Kapitel 18

Zuerst hatte meine Mutter sich meinetwegen Sorgen gemacht. Jetzt war ich dran. Und zwar ihretwegen.

Meine Mutter hatte schon immer viel gearbeitet. Aber so hatte ich sie noch nie erlebt. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich inzwischen fast den ganzen Tag mit ihr verbrachte, sechs, sieben Stunden am Stück, und alles mitbekam: die Dauertelefonate, ihr rasendes Tippen, wenn sie E-Mails beantwortete, den unaufhörlichen Strom von Leuten, die zu ihr reinpilgerten und was von ihr wollten – Makler, Handwerker, Vertreter, Kunden. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Es war der dreiundzwanzigste Juli und in gut zwei Wochen war es so weit: Ihr Villenkomplex würde mit der Riesengala, die sie seit langem plante, eröffnet werden. Alle Welt glaubte, das Projekt liefe prima, aber meine Mutter war unzufrieden mit den bisherigen Verkaufszahlen; oder die Badewannen aus Marmor waren noch nicht alle installiert; oder der eine oder andere Handwerker brachte sie um den Verstand, weil er ihrer Meinung nach lieber ausschlief oder sonntags auch mal freinahm, anstatt pünktlich oder – noch besser – vor dem vereinbarten Termin fertig zu werden und perfekte Arbeit zu liefern. Mir war ja schon seit längerem aufgefallen, wie erschöpft sie immer wirkte. Und dass sie kaum noch lächelte. Doch allmählich wurde mir klar, dass es schlechter um sie stand, als ich vermutet hatte.

Vielleicht hätte ich früher etwas merken müssen, aber ich hatte schließlich meine eigenen Probleme. Nur eines hatte sich seit der Sache mit Wes erledigt: Ich hatte mich mit meiner Strafe abgefunden. Es fiel mir komischerweise überhaupt nicht schwer, wieder in mein altes Leben hineinzugleiten, nachdem das mit Wes und mir endgültig vorbei war (als ob da je was gewesen wäre). Allmählich vergaß ich das Mädchen, das ich zwischendurch gewesen war. Vergaß die Macy, die nicht mehr so viel Angst gehabt hatte, ja die geradezu mutig gewesen war.

Mein Leben verlief in ruhigen, ordentlichen, schweigsamen Bahnen. Der Alltag meiner Mutter dagegen bestand aus nichts als Hektik und Stress. Sie schien immer schmaler zu werden und überhaupt nicht mehr zu schlafen, und obwohl sie sich jeden Morgen sorgfältig schminkte und jede Menge Abdeckstift benutzte, waren die dunklen Ränder unter ihren Augen deutlich zu erkennen. Immer häufiger ertappte ich mich dabei, dass ich sie heimlich beobachtete und mich fragte, welchen Preis sie für den Stress zahlte, den sie sich aufbürdete. Und wie ihr Körper wohl auf die Dauerbelastung reagieren würde. Manchmal gibt es Anzeichen für so was, manchmal nicht. Auf jeden Fall behielt ich sie vorsichtshalber im Auge.

»Mama!« Ich stand in der Tür zu ihrem Büro, wollte ihr das Hühnersandwich bringen, das ich vor einer halben Ewigkeit für sie bestellt hatte. Es war nämlich bereits halb drei, das heißt, das Sandwich lag seit fast drei Stunden auf meinem Schreibtisch und gammelte vor sich hin. Auf jeden Fall wurde es nicht besser und die Mayonnaise garantiert bald schlecht. »Mama, du musst etwas essen. Jetzt!«

»Danke, mein Schatz.« Sie griff nach ein paar Telefonnotizen, um sie zu sichten. »Leg’s bitte da drüben hin, ich esse gleich einen Happen. Nur noch ein Anruf.« Sie griff zum Telefonhörer.

Ich trat ins Zimmer. Sie tippte wie eine Rasende, während sie gleichzeitig telefonierte. Ich holte das Sandwich aus der Tüte und arrangierte es so appetitlich wie möglich auf einem Pappteller. Meine Mutter redete gerade mit einem Herrn, der sich Rathka nannte. Rathka war der Koch, den sie für ihre Gala engagiert hatte und der ihr mehrfach wärmstens emfohlen worden war. Trotzdem waren meine Mutter und Rathka schon mehrere Male heftig aneinander geraten, weil er erstens fast nie zu erreichen war (anscheinend ging er so gut wie gar nicht ans Telefon), zweitens darauf bestand, dass sie sündhaft teures Porzellan für sein Essen anmietete (sonst kämen die Gäste nicht in den vollen Genuss der herausragenden kulinarischen Erfahrung), und drittens wegen des Menüs, denn Rathka wollte ihr partout nicht verraten, was er eigentlich zu kochen gedachte.

