»Es ist kaum zu glauben.« Meine Mutter fuhr mit dem Finger über den Rand eines der Fotos, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Dein Projekt macht ja richtige Fortschritte.«
Meine Schwester strahlte. »Ja, nicht wahr? Die Oberlichter sind eingebaut, morgen kommt der Klempner und installiert die neue Toilette. Jetzt müssen wir uns nur noch die Farben für die Wände aussuchen, dann wird gestrichen. Ich sage euch, es wird großartig!«
Ich hätte nie für möglich gehalten, mit welcher Begeisterung ein Mensch Wandfarbensorten – die für mein Gefühl alle identisch wirkten – miteinander vergleichen konnte. Aber Caroline lebte nur noch für das Ferienhausprojekt. Obwohl vieles neu wurde, ging sie nicht vor wie ein Bulldozer, sondern erhielt auch einiges vom Alten. Deswegen hing, trotz besserer Fenster und neuer Oberlichter, nach wie vor der Elchkopf über dem Kamin, allerdings professionell saniert und gereinigt. Kaum zu glauben, dass es Menschen gab, die mit so was ihr Geld verdienten. Auch die splittrigen, alten Holzliegestühle würden auf der Veranda zum Meer hin stehen bleiben, allerdings ergänzt durch eine neue, gusseiserne Bank und eine Reihe dekorativ bepflanzter Terrakottatöpfe. Alles, was uns in dem Haus besonders am Herzen liege, sei erhalten geblieben, sagte Caroline. Und dass mein Vater es mit Sicherheit so gewollt hätte.
»Ich habe mir überlegt, ich könnte doch, wenn die Küche gestrichen ist, den Übergang zwischen Wand und Decke kacheln lassen«, sagte Caroline, während meine Mutter das nächste Foto in die Hand nahm und prüfend betrachtete. »So eine Art schmalen Mosaikfries im mexikanischen Stil aus Minikacheln mit verschiedenen Mustern. Moment, irgendwo müsste der Katalog sein, aus dem ich die Anregung habe . . .«
Ich beobachtete meine Mutter und wusste genau, dass sie an etwas ganz anderes dachte. Dennoch sah sie pflichtschuldig die neuesten Bilder durch, die Caroline mitgebracht hatte; jetzt gerade zum Beispiel eins von der neuen, gläsernen Schiebetür. Sie nahm es sogar in die Hand, um es genauer betrachten zu können. Dabei wanderten ihre Gedanken allerdings garantiert zu anderen Häusern, anderen Farbmustern, anderen Armaturen und Beleuchtungskörpern: denen ihrer Villen. Der Zeitplan für ihr Bauprojekt verlief nämlich parallel zu dem von Caroline. Für meine Mutter war das Ferienhaus etwas Fernes, fast Fremdes, ein Ding aus der Vergangenheit. Ihre eigenen Projekte dagegen repräsentierten die Gegenwart, die Zukunft. Außerdem waren sie ganz nah, denn wenn man oben an unserer Auffahrt stand, konnte man sie über den Hügel hinweg sehen, konnte erkennen, wie sie langsam, aber sicher aus dem Boden wuchsen. Vielleicht war es ja durchaus möglich, gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu gehen. Aber leicht war es auf jeden Fall nicht. Man musste es wollen. Meine Schwester schien für diese Schwierigkeit kein Gespür zu haben. Sie hatte nichts anderes mehr im Kopf als blaue Minikacheln oder Fensterläden mit verstellbaren Klappen, wie bei einer Südstaatenvilla. Ich hingegen bemerkte den Widerspruch bei dem, was gerade geschah, deutlich und konnte nur hoffen, dass meine Mutter am Ende damit klarkommen würde und ihn irgendwie für sich auflösen konnte.
Ein paar Abende später. Wish Catering hatte das Essen für eine Feier zum Fünfzigsten geliefert. Das Geburtstagskind wohnte in meiner Nähe, deshalb hatten mich die anderen auf dem Hinweg abgeholt und setzten mich hinterher daheim wieder ab. Wir hielten gerade vor unserem Haus, da bat Delia mich um einen Gefallen.
»Ich muss dringend aufs Klo«, sagte sie. »Meinst du, ich könnte eben mit reinkommen und eure Toilette benutzen?«
»Klar«, antwortete ich.
