Sonjas Wecker klingelt am Montagmorgen immer um Viertel nach sechs. Ihr morgendlicher Parcours umfasst neun Stationen, für die sie exakt sechsundzwanzig Minuten benötigt. Das weiß ich so genau, weil ich die Zeit genommen habe. Mehrmals. Hat mich interessiert. Immer sechsundzwanzig Minuten. Der Gipfel unsympathischer Verschrobenheit: mit der Stoppuhr heimlich messen, wie lange die Freundin für ihre Morgentoilette benötigt.
Zum Abschied tätschelte sie mir über den Kopf, na ja, mehr ein Rubbeln, so, wie man einem Haustier oder einem Kind durchs Haar fährt. Ich tue immer so, als würde ich noch schlafen, und mache entsprechende Geräusche. «Mmhh, jojo, Gottoohgott.»
Als sie weg war, lag ich hellwach auf dem Rücken und fühlte mich unausgeschlafen, verkatert und zerschlagen. In dieser Verfassung bringt es nichts, sich zur Arbeit zu zwingen. Ich kann nur in absoluter Topform Topleistung bringen. Andererseits ist es nicht gut, bereits zum Wochenbeginn die Dinge schleifenzulassen, wie jeder andere habe auch ich das Bedürfnis, mich als vollwertiges Mitglied der arbeitenden Solidargemeinschaft zu fühlen. Prekäre Arbeitsverhältnisse vs. durchgehende Erwerbsbiographien. Wer bereits am Montag verschläft, gerät schnell ins Hintertreffen und kann den Rückstand bald nicht mehr aufholen. Es nützt auch nichts, sich mit halbseidenen Taschenspielertricks (es kommt nicht darauf an, wann man aufsteht, sondern was man schafft) in die Tasche zu lügen. Wer sich selbst bescheißt, der bescheißt das Leben. Und das Leben kann man nicht bescheißen, das haben schon ganz andere versucht.
Ich benötigte trotzdem noch ein, zwei Stunden Schlaf. Manchmal gelingt es mir, mich mit leichten, stumpfen, körperlichen Verrichtungen wieder müde zu arbeiten. Also auf und ab. Noch im Schlafanzug, räumte ich Flaschen, Gläser, Teller und Aschenbecher vom Wohnzimmer in die Küche, wobei ich fortwährend Sachen wie «Was man hat, das hat man», «Nützt ja nix», «Wat mutt, dat mutt» vor mich hin murmelte. Aus irgendwelchen Gründen ist es wichtig, so etwas nicht nur vor sich hin zu denken, sondern vor sich hin zu sprechen. Dann Abwasch. Belege ordnen. Glühbirnen austauschen. Ausgelesene Zeitschriften auf den Altpapierstapel schichten. Seifenspender auffüllen. Alte Telefonnummern löschen. Div. Die überwiegende Zeit seines Lebens verbringt der Mensch mit Routinetätigkeiten. Alleine einen Monat den Fernseher abstauben. Drei Wochen Sicherungen wechseln. Eine Woche Heizkörper entlüften. Drei Tage nach Würmern graben.
Ich wurde einfach nicht müde. Gott, war das schon wieder heiß. Und hell. Der Todessommer verrichtete ganze Arbeit: Aus dem unbarmherzig hohen Firmament schlagen die Lichtsäulen wie Peitschenhiebe auf den gequälten Kontinent, verbrennen alles Leben und wringen das letzte bisschen Wasser aus der fiebrigen Erdkrume. Flammenschwerter zerschneiden das staubige Land in glühende Quader. Die südliche Hügelkette ist bereits bis zur Krume durchgewetzt, das Tal liegt da wie eine offene Wunde und leckt sich mit rissiger Zunge das eingetrocknete Salz von den Hitzepusteln … (Dunkle, schroffe Phantasien)
Ach, wäre es nur schon Herbst. Der bittersüße Herbst, Quartal der Genießer. Der Kaiser Franz der Jahreszeiten verstreicht in aristrokratischer Noblesse und kühlt Mensch und Tier sacht auf normale Betriebstemperatur herunter.
Ich ging ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen.1
Beim Zähneputzen oder Händewaschen oder Haarekämmen vermeide ich den Blick in den Spiegel. Mein Gesicht macht mir Angst. Es ist beunruhigenden, tages formabhängigen Wandlungen unterworfen, mal ist es klein, rundlich und gestaucht, dann wieder unnatürlich in die Länge gezogen, an anderen Tagen seltsam groß und viereckig. Vielleicht kommt das von den ungenauen Gedanken: schwammige Gedanken = schwammiges Gesicht, scharfe Gedanken = fein ziselierter Charakterkopf. Waschbecken auswischen, Nase putzen, Zähne putzen, Gesicht waschen, Nägel schneiden, rasieren, ich mache praktisch alles blind. Eigentlich könnte ich den Spiegel auch abmontieren.
Der Tag ist, bei Lichte betrachtet, eine konturlose Masse Zeit, die sich im Ganzen unmöglich bewältigen lässt. Es gilt also, ihm eine Falle zu stellen bzw. ihn dahin zu locken, wo die Falltür ist, damit er hineinplumpst und bewusstlos liegenbleibt. Doch der Tag ist ein zäher Gegner, ein harter Hund, der sich zu wehren weiß: Er verwandelt sich (Terminator 2) in eine aus Klumpen und Fäden und Krisselzeug bestehende Mehlschwitze, man kann rühren und Milch nachschütten, bis man einen steifen Arm kriegt: Es tut sich einfach nichts. Eine andere Strategie ist erfolgversprechender: Keile in den Tag treiben, ihn zerhacken, zerkleinern, zerdrechseln, zermörsern oder ihm wie einem Luftballon die Luft rauslassen. Alles kann zum Keil werden: einkaufen, sauber machen, Keller entrümpeln, Schlüssel suchen, telefonieren, Batterien tauschen, Flaschen wegbringen, Toaster ausschütteln, auf Krücken gehen, den Hund waschen, haha. Stichworte Ritual, Taktung, Struktur (hatten wir schon mal, weiß ich selber). Genialer Spezialtrick: morgens Tee statt Kaffee, damit man nachmittags etwas hat, worauf man sich freuen kann. Von Haus aus bin ich Kaffeetrinker, ich habe mich aber auf die morgendliche Kanne grünen Tee umerzogen (Umerziehungslager), wie der Mensch sich ja praktisch alles an- und auch wieder abgewöhnen kann. Der nachmittägliche Koffeinschub trägt mich bis in die Abendstunden und wird vom Alkoholglimmer abgelöst. Zusammenfassung: morgens sachlich, nachmittags euphorisch, abends hysterisch.
Das half heute aber leider alles nichts, dafür habe ich mittlerweile ein untrügliches Gespür. Heute war einer der toten Tage, die man frühzeitig verloren geben muss, bevor man die Energie der ganzen Woche an ihm verbraucht. Aber: Ein toter Tag muss ordentlich beerdigt werden, sonst wird er zur Karteileiche, die in den unpassendsten Momenten aus irgendwelchen Schubladen herauslugt und einen an die Versäumnisse des ganzen Lebens erinnert. Kurz mit der Hand durch die Luft fahren und symbolisch den Tag bzw. dessen Seele einfangen. Der Tag ist in der geschlossenen Faust gefangen. Zum offenen Fenster gehen, Faust öffnen. Die Seele hängt kurz in der Luft, löst sich aber schnell auf, Indianer machen das auch so. Mit dieser Methode trickst man den Tag quasi mit seinen eigenen Mitteln aus, er ist dann nämlich vorbei, obwohl er noch vor einem liegt. Zeitvakuum, Raumkrümmung, Wurmloch, capito? Kann einer das Gegenteil beweisen? Eben! Die Beweislast liegt beim Tag.
Ich fläzte mich aufs Sofa, machte den Fernseher an und blieb nach ein paar Minuten bei RTL hängen. Der Vormittag auf RTL beginnt in aller Herrgottsfrühe mit dem «RTL Shop», der, obwohl auch schon einige Jährchen on Air, noch immer Verluste in Millionenhöhe einfährt. Wieso eigentlich? An Walter Freiwald, dem unaufhaltsam dicker werdenden Monolithen des Verkaufsfernsehens und seinen geschätzten dreihundert Euro Minitagesgage liegt es sichernicht.(Eigentlich war das niederländische Schwergewicht Harry Wijnford als Chefmoderator des «RTL Shops» vorgesehen, Harry hat das aber gründlich vermasselt, indem er an drei aufeinanderfolgenden Werktagen im gleichen Anzug zur Arbeit erschien und es außerdem an der nötigen Verve vermissen ließ. RTL fackelte nicht lange und stellte ihn mit sofortiger Wirkung frei. So schlug die Stunde seines ewigen Assistenten WF, der aus dem mächtigen Schlagschatten des kreuzgemütlichen Ex-Topsellers heraustrat und die Sendung bis heute mit seiner charakteristischen Mischung aus Leidenschaft und Augenzwinkern moderiert.) Dann doch eher an der ungeschickten Auswahl der beworbenen Produkte: Messer, die nicht schneiden, überteuerte «Schnäppchen» aus dem Mobilfunkbereich und Kleidung, die noch dicker macht (formschön). Die sollten sich ein Beispiel an QVC nehmen, dem aggressiven Spartenkanal, der vom ersten Tag an schwarze Zahlen schrieb. Quo vadis, «RTL Shop»?