»Damit meine ich Folgendes«, sagte meine Mutter gerade ins Telefon, während ich eine Dose Cola Light öffnete, ein Glas einschenkte und neben den Pappteller stellte. »Dies ist eine äußerst wichtige Veranstaltung für mich, zu der ich fünfundsiebzig Leute einlade. Ist es da wirklich zu viel verlangt, wenn ich Sie darum bitte, mir ein paar Einzelheiten über das Menü mitzuteilen?«

Ich faltete eine Serviette, schob sie unter den Rand des Papptellers und dann beides zusammen näher an ihren Ellbogen heran. Doch erst als der Pappteller ihren Arm berührte, merkte sie überhaupt, was ich tat, und blickte kurz auf. Ihre Lippen formten ein lautloses Danke, ohne dass sie das Telefonat für eine Sekunde unterbrach. Das Sandwich ignorierte sie weiterhin, trank bloß einen Schluck von der Cola. Immerhin.

»Ja, dass es Lamm geben wird, habe ich begriffen.« Sie verdrehte entnervt die Augen. In letzter Zeit schien meine Mutter eigentlich nur noch zu kämpfen, mit jedem, gegen jeden, wegen jeder Kleinigkeit. »Aber ein Menü besteht doch nicht nur aus Lamm . . . ich meine, ich hätte gern ein wenig genauer gewusst, was Sie im Einzelnen servieren wollen.« Pause. »Ich verstehe. Sie sind ein Künstler, Rathka. Aber ich bin Geschäftsfrau. Und ich wüsste gern, wofür ich mein Geld ausgebe.«

Ich kehrte an meinen Schreibtisch zurück, setzte mich, drehte mich ein bisschen auf meinem Stuhl hin und her und gab ein paar Befehle über die Tastatur ein, um meine E-Mails abzurufen. Seit ich für meine Mutter arbeitete, hatte ich zwar tausendmal mehr zu tun als in der Bibliothek; trotzdem gab es dazwischen auch immer mal wieder Zeiten, in denen nichts los war. Und jedes Mal wenn ich in solchen Momenten meine E-Mails checkte, schien gerade wieder eine von Jason gekommen zu sein.

An dem Abend, als ich Wes das letzte Mal gesehen hatte, flimmerte bei meiner Rückkehr nach Hause Jasons E-Mail noch auf meinem Bildschirm. Im ersten Moment hätte ich sie fast gelöscht und ignoriert. Doch aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Ich saß vor dem PC, meine Finger schwebten schreibbereit über den Tasten. Zu diesem Leben gezwungen zu werden war eine Sache. Es zu wählen eine ganz andere. Aus irgendeinem Grund bildete ich mir plötzlich ein, eine gewisse Wahl zu haben. Auch wenn es gar keine Alternativen gab. Trotzdem.

Also schrieb ich an Jason. Schrieb, dass ich den Job in der Bibliothek gehasst hätte, dass er nicht das Richtige für mich gewesen sei und ich vermutlich gleich hätte gehen sollen statt so lange durchzuhalten. Ich schrieb ihm, wie sehr mich seine Mail, in der er die vorübergehende Trennung vorschlug, verletzt habe. Und dass ich nicht wisse, was ich davon halten solle, wenn wir am Ende der Sommerferien – oder überhaupt – wieder zusammenkommen würden. Aber ich schrieb ihm auch, das mit seiner Großmutter tue mir sehr Leid und dass ich für ihn da sein würde, wenn er jemanden zum Reden brauche. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, fand ich. Ich konnte doch niemanden zurückstoßen, der gerade am Tiefpunkt war.

Seitdem hatten wir wieder Kontakt zueinander. Wenn man es denn so nennen wollte. Die E-Mails, die wir einander schrieben, waren kurz und eher sachlich: Er erzählte mir, dass es im Schlaumeiercamp sehr anregend sei, aber auch viel Arbeit, und ich berichtete ihm von meiner Mutter und ihrem ganzen Stress. Ich zerbrach mir nicht mehr so sehr den Kopf, wie er wohl auf meine E-Mails reagieren und was er möglicherweise hineininterpretieren würde. Und wenn ich eine E-Mail von ihm bekam, beeilte ich mich auch nicht sonderlich mit der Antwort; manchmal ließ ich ein, zwei Tage vergehen, bevor ich zurückschrieb. Sollten die Worte kommen, wann und wie sie wollten. Wenn mir schließlich etwas einfiel, das ich schreiben könnte, tippte ich einfach drauf los und schickte die Mail ab, ohne lang darüber nachzugrübeln. Er hingegen antwortete mir fast immer umgehend, fing allmählich sogar an, Andeutungen zu machen, ob es nicht schön wäre, wenn wir uns gleich am Tag seiner Rückkehr sehen könnten. Also am siebten, dem Tag der großen Gala. Je weiter ich mich zurückzog, umso vehementer bewegte er sich auf mich zu. Aber lag ihm wirklich etwas an mir? Oder sah er in mir mittlerweile nur eine weitere Herausforderung, die ihn reizte?