»Delia!« Bert warf einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. »Wir haben’s eilig!«
»Und ich bin schwanger und mache mir gleich in die Hose.« Delia öffnete die Tür, schwang etwas schwerfällig ein Bein aus dem Wagen. »Dauert nur eine Minute.«
Was für Bert allerdings entschieden zu lang war. Schon den ganzen Abend hatte er uns in den Ohren gelegen, er müsse spätestens um zehn daheim sein, weil da Das Neueste vom Ende der Welt lief, eine Fernsehsendung, in der über »die aktuellen Entwicklungen der Theorie vom Jüngsten Gericht« (Zitat Bert) berichtet werden würde. Aber die Party hatte länger gedauert als geplant, und obwohl wir uns sowieso schon tierisch beeilt hatten, lief die Zeit ab. Nicht nur für die Welt, sondern auch für Bert.
»Ich komme mit.« Kristy öffnete die Tür auf ihrer Seite. »Jedes Mal wenn ich bei der Party aufs Klo wollte, war besetzt.«
»Die Sendung fängt in fünf Minuten an!«, jammerte Bert.
»Gib’s auf, Bert.« Wes zeigte auf die Uhr am Armaturenbrett. Sechs Minuten vor zehn. »Das kannst du vergessen, du schaffst es sowieso nicht mehr.«
»Wisst ihr schon das Neueste? Es ist zu spät«, fügte Kristy fröhlich hinzu.
Bert funkelte die beiden böse an, sackte auf seinem Sitz zusammen und starrte trübe aus dem Fenster. Einen Augenblick lang herrschte Stille, die nur durch Delias leises Stöhnen unterbrochen wurde, als sie sich vorsichtig aus dem Auto auf den Bürgersteig hievte. Ich warf einen Blick zu unserem Haus hinüber, das hoch in die Dunkelheit aufragte. Auch drinnen war es dunkel, denn meine Mutter befand sich auf einer zweitägigen Veranstaltung für Bauunternehmer in Greensboro, wo sie auch übernachten wollte; sie würde also erst am nächsten Morgen zurückkehren.
»Du kannst gern mit reinkommen und hier fernsehen«, schlug ich vor. »Ich meine, wenn du möchtest.«
»Echt?« Bert sah mich überrascht an. »Ehrlich?«
»Macy!« Kristy stieß mich mit dem Ellbogen an. »Ich glaube, du spinnst! Was ist denn in dich gefahren?«
»Nettigkeit und Rücksichtnahme«, konterte Bert, während er blitzschnell die Tür auf seiner Seite öffnete. »In sie ist gefahren, wovon andere – gewisse anwesende Personen eingeschlossen – nur träumen können.«
Delia legte mir eine Hand auf den Arm. »Entschuldige, aber meine Blase platzt gleich.«
»Sorry. Komm mit, die Gästetoilette ist gleich neben der Haustür.«
»Wir gehen also alle rein?« Wes drehte den Schlüssel, der Motor ging aus.
»Sieht so aus«, meinte Kristy.
Dasselbe hätte ich auch tun können, wenn meine Mutter da wäre, dachte ich, während wir aufs Haus zuliefen. Delia watschelte neben mir her, Kristy musterte das Gebäude interessiert von oben bis unten, Bert, Wes und Monica bildeten die Nachhut. Ich hätte meine Freunde problemlos mit reinbringen können – zumindest versuchte ich mich innerlich davon zu überzeugen. Aber ob das wirklich stimmte? Seit meine Mutter mir gesagt hatte, sie mache sich Sorgen, ob ich noch die richtigen Prioritäten setze, kamen weder Wish Catering noch Kristy noch irgendwas, das damit zusammenhing, mehr in unseren Gesprächen vor. Ich gebe zu, ich erwähnte es nicht mehr, weil ich das Gefühl hatte, es wäre klüger. Und sicherer.
Ich schloss die Haustür auf und zeigte Delia die Gästetoilette. Sie rannte schneller durch den Flur, als ich sie seit Wochen hatte laufen sehen, und knallte die Tür hinter sich zu. »Endlich!«, seufzte sie so laut, dass wir sie durch die geschlossene Tür hören konnten. Kristy lachte laut und unvermittelt auf, so dass der Klang von der hohen Decke widerhallte und wir alle die Köpfe hoben.