Die Zeit zwischen halb zehn und zwölf gehört den Dokusoaps: «Einsatz in vier Wänden», «Mein Garten», «Unsere erste gemeinsame Wohnung», «Die Kinderärzte von St. Marien», «Meine Hochzeit», «Mein Baby» uswusf. Über jeder der halbstündigen Soaps liegt wie ein glibbriger Schmierfilm die perfekt geölte Stimme der RTL-Stationvoice. Wahrscheinlich verdient der mehr als Walter Freiwald und alle anderen «RTL Shop»-Moderatoren zusammen. Mein Favorit unter den Dokusoaps ist «Meine Hochzeit», das Konzentrat aus allen anderen Dokusoaps, als hätte man die Trostlosigkeit ausgepresst und daraus «Meine Hochzeit» destilliert (deren versteckter pädagogischer Sinn es ist, dem deutschen Volke jegliche Lust auf Familie und Fortpflanzung auszutreiben). Die deprimierendste aller deprimierenden Folgen aller Zeiten auf der ganzen Welt wurde mindestens dreimal ausgestrahlt, ich habe sie jedenfalls dreimal gesehen:
Ein frisch vermähltes Paar irgendwo aus dem Westfälischen begibt sich auf eintägige Stippvisite in die Hansestadt Hamburg, um sich dort in der Neuen Flora das Erfolgsmusical «Phantom der Oper» anzuschauen. Die Braut, die ungefähr so aussieht wie eine, die sich an Andrew-Lloyd-Webber-Musicals nicht sattsehen kann, hat das Phantom gemeinsam mit ihrer besten Freundin bereits siebenundzwanzigmal besucht, aber wenigstens einmal möchte sie dieses Erlebnis auch mit ihrem frischgebackenen Ehemann teilen. Das hat sie sich von ihm zur Hochzeit gewünscht. Sie wird sich dafür bis ans Lebensende nie wieder etwas wünschen.
Der Mann kann nicht nur mit Musicals nichts anfangen, er kann ganz allgemein mit Musik nichts anfangen, er findet einfach keinen Zugang. Privat hört er gar nichts und im Auto und auf der Arbeit Verkehrsmeldungen. Egal.
Die RTL-Redaktion hat sich natürlich wieder was einfallen lassen: Das Brautpaar genießt die Veranstaltung in voller Montur, d. h. sie ganz in Weiß und er tiefschwarz. Schnitt. Die Kamera zoomt ins Foyer, wo die Braut und der unendlich schlechtgelaunte, Kette rauchende Bräutigam neugierigen Besuchern Rede und Antwort stehen. Einhellige Meinung: «Echt witzige Idee das mit dem Outfit.» Man sieht dem Bräutigam an, wie sehr er sich schämt. Für seinen schlechtsitzenden Smoking, dass er sich von RTL zum Affen (seit neuestem: zum Horst) machen lässt und ganz besonders für seine schrecklich pummelige Frau. Sämtliche Frauen sehen besser aus als seine, abgesehen vielleicht von ein paar steinalten Schrumpelhanseatinnen (Reederwitwen). Schnitt. Das Brautpaar hat auf den Ehrenplätzen in der ersten Reihe Platz bezogen. Die Show beginnt. Jetzt kann der Bräutigam noch nicht mal mehr rauchen. Das verkackte Schrottmusical will einfach nicht zu Ende gehen. Ein Wahnsinn, das läuft bereits seit zwölf oder vierzehn oder sechzig Jahren und hat immer noch eine durchschnittliche Auslastung von 93,5 oder 94,7 %. Ernsthaft irre. Was für ein ekelhafter Mensch Andrew Lloyd Webber sein muss. Schnitt. Endlich ist das verfickte Drecksstück vorbei. Noch im Schlussapplaus steht die Braut auf, dreht sich mit dem Rücken zur Bühne und schleudert mit aller Kraft beidarmig den mannsgroßen Brautstrauß nach hinten, der, so hat es die RTL-Redaktion organisiert, vom Phantom persönlich gefangen wird. Es klappt natürlich wie vorgesehen. Das Phantom, immer noch mit Phantommaske, tut so, als wäre alles gar nicht so schlimm. Die übrigen Darsteller applaudieren. Wenn man hauptberuflich Musicaldarsteller ist, muss man einiges mitmachen.
Sommer 2014: Das große Finale von «Meine Hochzeit» wird in doppelter Länge und das erste Mal zur Primetime ausgestrahlt. Die Castings liefen über Monate, mehr als zehntausend Paare haben sich beworben. Mein Telefon klingelt. Ich schaue aufs Display. Hä, was ist denn das für eine Vorwahl, 0221? Ich kenne niemanden aus dieser Region und will schon nicht rangehen, da durchzuckt es mich. Das darf doch nicht wahr sein! 0221, das ist ja Köln, der Sitz von RTL! WIR HABEN TATSÄCHLICH DAS GROSSE LOS GEZOGEN!
Der nicht mehr zu toppende Masterplan der Redaktion: Weil wir riesige Fans der Stones sind, sollen wir uns direkt im Anschluss an ein Steinekonzert im Backstage-Bereich das Jawort geben. Der originale Lichttechniker ist Trauzeuge, und sogar Charlie «Drums» Watts wird zum Anstoßen erwartet. RTL hat über Monate mit dem Management verhandelt. Erst wollten die Stones nicht, doch bei eins Komma fünf Millionen sind sie eingeknickt. Schnitt. Die Kamera zoomt aufs Stadion. Das Konzert ist ausverkauft. Mick Jagger tobt trotz seiner mittlerweile plus minus achtzig Lenze wie ein Verrückter über die zweihundert mal siebenhundert Meter große Bühne. Der ausgemergelte Uraltschrat ist unbestritten der Größte. Mick Jagger und Keith Richards sind nochmal spindeldürrer geworden, obwohl das eigentlich gar nicht geht. Da können die englischen Gitarrenbands schrammeln und schrappeln und fasten, soviel sie wollen, die künstlich ausgemergelten Zwergenkörper von Jagger/Richards kriegen sie nie hingehungert.
Werbebreak. Schnitt: Da Sonja und ich zu dick zum Stehen sind, werden wir von einem Hubschrauber in einer Schleifkorbtrage (schon wieder) in eine Position knapp über der Bühne herabgelassen, von wo aus wir das Konzert hautnah pur miterleben können. Wir sind begeistert und singen mit und alles. Schnitt. Das Konzert geht leider viel zu schnell vorüber. Als letzte Zugabe bringen die Steine wie immer ihren größten Hit «Satisfaction». Mit Sonja und mir gehen langsam, aber sicher die Pferde durch. Wir toben, klatschen und schunkeln. Die Trage wippt bedrohlich hin und her und auf und ab. In der Abwärtsbewegung berührt sie fast die Bühne und zwingt Mick Jagger zu waghalsigen Duck- und Wendemanövern. Der Rockgott kocht vor Wut, lässt sich aber nichts anmerken. Er wird RTL mit Regressforderungen überziehen, von denen sich der Quatschsender nie mehr erholen wird! Nahaufnahme: Die Bolzen, mit denen die Trage am Hubschrauber befestigt ist, quietschen und ächzen. «And I try, I try, I try, and I try». Haarrisse! Materialermüdung! «I can’t get no … satisfaction». Charlie W. setzt zum finalen Wirbel an, da passiert’s: Die Bolzen brechen mit einem entsetzlichen Knirschen aus der Verankerung, Sonja und ich plumpsen wie überreife Pflaumen herunter und begraben die papierdünnen Masterminds unter uns. Das war’s dann mit den Stones, das traurige Ende einer legendären Formation. Wir dagegen bleiben wie durch ein Wunder unverletzt und werden wg. Rache an einen geheimen Ort geschafft. RTL muss nach weltweiten Fanprotesten und einem Machtwort des US-Präsidenten den Sendebetrieb einstellen.
Punkt zwölf. RTL-«Mittagsjournal». Ich konnte nicht mehr. Ich konnte einfach kein Fernsehen mehr gucken. Es war unerträglich heiß. Ventilatoren waren seit Wochen überall ausverkauft. Was nun? Mir fiel nichts ein. Warum auch, den Tag gab es ja offiziell gar nicht. Egal, irgendwas musste ich tun. Da weitermachen, wo ich vorhin aufgehört hatte: Standards, Routinetätigkeiten, Besorgungen, Sachen erledigen, die sonst immer liegenbleiben. Nach Würmern graben. Graffiti überstreichen. Nicht schon wieder! Schluss jetzt! Geordnete Verhältnisse sind Voraussetzung für geordnete Gedanken und eine erfolgreiche Lebensführung.
