendeinem Grund an ihm vorbeimusste. Er hatte nie irgendetwas Konkretes getan, jedenfalls nichts, von dem ich hätte berichten können, aber wahrscheinlich nicht, weil er es nicht gewollt hätte oder so harmlos gewesen wäre, sondern lediglich aus Mangel an Gelegenheit. Und ich hatte gewiss nicht vor, ihm eine solche zu verschaffen.
Wie auch immer: Meine Mutter liebte Warner, jedenfalls behauptete sie das. Sie hatten sich im Halloran kennengelernt, einer kleinen Bar nicht weit vom gelben Haus entfernt, wo sie manchmal hinging, um Bier zu trinken und Karaoke zu singen. Im Gegensatz zu den früheren Freunden meiner Mutter war Warner nicht der feiste, ungehobelte Typ, sondern sah in seiner Standardkluft – dunkle Hose, billiges Hemd, Segeltuchschuhe, Kapitänsmütze – aus, als käme er geradewegs von einem Schiff, wenn auch keinem besonders ansehnlichen. Ich wusste nicht genau, ob er früher zur See gefahren war und sich nach der Zeit zurücksehnte, oder vielmehr darauf hoffte, das in Zukunft irgendwann zu tun. Jedenfalls trank er gern und schien von irgendwoher Geld zu haben, war für meine Mutter also ein idealer Fang.
Wenn ich in jenen Herbsttagen an meine Mutter dachte, stellte ich sie mir manchmal auf dem Wasser vor. Vielleicht hatten sie und Warner den alten Cadillac tatsächlich – denn sie hatten oft darüber gesprochen – bis nach Florida runtergekarrt und hielten sich nun auf dem Deck eines Schiffes auf, das auf den Wellen des Ozeans schaukelte. Zumindest war das ein hübscheres Bild als das, welches ich im Grunde im Kopf hatte, aber diese kleine Beschönigung oder Verdrängung der Tatsachen gestattete ich mir einfach. Viel Zeit zum Fantasieren blieb mir ohnehin nicht.
Sie ging im August fort, neun Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag, neun Monate vor dem Zeitpunkt, ab dem ich offiziell und legal allein leben durfte. Mir war bewusst, dass eine schwierige Zeit vor mir lag, eine echte Herausforderung. Aber ich bin ein ziemlich cleveres Kerlchen und dachte, ich würde das schon irgendwie hinkriegen. Zunächst einmal beabsichtigte ich, den Job bei Commercial Couriers so lange zu halten, bis Robert, dem Besitzer, auffiel, dass meine Mutter nicht mehr da war. Dann würde ich mir etwas anderes suchen müssen. Rechnungen würden auch kein Problem sein; weil wir denselben Namen hatten, kam ich easy an das Konto meiner Mutter ran, für den Fall, dass Lohn direkt darauf überwiesen und nicht per Barscheck ausgezahlt wurde – falls es mir gelang, etwas zu verdienen. Wie ich die Lage einschätzte, würde ich also vorläufig alles gut regeln können. Solange ich mir in der Schule keinen Ärger einhandelte – denn dadurch würde ich unweigerlich auffliegen, das stand fest –, musste wirklich kein Mensch erfahren, dass sich etwas Entscheidendes verändert hatte.
Und wer weiß? Wenn der Trockner nicht kaputtgegangen wäre, hätte es möglicherweise sogar geklappt. Außerdem, auch wenn sich meine Pläne nun kurzfristig geändert haben mochten – mein langfristiges Ziel blieb dasselbe wie seit sehr langer Zeit, ja, im Grunde so lange ich mich überhaupt zurückerinnern kann: frei sein. Von nichts und niemandem mehr abhängig und ganz bestimmt nicht von den Launen oder durchgeknallten Ideen meiner Mutter oder von sonst jemandem und auch nicht von dem sogenannten System, in dem immer irgendwer an irgendwem zerrt und man von seinen sogenannten Verpflichtungen nie loskommt. Schlussendlich war es egal, ob ich meine Zeit im gelben Haus oder in Coras Palast absaß. Sobald ich achtzehn wurde, konnte ich mich von allem und jedem befreien und endlich das sein, was ich wollte, nämlich allein. Endgültig.
Doch im Moment tat ich erst einmal mein Bestes, um so ordentlich wie möglich auszusehen, was gar nicht einfach war, schließlich standen mir dazu bloß eine Jeans, die ich bereits zwei Tage hintereinander angehabt, sowie ein Pullover, den ich im Gegensatz dazu schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte, zur Verfügung. Dabei lag es gar nicht in meiner Absicht, die Leute von der Perkins Day Highschool zu beeindrucken, dachte ich vor mich hin, während ich den Pullover, welcher mir zwei Nummern zu klein geworden war, am Saum herunterzog. Selbst meine besten Klamotten wären für die Leute dort das Allerletzte.
Ich schnappte mir meinen Rucksack vom Bett und ging in den Flur. Coras und Jamies Schlafzimmertür stand einen Spalt offen; beim Näherkommen vernahm ich ein gedämpftes, blechernes Piepsen, zu leise für einen Wecker, aber vom Ton her irgendwie ähnlich. Im Vorbeilaufen warf ich einen raschen Blick in den Raum: Meine Schwester lag auf dem Rücken, aus ihrem Mund ragte ein Thermometer. Sekunden später zog sie es heraus und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen. Das Piepsen hatte aufgehört.
Ob sie krank war? Cora war quasi ein Seismograf für Infektionskrankheiten gewesen, stets die Erste, die sich ansteckte, wenn irgendetwas in der Luft lag. Laut meiner Mutter hing es damit zusammen, dass Cora sich ständig um alles zu viele Sorgen machte, dass also ihre Nervosität und Ängstlichkeit ihr Immunsystem negativ beeinflussten. Sie selbst bildete sich einiges darauf ein, »seit fünfzehn Jahren nicht einmal eine Erkältung« gehabt zu haben, wobei ich den Verdacht hatte, es lag nicht daran, dass ihr System so ausgeglichen und gelassen gewesen wäre, sondern eher gepökelt oder von mir aus auch gefroren. Auf jeden Fall hatte Cora in meinen Erinnerungen an früher immer an diesem oder jenem herumlaboriert: Mittelohr- oder Mandelentzündungen, Allergien, undefinierbare Hautausschläge, unerklärliche Fieberanfälle. Falls meine Mutter recht hatte und das Ganze durch Stress verursacht wurde, durfte ich mich mit Sicherheit für diese neueste Krankheit verantwortlich fühlen – was immer es war.
Unten in der Küche saß Jamie, Handy am Ohr, an der Arbeitsplatte, einen aufgeklappten Laptop vor sich. Als er mich bemerkte, lächelte er und bedeckte die Muschel mit einer Hand: »Hi, ich bin gleich fertig«, meinte er. »Es gibt Cornflakes und alles, was dazugehört, bedien dich einfach, okay?«
Ich warf einen Blick in die Richtung, in die er deutete. Nahm an, dort eine einzelne Packung und ein bisschen Milch zu sehen. Stattdessen standen da mehrere Schachteln mit Müsli und Ähnlichem, die meisten ungeöffnet, sowie ein Teller Muffins, eine Karaffe Orangensaft und eine große Glasschüssel mit Obstsalat. »Kaffee?«, fragte ich. Er nickte und deutete in die andere Richtung, wo vor einer Kaffeekanne mehrere Becher bereitstanden.
». . . ja, aber genau darum geht es.« Beim Sprechen neigte Jamie den Kopf schräg und tippte etwas in seinen Laptop. »Sofern wir das Angebot ernsthaft in Erwägung ziehen, sollten wir ein paar Eckpfeiler für die Verhandlungen markieren. Das wäre wirklich wichtig.«
Ich ging zur Kaffeekanne, nahm einen Becher und schenkte mir ein. Auf dem Bildschirm von Jamies Laptop erkannte ich die vertraute Homepage von UMe.com, einem Social Network, dem im Lauf des vergangenen Jahres anscheinend jeder, von deiner Lieblingsband bis hin zu deiner Großmutter, beigetreten war. Ich hatte auch ein Profil dort, es allerdings schon seit geraumer Weile nicht mehr gecheckt, schlicht und einfach, weil ich weder einen PC besaß noch über einen regelmäßigen Internetzugang verfügte.