»Hab ich’s euch vorher nicht gesagt?«, meinte Bert. »Dieses Haus ist gigantisch.«
»Das ist ein Palast, kein Haus.« Kristy linste ins Esszimmer, wo ein Hochzeitsporträt meiner Schwester über der Anrichte hing, und betrachtete es interessiert. »Wie viele Schlafzimmer habt ihr?«
»Keine Ahnung. Fünf?« Ich lief zur Treppe und sah hoch ins obere Stockwerk. Kein einziges Licht brannte da oben. Auch der Rest des Hauses lag im Dunkeln.
»Steht der Fernseher hier irgendwo?« Bert streckte den Kopf durch die Tür, die in den Salon führte. Wes versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, um ihn an seine Manieren zu erinnern. »Ich meine, darf ich nachschauen, wo der Fernseher steht?«
»Hier entlang«, antwortete ich und lief durch den Flur Richtung Küche, wobei ich rechts und links auf jeden Lichtschalter drückte, an dem ich vorbeikam. Ich zeigte auf die Tür zum kleinen Wohnzimmer. »Die Fernbedienung liegt auf dem Tisch, glaube ich jedenfalls.«
»Danke.« Bert flitzte zum Sofa. »Mann, was für eine Riesenglotze!« Monica folgte ihm und ließ sich in den Ledersessel plumpsen. Ein leises Klicken war zu vernehmen: Der Fernseher wurde eingeschaltet.
Ich ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. »Möchte jemand was zu trinken?«
»Habt ihr Sprite?«, rief Bert.
Über den Flur sah ich, wie Wes ihm einen vernichtenden Blick zuwarf.
»Ich meine, nein danke«, sagte Bert.
Kristy grinste und fuhr mit der Hand über die Oberfläche der Küchentheke. »Ist das cool. Als wären lauter kleine Diamanten eingelassen. Wie nennt man so was?«
»Keine Ahnung«, sagte ich.
Wes warf einen Blick über Kristys Schulter. »Corian.«
»Es ist alles so schön hier«, meinte Kristy begeistert und sah sich in der Küche um. »Wenn Stella die Schnauze voll von mir hat, ziehe ich zu Macy. Hier gibt es fünf Schlafzimmer, aber ich würde sogar in der Gästetoilette schlafen. Ich wette, die ist schöner als unser ganzes Haus.«
»Überhaupt nicht«, sagte ich.
Aus dem Wohnzimmer hörte ich die tiefe, sonore Stimme des Moderators, der in bedeutungsvollem Ton verkündete: »Unsere Zukunft, unser Schicksal: Das Neueste vom Ende der Welt. Und es steht unmittelbar bevor.«
»Kommt, Leute, es fängt an«, brüllte Bert.
»Leiser, Bert, du bist nicht auf dem Sportplatz«, rief Kristy zurück, bevor sie sich auf dem Hocker drehte, auf den sie sich mittlerweile gesetzt hatte, und durch die Schiebetür in den Garten hinausblickte. »Wow! Monica, hast du diese Terrasse gesehen? Und den Swimmingpool?«
»Mmm-hmmm«, antwortete Monica.
»Monica steht voll auf Pools«, erklärte Kristy. »Sie kommt überhaupt nicht mehr aus dem Wasser, wenn sie erst mal drin ist. Der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Ich bin eher der Typ, der am Rand im Liegestuhl liegt und einen mondänen Drink mit Cocktailkirsche und Sonnenschirmchen schlürft.«
Ich holte ein paar Coladosen aus dem Kühlschrank, ein paar Gläser aus dem Küchenschrank und füllte sie mit Eiswürfeln. Kristy blätterte mittlerweile durch eine Ausgabe von Southern Living, die meine Schwester bei ihrem letzten Besuch hatte liegen lassen. Wes stand an der großen Glasschiebetür zum Garten und blickte versonnen auf die Terrasse. Unvermittelt wurde mir bewusst, wie still es in unserem Haus normalerweise war. Doch es fiel mir erst jetzt wirklich auf, wo der Fernseher lief und Leute zugegen waren. Schon allein dadurch, dass sie in den Räumen standen, saßen und atmeten, schien sich im Haus eine fühlbare Energie zu entfalten, die sonst fehlte.