Wie sah es eigentlich im Schlafzimmer aus? Es ist mit knapp zehn Quadratmetern der kleinste Raum der Wohnung. Oberflächlich betrachtet ganz manierlich. Keine Kleiderberge, keine herumliegenden Bücher, keine leeren Flaschen oder gar Taschentücher. Lediglich eine einzelne Socke hatte sich ans Fußende des Bettes verirrt. Ich hob sie auf. Wo kam die denn jetzt her? Wo eine Socke war, musste auch eine zweite sein. Ich schlug die Decke zurück. Nichts. Unterm Kissen auch nichts. Vielleicht hinter dem Fernseher oder unterm Bett. Ich hatte eine Taschenlampe, legte mich auf den Boden und leuchtete alles ab. Nichts. Dann hob ich die Matratze an, und als ich dort auch nicht fündig wurde, rückte ich das Bett ab. Vielleicht hatte sie sich irgendwo verfangen. Komisch. Das war ja komisch. Ich roch an der Socke, um herauszufinden, ob sie noch sauber war oder in die Schmutzwäsche gehörte. Dazu braucht es eine echte Hundenase. Langes Liegen neutralisiert schlechten Geruch. Ich befühlte den Söckling (haptischer Test), schmutzigen Sachen mangelt es nämlich gemeinhin an Spannkraft. Schwer, was zu sagen, ganz schwer, was zu sagen. Ich ließ sie fallen und ging wieder ins Wohnzimmer. Toter Tag hin, nicht vorhandener Tag her, so ging es nicht weiter. Mit jeder weiteren sinnlos vor dem Fernseher verbrachten Minute würde ich einen Monat früher sterben müssen.
Arbeitsvorbereitung bedeutet für mich in erster Linie Chinakladde. So nennt man meines Wissens Schreibhefte mit festem Einband, wenn nicht, egal, für mich heißen sie so. Ich arbeite vom Ding her analog/digital. Erst fülle ich eine Kladde mit Bleier und Ratzefummel, dann übertrage ich die Ergebnisse in einem zweiten Arbeitsschritt in den Computer. Danach folgen die Überarbeitungen: aussieben, streichen, komprimieren, kürzen, runterdampfen, runterdampfen, noch weiter runterdampfen. Nun aber los. Neue Kladde, neues Glück. Es war genau vier Minuten nach zwölf. Ich stellte den Eierwecker auf sechzig Minuten, das macht Dan Brown angeblich auch so, wegen Rücken. Um eine Kladde vollzumachen, brauche ich ca. ein halbes Jahr. Ein Drittel ist Schrott, ein weiteres Drittel Halbschrott, und im Restdrittel tummelt sich die eine oder andere gute Idee. Faustregel: Quantität schafft Qualität. Zäh hält sich bei den Spießern die Meinung, Ideen schwirrten in der Luft herum und fielen den Kreativen quasi an, es genüge, den Kopf aus dem Fenster zu stecken und so lange zu warten, bis der Geistesblitz einschlägt. Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Amateure warten auf Inspiration, Profis setzen sich hin und arbeiten (wahnsinnig arrogante Formulierung, stammt zum Glück nicht von mir). Ganz wichtig: erst mal alles aufschreiben. Einzelne Worte, Halbsätze, Unzusammenhängendes, diffuse Bilder, man darf keine Scheu davor haben, das innere Gestammel zuzulassen, vielleicht fügen sich die im Äther herumschwirrenden Kackateilchen irgendwann zu einem Großen, Schönen, Ganzen.
Zielgerichtet denken, zielgerichtet fühlen, zielgerichtet fernsehen, zielgerichtet lesen, Hauptsache zielgerichtet, man kann überall fündig werden. Beispiel Kontaktanzeige: «Wie du sein solltest? Ein Teil Mutter Teresa, ein Teil Sharon Stone und ganz viel du». Seit Ewigkeiten warte ich auf eine Gelegenheit, diesen entsetzlichen Satz zu verwursten. Anderes Beispiel, auch Anzeige (Doppelseite «Treffpunkte» in der «Hamburger Morgenpost»): «Nur heute. Polin mit Hut». Und Telefonnummer. Wortwörtlich: «Polin mit Hut». Was das wohl bedeutet? Das mit dem Hut ist hundertprozentig ein versteckter Hinweis für Kenner.
«Vor der Hacke ist es duster.» Bergarbeiterspruch. Ein Kumpel, der mit pechschwarzem Gesicht einen Stollen in den Berg treibt und wegen der undurchdringlichen Dunkelheit praktisch blind draufloshackt. Für Sprüche, Schnacks und Redensarten habe ich ein besonderes Faible:
«Ladys first – James Last.»
«Die Ehe ist ein Vogelhaus, wer drin ist, der will wieder raus.»
«Ich hab beim Golf nur ein Handicap – mein Gesicht.»
«Lieber ein offenes Ohr als offene Beine.»
«Ich mag Tiere sehr gerne – am liebsten mit einer leckeren Soße.»
Diese Premiumschnacks stammen alle von meinem bald achtzigjährigen Onkel Friedrich. Onkel Friedrich ist ein Spitzentyp und hat außerdem den besten Spitznamen der Welt: die Zunge Europas. Sein gesamtes Berufsleben hat er im Kaffeegeschäft verbracht: Kaffeekaufmann, Kaffeehändler, Kaffeeverkoster, Kaffeeexperte, Kaffeemann, Kaffeeguru, Kaffeegenie: Personalunion Onkel Friedrich. Abgesehen davon, dass er ein nachgerade unglaubliches Repertoire an jederzeit abrufbaren Anekdoten, Geschichten und Döntjes angehäuft hat, ist er im Besitz von Kaffeeherrschaftswissen, das nirgendwo nachgelesen werden kann. Wenn er mal nicht mehr ist, geht dieses Wissen verloren. Onkel Friedrich befindet sich schon seit langem im Ruhestand. Im Hamburger Freihafen ist er eine Legende, ein Mythos, eine sagenumwobene Lichtgestalt, eine Fata Morgana (hab ich das Wort auch noch untergebracht! Es geht beim Bücherschreiben ja vor allem darum, so viel verschiedene Wörter wie möglich unterzubringen). Es gibt ja so Weinspezialisten, die Herkunft, Jahrgang und Lage zuverlässig herausschmecken; Onkel Friedrich ist kaffeetechnisch mit vergleichbarem Talent gesegnet. Die Grundsorten (Arabica, Robusta usw.), Herkunftsländer (Nicaragua, Kuba, Ecuador, Costa Rica), wie hoch welcher wovon warum Anteil ist, welche Lage, welche Röstung, ach, ich weiß es doch auch alles nicht. Auf jeden Fall arbeiten seine Geschmacksknospen mit einer unerreichten Präzision: die Zunge Europas eben! Ein Name wie ein Ritterschlag. Ich müsste ihn mal besuchen und alles aufschreiben. Zeit hat er schließlich genug, und ich sowieso. So ein Quatsch, wen soll denn das interessieren? Mich! Allein darum geht es! Es geht immer nur genau darum! Wenn ich nur nicht immer so mutlos und zerschlagen wäre, ich würde mich mit einem Diktiergerät bewaffnet wochenlang bei ihm einquartieren und ihn erzählen lassen. Und dann das Buch schreiben. Ich bin mir sicher, dass es ein gutes Buch würde. Der Titel ist doch schon mal unschlagbar: «Die Zunge Europas»! Überlegenes Material.
Onkel Friedrichs zweite Leidenschaft sind, wie gesagt, Sprüche. Sprüche, Schnacks, Witze. Überwiegend olles Zeug, trotzdem Spitze:
«Ich koche gern – aber nicht vor Wut.»
«Nachdurst ist schlimmer als Heimweh.»
«Die Steinzeit ging auch nicht zu Ende, weil die Steine ausgingen.»
1. «Mutti, Mutti, ich kann keine Pickel mehr kriegen.» – «Warum nicht?» – «Kein Platz mehr!»
2. «Warum gehst du denn immer auf den Balkon, wenn deine Frau singt?» – «Damit alle sehen, dass ich sie nicht schlage.»
Einen nach dem anderen produziert er, wirklich einen nach dem anderen. Manche sind gut, manche weniger, egal, ich bin sicher, dass er, wenn er sich nicht mit Leib und Seele dem Kaffee verschrieben hätte, der größte Witzeerzähler Deutschlands geworden wäre. Nickname auch in diesem Fall: die Zunge Europas.
Na ja, auf der einen Seite Onkel Friedrich, auf der anderen ich: Mein Humor funktionierte anders. Mir kamen einzelne Worte in den Sinn: «Fettschürze», «Weltraumdünger», «Analjazz». Weltraumdünger, keine Ahnung, was das sein sollte. Es gibt Sachen, die klingen lustig, und kein Mensch weiß, warum. «Betriebswirtschaft modern – Höschen runter, Ärmel rauf». Hätte auch von Onkel Friedrich sein können, stammt aber aus der «Neuen Revue». Vielleicht war das meine Bestimmung: antiquierte Sprüche vor dem Aussterben zu bewahren und selbst zu produzieren: «Boxkampf zum Jahreswechsel: Silvesterpunch statt Silvesterpunsch». Anderes Wort für abgestandenes Bier: «Prince schal». «Predigt vergessen, Messkelch verschüttet, Talar verschimmelt, Oblaten ranzig – auch Pfarrer sind Menschen». Weiter: «Der Schwanz ist das Kainsmal des Hundes». Mir fiel nur noch wirres Zeug ein: «Dudelsackhose», «Nutten sind die Neger Bulgariens.»
Wer soll damit bitte etwas anfangen? Derartige «Einfälle» pressen sämtliche Lebensenergie aus einem raus. Vielleicht waren ja kosmische Strahlen, ineinanderverschobene Mondphasen oder extraterrestrische Energiefelder dafür verantwortlich, dass meine verstauchten Synapsen einen derartigen Schrott produzierten. Weltraumschrott. Schluss, Ende, aus, hatte einfach keinen Zweck heute.