Ich dachte noch oft an Wes. Es war etwa zwei Wochen her. Und seitdem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. In den ersten paar Tagen seit unserer Begegnung auf dem Parkplatz versuchte er mehrmals mich auf meinem Handy zu erreichen; doch wenn ich seine Nummer auf dem Display sah, legte ich das Handy weg, ließ es klingeln, schaltete irgendwann ab. Ich konnte mir gut vorstellen, was ihm bei diesem Verhalten im Kopf rumging: Wie ist die denn plötzlich drauf? Schließlich waren wir »nur« Freunde gewesen und hatten uns häufiger über Becky und Jason unterhalten. Also warum plötzlich nicht mehr? Ich wusste nicht, warum. Genauso wenig wusste ich, warum es mich so fertig gemacht hatte, ihn mit Becky zusammen zu sehen. Sie war zu ihm zurückgekommen, so wie Jason zu mir zurückkam. Worüber Wes sich wahrscheinlich freute. Warum auch nicht? Ich hätte mich vermutlich auch darüber freuen sollen, wie sich die Dinge entwickelten. Aber das Gefühl stellte sich einfach nicht ein.

Manchmal hörte ich noch was von Kristy, die in Baxter mittlerweile nicht mehr nur verknallt, sondern geradezu besessen von ihm war. »Ach, Macy, er ist so toll«, säuselte sie in mein Ohr. Und ihre Stimme klang dabei so glücklich, dass ich sie beinahe schon wieder hasste – wenn sie es nicht so sehr verdient hätte, glücklich zu sein. »Ein echter Supertyp. Ein Volltreffer!«

Insgeheim rechnete ich fest damit, sie würde mir irgendwann erzählen, dass Wes und Becky wieder zusammen seien, doch komischerweise erwähnte sie es nie. Vermutlich ahnte sie, dass sie damit bei mir einen wunden Punkt treffen würde. Allerdings meinte sie einmal, dass Wes nach mir gefragt habe. Ob zwischen uns irgendwas vorgefallen sei?

»Hat er so was behauptet?«, fragte ich zurück.

»Nein.« Sie wechselte den Telefonhörer von einem Ohr zum anderen. »Du kennst doch Wes. Er sagt nie viel.«

Doch, dachte ich. Doch, zu mir hat er mal sehr viel gesagt. »Da war nichts«, erklärte ich ihr. »Jedenfalls nichts Schlimmes. Wir haben wohl doch nicht so viel gemeinsam.« Und vielleicht stimmte das ja sogar.

 

Eigentlich sind Freitage gute Tage. Aber nicht für mich, jedenfalls nicht dieser Freitag. Und auch nicht für den Mann von der Betonfirma, der heute bei meiner Mutter im Büro stand. Dass es sowohl für ihn als auch für mich gerade den Bach hinunterging, wusste ich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

». . . ich bezahle keine Überstunden für einen Auftrag, der vor über einer Woche erledigt sein sollte. Das hatten Sie mir in Ihrem Angebot fest zugesichert«, hörte ich meine Mutter sagen. Dies war ihre vierte Besprechung mit einem Handwerker an diesem Tag und sie liefen alle gleich ab, sprich: nicht gut. Überhaupt nicht gut.

Der Betontyp setzte zu einer Erklärung an: »Leider war das Wetter –«

Meine Mutter fiel ihm barsch ins Wort: »Sie sind ein Profi. Sie sollten wissen, wie sehr einem in unserer Gegend das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen kann, und das bei einem Angebot mit einkalkulieren, bevor sie irgendwelche Versprechungen machen. Wir haben Sommer. Und im Sommer regnet es nun mal öfter.«

Ihre Stimme klang in letzter Zeit so schrill und brüchig, dass ich nur vom Zuhören Gänsehaut bekam, obwohl ich ja gar nicht die Zielscheibe ihres Zorns war. Wie musste sich erst der Betontyp fühlen . . .

Es ging noch ein bisschen hin und her und schließlich wurden die Stimmen etwas leiser. Was bedeutete, dass das Gespräch vermutlich bald vorbei sein würde. Und richtig – Sekunden später stapfte der Betonheini, ein untersetzter Mann mit hochrotem Kopf, gereizt vor sich hin murmelnd an meinem Schreibtisch vorbei und knallte die Tür hinter sich zu, dass die Fensterscheiben klirrten.