»Jetzt geht’s mir besser.« Delia kam durch den Flur in die Küche; ihre Flipflops klatschten schmatzend auf die Fliesen. »Ich hätte nie gedacht, dass es mich mal so glücklich machen würde, einfach nur pinkeln zu können.«
Der Fernsehmoderator verkündete: »Wodurch wird es ausgelöst werden – das Ende der Welt!?«
Kristy blätterte eine Seite um und meinte: »Wetten, dass dieses Zimmer jeden Scheußlichkeitswettbewerb gewinnen würde! Ich meine, schaut euch das doch mal an. Ein Traum aus karierter Baumwolle. Krass.«
»Macy?«
Ich fuhr heftig zusammen und drehte mich um. Meine Mutter, einen Aktenordner in der Hand, stand unter dem Bogen im Flur, der zu ihrem Arbeitszimmer führte. Sie war also die ganze Zeit hier gewesen, ohne dass ich es bemerkt hatte, und hatte sich angeschlichen, als wollte sie bei Wes’ und Berts Spiel mitmischen, Buh machen, mich erschrecken. Es war ihr gelungen. Mein Herz schlug wie rasend.
»Hi, Mama«, sagte ich. Was gar nicht so ertappt klingen sollte, wie es klang.
»Hallo.« Doch dabei sah sie nicht mich an, sondern ließ ihre Blicke wandern, registrierte Bert und Monica vor dem Fernseher, Wes neben der Gartentür, Delia, die sich gerade zum Sofa schleppte, und Kristy, nach wie vor in die Zeitschrift vertieft. »Mir war plötzlich so, als würde ich Stimmen hören.«
»Wir sind erst seit kurzem hier.« Sie kam herein und legte den Ordner auf die Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank. Ich blickte ihr entgegen und fuhr fort: »Ich habe meinen Freunden angeboten, eine Fernsehsendung bei uns anzuschauen, die sie sonst verpasst hätten. Ich hoffe, das ist okay.«
»Natürlich.« Plötzlich klang ihre Stimme überfreundlich. Künstlich. Gezwungen. »Ich wollte deine neuen Freunde schon lange kennen lernen.«
Prompt blickte Kristy auf. Setzte sich kerzengerade hin, streckte die Hand aus: »Kristy Palmetto.«
Meine Mutter, ganz Profi, ergriff zunächst automatisch Kristys Hand, um sie zu schütteln. Erst dann blickte sie Kristy direkt ins Gesicht, entdeckte die Narben. »Ach . . . hallo.« Sie stolperte ein wenig über das Hallo. Doch wie ich nicht anders erwartet hatte, erholte sie sich rasch vom ersten Schreck; und als sie weitersprach, war ihr Ton glatt. Emotionslos. »Macy hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«
»Sie haben ein wunderschönes Haus«, sagte Kristy und klopfte mit der flachen Hand leicht auf die Oberfläche der Küchentheke. »Besonders dieses Coreal finde ich Spitze.«
»Corian.« Das kam aus dem Hintergrund, von Wes.
»Stimmt, so heißt das Zeug.« Kristy lächelte meine Mutter an, die angestrengt versuchte, gleichzeitig überall und nirgendwo hinzublicken – allerdings ohne Erfolg, weil ihre Augen wie magisch immer wieder von dem einen gewissen Punkt angezogen wurden. Doch meine Mutter hatte Glück im Unglück, denn es gab bei Kristy bekanntermaßen noch mehr anzustarren, etwa ihr Outfit. »Ihr Haus ist einfach der Wahnsinn, Mrs Queen. Ich habe schon zu Macy gesagt, wenn sie nicht aufpasst, ziehe ich hier ein. Ich hörte, Sie haben ein paar Extraschlafzimmer zu vergeben.«
Meine Mutter lachte höflich und warf mir einen Blick zu, den ich mit einem Lächeln erwiderte, das sich allerdings sehr angestrengt anfühlte. Als wären meine Lippen nicht mehr groß genug, um meine Zähne zu bedecken, sondern zögen sich schmerzhaft zurück. So habe ich früher gelächelt, dachte ich. Als Lächeln für mich noch Arbeit war.
»Mama.« Ich deutete auf Wes, der sich von der Glastür abgewandt hatte und zu uns herüberkam. »Das ist Wes.«
»Hi«, sagte Wes.
»Und Delia kennst du ja schon.« Ich nickte in Richtung des Sofas, wo Delia saß.
»Selbstverständlich. Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich meine Mutter.