»Aber genau darum geht es«, wiederholte Jamie und öffnete eine andere Seite auf dem Bildschirm. »Sie behaupten, sie wollen die ursprünglichen Ziele und Prinzipien nicht verfälschen, denken aber total schematisch und in reinen Konzernstrukturen. Rede einfach mal mit Glen, hör dir an, was er dazu zu sagen hat. Nein, heute Morgen nicht, ich habe etwas zu erledigen. Aber gegen Mittag komme ich rein. Okay. Bis später.«
Ein Piepsen ertönte, er legte das Handy ab, nahm sich einen Muffin von dem Teller hinter ihm. Gleichzeitig machte es auf dem Monitor Bing!, ein vertrautes Geräusch, denn es kündigte eine neue Nachricht im UMe-Postfach an. »Bist du auch bei UMe?«, fragte ich, während ich mich mit meinem Kaffeebecher zu ihm an die Küchentheke setzte. Mein Pullover rollte sich dabei prompt hoch, ich zog ihn automatisch herunter.
Er warf mir einen kurzen, stummen Blick zu. »Äh . . . ja. Kann man so sagen.« Nickte in Richtung meines Bechers. »Du isst nichts?«
»Ich mag kein Frühstück«, antwortete ich.
»Red keinen Unsinn.« Er schob seinen Stuhl zurück, holte zwei Schüsselchen aus einem Küchenschrank in der Nähe, legte einen Zwischenstopp am Kühlschrank ein, öffnete ihn und nahm die Milch heraus. »Als ich klein war« – während er sprach, kehrte er zu mir zurück und stellte alles auf die Fläche neben mir – »hat meine Mutter uns jeden Morgen Eier oder Pfannkuchen gemacht. Mit Würstchen oder Bacon und Toast. Muss sein. Hirnnahrung.«
Ich sah ihn über den Rand meines Kaffeebechers hinweg an, während er sich eine der Schachteln angelte, sie aufriss und etwas von dem Inhalt in eins der Schüsselchen kippte. Dann goss er Milch dazu, füllte das Schüsselchen bis zum Rand, stellte es auf einen Teller, legte einen Muffin dazu und häufte eine gewaltige Portion Obstsalat daneben auf. Ich wollte gerade meine Bewunderung ob seines Appetits am frühen Morgen äußern, da schob er das Ganze zu mir herüber. »Nein«, meinte ich, »ich kann unmöglich –«
»Du brauchst nicht alles aufzuessen.« Er schüttete Cornflakes in sein eigenes Schüsselchen. »Nur ein bisschen. Glaub mir, du wirst es brauchen.«
Ich warf ihm einen argwöhnischen, skeptischen Blick zu, stellte meinen Becher hin, nahm den Löffel und einen Bissen. Er grinste mich vom anderen Ende des Tisches her an, den Mund voller Muffin. »Gut, was?«
Ich nickte folgsam. Gleichzeitig ertönte ein erneutes Bing! aus dem Laptop, unmittelbar gefolgt von einem weiteren. Jamie schien es gar nicht zu bemerken, sondern spießte seelenruhig ein Stück Ananas mit der Gabel auf. »Das wird ein großer Tag heute, nicht wahr?«, sagte er.
»Kann sein.« Ich nahm noch einen Löffel Cornflakes. Ich gebe es ungern zu, aber ich verspürte plötzlich einen Riesenhunger und musste mich beherrschen, um nicht alles auf einmal herunterzuschlingen. Wann ich das letzte Mal gefrühstückt hatte? Keine Ahnung.
»Ich weiß, neu an eine Schule zu kommen, ist hart«, sagte Jamie, während unmittelbar hintereinander drei weitere Bing! ertönten. Meine Güte, was für ein gefragter Mann. »Mein Vater war beim Militär. Acht Schulen in zwölf Jahren. So ein Mist. Ich war immer der Neue.«
»Wie lange warst du auf der Perkins Day?«, fragte ich. Dass es ihm so gut dort gefallen hatte, lag vielleicht an der Kürze der Zeit, die er dort verbracht hatte.
Bing! Bing! »Die beiden letzten Schuljahre. Und die beste Zeit meines bisherigen Lebens.«
»Ehrlich?«
Er hob die Augenbrauen, nahm sich ein Glas und füllte es mit Orangensaft. »Mir schon klar, dass es dort anders ist als alles, was du bisher kennst«, bemerkte er. »Aber es ist auch nicht so übel, wie du anscheinend denkst.«
Ich verkniff mir jeden weiteren Kommentar. Vier weitere Nachrichten trudelten auf seinem Rechner ein, gefolgt von einem dumpfen Geräusch in meinem Rücken. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie Roscoe sich durch seine Hundetür zwängte.
»Hi Kumpel«, meinte Jamie, während Roscoe zu seinem Wassernapf trottete. »Wie sieht es draußen aus?«
Roscoes Anwort bestand in einem ausgiebigen Schlürfen, und seine Hundemarken klatschten im Takt gegen die Napfwand geräuschvoll mit. Ich hatte zum ersten Mal die Chance, ihn mir genauer anzusehen, und stellte fest, dass er ganz niedlich war, sofern man auf Minihunde steht, was ich nicht tue. Er wog keine zehn Kilo, war klein, gedrungen, schwarz, mit weißem Bauch und weißen Pfoten; seine Ohren standen kerzengerade von seinem Kopf ab. Außerdem hatte er eine wuschelige Mopsschnauze, was vermutlich der Grund dafür war, weswegen er ständig diese für ihn so typischen nasalen Laute von sich gab. Zumindest fand ich sie jetzt schon typisch. Nachdem er fertig getrunken hatte, rülpste er und kam zu uns herüber, wobei er unterwegs ein paar Male anhielt, um diverse Muffinkrümel aufzulecken.
Während ich Roscoe beobachtete, klingelte Jamies Laptop noch häufiger; er hatte in den vergangenen fünf Minuten mindestens zwanzig Nachrichten bekommen. »Müsstest du das nicht . . . also, checkst du die nicht?«, fragte ich.
»Checke ich was nicht?«
»Deine Mails.« Ich nickte mit dem Kinn in Richtung des Laptops. »Du bekommst eine nach der anderen.«
»Das kann warten.« Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Hallo Schlafmütze! Du bist ganz schön spät dran.«
»Jemand hat ständig auf die Schlummertaste gedrückt«, grummelte meine Schwester im Hereinkommen; sie war barfuß, trug eine schwarze Hose, eine weiße Bluse, und ihre Haare waren nass.
»Derselbe Jemand, der eine volle halbe Stunde vor dir hier unten war.« Jamie stand auf, trat ihr ein Stück entgegen.
Cora verdrehte die Augen, küsste ihn auf die Wange und schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Mit dem Becher in der Hand beugte sie sich zu Roscoe hinunter, der um ihre Beine strich, und streichelte ihn. »Ihr solltet allmählich aufbrechen«, meinte sie. »Es herrscht ziemlich viel Verkehr um diese Zeit.«
»Schleichwege«, erwiderte Jamie zuversichtlich. Ich schob meinen Stuhl zurück, zog meinen Pullover runter und trug meinen Teller und mein Schüsselchen, die nun beide leer waren, zur Spüle. »Früher habe ich es in glatt zehn Minuten zur Schule geschafft, inklusive Ampeln.«
»Das war vor zehn Jahren«, antwortete Cora. »Die Zeiten haben sich geändert.«
»So sehr nun auch wieder nicht«, entgegnete Jamie.