Ich hatte zu einer Zeit begonnen, mit Humor Geld zu verdienen, als er mit einem Mal Comedy hieß und sich als ganzjährig verlängerter Arm des rheinischen Karnevals flächendeckend über die Republik ausbreitete. Bis dahin war die deutsche Humorlandschaft überschaubar gewesen und hatte im Wesentlichen aus Loriot, Otto Waalkes, Gerhard Polt, Diether Krebs, Dieter Hildebrandt, Jürgen von der Lippe, Insterburg & Co, Hape Kerkeling, Jürgen von Manger und zur Not auch noch Dieter Hallervorden, Torfrock, Harald & Eddie, Heinz Erhardt, Mike Krüger und Fips Asmussen bestanden. (Der mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und dem Gedächtnis eines Schachgroßmeisters gesegnete Pointenpapst dürfte genug Witze für einen mehrjährigen Witzemarathon gespeichert haben. In der Zeit, in der Fips Asmussen die Witze erzählt, lernt er schon wieder neue auswendig: ein Perpetuum mobile des Gags.)
Die ersten humoristischen Gehversuche hatte ich in meiner Schülerzeitung gemacht: Alltagsbeobachtungen, zeittypischer Unsinn, ätzende Medienkritik (damals hatte Kritik ätzend zu sein), und Politsatire (Ronald Reagan in Bitburg, oh, là, là) durfte natürlich auch nicht fehlen. Kultig. Als der Begriff noch nicht vollkommen entwertet war. Es herrschte die einhellige Meinung, dass aus mir mal was werden würde. Rückblickend eine herrliche Zeit, Narrenfreiheit, eine bessere Gelegenheit, mich auszuprobieren, hätte es gar nicht geben können.
Meine Helden waren Polt und Loriot und natürlich die Begründer der neuen Frankfurter Schule: Waechter, Traxler, Henscheid, Bernstein, Gernhardt, Poth, Eilert, Knorr! Die hatten damals nebenher Otto groß gemacht. Ich sah meine Zukunft ebenfalls als Mann im Hintergrund, Autor, Schreiber, Entwickler (Development – save the Copyrights!), ganz allgemein Strippenzieher. Über ein Zeit, Geld, Nerven und sicher noch eine Menge anderer Sachen raubendes Studium (Journalistik/Germanistik/Literaturwissenschaften/Medienirgendwas) hatte ich dabei nie ernsthaft nachgedacht. Durch Protektion (ehemaliger Klassenlehrer) bin ich erst beim Privatradio und über zwei weitere Umwege (egal, zu langatmig) beim Fernsehen gelandet, als Gagautor für eine Reisesendung mit Comedy-Elementen, ein Mitte der Neunziger populäres Format.
Die Gags, die ich abliefern musste, hatten mit dem, was mir eigentlich vorschwebte, zwar nichts, aber auch rein gar nichts zu tun, aber das fand ich nicht schlimm. Erst mal. Ich war davon überzeugt, dass meine Chance irgendwann kommen würde, dass eine Schnittmenge zwischen dem Zeitgeist und meiner Art von Komik möglich sei. Die Menschen entwickeln sich ja schließlich weiter, irgendwie jedenfalls. Bis dahin hieß es: Gags under pressure, Gags in progress. Ausharren und auf Halde arbeiten. Wenn meine Zeit gekommen war, würde ich eine Karte nach der anderen aus dem Ärmel schütteln können. EINE NACH DER ANDEREN!
Das konnte jedoch noch dauern, denn die Humorlandschaft veränderte sich dramatisch, und zwar in genau eine Richtung: zum Schlechten.
Politisches Kabarett, Parodie, Humor, Komik, Witz, Ironie, Satire, Persiflage, Polemik, Kalauer, Pointe, Schote, Zote und was es sonst noch alles gab, wurde auf den kleinsten Nenner vom kleinsten gemeinsamen Nenner vom kleinsten gemeinsamen Nenner und davon nochmal dem kleinsten gemeinsamen Nenner runtergedampft. Und der hieß Comedy. In industrieller Massenfertigung produzierter Humor, rücksichtslos entkernt von Drama, Tragik, Weltanschauung, Überzeugung, Nuancen, Brüchen, Differenzen, also all dem, was Komik ausmacht. Selbst wenn mal eine gute Idee, Substanz, zugrunde lag, wurde die von unzähligen vor-, zwischen- und nachgeschalteten Filtern und Dämpfern verdünnt, gesiebt, gespült, bis nur noch formloser Ramsch übrig blieb. Ramsch ohne Leuchten, ohne Hintergrundstrahlung, groteske Intonationsverfehlung. Die Woche verkam zu einer ununterscheidbaren Abfolge von Fun-Freitagen, und die Sendeplätze von der Primetime bis zur Peripherie wurden mit immer neuen ununterscheidbaren Formaten verstopft, die sich in ihrer Dämlichkeit gegenseitig übertrafen: Sketchcomedy, Standup Comedy, Comedynews, Panelshows, Improcomedy. In einer beispiellosen Gleichschaltung errichtete der Gagmilitarismus noch im entlegensten Winkel der Republik dieselben Muster des Bewusstseins. Und das System duldete keine Ausnahmen.
Frauen mit Schuh- und Kleidungsticks, Ikeagags (Bett «Gutfick», haha), Männer, die auf die Urlaubsreise nur eine Unterhose mitnehmen («Meine Frau merkt das sowieso nicht, haha»), 90 Prozent der jährlichen Tomatensaftproduktion werden in Flugzeugen konsumiert (immer Riesenlacher, keiner weiß genau, warum), das unerschöpfliche Thema «Servicewüste Deutschland». Was bitte schön soll daran komisch sein?
Einher mit der Formatierung des Inhalts ging die Formatierung des Personals. Grundvoraussetzungen für einen Comedian: Ehrgeiz, Dickfelligkeit und sich für nichts, aber auch gar nichts zu schämen. Würde und Selbstachtung sollten möglichst keine Rolle spielen, man muss bereit sein, ALLES mit sich machen zu lassen. (Das Handwerk lässt sich fix in einem dreitägigen Crashkurs an einer Gag-Akademie erlernen.) Wichtigste Voraussetzung, hätte ich fast vergessen: Humorlosigkeit. Dann leidet man wenigstens nicht unter der Scheiße.
Comedycast: Unter keinen Umständen fehlen darf der Kleine, der bucklige Troll, das Greislein mit dem öden Frätzchen, eine Mischung aus vorlautem, besserwisserischem kleinem Bruder, Klassenkasper und ätzendem Gnom, der sein Publikum mit geschlechtslosen Verrenkungen, sinnlosen Zappeleien und hysterischem Stimmenverstellen traktiert. Ihm zur Seite gestellt ist ein jäh und krumm in die Höhe geschossener, schlaksig-dürrer Eumel mit unterschiedlich hoch hängenden Klüten und Trichterbrust. Die Macher achten darauf, dass auf zwei Gnome in der Regel ein Eumel kommt. Dicke haben als Comedians besonders gute Chancen, wenn sie mit möglichst vielen Zusatzdefekten ausgestattet sind: Zyklopen mit Eier- oder Wasserköpfen, aufgequollene Knallfrösche, mehrfach geblähte Michelin-Männchen, aufgedunsen durch Hektoliter Kölsch und chronische Ausdruckverstopfung. Wie viele neue Comedians wohl jedes Jahr an den Start gehen? Hundert, zweihundert, fünfhundert? Als in der Goldgräberstimmung der neunziger Jahre New Economy, Popliteratur, deutschsprachiger Hiphop und eben auch Comedy boomten, entdeckten Heerscharen von Studienabbrechern, arbeitslosen Schauspielern, Karrieristen, Amateurspaßvögeln und Schonimmermalmöchtegern-egalichmachallesstars diese vielversprechende Geschäftsidee. Denn zu nichts anderem war Humor geworden. Zu einer Geschäftsidee. Nicht einmal in Bankerkreisen wird so beschämend oft übers Geld geredet wie unter Comedians. Typischer Backstagedialog einer Mixveranstaltung (mehrere Comedians treten nacheinander auf ):
«Na, wie geht’s?»
«Ich verdien mir grad derart den Arsch ab, das kannst du dir nicht vorstellen!»
Unter Comedians herrscht ein Klima von Neid und Missgunst. Wenn beim Soloprogramm eines Standuppers von hundert Leuten im Publikum neunundneunzig lachen und ein Einziger von der ersten bis zur letzten Minute kerzengerade und mit versteinertem Gesicht in der hintersten Reihe hockt, ist das ein Comedian, der seinen Konkurrenten ausspioniert.