»Sehr schwanger.« Delia lächelte. »Aber ansonsten gut.«
»Das Baby kann jederzeit kommen«, erklärte ich. Und weil meine Mutter daraufhin ein wenig alarmiert wirkte, fügte ich rasch hinzu: »Ich meine, jeden Tag, nicht jetzt sofort. Das da drüben sind übrigens Bert und Monica.«
»Hallo, schön, euch kennen zu lernen«, rief meine Mutter ins Wohnzimmer hinüber. Bert und Monica winkten grüßend zurück. »Haben Sie schon die große Neuigkeit, die Neuigkeit aller Neuigkeiten gehört?«, tönte der Moderator mit seinem gewaltigen Organ.
»Bert wollte diese Sendung unbedingt sehen«, sagte ich. »Es geht um . . . äh . . . gewisse Theorien.«
»Durchgeknallte Theorien von ein paar Spinnern«, ergänzte Kristy.
»Alles wissenschaftlich untermauert«, trompetete Bert.
»Leiser, Bert, du befindest dich in einem Haus.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, machte Wes ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer.
»Alles wissenschaftlich erwiesen«, sagte Bert, immerhin nicht ganz so laut. »Das Ende der Welt ist kein Witz. Die Frage ist nicht, ob es kommt, sondern nur wann.«
Ich warf einen Blick auf meine Mutter. Ihr Gesichtsausdruck – Verwirrung, Neugierde, vielleicht sogar Schock – war meinem eigenen an dem Tag, an dem ich das Team von Wish Catering kennen gelernt hatte, vermutlich gar nicht unähnlich. Doch als ich diesen Gesichtsausdruck nun an ihr wahrnahm, beschlich mich das Gefühl, dass das nicht unbedingt was Gutes bedeutete.
»Macy, kann ich dich bitte kurz in meinem Arbeitszimmer sprechen?«, fragte sie. »Unter vier Augen.«
»Äh . . . klar.«
»Ist es zu fassen?« Kristy hielt mir die Zeitschrift entgegen, um mir ein mit Korbmöbeln voll gestopftes Wohnzimmer zu zeigen. »Ist dir schon mal ein so unbequemes Sofa untergekommen? Also so, wie das aussieht, kann es doch nur total unbequem sein.«
Ich verneinte stumm und folgte meiner Mutter durch den kurzen Flur zu ihrem Arbeitszimmer. Wir gingen hinein, sie schloss die Tür und stellte sich sofort demonstrativ hinter ihren Schreibtisch. »Es ist nach zehn«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Findest du das nicht auch ein wenig zu spät für Besuch?«
»Bert wollte so gern diese Sendung sehen«, antwortete ich. »Sie dauert bloß eine halbe Stunde. Außerdem dachte ich, du bleibst über Nacht in Greensboro.«
»Du musst morgen früh arbeiten«, sagte meine Mutter, als hätte ich das noch nicht mitgekriegt. »Außerdem ist der vierte Juli. Uns steht ein wichtiger und anstrengender Tag bevor. Oder hast du vergessen, dass ich dich gebeten habe, mir bei dem Feiertagspicknick zu helfen? Sobald du aus der Bibliothek zurück bist, ist es deine Aufgabe, am Eingang zum Park zu stehen und die Leute aus der Nachbarschaft zu begrüßen. Heute Abend Gäste einzuladen erscheint mir deshalb ziemlich unpassend.«
»Tut mir Leid. Sie gehen bald wieder.«
Sie sah nicht mich an, sondern ein paar Unterlagen vor sich auf dem Schreibtisch, die sie langsam durchblätterte. Aber ihr Missfallen war mehr als deutlich spürbar. Es durchdrang die Luft, war fast zu schmecken und schloss sich um mich wie Nebel.
Aus dem Wohnzimmer drang Gelächter. Ich warf einen Blick zu der geschlossenen Tür. »Ich sollte wieder zu ihnen gehen«, sagte ich. »Ich möchte nicht unhöflich wirken.«
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und nickte.
Ich ging zur Tür und wollte sie gerade öffnen, als sie fragte: »Woher hat Kristy Palmetto diese Narben?«
Plötzlich sah ich Kristy lebhaft vor mir, und zwar genau in dem Moment, in dem sie – nur wenige Minuten zuvor – meiner Mutter freundlich und unbekümmert die Hand geschüttelt hatte.