Sein Laptop gab wieder ein Bing! von sich, doch genau wie er beachtete auch Cora das nicht weiter. Stattdessen ließ sie mich nicht aus den Augen, während ich mich vorbeugte, um meinen Teller in die Spülmaschine zu stellen. »Hast du . . .?«, begann sie, hielt dann jedoch inne. Als ich ihren Blick erwiderte, fuhr sie fort: »Vielleicht sollte ich dir etwas zum Anziehen leihen.«
»Nicht nötig, ist schon okay«, sagte ich.
Sie biss sich auf die Unterlippe und starrte exakt auf den Streifen nackte Haut zwischen dem Saum des Pullovers und meiner Gürtelschnalle, den ich den ganzen Morgen schon zu bedecken versuchte. »Ach, komm einfach mit«, entgegnete sie.
Schweigend liefen wir die Treppe hinauf, sie voran, bis in ihr Zimmer, das riesig war, die Wände in einem kühlen Blassblau gestrichen. Es überraschte mich nicht, wie aufgeräumt es war; die Kissen auf dem gemachten Bett waren so symmetrisch angeordnet, dass man das Lineal in der Schublade daneben förmlich vor sich sehen konnte. Wie mein Zimmer hatte auch dieser Raum viele Fenster, ein Oberlicht sowie einen – allerdings wesentlich größeren – Balkon, von dem aus Stufen zu mehreren Terrassen darunter führten.
Während Cora das Zimmer Richtung Bad durchquerte, nahm sie einen Schluck Kaffee aus ihrem Becher. An der Dusche, dem Doppelwaschbecken und der eingelassenen Badewanne vorbei gingen wir in das nächste Zimmer, das sich nicht als Zimmer, sondern als begehbarer Schrank entpuppte. Ein enormer Schrank, mit Regalen vom Boden bis zur Decke auf einer Seite und zwei Wänden voller Kleiderstangen. Soweit ich sehen konnte, nahmen Jamies Klamotten – Jeans, ein paar Anzüge, jede Menge T-Shirts und Sneakers – einen Bruchteil des Platzes ein. Der Rest gehörte Cora. Ich blieb im Türrahmen stehen und sah zu, wie sie zu einer der Kleiderstangen ging und ein paar Sachen beiseiteschob.
»Du brauchst wahrscheinlich ein T-Shirt und einen Pullover, stimmt’s?« Dabei sichtete sie ein paar Cardigans. »Eine Jacke hast du, oder?«
»Cora.«
Sie zog einen Pullover hervor und betrachtete ihn prüfend. »Ja?«
»Warum bin ich hier?«
Vielleicht lag es an dem beengten Raum oder daran, dass wir das erste Mal ohne Jamie als Puffer zwischen uns zusammen waren. Warum auch immer – die Frage hatte sich, für uns beide, einfach so ergeben. Denn dass sie Cora genauso überrumpelte wie mich selbst, war mir klar. Und jetzt, da sie ausgesprochen war, wurde mir außerdem zu meiner Überraschung klar, wie sehr ich mir eine Antwort darauf wünschte.
Sie nahm die Hand von der Stange und wandte sich zu mir um. »Weil du minderjährig bist und deine Mutter dich im Stich gelassen hat«, antwortete sie.
»Ich bin fast achtzehn«, erwiderte ich, »und allein sehr gut zurechtgekommen.«
»Gut«, meinte sie mit ausdruckslosem Gesicht. Während ich sie anschaute, wurde mir wieder einmal bewusst, wie wenig wir uns ähnelten: Ich mit meinen roten Haaren, meiner blassen Haut, meinen Sommersprossen; sie dagegen, im starken Kontrast dazu, hatte schwarzes Haar und blaue Augen. Ich war größer und hatte die schlaksige Figur meiner Mutter, während Cora fast einen Kopf kleiner war und nette Kurven an den richtigen Stellen hatte. »Du nennst das gut?«
»Du hast doch keine Ahnung«, meinte ich. »Du warst nicht dabei.«
»Ich weiß, was ich in dem Bericht gelesen habe«, erwiderte sie. »Ich weiß, was die Sozialarbeiterin mir erzählt hat. Willst du damit sagen, das stimmt alles nicht?«
»Ja«, antwortete ich.
»Du hast also nicht ohne Heizung und Wasser in einem verdreckten Haus gewohnt?«
»Nein, habe ich nicht.«
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wo ist Mama, Ruby?«
Ich schluckte, wandte den Kopf ab, hob die Hand und drückte den Schlüssel um meinen Hals gegen meine Haut. »Ist mir egal«, sagte ich.
»Mir auch«, erwiderte sie. »Tatsache bleibt, dass sie weg ist und man dich nicht einfach allein lassen kann. Beantwortet das deine Frage?«
Ich schwieg. Sie drehte sich wieder um und sichtete ihre Klamotten.
»Ich habe dir doch gesagt, du brauchst mir nichts zu leihen.« Meine Stimme klang hoch, gepresst.
Und ihre erschöpft: »Komm schon, Ruby.« Sie zog einen schwarzen Pullover vom Bügel, legte ihn sich über die Schulter, ging zu einem Regal und nahm ein grünes T-Shirt daraus. Dann kam sie auf mich zu und drückte mir im Vorbeigehen beides in die Hand. »Beeil dich. Ihr braucht mindestens fünfzehn Minuten.«
Sie durchquerte das Bad Richtung Schlafzimmer und ließ mich einfach dort stehen, wo ich stand. Und ich blieb auch einfach da stehen, wo ich stand, für ein paar Augenblicke. Nahm die ordentlichen Reihen über Reihen von Kleidungsstücken wahr, registrierte, dass die T-Shirts akkurat gefaltet und nach Farben sortiert waren. Blickte schließlich auf die Klamotten, die sie mir gegeben hatte, und sagte mir selbst, es sei mir egal, was die Leute an der Perkins Day über mich oder einen blöden Pullover dachten. Das war sowieso alles bloß ein Provisorium. Vorübergehend. Meine Anwesenheit hier oder dort. Oder – ganz prinzipiell – überhaupt und überall.
Doch als ich Jamies Stimme hörte, die mir von unten zurief, es sei Zeit aufzubrechen, ertappte ich mich plötzlich dabei, wie ich Coras T-Shirt anzog, das eindeutig viel Geld gekostet hatte und mir wie angegossen passte. Und dann natürlich auch ihren Pullover, weich und warm. Auf meinem Weg zur Treppe ins untere Stockwerk – in Sachen, die mir nicht gehörten, um mich zu einer Schule zu begeben, die ich niemals akzeptieren würde – blieb ich im Bad stehen, um mich in dem Spiegel dort anzuschauen. Den Schlüssel um meinen Hals sah man nicht, er hing zu weit unter beiden Ausschnitten. Doch wenn ich mich vorbeugte, konnte ich ihn erkennen, obwohl er so tief verborgen war. Außer Sichtweite, aber trotzdem zu finden, sogar wenn ich die Einzige war, die je danach suchen würde.
***
Cora behielt recht. Wir blieben im Stau stecken. Nachdem wir vor jeder roten Ampel zwischen ihrem Haus und der Perkins Day Highschool gestanden hatten, fuhren wir genau in dem Moment auf den Schulparkplatz, als es klingelte.
Die Besucherparkplätze waren belegt, deshalb bog Jamie mit seinem Wagen – einem sportlichen kleinen Audi mit Ledersitzen, überhaupt war alles im Inneren aus Leder – in einen Schülerparkplatz ein. Ich blickte nach links, wo natürlich – was sonst? – eine funkelnagelneue Mercedes-Limousine stand. Und rechts von uns ein weiterer Audi, ein feuerrotes Cabrio.