Die durchs Fernsehen populär gewordenen Großverdiener absolvieren zweihundert und mehr Auftritte im Jahr. Da kommt einiges zusammen. Aber sie sind die Löwen in der Comedyfauna. Ganz unten in der Hierarchie stehen die Uhus (unter hundert), deren Auftritte von weniger als einhundert Zahlenden (ohne Gästeliste) besucht werden. Manchmal sind es auch nur fünfzig. Oder siebzehn, von denen fünf noch während des Auftritts gehen. Wenn diese Rotärsche unter den Comedians nicht ganz schnell die Hundertergrenze reißen, sind sie gleich wieder weg vom Fenster. Solide hundert Zuschauer sind so was wie die Fünfhundert-Euro-Frage bei «Wer wird Millionär». Uhus (der Begriff stammt übrigens von mir) hassen die Kollegen, die diese Grenze gerissen haben und sich über hundert, hundertzwanzig oder in ihrer Heimatstadt auch mal über zweihundertzehn Zahlende freuen dürfen. Hass, aber auch großes, ehrliches Unverständnis: «Was soll denn daran lustig sein. Wo ist der denn bitte schön besser als ich. Die Leute sind aber auch beknackt!» Die Spirale des Hasses setzt sich nach oben fort: Die Hunderter hassen die Zwei- oder Dreihunderter. Und die hassen die Fünfhunderter und die die Tausender, und die Tausender die Zwei- bis Viertausender, und ganz oben, auf dem Thron der Köln-Arena, sitzt der Eine und lacht alle anderen aus.
Für den Typ des ernsthaften, schwerblütigen Humoristen, für den Komik existenzielle Notwendigkeit bedeutet, eine Möglichkeit, dem Schmerz und den Widrigkeiten des Daseins zu begegnen, gibt es keine Verwendung mehr. Er ist untergegangen im bedeutungslosen Gebrabbel, Gebrunze, Gebölke, Gekreische und Gepöbel, dem endgültigen Sieg der Lautheit:
«Da kabarettiche sich, wer kann, denn die Wirkung der Nummern ist nachhaltiger als langfristige Rentenbescheide. Damit beim schrillen Start ins Wochenende auch die Ablachgarantie gilt, nehmen Sie am besten Ihren inneren Schweinehund an die Leine. Aber: Vorsicht an der Wortschwallkante! Schaffnerin dieser herzerfrischend fiesen Erste-Klasse-Comedy allererster Schlagsahne ist eine Powerkabarettistin und bekennende Kaltduscherin, die neben Festigung des Geistes und des Bindegewebes auch die Behandlung des Störfaktors Mann und seine artgerechte Haltung verspricht und ihm endlich den Giftzahn der Zeit zieht. Hier darf gelacht werden, bis alles in Jackpot und Asche liegt, bis zur widerspenstigen Lähmung; vertrauensstörende Maßnahmen, bis die Arschkarten neu gemischt sind. Das Jagdverhalten afrikanischer Löwinnen wird den Shopping-Ritualen gelangweilter Hausfrauen gegenübergestellt, und die brennende Frage beantwortet, warum frei laufende Hühner immer dekadenter werden beziehungsweise ob es ein Leben über 40 gibt. Auf dem Highway to Hell gibt es keine Zebrastreifen. Das Flammenschwert der Comedy saust gnadenlos frech auf unser Zwerchfell nieder, nimmt den wahntäglichen Normalsinn auf die Schippe, denn die Milch aufschäumen überlassen wir getrost den anderen. Zugführer bei dieser Molkerei auf der Bounty: der wahrscheinlich multikultigste aller Comedians, der unzensiert seine schwierigste Rolle spielt: nämlich sich selbst! Ob er dabei ins Klo oder nach den Sternen greift, seine multiplen Sarkasmen hinterlassen jedes Mal eine Spur der Entzückung. Aber Vorsicht: Wenn seine Frühlingsrolle erst in den Datenstau gerät, würde er für eine gute Pointe sogar seine Großmutter verkaufen. Zusteigen in diese Pointenvollzugsanstalt ohne Abstellgleis wird auch Angela Merkel, unsere Plattitüdenmamsell und Barbie reloaded, die den Staat am liebsten outsourced und dabei unversehens zum eigenen Outlet wird. Ach übrigens: Wird das Jüngste Gericht in Amerika überhaupt anerkannt?
(Alles Originalzitate)
Erbrochenes. Spastiker des Witzes, die mit blutig gebissener Zunge die immer gleiche Fertigteilsprache ausspeien, Zombies, deren kaputtes, krankes, ausgezehrtes Vokabular zusammen mit den ausgeschlagenen Zähnen kraftlos aus dem Maul sappscht. Das ist so ungefähr meine Meinung zum eigenen Berufsstand. Ein Therapeut würde mir mit ziemlicher Sicherheit empfehlen, den Job zu wechseln.
Eine Art von Gerechtigkeit gibt es allerdings, die Strafe für all die Schandtaten sitzt den Verbrechern gegenüber: das Publikum. Ein flüchtiger Blick in den Saal kurz vor Beginn einer durchschnittlichen Show: halslose, zerfurchte, grenzdebile, schenkelklopfende Kretins, so weit das Auge reicht. Ein Albtraum, der den Künstler bis in den Schlaf verfolgt. Nein, o nein, o nein, was ist das denn? Was läuft nur so schrecklich schief und krumm und falsch? Alles. O Gott, o Gott! Wie alt sind die denn eigentlich alle? Keiner unter fünfundvierzig. Ach was, fünfzig. Und was für Klamotten haben die an (KIK – nur nackt ist billiger!). Und die Gesichter, was für Gesichter haben die? Gebrochene Augen, schiefe Nasen, Adernelend, geisteskrankes Gelächter. Da muss ein Fehler passiert sein, die Castingfirma hat versehentlich die Belegschaft einer Tagesklinik angekarrt. Nicht eine einzige geile Alte! Nicht eine auch nur annähernd geile Alte! Und kein einziger cooler Typ. Es ist nicht nur überhaupt nicht cool und sexy. Es ist Samenkäse. Sacksuppe. Schwanzbrand. Ein Wahnsinn! Die furchtbare Wahrheit.
Das Telefon klingelte. Für gewöhnlich rufen mich nur die Großeltern oder Sonja auf dem Festnetz an. Oder Callcenter oder verwählt.
«Musikschule Meinhard Gnom. Aus Noten wachsen Hälse.»
Ich melde mich nie mit meinem Namen. Langweilig: «Markus Erdmann, guten Tag.» – «Erdmann, hallo.» Oder gar: «Markus hier.» Da legen interessante Menschen doch gleich wieder auf. Wie schön es wäre, Meinhard Gnom zu heißen und irgendwo in der norddeutschen Tiefebene eine kleine, aber feine Musikschule zu betreiben, mit dem Firmenlogo als Programm: «Musikschule Meinhard Gnom … und aus Noten wachsen Hälse».
«Hier ist Sven.»
«Bist du schon wieder zu Hause? Ich dachte, du würdest erst heute zurückkommen?»
«Wollte ich eigentlich auch, aber ich bin gestern Nacht noch gefahren.»
«Wie, gestern Nacht? Und, wie viel hattest du gesoffen?»
«Zu viel natürlich. Ist ja auch egal. Weißt du, wie viele gestern da waren?»
«Nein.»
«Rat mal.»
«Was soll das, ich mag diese Raterei nicht.»
«Bitte, nur einmal. Raten.»
«100.»
«66. Das musst du dir mal vorstellen. 66!»
«Das ist wenig.»
«Wenig? Eine Katastrophe. Freitag 105, Sonnabend 110 und gestern 66. Hörst du, 66! Das ist neuer Minusrekord. Jetzt geht’s endgültig den Bach runter.»
Mein Partner Sven hatte sein zweites Bühnenprogramm «Strafarbeit». (der Titel war zur Abwechslung mal ihm eingefallen. Ich fand ihn total öde, er hatte drauf bestanden, na ja, irgendwie auch egal) in zwei Jahren knapp vierhundert Mal gespielt. Die Großstädte besuchte er bereits in der dritten oder vierten Schleife. Es gab praktisch keinen Ort über hundert Einwohner, in dem er damit noch nicht gewesen war.
«So geht’s einfach nicht weiter. Wir müssen dringend was machen.»
«Wir ist gut. Du meinst, ich muss was machen. Mir fällt aber gerade nix ein. Außerdem findest du ja eh immer alles Scheiße.»
«So. Das weißt du doch gar nicht. Sag doch mal was.»
«Also gut. Meine Notizen der letzten Stunden. Soll ich’s dir wirklich vorlesen? Dein Risiko.»
«Ja, mach mal.»
«Also: Fettschürze, Analjazz, Dudelsackhose, Weltraumdünger. Der Schwanz ist das Kainsmal des Hundes. Und das Beste zum Schluss: Neger sind die Nutten Bulgariens. Nee, umgekehrt, Nutten sind die Neger Bulgariens.»
Schweigen.
«Ich hab dich extra gefragt, ob ich’s dir vorlesen soll. Das ist exakt das, was mir eingefallen ist.»
«Jaja. Pass auf, was hältst du davon, wenn ich nachher mal vorbeikomme? Um sieben?»
«Ja, von mir aus. Bis später.»
Ursprünglich hatte Sven für die Reisesendung als Warmupper gearbeitet. Der Job des Anheizers war für ihn aber nur Durchgangsstation. Er fühlte sich zu Höherem berufen. Warmuppern gelingt ja auch immer mal wieder der Sprung von der anonymen Stimmungskanone zum eigentlichen Star. Und Sven brachte die entscheidende Voraussetzung mit, die mir fehlte: den Willen zum Erfolg, denn die Regel ist, dass derjenige es schafft, der es wirklich will. Nachdem die Sendung abgesetzt worden war, schlug er mir eine Zusammenarbeit vor: Er als gesichtsbekannter Vollidiot (er benutzte irgendeine andere Formulierung), ich als Autor. Headwriter, Writer, Supervisor und künstlerischer Leiter. Oder Manager, General Manager, Head Manager, Executive Manager, kanns dir was aussuchen.