»Als sie elf war, hatte sie einen Autounfall.«
»Armes Mädchen.« Meine Mutter schüttelte mitleidig den Kopf und nahm einen Kugelschreiber aus dem Stiftehalter auf ihrem Schreibtisch. »Muss schrecklich für sie sein.«
»Wie kommst du darauf?« Ehrlich gesagt fielen mir Kristys Narben kaum noch auf. Sie gehörten zu ihrem Gesicht, waren ein Teil von ihr. Ich fand Kristys Outfits inzwischen wesentlich auffälliger, vielleicht aber auch nur deshalb, weil sie ständig wechselten.
Meine Mutter sah mich an. »Weil sie so entstellt ist. Das Alter, in dem ihr seid, ist so schon schwer genug, auch ohne ein solches Handicap. Sie muss sich vom Schicksal sehr benachteiligt fühlen.«
»Sie fühlt sich nicht benachteiligt, Mama. Es sind bloß ein paar Narben, nichts weiter.«
»Trotzdem schade.« Seufzend zog meine Mutter eine Aktenmappe, die am anderen Ende des Schreibtischs lag, näher zu sich heran. »Sonst wäre sie nämlich ein hübsches Mädchen.«
Sie öffnete die Mappe und begann sich Notizen zu machen. Als wäre ich schon gar nicht mehr da. Doch vor allem, als gäbe es keine andere Meinung als ihre, kein Recht auf Widerspruch.
Natürlich war Kristy keine Schönheit, dazu waren die Macken zu offensichtlich. Natürlich waren wir über den Tod meines Vaters hinweg, schaut euch ruhig bei uns um, alles bestens, wir haben Erfolg, beruflich, in der Schule, uns geht’s gut, ja wunderbar. Doch ich hatte nie den Mund aufgemacht, um ihr zu widersprechen. Deswegen konnte ich niemandem die Schuld an diesem Zustand geben außer mir selbst.
Mit diesen Gedanken im Kopf kehrte ich in die Küche zurück. Wes hockte mittlerweile neben Kristy und blätterte mit ihr zusammen durch Southern Living.
»Der Krempel ist nicht halb so gut wie deine Sachen.« Kristy deutete auf die aufgeschlagene Seite. »Ich meine, was soll das hier überhaupt darstellen?«
»Einen Reiher. Aus Gusseisen.« Doch dabei sah Wes mich an, nicht sie. »Glaube ich jedenfalls.«
»Einen was?« Kristy kniff die Augen zusammen, als könnte sie dadurch besser erkennen, was die Abbildung darstellen sollte. »Ist nicht wahr.«
Ich trat zu den beiden an die Küchentheke, um mir das Foto selbst anzusehen. Tatsächlich – ein gusseiserner Reiher. Genau von so was hatte meine Schwester gesprochen.
»Die sind in Atlanta gerade der Hit«, sagte Wes zu Kristy.
»Und wie«, fügte ich hinzu.
Kristy sah erst ihn und dann mich an. »Schön für sie.« Schob ihren Hocker zurück, hüpfte auf den Boden. »Aber jetzt muss ich dringend diesen Wahnsinnsweltuntergang checken.«
Kristy ging ins Wohnzimmer. Ich blickte ihr nach. Sie schmiss sich in unseren Ohrensessel, ließ ihre Hände über die Armlehnen gleiten, rutschte ein bisschen hin und her, bis sie bequem saß, und legte für einen Moment entspannt den Kopf in den Nacken, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf den Fernseher richtete.
Wes, der mir gegenüber an der Küchentheke stand, blätterte um. »Alles in Ordnung, ich meine, wegen deiner Mutter?«, fragte er ohne aufzublicken.
»Ja.« Ich warf einen Blick auf die Zeitschrift. Noch ein eiserner Reiher. »Ich kapiere nicht ganz, was man an den Dingern finden kann«, meinte ich.
Er deutete erklärend auf das Bild. »Also, zuerst einmal sehen sie sauber und ordentlich aus. Auf einen Blick zu erfassen. Das gefällt den Leuten. Zweitens nehmen sie ein Motiv aus der Natur auf, passen also gut in den Garten. Drittens . . .« Er blätterte noch eine Seite um, zeigte auf den nächsten, dort abgebildeten Reiher. ». . . nimmt der Künstler sich und seine Reiher sehr ernst, wodurch sie zusätzlich einen ganz eigenen Charakter bekommen.«
Ich betrachtete das Foto des Künstlers, eines hoch gewachsenen Mannes mit weißem Pferdeschwanz, der in nachdenklicher Pose neben einem Gartenteich stand. Die Bildunterschrift lautete: In meinen Reihern manifestiert sich die Fragilität des Lebens.