Mein Telefon klingelte. Die interne Leitung. Ich hob ab. »Macy?« Meine Mutter klang vollkommen erschöpft. »Bringst du mir bitte ein Wasser?«

Ich holte eine Flasche aus dem kleinen Kühlschrank, der neben meinem Schreibtisch stand, und ging in ihr Büro. Ausnahmsweise hing meine Mutter weder am Telefon noch starrte sie auf den Monitor ihres Computers. Nein, sie hatte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurückgelehnt und blickte aus dem Fenster auf ein Schild auf der anderen Straßenseite, das für die Villen warb. Ein Lastwagen parkte direkt davor, so dass man nur einen Teil der Aufschrift erkennen konnte: BEZUGSFERTIG AB DEM 8. AUGUST. SICHERN SIE SICH JETZT IHR TRAUMHAUS.

Ich schraubte den Verschluss von der Wasserflasche und schob sie über den Schreibtisch zu meiner Mutter. Sie trank einen Schluck und schloss die Augen. Ich fragte: »Alles okay?«

»Ja, mir geht’s gut«, antwortete sie automatisch. »So ist es jedes Mal, wenn ein Projekt kurz vor dem Abschluss steht. Bei den Häusern lief es genauso, bei den Apartments ebenfalls. Egal ob es sich um Villen im Gesamtwert von fünfzig Millionen Dollar oder um ein einziges Modellhaus handelt – am Ende spielt immer alles verrückt. Aber dann muss man einfach weitermachen, darf nicht nach rechts und nicht nach links schauen, egal wie schrecklich es ist. Was anderes bleibt mir gar nicht übrig.« Sie trank noch einen Schluck Wasser. »Ich mache weiter, selbst an Tagen wie heute, an denen ich denke, dass mich dieses Geschäft noch umbringen wird.«

»Mama, sag so was nicht, bitte!«

Sie lächelte. Ein müdes, mattes Lächeln, doch immerhin das erste seit langer Zeit. »Das ist doch bloß eine Redensart«, meinte sie. »Mir geht es wirklich gut, alles in Ordnung.«

Trotzdem war mir unbehaglich zumute.

Den restlichen Nachmittag über beschäftigte ich mich mit der Gästeliste für das Gala-Dinner, bis ich mich um Viertel vor fünf in meinem Stuhl zurücklehnte und höllisch dankbar dafür war, dass zwischen mir und meiner Flucht aus diesem Büro bloß noch vierzehn Minuten lagen. Der Countdown lief. Doch dann passierten zwei Dinge auf einmal. Das Telefon klingelte. Und meine Schwester rauschte herein.

»Wildflower Ridge Immobilien, Macy am Apparat«, sagte ich mit meiner Business-Stimme in den Hörer und winkte ihr zu, während sie die Tür schloss und auf meinen Schreibtisch zukam.

»Miiis Kwiiins biiite iiis Raffka«, drang es vom anderen Ende der Leitung an mein Ohr. Rathka hatte einen unmöglichen Akzent, man konnte ihn kaum verstehen; außerdem sprach er mit dem Mund so dicht am Hörer, dass es einem richtig unangenehm war.

»Natürlich, einen Moment bitte.« Ich drückte auf den Knopf, der Rathka vorübergehend in die Warteschleife schickte, und blickte zu Caroline auf, die vor mir stand und ziemlich aufgekratzt wirkte; sie hatte die Hände vor der Brust zusammengefaltet und strahlte mich erwartungsvoll an. »Hallo, was gibt’s?«, fragte ich.

Sie wollte gerade antworten, da öffnete meine Mutter die Tür zu ihrem Büro und steckte den Kopf hindurch. »Auf der Eins, ist das für mich?« Erst dann bemerkte sie meine Schwester. »Hallo, Caroline. Seit wann bist du denn hier?«

Meine Schwester sah zwischen uns beiden hin und her. Ganz offensichtlich hatte sie uns etwas Wichtiges zu sagen. Schließlich holte sie tief Luft und lächelte: »Fertig!«

Für ein, zwei Sekunden herrschte Schweigen, während meine Mutter und ich zu erfassen versuchten, was das bedeutete. Das rote Licht am Telefon vor mir blinkte unübersehbar.

»Fertig«, wiederholte meine Mutter langsam.

Caroline sah uns noch immer mit demselben freudigen Gesichtsausdruck an.