Als Erstes musste eine Figur her, austauschbar, beliebig und bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Gar nicht so einfach, war ja alles schon besetzt: Frührentner, ewige Studenten, Polizisten, Soldaten, Freaks, Beamte in allen Schattierungen, Hausmeister in sämtlichen Varianten. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir uns für einen Päderasten oder Robbenschlächter entschieden. Oder einen Serienmörder, der wie alle Serienmörder, wenn sie nicht gerade in Serie morden, ein liebenswerter Trottel mit spießigen Hobbys und nervigen Angewohnheiten ist. Die andere Seite: Er leidet an einer der Forensik bislang nicht bekannten seelischen Abartigkeit, einer progredienten sadistischen Perversion vor dem Hintergrund einer Borderlinestörung, deren maximale Wunschvorstellung es ist, seinem sterbenden Opfer beim Koitus ans pochende Herz zu fassen. Einen Titel für das Serienmörderprogramm hatte ich auch schon: «Menschlich gesehen». Na ja, nachdem Robbenschlächter, Päderast, Serienmörder und noch ein paar andere «Vorschläge» sich als nicht konsensfähig erwiesen hatten, einigten wir uns auf «Herrn Wolter», einen aus sämtlichen Klischees und Versatzstücken zusammengeschusterten Lehrer. Herr Wolter ist ein geiziger, linkischer, pedantischer Pauker, der selten die Wäsche wechselt und geil ist wie eine Natter. Normales, langweiliges Flickwerk. In nur drei Wochen hatte ich das erste Bühnenprogramm zusammen, das sich überraschenderweise (zumindest ich war überrascht) zu einem Renner entwickelte. Der Clou der Liveperformance ist, dass Herr Wolter den Saal in ein Klassenzimmer verwandelt, mit dem Publikum als Schüler. Die Leute lassen wirklich erstaunlich viel mit sich machen. Sie wollen schließlich lachen. Witzeverkaufsveranstaltungen, ein Witz – ein Euro. Zwei Stunden ohne Story, ohne Höhepunkt und ohne Bedeutung.
Herr Wolter marschierte durch und war auf dem Höhepunkt seiner Karriere regelmäßiger Gast in den Comedyshows der Republik. Lange währte der Ruhm jedoch nicht, denn je eindimensionaler die Figur, desto geringer ihre Halbwertzeit. Irgendwann war Herr Wolter durch, und die Besucherzahlen halbierten sich binnen eines Jahres. Es kam jetzt immer häufiger vor, dass Sven vom Veranstalter im Anschluss noch nicht mal mehr in ein uriges Altstadtlokal zum obligatorischen Schoppenwein eingeladen wurde. Ganz schlechtes Zeichen. Ihm drohte das Schicksal vieler Stars, die die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig ekennen und langsam, aber sicher nach unten durchgereicht werden: Moderation von irgendwas, Stargast auf Ü-30-Partys, Appetizer für Bigbrother Jürgen auf Mallorca oder Sidekick bei Tim Mälzers Livekochshow, wo die Karriere dann als lauwarme Fünf-Minuten-Terrine ausklingt. Und davor hatte er Angst. Panische Angst. Der Figur lediglich ein Facelift zu verpassen reichte nicht. Herr Wolter musste entsorgt werden. Und nun war guter Rat teuer.
Von dem ewigen Sofageliege hatte ich Nackenschmerzen bekommen. Scheißnacken, Scheißrücken. Ich musste mich dringend bewegen. Vielleicht einkaufen, erledigt sich ja auch nicht von selbst. Schließlich war heute der «Tag der Routinetätigkeiten». Wenn es nichts Konkretes zu besorgen gibt, kauft man haltbare Produkte wie H-Milch, Waschmittel, Salz, Zahnpasta, Batterien oder Nudeln, davon kann man nie genug im Haus haben: Bunkerbzw. Hamsterkäufe (Hamburg ist – sturmflutgefährdetes Dauerkrisengebiet).
Ich musste dringend mal wieder Altglas entsorgen, es stapelten sich mittlerweile bestimmt sechzig Einwegflaschen unter der Spüle. Oder siebzig oder achtzig. Aber bei der Hitze! Ging einfach nicht. Wenn ich das Altglas nicht bald entsorge, wird es irgendwann mich entsorgen: Nachts, wenn ich schlafe, schließt sich das Leergut heimlich und leise zu einem Verband zusammen, kriecht unter meinen Rücken und schafft mich, einem Trupp Wanderameisen gleich, unendlich langsam zum Altglascontainer. Eine Pfandflaschenprozession. Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Na ja, wenn mir schon die Kraft zur überfälligen Altglasentsorgung fehlte, konnte ich wenigstens meine alte Kienzle-Uhr in die Reparatur geben, die vor Ewigkeiten stehengeblieben war und seither ein ausgesprochenes Schattendasein fristete.
Gesagt, getan! Auf zum Uhrmacher! Mit frischen Kräften ging’s zum Uhrmacher. Erste Station war der nur zehn Minuten entfernte Uhrmacher. Das unauffällige Uhrmachermeistergeschäft war nur einen Steinwurf entfernt. Ich fragte mich gespannt, ob der kleine Uhrmacherladen überhaupt geöffnet hatte. Entnervt schleppte ich mich zum Uhrmacher. Zweimal lang hingeschlagen, schon stand ich vorm Uhrmacher.
«Diercks Uhrma …» Sollte der Länge nach zu urteilen wohl Uhrmachermeister heißen, aber zum ganz Lesen war es zu heiß. Ich hatte das muffige Ladengeschäft viele Jahre schlichtweg übersehen. Eines schönen Tages bin ich aus einer Laune heraus vor dem Schaufenster stehengeblieben, um mir die Auslagen anzuschauen: Ringe, Goldketten, Armbänder, Broschen und natürlich Uhren. Uhren, Uhren, Uhren. Na ja, so viele nun auch wieder nicht. Kommissionsware, wie den kleinen Papptäfelchen zu entnehmen war: «Gelegenheit. Aus Privatbesitz». Am besten hatten mir ein Goldring mit braunem Stein für 390 Mark und eine Uhr mit braunem Lederarmband für 460 gefallen. Ich war kein Ringträger, und eine Uhr hatte ich bereits. Als ich mir ungefähr ein Jahr später die Auslage erneut anschaute, lagen Ring und Uhr an ihrem alten Platz: «Gelegenheit. Aus Privatbesitz». Die Staubschicht schien etwas dicker geworden zu sein, die Preise hingegen waren stabil geblieben. Auch die anderen Schmuckstücke lagen, wo sie gelegen hatten. Von da an kontrollierte ich die Auslage einmal im Quartal. Nichts, absolut nichts tat sich, dabei war der Schmuck doch ganz schön! Erst nach der Euro-Umstellung kam Bewegung in die Angelegenheit: Bereits am Nachmittag des zweiten Januar 2002 waren sämtliche Schmuckstücke in Euro ausgepreist (ausgepriesen?). Der Ring kostete 195 Euro und die Uhr 230. Auch in den kommenden Jahren kam weder ein Schmuckstück dazu, noch wurde etwas verkauft, allerdings war die Kommissionsware wohl mittlerweile in den Privatbesitz von Herrn Diercks übergegangen. Vielleicht war das Schaufenster auch kein gewöhnliches Schaufenster, sondern ein unverkäufliches Kunstwerk.
Die Begehung der Dierck’schen Katakomben kostete mich enorme Überwindung. In der einen langen Minute, in der ich vor Angst, Respekt undwasweißich vor der Tür stand, erschloss sich mir die Bedeutung des Begriffs «Hemmschwelle» in seiner ganzen Breite. Vielleicht hing ja Diercks mumifizierte Leiche über dem Tresen, in der rechten Hand eine Uhr, in der linken ein Handwerksmeisterfeinschraubenzieher. Knääärz. Quiiietsch. Die Tür knarrte wie nichts Gutes. Zögerlich setzte ich einen Schritt hinein. Es herrschte eine nur vom Ticken unzähliger Uhren überlagerte Stille. Das meine ich schon oft gelesen zu haben, dass in Uhrmacherläden eine nur vom Ticken unzähliger Uhren überlagerte Stille herrscht. Innen war praktisch alles wie außen, in den frühen Sechzigern eingerichtet und seither nie was verändert. Warum auch. Braun. Alles braun. Tresen, Fußboden, Vitrinen, braun, braun, braun. Von Herrn Diercks keine Spur. Räuspern. Husten. Leises «Hallo».
Plötzlich stand er hinter dem Tresen. Herr Diercks war blitzschnell aus einem Loch gehuscht, das offenbar zu einer dem Laden angeschlossenen Wohnung führte, und musterte mich stumm. Er war Anfang sechzig, hatte einen mächtigen Spitzbauch, einen grauen Spitzbart und ein spitzes Kinn (auf gar keinen Fall überlesen: Spitzbart, Spitzbauch, spitzes Kinn). Mir schien etwas leicht Feindseliges in seiner Haltung zu liegen.