Mein Magen, der die gesamte Fahrt über hauptsächlich damit beschäftigt gewesen war, gegen mein Frühstück zu revoltieren, krampfte sich nun deutlich hörbar zusammen. Laut der Uhr am Armaturenbrett war es zehn nach acht; das hieß, dass in einem schwer renovierungsbedürftigen Klassenzimmer ungefähr dreißig Kilometer weit weg Mr Barrett-Hahn, mein Klassenlehrer, gerade damit anfing, in seiner bedächtigen, monotonen Sprechweise die Tagesankündigungen vorzulesen. Und zwar komplett ignoriert von meinen Klassenkameraden, die fünf Minuten später rausschlurfen würden. Der Geräuschpegel würde steigen, sie würden sich durch die Gänge drängeln und schieben, die für eine weit geringere Schülerzahl ausgelegt waren als die, welche sich beim aktuellen Stand der Belegung zur ersten Stunde in der Schule eingefunden hatte. Ob meine Englischlehrerin, Miss Valhalla – Herrin der hoch sitzenden Jeans und einer endlosen Anzahl Poloshirts in Übergrößen – wohl wusste, was mit mir passiert war? Oder ging sie wie selbstverständlich davon aus, dass ich die Schule sang- und klanglos aufgegeben hatte, wie so viele ihrer Schäfchen im Verlauf eines Schuljahres? Wir wollten gerade mit Sturmhöhe von Emily Brontë loslegen, was – wie sie versprochen hatte – im Vergleich zu David Copperfield eine enorme Verbesserung wäre. Durch David Copperfield hatte sie uns in den vergangenen Wochen geschleppt, als wäre es ein Gang über den Friedhof bei einem Begräbnis. Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, ob sie das bloß behauptete oder ob es tatsächlich stimmte. Jetzt würde ich es nie herausfinden.
»Bist du bereit, dem Erschießungskommando gegenüberzutreten?«
Ich fuhr zusammen, kehrte abrupt in die Gegenwart zurück. Jamie hatte die Schlüssel abgezogen und blickte mich erwartungsvoll an, die Hand auf dem Türgriff.
»Ups, das war nicht gerade feinfühlig formuliert«, meinte er. »Tut mir leid.«
Er öffnete die Tür. Ich spürte, wie sich mein Magen erneut zusammenkrampfte, zwang mich jedoch, es Jamie gleichzutun. Als ich ausgestiegen war, ertönte wieder ein Klingeln.
»Zum Sekretariat geht es hier entlang«, sagte Jamie, während wir an den parkenden Autos vorbeiliefen. Er deutete auf einen überdachten Weg zu unserer Rechten, auf dessen anderer Seite eine weite, grüne Fläche sowie dahinter etliche Gebäude sichtbar wurden. »Das ist der Schulhof«, erklärte er. »Darum herum sind die Klassenräume. In den beiden großen Häusern da hinten sind die Aula und die Sporthalle. Die Cafeteria ist gleich hier im nächsten Gebäude. Jedenfalls war sie da. Ist schon eine Weile her, dass ich da verköstigt wurde, zu Schlabberpullizeiten.«
Wir stiegen eine Stufe hoch auf eine Art Gehweg und näherten uns einem lang gestreckten, niedrigen Gebäude mit zahlreichen Fenstern. Ich folgte ihm und musste mich gerade unter einem Vorsprung aus Beton ducken, der auf den Weg hinausragte, als ich ein vertrautes Rattatta-Geräusch vernahm. Im ersten Moment konnte ich es nicht einordnen, doch als ich mich umdrehte, sah ich, wie ein alter Toyota auf den Parkplatz rumpelte und der Motor dabei eine Fehlzündung nach der anderen hinlegte. Das Auto meiner Mutter hatte die gleiche Macke, in der Regel an Ampeln oder wenn ich versuchte, spätabends möglichst leise ein Gepäckstück bei jemandem abzuliefern.
Der Toyota – weiß, und die Stoßstange hing auf einer Seite schief herunter – düste an uns vorbei; als er auf den Schülerparkplatz einbog, leuchteten die Bremslichter auf. Abrupt wurde das Steuer rumgerissen, der Wagen hüpfte in eine Parklücke. Eine Tür knallte zu, Schritte ertönten auf dem Asphalt: Jemand rannte, und zwar schnell. Im nächsten Moment war ein schwarzes Mädchen mit langen Rastazöpfen zu sehen, Rucksack über eine Schulter geworfen, Handy am Ohr. Sie war in eine angeregte Unterhaltung vertieft und hörte keinen Moment auf zu quasseln, selbst als sie auf den Gehweg sprang und zu einem Sprint über den Rasen ansetzte.
»Ah, zu spät kommen. Da werden Erinnerungen wach«, sagte Jamie.
»Ich dachte, du hast es immer in zehn Minuten hergeschafft.«
»Hab ich auch. Aber meistens gingen die erst fünf vorm Klingeln los.«
Wir erreichten den Vordereingang. Jamie öffnete die Glastür für mich. Anders als in der Jackson Highschool, die für ihre olfaktorisch ansprechende Mischung aus Schimmel und Desinfektionsmittel berühmt war, schlug mir hier ein sauberer Geruch nach frischer Farbe entgegen. Ziemlich ähnlich übrigens zu dem in Coras und Jamies Haus, was mich irritierte.
»Mr Hunter?« Ein Mann im Anzug stand in der Nähe der Tür. Sobald er uns sah, kam er mit ausgestreckter Hand auf uns zu. »Der verlorene Wunderknabe kehrt heim. Wie lebt es sich so in den höheren Sphären?«
»Hoch.« Jamie lächelte. Die beiden schüttelten einander die Hand. »Mr Thackray, das ist meine Schwägerin, Ruby Cooper. Ruby, das ist Direktor Thackray.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Mr Thackray. Meine Hand verschwand vollkommen in seiner, die groß und kühl war. »Willlkommen an der Perkins Day.«
Ich nickte. Nahm wahr, dass mein Mund staubtrocken geworden war. Was nicht weiter verwunderte, wenn man meine Erfahrungen mit Direktoren – und Lehrern und Vermietern und Polizisten – bedachte. Selbst wenn ich nichts ausgefressen hatte, reagierte ich instinktiv: entweder abhauen oder angreifen.
»Okay, dann wollen wir mal loslegen und dafür sorgen, dass Sie bei uns anfangen können.« Mr Thackray führte uns den Gang entlang, bog um eine Ecke und betrat ein geräumiges Büro, wo er sich hinter einen großen Schreibtisch aus Holz setzte. Jamie und ich ließen uns auf den beiden Stühlen ihm gegenüber nieder. Durch das Fenster hinter Mr Thackray konnte ich mehrere Fußballfelder mit offenen Tribünen sehen. Ein Typ, dessen Atem in der kalten Luft deutlich sichtbar war, tuckerte mit einem Rasenmäher langsam auf einer Seite eines Feldes entlang.
Mr Thackray wandte sich um und blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Sieht gut aus, nicht wahr? Uns fehlt bloß noch ein Schild zu Ehren des großzügigen Spenders.«
»Nicht nötig.« Jamie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander. In seinen Turnschuhen, Jeans und Kapuzenshirt mit Reißverschluss sah er nicht aus wie jemand, der die Schule vor zehn Jahren abgeschlossen hatte. Zwei oder drei, okay. Aber keine zehn.
»Versteh einer diesen Kerl.« Kopfschüttelnd schaute Mr Thackray mich an. »Stiftet nicht nur ein Fußballfeld, sondern einen ganzen Komplex, will aber anonym bleiben und lässt uns ihm nicht einmal richtig dafür danken.«
Ich warf Jamie einen Blick zu. »Das geht auf deine Kappe?«
»Ist keine große Sache.« Er wirkte verlegen.
»Doch, ist es«, meinte Mr Thackray. »Und genau deshalb wünschte ich, Sie würden es sich anders überlegen und uns gestatten, Ihr Engagement publik zu machen. Außerdem ist es einfach eine tolle Geschichte. Unsere Schüler verbringen mehr Zeit auf UMe als auf jeder anderen Website, doch gleichzeitig stiftet der Besitzer etwas von dem Gewinn, den er mit diesem Zeitvertreib erzielt hat, und investiert auf diese Weise in die Ausbildung eben jener Schüler. Das ist unbezahlbar!«
»Fußball gehört nicht im engeren Sinne zur Ausbildung«, wandte Jamie ein.