»Das Ferienhaus«, sagte ich. »Das meinst du doch, oder?«

»Ja!« Caroline klatschte dreimal in die Hände, als befänden wir uns in einer Quizshow und ich hätte soeben alle Konkurrenten besiegt und den Hauptpreis gewonnen. »Es ist fertig. Und es ist toll geworden. Absolut einmalig! Ihr müsst mitkommen und euch alles anschauen. Sofort!«

»Jetzt?« Meine Mutter warf einen Blick auf die Uhr und anschließend auf das blinkende Licht an meinem Telefon. »Aber es ist –«

»Freitag! Feierabend. Wochenende.« Caroline schien auf jeden Einwand vorbereitet. Offensichtlich hatte sie sich vorher alles genau überlegt. »Ich habe schon getankt und ein paar Sandwiches gekauft, wir müssen also nicht mal zum Essen anhalten. Wenn wir innerhalb der nächsten halben Stunde losfahren, kriegen wir vielleicht noch den Rest des Sonnenuntergangs am Meer mit.«

Meine Mutter legte eine Hand auf meinen Schreibtisch. Ich sah, wie sich ihre Finger um die Tischkante krampften. »Caroline, es ist bestimmt alles ganz großartig.« Sie sprach betont langsam. »Aber ich komme dieses Wochenende nicht hier weg. Ich habe einfach zu viel zu tun.«

Caroline brauchte einen Moment, um das zu verdauen, doch dann sagte sie geistesgegenwärtig: »Es muss gar nicht das ganze Wochenende sein. Wir können dich schon morgen früh wieder zurückbringen.«

»Morgen früh habe ich eine Besprechung mit dem Bauleiter und seinem Team. Der Zeitplan ist wirklich auf Kante genäht. Ich kann jetzt nicht weg hier.«

Caroline stemmte die Hände in die Hüften. »Das sagst du schon seit Wochen.«

»Weil sich seit Wochen nichts an der Situation geändert hat. Zurzeit geht alles drunter und drüber, ich muss einfach vor Ort bleiben.« Meine Mutter warf einen Blick auf das Telefon; das rote Licht blinkte hartnäckig vor sich hin. »Wer ist da in der Leitung?«

»Rathka«, sagte ich leise.

»Mit dem sollte ich reden. Ist womöglich wichtig.«

Sie eilte auf die Tür ihres Büros zu, wandte sich jedoch kurz vorher noch einmal zu meiner Schwester um, die wie angewurzelt dastand und entgeistert vor sich hin starrte. Ich fühlte plötzlich heißes Mitleid mit ihr: Sie hatte sich so darauf gefreut, uns das Haus zu zeigen, hatte alles geplant, was zu essen gekauft, die Kühlbox mit Getränken gefüllt . . . Meine Mutter blieb im Türrahmen stehen und sagte zu Caroline: »Ich weiß, wie viel Arbeit und Engagement du in dieses Projekt gesteckt hast, mein Schatz. Und ich weiß es wirklich zu würdigen, glaub mir.«

Ob das stimmte? Ich war mir nicht so sicher. Übrigens nicht nur in Bezug auf meine Mutter, sondern auch auf mich selbst. In den letzten Wochen war meine Schwester ständig zwischen Atlanta und unserem Ferienhaus hin- und hergedüst. Und jedes Mal hatte sie unterwegs bei uns Station gemacht, um uns kurz auf den neuesten Stand zu bringen. Wegen unserer jeweiligen Probleme war es meiner Mutter und mir jedoch nicht leicht gefallen, uns auf das zu konzentrieren, was meine Schwester von den Fortschritten der Renovierung erzählte. Wir hatten uns zwar bemüht zuzuhören, Caroline hingegen hatte dieses Bemühen vermutlich nie ganz gereicht. Sie hätte uns mit ihrer Begeisterung sicher gerne mehr angesteckt.

Nun stand sie mitten im Raum und biss sich auf die Lippen. Ich hatte eigentlich immer geglaubt, mit meiner Schwester nicht viel gemeinsam zu haben, doch auf einmal verspürte ich eine große Solidarität mit ihr. Caroline war es im Laufe der letzten Wochen gelungen, eine sehr große Veränderung, ja, einen echten Wandel zu bewirken; und sie wünschte sich nichts sehnlicher als das mit uns zu teilen, vor allem mit meiner Mutter.