»Bah«, meinte ich. »Wenn man so was von sich geben muss, um als ernsthafter Künstler zu gelten – gute Nacht.«
»Sehe ich genauso.«
»Aber wart’s ab, eines Tages taucht dein Foto auch in so einer Zeitschrift auf, plus Artikel, in dem du über die wahre, tiefe Bedeutung deines Werks sprichst.«
»Unwahrscheinlich«, antwortete Wes. »Ich glaube nicht, dass Southern Living über Leute berichtet, deren Laufbahn als Künstler damit begonnen hat, dass sie verhaftet und in eine Erziehungsanstalt verfrachtet wurden.«
»Quatsch. Ich kann mir gut vorstellen, dass auf dem Foto da einer von deinen Engel ist«, meinte ich.
Wes schnitt eine abwehrende Grimasse.
»Woher kommt eigentlich diese negative Einstellung?«, fuhr ich neckend fort.
»Nicht negativ, sondern realistisch.« Wes klappte die Zeitschrift zu.
Ich pikte ihn scherzhaft mit dem Finger. »Ich finde, du solltest etwas positiver denken.«
»Und du solltest aufhören mich zu piken.«
Ich lachte, drehte mich aber um, weil ich ein Geräusch in meinem Rücken hörte. Meine Mutter stand wieder im Türrahmen. Wie lange wohl schon? Doch die Frage beantwortete sich von selbst, dazu genügte ein Blick auf ihr Gesicht: streng, missbilligend, energisch vorgestrecktes Kinn.
Ihre Stimme klang allerdings vollkommen neutral: »Macy, reichst du mir bitte meinen Aktenordner?«
Als ich zur Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank ging, spürte ich ihren Blick bohrend in meinem Rücken. Wes, dem die unvermittelt angespannte Atmosphäre nicht entgangen war, verzog sich ins Wohnzimmer. Als er den Raum betrat, rückte Kristy in ihrem Riesensessel wie selbstverständlich ein Stück zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte.
»Es handelt sich um eine Art Rückkopplungseffekt«, verkündete der Moderator, »der wiederum in der Bevölkerung eine Art Dominoeffekt bewirken würde, denn das konstante, unterschwellige Dröhnen würde die Menschen langsam, aber sicher in den Wahnsinn treiben . . .«
»Vibrationen können einen verrückt machen?«, fragte Kristy.
»Alles kann einen verrückt machen«, antwortete Bert.
». . . entweder ein Naturphänomen«, sagte der Moderator gerade eindringlich, »aber möglicherweise auch ein von Außerirdischen entwickeltes, hoch technisiertes Instrument, das Töne produziert, deren Klang und Wirkung unser Vorstellungsvermögen überschreiten.«
»Interessant.« Delia strich sich über ihren Bauch.
»Mmm-hmmm.« Monica schien der gleichen Ansicht zu sein.
Ich nahm den Ordner und brachte ihn meiner Mutter. Sie trat durch die Tür ins Halbdunkel des Flurs, wobei ihr Blick mir signalisierte, ich solle ihr bitte folgen.
»Macy, habe ich richtig gehört? Dieser Junge wurde schon mal verhaftet?«
»Das ist lange her«, antwortete ich, »und –«
»Macy!«, rief Kristy. »Komm her, sonst verpasst du den Mega-Hunami.«
»Tsunami«, sagte Bert.
»Egal, Hauptsache Mega, oder etwa nicht?«, konterte Kristy.
Doch ich hörte sie kaum, denn ich konnte nichts anderes mehr tun als meine Mutter anzuschauen. Nahm nichts anderes mehr wahr als die Blicke, die sie meinen Freunden zuwarf, und das vernichtende Urteil, das sich überdeutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Angefangen mit Delias chaotischem Geschäftsgebaren über Kristys Narben bis hin zu Wes’ Vergangenheit – ihre Schwächen waren nur allzu offensichtlich. Weswegen sie den Ansprüchen meiner Mutter nicht genügten.
»Das ist der junge Mann von neulich Abend, oder?«
»Bitte?«
Meine Mutter sah mich so streng und unerbittlich an, als hätte ich ihr allein durch diese simple Verständnisfrage widersprochen.