»Jeder Sport fördert die schulische Entwicklung«, konterte Mr Thackray. »Deshalb fällt auch Sport unter Ausbildung.«
Ich wandte den Kopf und betrachtete meinen Schwager, denn plötzlich fielen mir die zahlreichen Bing! seines UMe-Eingangsordners wieder ein. Könnte man so sagen, lautete seine Antwort, als ich ihn gefragt hatte, ob er auch bei UMe sei. Was für eine Untertreibung!
». . . ein paar Formulare holen und dann stellen wir einen Stundenplan für Sie zusammen«, sagte Mr Thackray gerade. »Einverstanden?«
Eine Sekunde zu spät kapierte ich, dass er mit mir geredet hatte. »Jou«, meinte ich. Und schluckte. »Ja, wollte ich sagen.«
Er nickte, schob den Stuhl zurück, erhob sich und verließ den Raum. Jamie lehnte sich erneut zurück und betrachtete prüfend die Nähte eines seiner Turnschuhe. Der Typ auf dem Rasenmäher war mit der einen Seite des Feldes fertig und kroch mit seinem Minitrecker gerade auf die andere zu.
»Bist du . . .?«, begann ich. Jamie blickte auf und mich an. »Gehört dir UMe?«
Er stellte den Fuß ab. »Nun . . . nicht ganz. Mir und noch ein paar Leuten.«
»Aber er meinte, du seist der Besitzer«, sagte ich.
Jamie seufzte. »Ich habe die ganze Sache ursprünglich mal angefangen«, erwiderte er. »Als ich frisch mit dem College fertig war. Aber jetzt habe ich so eine Art Aufsichtsfunktion.«
Ich sah ihn bloß an.
»Geschäftsführer«, gab er zu. »Aber was bedeutet das schon anderes als ›Aufsicht haben‹? ›Geschäftsführer‹ klingt so pompös.«
»Ich fasse es nicht, dass Cora mir nichts davon erzählt hat«, sagte ich.
»Du kennst doch Cora.« Er lächelte. »Es ist schwer, sie zu beeindrucken, außer man arbeitet achtzig Stunden pro Woche, um die Welt zu retten, so wie sie.«
Wieder blickte ich zu dem Typen auf dem Rasenmäher hinaus und sah zu, wie er vorbeituckerte. »Cora rettet die Welt?«
»Sie versucht es jedenfalls«, entgegnete er. »Hat sie dir nicht von ihrer Arbeit erzählt? In dem Büro, in dem sich die ganzen Pflichtverteidiger zusammengeschlossen haben?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Cora Jura studiert hatte, bis gestern, als die Leiterin des Poplar House sie nach ihrem Beruf gefragt hatte. Meine letzte Information über ihre Ausbildung war fünf Jahre alt. Damals hatte sie ihren College-Abschluss gemacht, und wir hatten davon ohnehin bloß deshalb erfahren, weil aus irgendeinem unerfindlichen Grund eine Ankündigung der Verleihungszeremonie bei uns gelandet war, eine Karte aus dickem, edlem Papier mit ihrem Namen darauf. Ich weiß noch, dass ich Karte und Umschlag eingehend betrachtete und mich fragte, warum der Brief überhaupt bei uns eingetrudelt war; schließlich gab es bereits seit Jahren keinen Kontakt mehr zwischen uns. Als ich meine Mutter darauf ansprach, zuckte sie bloß die Schultern und meinte, so etwas würden die Unis automatisch versenden. Das leuchtete mir ein. Schließlich hatte Cora es zu dem Zeitpunkt mehr als deutlich gemacht, dass sie mit uns in ihrem neuen Leben nichts mehr zu tun haben wollte, dass wir nicht dazugehörten. Und uns war das nur recht.
»Na ja«, begann Jamie in die beklommene Stille hinein, die zwischen uns entstanden war, und ich fragte mich, was genau er eigentlich über unsere Familie wusste und ob vielleicht sogar die Tatsache, dass ich existierte, eine Überraschung für ihn gewesen war. So viel zum Thema Gepäck. »Ihr zwei habt wohl einiges miteinander nachzuholen, schätze ich, oder?«
Ich blickte auf meine Hände und schwieg. Kurze Zeit später kehrte Mr Thackray mit einem Stapel Blätter in das Büro zurück und fing an, irgendetwas von Mitschriften und zensurenrelevanten Kursen zu erzählen. Wodurch unsere kleine Unterhaltung rasch in den Hintergrund trat. Im Nachhinein wünschte ich mir allerdings manchmal, ich hätte meinen Mund aufgemacht oder wenigstens versucht zu erklären, dass es eine Zeit gab, in der keiner Cora so gut kannte wie ich. Aber das war lange her. Damals hatte sie noch nicht versucht, die Welt zu retten. Bloß mich.
***
Als ich klein war, sang meine Mutter mir immer vor, und zwar jeden Abend, wenn sie in mein Zimmer kam, um Gute Nacht zu sagen. Dann setzte sie sich auf meine Bettkante, strich mir die Haare aus dem Gesicht, gab mir einen Gutenachtkuss und meinte: »Bis morgen früh.« Ihr Atem roch süß nach dem »gepflegten Gläschen Wein« (manchmal waren es auch zwei), das sie bis zu dem Zeitpunkt getrunken hatte – viel mehr wurden es damals in der Regel noch nicht. Wenn sie aufstand, um zu gehen, protestierte ich und bat sie, mir etwas vorzusingen. Wenn sie nicht zu schlechte Laune hatte, ging sie normalerweise darauf ein.
Damals glaubte ich, meine Mutter hätte die Lieder, die sie mir vorsang, selbst erfunden; deswegen war es auch ein so merkwürdiges Gefühl, sie später zum ersten Mal im Radio zu hören. Als würde man plötzlich merken, dass ein Teil von einem selbst gar nicht zu einem gehörte. Und irgendwann begann ich mich zu fragen, worauf sonst ich womöglich keinen Besitzanspruch hatte. Aber das kam erst später. Damals ging es nur um die Lieder, die trotz allem unsere waren, niemandes sonst.
Man konnte die Lieder meiner Mutter in drei Kategorien aufteilen: Liebeslieder, traurige Lieder und traurige Liebeslieder. Happy Ends waren nicht ihr Ding. Deshalb schlief ich zu Frankie and Johnny und einer unglücklichen Liebesgeschichte ein, zu Don’t Think Twice, It’s Alright und einer schmutzigen Trennung oder zu Wasted Time und jemandem, der voll Bedauern Bilanz zog. Aber am stärksten erinnerte ich mich bei Angel From Montgomery in Bonnie Raitts Version an sie, damals und bis heute.
Der Song hatte alle Ingredienzien, auf die meine Mutter bei einem Lied Wert legte – ein gebrochenes Herz, Desillusionierung, Tod; davon wurde aus der Perspektive einer alten Frau erzählt, die einsam und allein auf ihr Leben zurückblickte, auf alles, was sie gehabt und verloren hatte. Wobei ich damals im Grunde keine Ahnung hatte, worum es genau ging; für mich waren es bloß Worte zu einer hübschen Melodie, die von einer mir sehr lieben und vertrauten Stimme gesungen wurde. Erst später, als ich in einem anderen Bett lag, während sie spät nachts im Nebenzimmer sang, konnte ich nicht mehr einschlafen, wenn ich ihre Stimme und diesen Song hörte, sondern hörte voller Sorge zu. Seltsam, dass man mit einem so schönen Lied eine so schreckliche Geschichte erzählen kann. Es erschien mir irgendwie unfair, wie ein ganz mieser Trick.