»Mama, ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird, sogar sehr«, sagte Caroline. »Nimm dir zwölf Stunden Zeit und komm mit. Bitte.«

Meine Mutter seufzte. »Und ich bin mir sicher, dass du Recht hast. Es ist bestimmt großartig geworden. Ich werde es mir auf jeden Fall anschauen. Nur nicht heute.«

»Na gut«, sagte Caroline, doch am Ton ihrer Stimme erkannte man deutlich, dass nichts gut war. Sie ging zu einem der Stühle am Fenster, setzte sich und schlug ein Bein übers andere. Als würde das rote Licht an der Telefonanlage sie magnetisch anziehen, versuchte meine Mutter sich möglichst unauffällig in ihr Büro zu verdrücken. Da sagte meine Schwester: »Ich hatte gedacht, wir könnten spontan hinfahren, aber wenn das zu kurzfristig ist . . . auch nicht weiter schlimm. Schließlich fahren wir nächsten Sonntag sowieso hin.«

»Nächsten Sonntag?«, wiederholte meine Mutter leicht verwirrt. »Was ist nächsten Sonntag?«

Caroline starrte sie bloß stumm an. Mich überkam plötzlich eine unheilvolle Ahnung. Sehr unheilvoll. »Wir fahren zusammen eine Woche ans Meer«, meinte ich rasch und sah dabei zwischen Caroline und meiner Mutter hin und her. »Ab dem achten, nicht wahr?«

Ich wartete auf Carolines zustimmendes Nicken. Doch bevor sie reagieren konnte, sagte meine Mutter: »Nächsten Sonntag? Am Tag nach der Gala? Ausgeschlossen. Dann sind die Villen gerade eröffnet und die nächste heiße Phase beginnt. Wann hast du das denn beschlossen?«

»Ich habe gar nichts beschlossen, sondern wir.« Als Caroline nun endlich wieder den Mund aufmachte, klang ihre Stimme gefährlich ruhig. »Wir haben das gemeinsam beschlossen, schon vor Wochen.«

Meine Mutter warf mir einen Blick zu. »Unmöglich«, sagte sie und fuhr mit der Hand durch ihr Haar. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich zu dem Termin Ja gesagt haben soll. Ich kann ab dem achten unmöglich Urlaub machen, es ist zu kurz nach der Eröffnung. Wie schon gesagt, die eigentliche Verkaufsphase fängt dann erst an. Außerdem findet am Montag, also am neunten, eine wichtige Besprechung über die weitere Entwicklung und Planung des ganzen Projekts Wildflower Ridge statt. Bei den Villen allein wird es ja nicht bleiben. Und das heißt, ich muss hier sein, ich kann nicht wegfahren.«

»Ich fasse es nicht.« Meine Schwester schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich begreife dich nicht.«

»Versuch es wenigstens, Caroline. Warum verstehst du mich nicht?«, sagte meine Mutter. »Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Nein!«, schrie meine Schwester. Das Wort explodierte förmlich im Raum. »Es ist dein Job und der hört nie auf. Du hast mir versprochen, dass wir zusammen Urlaub machen. Den Zeitpunkt haben wir gemeinsam festgelegt. Ich habe Tag und Nacht gerackert, um es bis dahin zu schaffen. Nicht dass ich mich beschwere – das Haus sollte rechtzeitig fertig werden, damit wir drei eine Woche dort verbringen können. Du hast damals gesagt, ab dem achten sei es dir recht, ab dann hättest du Zeit. Aber es ist dir niemals recht, du hast niemals Zeit. Weil du nie aufhörst zu arbeiten. Den ganzen Sommer lang dreht sich das Leben bloß noch um diese verfluchten Villen. Und was tust du? Zwei Tage nachdem sie endlich fertig sind, willst du den Grundstein für was Neues legen? Meine Güte, du tust wirklich alles, um es zu verdrängen!«

»Um was zu verdrängen?«, fragte meine Mutter.

»Die Vergangenheit«, antwortete Caroline. »Unsere Vergangenheit. Ich bin es leid, so zu tun, als wäre nichts passiert, als hätte es ihn nicht gegeben. Ich ertrage es nicht, dass es kein einziges Foto mehr von ihm gibt, dass du seine Sachen radikal aus dem Haus verbannt hast. Und warum? Weil du unfähig bist zu trauern.«

Die Stimme meiner Mutter wurde leise, fast drohend: »Erzähl du mir nichts von Trauer! Du hast ja keine Ahnung.«

»Doch, ich weiß genau, wovon ich spreche.« Caroline musste ein paar Mal schlucken, bevor sie fortfahren konnte. »Aber ich versuche wenigstens nicht, meine Trauer wegzudrücken. Ich bin traurig. Du hingegen versteckst dich zwischen deinen Plänen für Häuser und Villen, weil sie neu sind und perfekt und dich an nichts von dem erinnern, was war.«

»Hör auf!«, sagte meine Mutter.