«Guten Tag, die Uhr hier hat ihren Dienst versagt. Kann man da noch was machen?»
Herr Diercks klemmte sich eine Art Monokel in das rechte Auge und inspizierte den Oldtimer. Knisterknister, tickticktick. Er hielt die Uhr gegen das braunstichige Tageslicht und schien überhaupt nicht zufrieden zu sein. Die tickenden Uhren und das braune Interieur machten mich müde. Was tat er da eigentlich genau? Lieber nicht durch vorlaute Fragerei den Zorn des Meisters heraufbeschwören. Knisterknusper, tickticktack. Erneut hielt Herr Diercks die Uhr gegens Licht, dann machte er sich am Handaufzug zu schaffen.
Plötzlich kam aus dem Loch eine steinalte, sehr dünne und sehr zerzauste Frau gehopst und hüpfte wie ein durchgedrehtes Kasperlpüppchen mit irre flackerndem Blick zur Eingangstür, wobei sie eigentümliche Quakgeräusche ausstieß. Ihre Glieder sahen aus, als wären sie verrenkt, verstaucht oder gebrochen. Herr Diercks tat, als habe er sie nicht bemerkt, und setzte stoisch seine Untersuchung fort. Die Verrückte öffnete die Tür, hielt ihr Köpfchen in die Sonne, schloss die Tür wieder und hüpfte blitzschnell auf mich zu. Ungefähr zehn Zentimeter vor mir kam sie zum Stillstand, tippelte von einem Bein aufs andere und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Angst! Ruckartig schnellte ihr verschrumpeltes Köpfchen nach vorn. Jetzt beißt sie mich, dachte ich, aua. Doch sie sog nur in hastigen Schüben Luft in ihr Näschen, so als wolle sie eine Geruchsprobe von mir nehmen. Dann hüpfte sie hinter den Tresen, stellte sich auf die Zehenspitzen und beobachtete den Meister bei der Inspektion. Endlich hob Herr Diercks den Blick und schaute mich traurig an.
«Das lohnt nicht mehr, Reparatur kostet vierzig Euro, ist nur ’ne Kienzle, das lohnt absolut nicht mehr.»
«Aber die Uhr ist ein Erbstück, ich häng an ihr. Außerdem ist sie so schön schlicht, ich hätte sie eigentlich ganz gern wieder heile.»
Die Kasperlfrau quakte leise und wippte hin und her. Jetzt wurde es dem Meister zu bunt. Er zeigte auf das Loch:
«Nun geh mal wieder rein. Nun geh da mal wieder rein!» Laut quakend hüpfte sie zurück ins Loch. Herr Diercks schaute noch eine Spur trauriger.
«Ja, wenn Sie wollen, mach ich Ihnen das natürlich. Vor nächster Woche Dienstag wird das allerdings nichts.»
Er schien gut zu tun zu haben, Auslage hin, Auslage her.
«Das reicht dicke. Ist nicht eilig.»
Herr Diercks reichte mir wortlos den für einen Reparaturbon eigentlich viel zu großen Reparaturbon.
«Toll, dass das klappt. Bis Montag.»
Herr Diercks guckte schon wieder eine Spur trauriger.
«Ade.»
Ade. Wie schön das klang, viel schöner als Tschüs oder das beschissene Ciao oder grüß, grüß. Vielleicht stammte er aus Süddeutschland und bewahrte den Gruß als Erinnerung an seine alte Heimat auf der Zunge und in seinem Herzen. Dann verschwand auch er im Loch. Ich war allein im Laden und hätte sämtlichen Schmuck mitgehen lassen können (Gelegenheit. Aus Privatbesitz in Privatbesitz). Meine Güte, was ging hier vor? Wer um Himmels willen war diese Frau? Diercks Mutter? Seine Großmutter? Eine Wildfremde, die er in einem Verschlag hielt und um ihre Rente erleichterte? Schlief er gar zusammen mit ihr in einem Bett? Und warum alarmierte niemand die Polizei? Die Zustände mussten den Nachbarn doch bekannt sein. Alle verrückt geworden, alle verrückt.
Weiter ging’s. Ein Einzelhandelsgeschäft reihte sich ans nächste: Reinigung, Buchladen, Schuhmacher, Schlüsseldienst, Bäcker, Fleischerei, Damenmode, Herrenmode, Blumenladen, Optiker, Bäcker, Farben & Lacke, Spielhalle, Fotogeschäft, Bäcker. Hinter jeder Tür ein Schicksal.
Im Supermarkt (Plus) war nicht viel los. Regalmeter, Eyecatcher, Schokofallen, eine verworrene Welt voller Tabu-, Bück-, Quengel- und Kassenzonen. In Supermärkten ist alles Zone, gibt’s sonst nur beim Militär. Die riesigen Einkaufswagen wirkten wie Monster aus frühen japanischen Science-Fiction-Filmen. Die schweren, für Groß- und Hamsterkäufe konzipierten und mit gigantischem Fassungsvermögen ausgestatteten Stahlungetüme aktueller Bauart (je billiger der Discounter, desto größer die Einkaufswagen, denk ma logisch) grenzen eine Bevölkerungsgruppe aus, die es eh schon schwer genug hat: alte Menschen. Da die Alten zu schwach sind, die Biester durch endlose Regallabyrinthe zu bugsieren, werden sie gezwungen, ihre Besorgungen in den überteuerten Filialen der Schlemmermärkte oder einer anderen Luxuskette zu tätigen, den einzigen Supermärkten, die noch Handkörbe und Kindereinkaufswagen anbieten. Gourmet-Tempel sind Mausefallen, die alten Menschen ihre Ersparnisse abpressen und sie verarmt wieder ausspucken. Eigentlich müsste man sich viel mehr für alte Menschen einsetzen, gerade als (noch!) jüngerer Mensch. Alte haben praktisch keine Lobby, gibt’s die Grauen Panther überhaupt noch? Ich schrieb ein paar Stichworte auf die Rückseite des riesengroßen Dierck’schen Reparaturbons: Alte Leute befreien. Vielleicht ließe sich daraus was machen.
In meinem Wagen lagen erst vier Artikel. Spülmittel, H-Milch, Salz und Druckerpapier. Das lohnte nicht. Ich brauchte noch was Großes, Klobiges, etwas, das Masse macht, Verdrängung betreibt. Haushaltstücher, Toilettenpapier, eine Vorrats- oder Familienpackung von irgendwas. Ich entschied mich für einen Achterpack dreilagiger Haushaltstücher (die können gar nicht genug Lagen haben). Mit einer Packung frischer Rosen rundete ich den Einkauf ab und dachte meinen einzigen Satz laut vor mich hin: «Die Wohnung bedarf kräftiger floraler Akzente.» Discounterblumen halten nur einen halben Tag, sind dafür jedoch superbillig. Penny bietet nun sogar mit dem «Penny Blumengruß» dem Marktführer Fleurop Paroli. Bravo! Der hat die Welt lange genug mit überteuerten Schnittblumen überzogen. Lange dauert’s nicht mehr, dann kann man bei Lidl Juwelen kaufen.
Zu Hause übertrug ich das Gekritzel vom Dierck’schen Reparaturbon brav in die Chinakladde. Es galt, den unerwarteten Schwung zu nutzen. Eine atemberaubende Aufholjagd, an deren Ende ich dem verlorenen Tag noch ein zweites Mal in den Arsch treten würde, denn mit der einen Stunde von heute Vormittag war ich schon bei insgesamt vier Stunden (Cluster/Return of Investment/Time slot/Leistungsbilanz). Und bei dem anstehenden Treffen mit Sven handelte es sich streng genommen ebenfalls um eine Arbeitseinheit. Summa summarum sechs Stunden. Hinzu kommen die zwei Stunden, die ich täglich einspare, weil ich nicht zur Arbeit pendele = acht Stunden! Plus Uhr wegbringen und einkaufen: ein knallharter Zwölfstundentag. So muss man’s mal sehen!
Unsere Mission
Wir sind eine kleine, verschworene Gemeinschaft und haben uns zum Ziel gesetzt, alte Leute zu befreien.
Im Schutz der Dunkelheit dringen wir in Altersheime, Krankenhäuser und Seniorenstifte ein, wickeln die alten Leute in warme Decken und bringen sie in die Freiheit.
Manche tun wir vorsichtig in Teiche und Tümpel.
Sofort schwimmen sie davon oder verstecken sich im dichten Ufergestrüpp.
Andere bringen wir auf Wiesen und Weiden.
Dort stehen sie noch ein paar Minuten dicht gedrängt beisammen, ziehen aber schon wenig später in kleinen Gruppen weiter.
Jede Oma kriegt von uns ein Stück Käse und die Opis Wurst.
Einige, meist die ganz Alten, wollen lieber auf hohe Bäume gebracht werden.
Sie kauern dann ganz glücklich im Geäst und atmen tief die gute, grüne Waldluft ein, und der ganze alte Teppichboden- und Heizungs- und Klogeruch wird aus ihren zarten Lungen gepustet, die dünnen gelben Haare flattern im Wind, und sie reiben sich an der Rinde.
Manchmal kommt ein großer Vogel, packt ganz vorsichtig eine Oma, fliegt mit ihr in der Gegend herum und setzt sie behutsam wieder ab.