Wenn man meine Mutter auf das Thema ansprach, antwortete sie, dass nichts in ihrem Leben wie geplant gelaufen war. Sie sollte eigentlich aufs College gehen, ihren Abschluss machen und ihren Schulfreund heiraten, Ronald Brown, Ballträger im Highschool-Footballteam, aber seine Eltern fanden, dass die Beziehung der beiden für ihren Geschmack schon viel zu eng geworden war, und zwangen ihn daher, mit ihr Schluss zu machen, kurz vor Weihnachten in ihrem dritten Highschool-Jahr. Sie war völlig fertig und ließ sich deshalb von ihren Freunden zu einer Party mitschleifen, wo sie niemanden kannte und von einem Typen angequatscht wurde, der gerade mit dem Ingenieursstudium an der Middletown Tech angefangen hatte. In einer mit Bierflaschen übersäten Küche laberte er sie über Hängebrücken und Wolkenkratzer voll, »die Wunderwerke der Baukunst«, während sie sich zu Tode langweilte. Ich habe nie begriffen, warum sie sich dennoch darauf einließ, mit ihm auszugehen, mit ihm zu schlafen und meine Schwester zu zeugen, die neun Monate später geboren wurde.
Deshalb hockte meine Mutter mit achtzehn daheim, inklusive Ehemann und Neugeborenem, während ihre Mitschüler ihren Highschool-Abschluss machten. Andererseits scheinen diese ersten Jahre nicht nur übel gewesen zu sein, zumindest wenn man von den Fotos aus dem Familienalbum ausgeht. Es gibt massenweise Bilder von Cora im Spielhöschen oder mit Schäufelchen oder auf dem Dreirad vor dem Haus. Auch meine Eltern tauchen auf diesen Fotos auf, allerdings nicht so häufig und selten gemeinsam. Trotzdem gibt es immer mal wieder zwischendurch Schnappschüsse von ihnen, auf denen er den Arm um ihre Schulter oder Taille legt: meine Mutter, jung und wunderschön, mit ihren langen roten Haaren und ihrer blassen Haut, mein Vater mit seinen hellblauen Augen und seinen dunklen Haaren.
Wegen des großen Altersunterschieds zwischen Cora und mir – zehn Jahre – habe ich mich oft gefragt, ob ich nur aus Versehen passiert bin oder vielleicht auch aus einer verzweifelten Anstrengung heraus, eine Ehe zu retten, mit der es längst bergab ging. Mein Vater verließ uns jedenfalls, als ich fünf war und meine Schwester fünfzehn. Damals wohnten wir in einem richtigen Haus in einer anständigen Gegend; und als wir eines Nachmittags vom Schwimmbad heimkamen, saß meine Mutter mit einem Weinglas auf dem Sofa. Für sich genommen, war nichts davon ungewöhnlich. Sie arbeitete zu dem Zeitpunkt nicht, und obwohl sie normalerweise wartete, bis mein Vater abends nach Hause kam, und sich erst dann einen Drink genehmigte, fing sie damit manchmal auch schon ohne ihn an. Was uns allerdings sofort auffiel, war die Musik. Und dass meine Mutter laut mitsang. Zum ersten Mal fand ich das weder beruhigend noch schön, sondern fühlte mich dadurch wie aus der Bahn geworfen. Ihr Gesang machte mich nervös. Als würde ich urplötzlich ein Gewicht auf mir spüren, als würde mich die traurige Bedeutung all jener traurigen Lieder überwältigen, und zwar alle auf einmal, in ihrer ganzen, gemeinsamen Schwere. Von da an verhieß ihr Gesang nichts Gutes mehr.
Ich kann mich verschwommen daran erinnern, dass ich meinen Vater auch nach der Scheidung noch gesehen habe. An den Wochenenden ging er mit uns frühstücken, unter der Woche manchmal abends zum Essen. Nie kam er ins Haus, nicht einmal an die Haustür, wenn er uns abholte; er hielt vorne an der Straße am Briefkasten an, blieb am Steuer sitzen und blickte stur geradeaus. Als würde er nicht auf uns warten, sondern auf irgendjemanden, und wenn ein Fremder eingestiegen und sich neben ihn gesetzt hätte, wäre es auch okay gewesen. Es fällt mir nicht leicht, ihn mir vorzustellen, wenn ich es heute mal versuche, und vielleicht liegt das an dieser distanzierten Haltung. Es gibt noch ein paar Erinnerungen an ihn, zum Beispiel, wie er mir vorliest, oder wie ich ihm beim Grillen im Garten zugeschaut habe. Aber sogar in diesen Momenten kommt es mir so vor, als wäre er selbst da schon nicht mehr richtig da gewesen, fern, distanziert, eine Art Geist.
Ich weiß nicht mehr, wann oder warum er aufhörte, sich mit uns zu treffen. Ich kann mich an keinen besonderen Vorfall oder gar Streit erinnern. Als hätte es diese gemeinsamen Unternehmungen bis zu einem Punkt gegeben, und dann eben nicht mehr. Weil ich in der sechsten Klasse für die Schule einen Familienstammbaum machen musste, dachte ich eine Zeit lang sehr oft über ihn nach, vielmehr darüber, auf welch seltsam mysteriöse Weise er einfach verschwunden war. Ich kriegte das überhaupt nicht mehr aus meinem Kopf, und schließlich schaffte ich es, meiner Mutter zumindest so viel zu entlocken: Er war weit weggezogen, nach Illinois. Eine Weile hielt er sogar noch den Kontakt, aber nachdem er wieder geheiratet hatte und ein paarmal umgezogen war, ohne ihr seine Adressen mitzuteilen, löste er sich gleichsam in Luft auf. Wodurch sie keine Chance hatte, Alimente von ihm zu kassieren oder sonst irgendeine Form der Unterstützung zu erhalten. Außerdem machte sie mir jedes Mal, wenn ich sie mit Fragen über ihn löcherte, unmissverständlich klar, dass sie keine Lust hatte, über das Thema zu sprechen. Wenn jemand weg war, war er weg – so sah meine Mutter das. Sie dachte keine Sekunde länger als nötig über die- oder denjenigen nach, das war in ihren Augen pure Zeitverschwendung. Und deshalb forderte sie das auch von allen anderen in ihrem Umfeld.
Nachdem mein Vater ausgezogen war, hörte meine Mutter allmählich auf, sich um mich zu kümmern, was den Alltag betraf; das – mich morgens wecken, dafür sorgen, dass ich mich anzog, mir Frühstück machen, mich zur Bushaltestelle begleiten, mir sagen, dass ich mir die Zähne putzen soll – übernahm stattdessen Cora als ihre Stellvertreterin. Was allerdings nie offiziell verkündet oder beschlossen wurde. Es passierte einfach. Genau wie die Veränderung, die mit meiner Mutter stattfand: Sie schlief mehr, lächelte weniger, sang mitten in der Nacht, wobei ihre Stimme zitterte, mich regelrecht verfolgte und irgendwie auch immer erreichte, da konnte ich mir die Ohren noch so fest zuhalten, mich an der Wand, an der mein Bett stand, zusammenrollen und versuchen, an etwas – irgendetwas, Hauptsache etwas anderes – zu denken.
Cora wurde der Fixpunkt in meinem Leben, das Einzige, auf das ich mich verlassen konnte. Das Einzige, das immer da war, sich nicht veränderte, Tag für Tag. Wir teilten uns ein Zimmer, und nachts musste ich oft lange wach liegen und ihr beim Atmen zuhören, bevor ich selbst einschlafen konnte.