»Als ich neulich Abend nach Hause kam, stand in unserer Auffahrt ein Truck. Und auf dem warst du, zusammen mit noch jemandem.« Sie betonte jede einzelne Silbe. »War er das?«
»Äh . . . ja, vermutlich schon«, antwortete ich. »Er hat mich netterweise nach Hause gefahren.« Wie war ich bloß auf die Idee gekommen, sie hätte uns nicht bemerkt? Im Gegenteil – es war nur ein weiterer Punkt, den sie gegen mich verwenden würde. Ich merkte es nur zu deutlich an der Art, wie sie Wes betrachtete. »Es ist nicht so, wie du denkst, Mama. Er ist einfach ein netter Typ, mit dem ich befreundet bin.«
»Sobald die Sendung vorbei ist«, befahl sie, als hätte ich überhaupt nichts gesagt, »verlassen diese Leute mein Haus! Hast du mich verstanden?«
Ich nickte. Meine Mutter klemmte sich ihren Ordner unter den Arm. Ich wollte gerade ins Wohnzimmer gehen, da rief sie mich zurück.
»Übrigens, was ich noch vergessen habe . . .« Ihre Stimme drang laut und deutlich durch sämtliche Räume des unteren Stockwerks. »Jason rief vorhin an. Er kommt übers Wochenende nach Hause.«
»Wirklich?«
»Ja, seine Großmutter ist anscheinend schwer krank, deshalb fliegt er für ein paar Tage her. Ich soll dir ausrichten, dass er morgen gegen Mittag ankommt und dann direkt in die Bibliothek fährt, um sich dort mit dir zu treffen.« Damit wandte sie sich abrupt um und ging in ihr Arbeitszimmer.
Ich stand wie angewurzelt da und versuchte diese Nachricht zu verarbeiten. Jason kam nach Hause. Und natürlich hatte meine Mutter nichts Besseres zu tun als genau das vor aller Welt, insbesondere Wes, rauszuposaunen. Wo sie heute Abend doch sonst so großen Wert darauf gelegt hatte, ihre Kritik so diskret wie möglich zu äußern. Aber was hatte ich erwartet? Sie wollte mich zurück auf Spur bringen; das hatte sie mit jeder Faser ihres Körpers, mit jeder Nuance ihres Tons ausgedrückt. Dieser letzte Schlag diente einzig und allein dazu, mich in die richtige, in ihre Richtung zu schubsen.
Als ich das Wohnzimmer betrat, redete der Moderator gerade lang und breit über den Mega-Tsunami; in sämtlichen gruseligen Einzelheiten beschrieb er, wie ein einziger Vulkanausbruch genügte, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen, durch die am Ende die gesamte Küstenregion unseres Kontinents ausgelöscht werden würde. Was braucht man noch für einen Beweis dafür, dass das Leben kurz ist, dachte ich. Vielleicht rumorte es ja bereits heftig im Inneren des Vulkans, in diesem Augenblick; vielleicht brodelte die Lava schon hoch, vielleicht entstand gerade der Druck, der immer gewaltiger, immer unerträglicher werden würde, so dass das Ganze am Ende zwangsläufig explodieren musste.
Kristy rutschte auf die breite Lehne des Sessels, um Platz zwischen sich und Wes zu machen, der konzentriert auf den Bildschirm blickte. Ich setzte mich. Er schwieg. Ob er die Bemerkungen meiner Mutter über Jason wohl gehört hatte? Egal. Schließlich waren wir bloß Freunde, nichts weiter.
»Alles klar?«, fragte Kristy. Ich nickte, während ich auf eine Computersimulation der gigantischen Flutwelle starrte. Ein Vulkanausbruch, große Teile Land brachen ab, stürzten ins Meer, eine zwangsläufige Abfolge von Ereignissen, die alle auf das eine, ungeheure Danach hinausliefen, während sich die Welle höher, immer höher aufbaute und über den Ozean raste, wobei sie die Entfernung zwischen Afrika und uns in wenigen Sekunden zu überwinden schien. Meinen Kopf beherrschte nur noch ein einziger Gedanke: Vor unseren Augen – da, auf dem Fernsehbildschirm – bewegte sich die Zukunft in diesen wenigen Sekunden unweigerlich auf ihr eigenes Ende zu. Es gab nichts, worin sich der Ausdruck »für immer und ewig« mit all seinen Bedeutungen und Konsequenzen so deutlich zeigen würde wie beim Ende der Welt. Dem todsicheren, dem unwiderruflichen, dem Ende aller Zeiten.