Caroline achtete gar nicht auf den Einwurf, sondern redete einfach weiter: »Schau dir doch Macy an. Hast du überhaupt eine Ahnung, was du ihr antust?«

Wieder warf meine Mutter mir einen Blick zu. Ich wich unwillkürlich zurück, wollte mich so weit wie möglich raushalten.

»Macy geht’s gut«, sagte meine Mutter.

»Nein, es geht ihr nicht gut. Du behauptest das, aber es stimmt einfach nicht.« Nun warf Caroline mir einen Blick zu, als wollte sie mir signalisieren mit einzustimmen. Doch ich blieb stumm, rührte mich nicht. »Du bekommst überhaupt nicht mehr mit, was in ihr vorgeht. Seit Papas Tod hat sie immer nur versucht es dir möglichst recht zu machen und ist dabei immer unglücklicher geworden. Bis sie in diesen Sommerferien endlich neue Freunde fand und einen Job, der ihr wirklich Spaß machte. Aber dann unterläuft ihr ein einziger, winziger Fehler und du nimmst ihr alles wieder weg.«

»Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun«, sagte meine Mutter.

»Aber natürlich, das eine hat nur mit dem anderen zu tun«, konterte Caroline. »Denn Macy hatte es endlich geschafft, darüber hinwegzukommen. Hast du nicht bemerkt, wie sie sich verändert hat? Selbst mir fiel es auf, dabei bin ich nur ab und zu da. Aber Macy war anders. Sie war gerade dabei, sich zu verändern

»Genau«, sagte meine Mutter. »Sie war –«

»Glücklich!«, fiel Caroline ihr ins Wort. »Endlich fing sie wieder an, ihr eigenes Leben zu leben. Und das hat dir Angst gemacht. Genauso wie ich dir Angst gemacht habe, weil ich das Ferienhaus renovieren wollte. Du hältst dich selbst für so stark, weil du nie über Papa sprichst. Aber sich verstecken, Dinge verdrängen, das kann jeder. Sich ihnen stellen, durch sie hindurchgehen, sie ertragen und trotzdem weitermachen das ist echte Stärke!«

»Ich habe alles für diese Familie gegeben«, stieß meine Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Alles. Aber dir reicht es immer noch nicht.«

»Ich will doch gar nicht alles von dir.« Caroline vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief durch, bevor sie ihre Hände wieder herunternahm. »Ich bitte dich nur darum, mir und Macy und vor allem dir selbst zu gestatten, dass wir uns an Papa erinnern . . .«

Meine Mutter atmete geräuschvoll aus und schüttelte den Kopf.

». . . und ich bitte dich um eine Woche Lebenszeit, um endlich damit anzufangen.« Caroline sah erst mich und danach wieder meine Mutter an. »Das ist alles.«

Danach schwiegen wir alle drei so lange, dass ich schon anfing zu denken, meine Mutter würde vielleicht – ganz vielleicht – nachgeben. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte durchs Fenster zu den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite rüber.

»Ich muss hier bleiben«, meinte sie schließlich. »Ich kann nicht wegfahren.«

»Es ist bloß eine Woche«, antwortete Caroline, »keine Ewigkeit.«

»Ich kann nicht wegfahren«, wiederholte meine Mutter. »Tut mir Leid.« Sie ging zurück in ihr Büro, ganz gerade und aufrecht. Steif. Schloss die Tür hinter sich. Dann horchte ich auf die vertrauten Laute: das leise Quietschen der Rollen an ihrem Schreibtischstuhl, das Klicken in der Leitung, als sie abhob, um sich mit Rathka zu befassen, das Klappern der Tastatur ihres PCs. Aber im Grunde hörte ich . . . nichts. Als wäre sie hinter dieser Tür vom Erdboden verschluckt worden.

Meine Schwester kämpfte ihre Tränen nieder, drehte sich um, ging zum Ausgang. »Caroline«, sagte ich, aber da stand sie auch schon draußen. Lief die Stufen hinunter.

Ich überlegte, ob ich ihr nachlaufen sollte. Ich hätte so gern etwas gesagt, um sie zu trösten, um alles wieder in Ordnung zu bringen, hatte allerdings keine Ahnung, was. Keine Ewigkeit hatte sie gesagt, doch das spielte für meine Mutter keine Rolle. Von ihrem Standpunkt aus bedeutete eine Woche Wegfahren dasselbe wie eine Ewigkeit. Sie hatte sich für einen Weg entschieden. Und auf dem blieb sie. Hier, wo sie sich sicher fühlte, in einer Welt, die sie – zumindest weitestgehend – unter Kontrolle hatte.