Ich weiß noch, wie sie manchmal an der Tür stand, ich neben ihr, wir beide in unseren Nachthemden. Sie hielt das Ohr an die Tür, sagte: »Pscht.« Und ich beobachtete ihr Gesicht, während sie vorsichtig nach unten lauschte; versuchte herauszufinden, was unsere Mutter gerade trieb. Je nachdem, was sie hörte – ob klick! ein Feuerzeug anging, Eiswürfel im Glas klirrten, der Telefonhörer abgehoben oder aufgelegt wurde –, entschied sie, ob es ungefährlich für uns wäre, uns hinauszuwagen, um unsere Zähne zu putzen oder etwas zu essen, wenn meine Mutter wieder einmal vergessen hatte, Abendessen zu machen. Falls sie schlief, nahm Cora mich an der Hand, und wir schlichen uns auf Zehenspitzen an ihr vorbei in die Küche, wo ich ein altes Plastiktablett hielt, während Cora es in Windeseile belud, mit Cornflakes und Milch oder meinem Lieblingsessen, Pizzatoast, wofür sie rasch ein paar Scheiben mit Tomatensoße und Käse belegte und im Grill überbackte. Leise glitt Cora dabei durch die Küche, und beide horchten wir angestrengt auf die regelmäßigen Atemzüge meiner Mutter im Wohnzimmer nebenan. Wenn es gut lief, konnten wir uns zurück nach oben in unser Zimmer verkrümeln, ohne dass sie aufwachte. Aber wenn sie plötzlich aus dem Schlaf fuhr, sich abrupt aufsetzte, das Gesicht ganz verknittert, ihre Stimme schwer – dann lief es nicht gut. »Was macht ihr beiden da?«, lallte sie.
»Nichts«, meinte Cora. »Wir holen uns nur schnell etwas zu essen.«
Manchmal – wenn sie zuvor wie eine Bewusstlose geschlafen hatte – würde es dabei bleiben. Doch nur manchmal. Sehr viel häufiger konnte ich hören, wie die Sprungfedern des Sofas quietschten, wie ihre Füße auf dem Dielenboden aufsetzten. Und genau in dem Moment hörte Cora dann immer sofort mittendrin auf, egal was sie gerade tat – Brote schmieren, in der Handtasche meiner Mutter kramen, um Geld für unser Mittagessen am nächsten Tag herauszunehmen, die offene Weinflasche, an der das Kondenswasser herunterrann, auf der Arbeitsfläche so weit wie möglich nach hinten schieben –, und machte stattdessen das, was ich in meinen Erinnerungen am meisten und stärksten mit ihr verbinde, was so typisch für sie war: Meine Schwester stellte sich vor mich. Und blickte meiner Mutter entgegen, die nun auf sie zukam, genervt und streitlustig. Damals war Cora mindestens einen Kopf größer als ich. Und ich kann mich so gut an diese Momente erinnern, diese plötzliche Veränderung meines Blickwinkels: In einer Sekunde war das Bild, das sich mir bot, bedrohlich, und in der nächsten nicht mehr. Natürlich wusste ich nach wie vor, dass meine Mutter auf mich, auf uns zustürmte, behielt jedoch stattdessen unverwandt Cora vor mir im Auge: ihre dunklen Haare, ihre Schulterblätter, die scharf hervorstanden, die Art und Weise, wie sie nach hinten griff, mit ihrer Hand meine ertastete und schließlich umschloss – dann nämlich, wenn es wirklich schlimm wurde. Dann stand sie einfach da, während meine Mutter auf uns zukam, bereit abzufedern, was auch immer als Nächstes geschehen würde, die Wucht des Angriffs aufzufangen, so wie der Bug eines Schiffs gegen eine riesige Welle kracht und sie dennoch mühelos zerteilt, denn am Ende besteht sie doch nur aus Wasser.
Deshalb bekam Cora immer das meiste ab, von den brennenden Ohrfeigen oder den beidhändig ausgeführten Schubsern, durch die sie unvermittelt nach hinten taumelte; eine andere Spezialität meiner Mutter war, einen urplötzlich an den Armen zu ziehen und dabei so heftig zuzupacken, dass dicke rote Striemen entstanden, die sich später in blaue Flecke in der verräterischen Form von Fingerspitzen verwandelten. Diese Ausraster waren unberechenbar; ob und wann sie passierten, konnte man weder verstehen noch vorhersehen. Umso schwieriger war es deshalb, ihnen auszuweichen oder sie zu verhindern. Jedenfalls waren wir wach und trieben uns im Haus rum, wenn wir das nicht hätten tun sollen, oder wir machten zu viel Lärm, oder wir gaben die falschen Antworten auf Fragen, zu denen es offenbar sowieso keine richtigen Antworten gab. Wenn der Sturm vorüber war, ließ meine Mutter uns in der Regel kopfschüttelnd stehen und ging entweder zu ihrem Stammplatz auf dem Sofa zurück oder ins Bett. Und ich blickte Cora an, wartete auf ihre Entscheidung, was wir nun tun sollten. Ziemlich oft verließ auch sie dann den Raum, wobei sie sich die Tränen abwischte, und ich folgte ihr. Schweigend, aber dicht auf ihren Fersen. Ich fühlte mich einfach sicherer in ihrer Nähe, nicht nur, wenn sie sich wie ein Schutzschild zwischen unsere Mutter und mich stellte, sondern auch zwischen die Welt im Allgemeinen und mich.
Später entwickelte ich meine eigenen Methoden, um mit meiner Mutter klarzukommen. Ich lernte ihre Laune einzuschätzen, je nach Menge der Gläser und Flaschen, die bereits auf dem Tisch standen, wenn ich heimkam; oder nach der Art und Weise, wie sie die beiden Silben aussprach und betonte, aus denen mein Name besteht. Trotzdem steckte ich auch einiges an Schlägen ein; das Ganze hörte jedoch allmählich auf, als ich in die siebte, achte Klasse kam. Das wichtigste, ausschlaggebende Anzeichen dafür, wie sie drauf war, blieb allerdings ihr Singen. Sie singen zu hören, war Grund genug, vor einer Tür stehen zu bleiben, zu zögern, den Raum zu betreten, sich ins Halbdunkel zurückzuziehen. Egal, wie schön ihre Stimme klang, während sie sich an den Melodien entlanghangelte, die ich auswendig kannte – mir war immer bewusst, dass darunter etwas anderes lauern konnte, etwas Hässliches.
Zu dem Zeitpunkt war Cora längst weg. Sie war eine Superschülerin gewesen, lernte nonstop, um ihre Chancen auf ein Stipendium – sie hatte sich gleich um mehrere beworben – zu erhöhen; außerdem jobbte sie ihre ganze Highschool-Zeit hindurch in dem mexikanischen Imbiss in der Nähe, wann immer es ging, um zusätzliches Geld fürs College zusammenzubekommen. Meine Schwester war extrem ehrgeizig und strukturiert; ihr Ausgleich für das Chaos in unserem Leben bestand darin, für sich selbst großen Wert auf Ordnung und Logistik zu legen. Im übrigen Haus mochte es noch so versifft, chaotisch und unordentlich sein – Coras Hälfte unseres Zimmers war immer picobello aufgeräumt, alles fein säuberlich zusammengefaltet und an seinem Platz. Ihre Bücher standen alphabetisch geordnet da, ihre Schuhe in Reih und Glied, ihr Bett war immer gemacht, die Kissen in einem exakten rechten Winkel zur Wand arrangiert. Manchmal, wenn ich im Bett saß oder lag, tat ich nichts weiter, als mich umzuschauen und über den Gegensatz zu wundern. Unser Zimmer war wie eins dieser Vorher-Nachher-Bilder oder wie ein umgekehrter Spiegel, bei dem – wenn man in ihn hineinsah – aus dem Besten das Schlimmste und der Prozess dann gleich wieder in sein Gegenteil verkehrt wurde.
Am Ende ergatterte sie ein Teilstipendium für das staatliche College in der Nachbarstadt und nahm einen Studentenkredit auf, um den Rest ihrer Studiengebühren und Kosten zu decken. Im Frühling und Sommer ihres letzten Schuljahrs, nachdem klar war, dass sie ihre Zulassung für die Uni in der Tasche hatte, vollzog sich eine eigenartige Veränderung mit uns, unserem Haus. Ich konnte sie deutlich spüren. Meine Schwester schien aufzutauen, wirkte unbeschwerter; dabei hatte sie bis dahin alles getan, was sie konnte, um meiner Mutter aus dem Weg zu gehen, indem sie sich direkt nach der Schule zur Arbeit, anschließend sofort ins Bett und am nächsten Tag gleich wieder zur Schule begab. Doch jetzt kamen an den Wochenenden abends Leute vorbei, um sie abzuholen; ihre Stimmen drangen durch unsere geöffneten Fenster, während meine Schwester zu ihnen ins Auto stieg, und dann hörte man bloß noch das Geräusch des davondüsenden Wagens. Mädchen mit freundlichen, unbekümmerten Stimmen riefen an und fragten nach Cora; und obwohl sie das Telefon mit ins Bad nahm und die Tür schloss, konnte ich hören, dass auch ihre Stimme anders klang, wenn sie sich mit ihnen unterhielt.
Meine Mutter hingegen wurde stiller. Sie sagte nichts, als Cora mit Umzugskartons auftauchte, um ihre Sachen für die Uni zu packen, und langsam, aber sicher ihre Hälfte des Zimmers ausräumte. Währenddessen saß meine Mutter nur schweigend auf der seitlichen Veranda, an jenen langen, dämmrigen Sommerabenden, rauchte und starrte hinaus in den Garten. Keiner von uns sprach darüber, dass Cora ausziehen würde, doch je näher der Zeitpunkt rückte, umso deutlicher war die Veränderung wahrzunehmen, bis es mir so vorkam, als könnte ich meiner Schwester Minute um Minute dabei zusehen, wie sie sich von uns löste, befreite, hinauswirbelte, wie ein Geist, dessen Flasche endlich geöffnet wurde. Manchmal schreckte ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch, um mich zu vergewissern, dass sie schlafend in ihrem Bett lag; doch es war bloß eine vorübergehende, flüchtige Beruhigung, weil ich wusste, dass der Tag, an dem ich ihre Gestalt unter der Bettdecke dort nicht mehr sehen würde, unaufhaltsam näher rückte.
An dem Tag, an dem sie tatsächlich auszog, wachte ich mit Halsschmerzen auf. Es war ein Samstag. Ich half Cora, ihre Kartons und einige Koffer die Treppe hinunterzutragen. Meine Mutter blieb in der Küche und rauchte schweigend eine Zigarette nach der anderen; sie würdigte uns keines Blickes, während wir die wenigen Habseligkeiten meiner Schwester aus dem Haus schleppten und in den Kofferraum eines Jettas luden, der einem Mädchen namens Leslie gehörte. Ich hatte sie bis zu dem Tag noch nie gesehen und sah sie auch danach nie wieder.
»Na dann«, hatte Cora gemeint, als sie die Heckklappe zudrückte. »Ich schätze, das war alles.«
Ich blickte zum Haus zurück. Sah durch das vordere Fenster, wie meine Mutter die Küche durchquerte, um in die Vorratskammer zu gehen, und wieder herauskam. Und ich weiß noch, dass ich in dem Moment fest annahm, sie würde Cora natürlich nicht fahren lassen, ohne sich zumindest zu verabschieden – trotz allem, was geschehen war. Aber die Sekunden vergingen, die Minuten, sie näherte sich weder der Tür noch uns. Und nach einer Weile konnte ich sie nicht einmal mehr sehen, so angestrengt ich auch hinschaute.
Cora wiederum stand bloß da, Hände in den Taschen, und blickte ebenfalls zum Haus hinüber. Ob sie wohl auch wartete? Schließlich ließ sie die Hände sinken und atmete tief durch. »Bin gleich wieder da«, sagte sie. Leslie nickte. Wir sahen Cora gemeinsam nach, während sie aufs Haus zulief und darin verschwand.
Lange blieb sie nicht weg, vielleicht ein, zwei Minuten. Als sie wieder herauskam, hatte ihr Gesichtsausdruck sich nicht im Geringsten verändert. »Ich rufe dich heute Abend an«, sagte sie zu mir. Trat näher, umarmte mich fest. Ich weiß noch: Als ich ihr beim Wegfahren nachsah, war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich im Laufe der nächsten paar Stunden total krank werden würde – so weh tat mein Hals. Aber ich wurde nicht krank. Und die Halsschmerzen waren am nächsten Morgen vorbei.
Wie versprochen rief Cora am Abend an, auch am darauffolgenden Wochenende, einfach um sich zu melden und zu erkundigen, wie es mir ging. Beide Male hörte ich im Hintergrund Stimmengewirr und Musik. Sie erzählte mir, sie komme mit ihrer Zimmergenossin gut klar und fände die Seminare, die sie belegt habe, klasse, alles laufe also gut. Als sie mich fragte, wie es mir ging, hätte ich am liebsten geantwortet, wie sehr ich sie vermisste und dass meine Mutter seit ihrem Auszug sehr viel getrunken hätte. Aber da wir über das Thema nicht einmal von Angesicht zu Angesicht je wirklich offen geredet hatten, schien es jetzt, am Telefon, geradezu unmöglich, es anzusprechen.
Sie bat mich nie, meine Mutter ans Telefon zu holen; und meine Mutter ging auch nie ran, wenn Cora anrief. Als wäre ihre Beziehung rein geschäftlicher Natur gewesen, nur zusammengehalten durch einen Vertrag, der allerdings inzwischen abgelaufen war. So sah ich das, zumindest am Anfang. Bis wir einige Wochen später umzogen. Und meine Schwester überhaupt nicht mehr anrief. Da wurde mir klar, dass mein Name, irgendwo im Kleingedruckten versteckt, ebenfalls auf dem Vertrag gestanden hatte.
Lange Zeit gab ich mir selbst die Schuld daran, dass Cora den Kontakt zu uns abgebrochen hatte. Vielleicht wusste sie ja nicht, dass ich gern mit ihr in Verbindung geblieben wäre, weil ich ihr das nie ausdrücklich gesagt hatte. Dann verfiel ich auf die Idee, dass sie unsere neue Nummer nicht mehr kannte und auch nicht herausfinden konnte. Aber jedes Mal, wenn ich meine Mutter darauf ansprach, schüttelte sie bloß seufzend den Kopf. »Sie lebt ihr eigenes Leben, sie braucht uns nicht mehr«, antwortete sie und verwuschelte mir dabei die Haare. »Jetzt gibt es nur noch uns beide, mein Schatz, nur noch dich und mich.«
Im Nachhinein betrachtet kommt es mir so vor, als hätte es eigentlich schwieriger sein müssen, jemanden aus den Augen zu verlieren oder zuzulassen, dass jemand einen aus den Augen verlor. Vor allem, da dieser Jemand immer noch im selben Bundesstaat lebte und bloß ein paar Ortschaften weiter. Es wäre ein Leichtes gewesen, zur Uni rüberzufahren, ihr Studentenheim zu finden, an ihre Zimmertür zu klopfen und zu sagen: »Hallo, du hast Besuch.« Doch je deutlicher sich abzeichnete, dass meine Schwester nichts mehr mit mir und meiner Mutter zu tun haben wollte, umso einleuchtender erschien es, dass auch wir sie von uns abstreiften und ebenfalls auf Distanz zu ihr gingen. Wobei das nie offiziell oder ausdrücklich beschlossen wurde, genauso wenig wie damals, als meine Schwester und ich uns verbündet hatten. Es ergab sich einfach.
So überraschend oder erschreckend war diese Entwicklung außerdem ohnehin nicht. Meine Schwester hatte den Ausbruch gewagt, es über die Mauer geschafft und war entkommen. Was wir beide damals wollten. Deshalb begriff ich sehr gut, warum sie nicht zurückkommen wollte, nicht für einen Tag, nicht einmal für eine Stunde. Und ich hatte auch vollstes Verständnis dafür. Das Risiko war es nicht wert.
Trotzdem ertappte ich mich in den folgenden Jahren, während wir ständig umzogen, häufig dabei, dass ich an meine Schwester dachte. Meistens mitten in der Nacht, wenn ich nicht schlafen konnte und versuchte, sie mir vorzustellen, in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim, gerade mal fünfzig und ein paar zerquetschte Kilometer, aber gleichzeitig eine ganze Galaxie weit entfernt. Ob sie glücklich war? Wie das Leben da draußen wohl war? Und ob sie vielleicht, nur manchmal, vielleicht auch an mich dachte?