Meine Schwester saß mittlerweile am Steuer ihres Wagens und wischte sich über die Augen. Hilflos hörte ich, wie sie den Motor anließ, hilflos sah ich, wie sie den Blinker setzte und sich in den Verkehr auf der Straße einfädelte. Nachdem sie davongefahren war, konnte ich das Schild auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem sie geparkt hatte, zur Gänze erkennen. WEITERE ATTRAKTIVE OBJEKTE SIND GEPLANT stand da. Und – als wäre das so einfach oder immer erstrebenswert – LUST AUF VERÄNDERUNG? KOMMEN SIE ZU UNS!

 

Um fünf Uhr war die Tür zum Büro meiner Mutter noch immer geschlossen und dahinter herrschte Stille. Ich stand auf. Bevor ich das Modellhaus verließ, überlegte ich kurz, ob ich an die Tür klopfen und mich erkundigen sollte, ob alles okay sei. Doch dann sammelte ich meine Sachen zusammen und ging, wobei ich die Tür laut und vernehmlich hinter mir schloss, damit sie wusste, dass ich weg war.

Als ich auf unser Haus zulief, entdeckte ich das Paket sofort: klein, kompakt, rechteckig lag es auf dem Fußabtreter direkt vor der Haustür. Waterville, Maine, schoss es mir durch den Kopf, noch bevor ich nahe genug herangekommen war, um den Absender entziffern zu können. Ich hob das Paket auf und nahm es mit hinein.

Im Haus war es kühl und still. In der Küche stellte ich das Paket auf der Arbeitsplatte ab, holte die Küchenschere aus der Schublade. Öffnete es.

Zwei Bilder fielen mir entgegen. Auf dem einen hing ein gigantischer Schlüsselbund, der aussah, als wöge er fast hundert Kilo, an einer Gürtelschlaufe. Auf dem zweiten sah man wieder die Gürtelschlaufe, nur dass jetzt etwas Kleines, Viereckiges aus Plastik, so was wie ein Maßband oder Zollstock, mit mehreren verschiedenfarbigen Markierungen daran befestigt war. Sind Sie es leid, ständig einen klobigen, unhandlichen Schlüsselbund mit sich herumzuschleppen? stand in grellen Buchstaben darunter. Werfen Sie ihn weg! Schaffen Sie Ordnung! Gönnen Sie sich das E.I.N.fach-Schlüsselsystem!

Mithilfe des E.I.N.fach-Schlüsselsystems bekam jeder Schlüssel eine andersfarbige Markierung und wurde an einer Feder befestigt, die von selbst in das Gehäuse zurückschnappte; man musste also nur an der entsprechenden Stelle ziehen, den Schlüssel herausnehmen, aufschließen und – zack! – verschwand der Schlüssel wieder im Gehäuse. Gar keine schlechte Idee, dachte ich, während ich die Verpackung des E.I.N.fach-Schlüsselsystems in meinen Händen hielt und den enthusiastischen Werbetext las, der auf der Schachtel aufgedruckt war. Aber auf den ersten Blick war keine dieser Ideen wirklich schlecht.

Als ich ungefähr eine Stunde später zwei Hühnerbrüste in den Backofen schob, rief meine Mutter an.

»Macy, ich bräuchte eine Telefonnummer, bitte.«

»Einen Moment. Ich hole mir nur schnell dein Adressbuch.« Ich wollte gerade durch den Flur zu ihrem Arbeitszimmer laufen.

»Nicht nötig, du weißt sie wahrscheinlich auswendig. Ich brauche die Nummer von dieser Frau, für die du gearbeitet hast, du weißt schon, Delia.«

»Delia?«

»Ja.«

Ich wartete, ob sie mir erklären würde, warum sie ausgerechnet Delias Nummer haben wollte. Weil sie jedoch beharrlich schwieg, fragte ich vorsichtig: »Und warum . . .?«

»Weil Rathka gerade alles hingeschmissen hat«, antwortete sie, »und jeder andere Catering-Service in dieser Stadt am kommenden Samstag entweder bereits ausgebucht oder wegen Sommerferien geschlossen ist. Delia wäre meine letzte Rettung.«

»Rathka hat hingeschmissen?«, fragte ich entgeistert.

»Macy, dürfte ich jetzt bitte die Nummer haben?«

Delia würde nie und nimmer Ja sagen. Erstens hatte sie seit Averys Geburt noch keinen Job angenommen, zweitens kam das Anliegen meiner Mutter viel zu kurzfristig. Aber ich hütete mich diese meine Befürchtung laut zu äußern, vor allem nach dem Tag, den meine Mutter hinter sich hatte. »555  7823«, antwortete ich.

»Danke«, sagte sie. »Ich komme bald nach Hause.« Es klickte. Sie hatte aufgelegt.