Neulich wollten zwei Opas unbedingt in Erdhöhlen leben, dort haben wir sie dann hingebracht.
Gleich fingen sie an, zu scharren und zu buddeln, und waren schnell verschwunden.
Endlich weg von den alten Matratzen und Keimen und defekten Elektrogeräten.
Die beiden werden zusammenbleiben bis zum Schluss.
Manche befinden sich in einem ganz schlechten Zustand, wenn wir sie befreien.
Wir müssen sie dann erst von alten Belägen reinigen, ihre Augen sind ganz verklebt und alles, und sie sind sehr schwach.
Sie brauchen dann erst einmal ein paar Tage, bis wir sie in unseren Privatwohnungen richtig aufgepäppelt haben.
Einige mag man gar nicht mehr weglassen, drum muss man sehen, dass der Kontakt nicht zu eng wird.
Ich hatte jetzt zwei Wochen einen Opi bei mir und bin schon ganz traurig, denn bald heißt es Abschied nehmen, wahrscheinlich für immer.
Ich wickle ihn wieder vorsichtig in eine schöne warme Decke, dann fahren wir nachts ins Moor, dort wo er hinwill.
Etwas unschlüssig noch geht er jetzt einige Schritte in die Dunkelheit.
Plötzlich ist hinter mir ein Geräusch, ich erschrecke, blicke mich hastig um, ach, nichts weiter, nur ein Kitzlein.
Ich dreh mich wieder zum Opa, doch der ist schon weg.
Ganz geräuschlos ist er im Moorbewuchs verschwunden.
Ich stehe noch ein paar Minuten einfach so da, warte, bis der Geruch verflogen ist, und fahre dann ganz nachdenklich wieder nach Hause.
Das ist unsere Mission (ostentativ)
Knapp zwei Stunden hatte ich für den Text benötigt. Überlegenes Material. Jetzt fehlte nur noch der richtige Interpret. Gunter Gabriel? Der war doch bekannt für seine soziale Ader und dafür, dass er sich für Minderheiten einsetzt (Hey Boss, ich brauch mehr Geld).
Kurz vor sieben klingelte es. Sven. Was für ein Glück es sein muss, so auszusehen wie er: Er hat ein scharf geschnittenes, markantes Gesicht mit stechend blauen Augen und einer leichten Höckernase, Typ Raubvogel. Wegen Glatzengefahr rasiert er sich seit neuestem die Haare rappelkurz. Mir würde ein solcher Panzerknackerschnitt wegen meines Mondgesichts nie im Leben stehen (außerdem sind Haare für mich ein Schutz, eine Mauer, ein Wall), aber Sven gereicht die Türsteherfrisur zum Vorteil: Sie macht ihn sogar noch attraktiver. Dick wird er auch nie, sein Stoffwechsel scheint sich mit zunehmendem Alter sogar noch zu beschleunigen: ausgemergelt. Drahtig. Hager. Sehnig. Ein Begünstigter. Obwohl er vierzig ist, führt er immer noch den lächerlich ruinösen Lebenswandel eines Popstars, der gerade seine erste Nummer eins hat und alles mitnimmt, was geht. Sven sieht immer irgendwie fertig aus, aber auf eine geile Art. Wenn andere Männer fertig aussehen, sehen sie aus wie Heckenpenner, Sven sieht mit den Falten, Kerben, Rissen, Narben, Schmissen männlich aus, markig, er hat die Anmutung legendärer amerikanischer Westernhelden. Mischung aus Raubvogel und Westernheld. Außerdem umgibt ihn eine Aura von Verschlagenheit, Täuschung und Betrug. Frauen mögen das, sie erkennen in ihm den Meister, den Lustmenschen, den reißenden Wolf, der ihnen das verschafft, was sie von ihren herunterdemokratisierten, kastrierten Stoffeln daheim niemals bekommen und auch nicht bekommen wollen: Chaos, Rausch und Schweinerei. Herrlich. Er ist tatsächlich der einzige Mainstream-Comedian mit einem gewissen Anteil von geilen Alten im Publikum.
Außerdem ist er verheiratet (kinderlos). Ewig schon. Und noch nie, wirklich noch nie ist etwas herausgekommen. Ich glaube, dass seine Frau von seinem Doppelleben noch nicht mal ahnt. Eine entsprechende Verabredung haben sie auch nicht. Erstaunlich. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit habe ich ihn häufiger zu Auftritten begleitet und hochgerechnet: vier-, eher fünfhundert. Er ist der Mann mit den «häufigsten sexuellen Kontakten infolge von Bühnendarbietungen im deutschsprachigen Raum». Mir ist diese gestelzte Formulierung irgendwann mal eingefallen. Er hasst sie wie die Pest, deshalb benutze ich sie, wenn wir uns streiten. Sven blieb auf halber Treppe stehen.
«Wollen wir noch ein bisschen nach draußen gehen? Bitte!»
«Von mir aus, gehen wir in den Park. Ich nehm ein paar Bier mit.»
Der nur wenige Minuten entfernte, winzige Park ist eigentlich kein Park, sondern ein Platz. Öde, trocken, staubig, von spärlichem Bewuchs umsäumt, Wüste. Deshalb nenne ich ihn Sandpark. Im Zentrum des Sandparks hat früher einmal ein Gebäude der Hamburger Elektrizitätswerke oder etwas in der Art gestanden. Nach dem Abriss konnte sich die Behörde (oder wer dafür zuständig ist; Behörde passt immer) nicht entscheiden, wie der Platz umgestaltet werden sollte. Der Sandpark war, gerade weil er so lebensfeindlich, provisorisch und unwirtlich ist, zu meinem Lieblingsplatz geworden, ein auf schwer zu erklärende Weise magischer Ort.
In der westlichen Ecke hatte man pünktlich zum Frühlingsbeginn ein Straßenschachfeld errichtet. Wer hinter man steckte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich «von privat» gespendet, wie ein paar der mit dem Namen der Mäzene («diese Bank wurde gespendet von Textilhaus Wurz») gekennzeichneten Bänke. Die Rentner, die sich seit eh und je täglich im Sandpark treffen, um ihre viele Tagesfreizeit abzuleben, hatten diese Neuerung begeistert aufgenommen. Bei gutem Wetter treffen sich die eifrigsten bereits gegen acht Uhr, um unermüdlich dem Spiel der Könige zu frönen. Jeden Tag das gleiche Bild: Die Opas wuchten die klobigen Figuren von einem Feld aufs nächste, die Omas sitzen auf den Bänken und tuscheln. Seit der Jugend hatte sich nicht viel geändert. Zur Mittagszeit verziehen sich die Alten zum Essen in ihre Wohnungen, und eineinhalb Stunden später trudeln sie zur Nachmittagsschicht wieder ein. Es lastet immer ein süßlich stechender Geruch von Salben, Pflastern, Verbänden und Desinfektionsmitteln über ihrem Revier. Hautfarbene Salbe riecht anders als weißes Gel als hellbraunes Puder als beige Paste als schwarze Creme als Tubenpflaster. In dicken Schichten wird Salbe auf Gel auf Creme auf Spray auf Puder aufgetragen, die Haut saugt sich voll wie ein Schwamm, und das Gemisch sickert tiefer und tiefer. Halb Mensch, halb Salbe. Irgendwann erkennen die körpereigenen Abwehrkräfte nicht mehr, was was ist, und greifen an. Schrecklich. Der furchtbare Geruch gemahnt uns Jüngere: niemals alt zu werden!
Die Bänke auf der gegenüberliegenden Seite werden in den Sommermonaten von einer Gruppe pechschwarzer Rastamen und ihrer aus ein paar übergewichtigen Mädchen bestehenden Entourage besetzt gehalten. Sie sitzen meist einfach nur da, kiffen, was das Zeug hält, und lauschen der immer gleichen Reggaesoße, die aus ihrem vorsintflutlich großen Ghettoblaster quillt. Selbst wenn sie mal einen Tag aussetzen, hält sich über ihren Bänken eine zähe Cannabiswolke. Die Weiber glotzen Löcher in die Luft und vermitteln im Übrigen den Eindruck, als hielten sie sich zur Verfügung. Ausländer benehmen sich häufig wie ihrer Vorbilder aus der Kanakcomedy, die Grenzen sind seltsam fließend. Ob mangelhaft assimilierte Südländer, integrationsresistente Moslems, reaktionäre Ekelschwarze à la 50 Cent oder ewig zugedröhnte Rastamen, es gibt praktisch keinen Unterschied mehr zwischen Original und Fälschung.
In der allerhintersten Ecke gibt es eine Zufallsgästen vorbehaltene Bank, die meist frei ist, weil nur selten Zufallsgäste kommen. Wir setzten uns und tranken schweigend das erste Bier. Dann legte Sven los:
«Du meinst ja immer, dass ich übertreibe, aber die Zahlen sprechen für sich, das musst du zugeben.»
«Was soll ich dazu sagen? Mit deinem ewigen Gezögere hast du alles nur noch schlimmer gemacht. Wir hätten schon längst was Neues haben können. Ich bin’s leid, dir dauernd neue Vorschläge zu machen, die du dann auch immer noch ablehnst.»
«Vorschläge ist gut. Das Zeug verstehen die Leute nicht.»
«Alles hat irgendwann in einer Nische angefangen. Es geht darum, langen Atem zu beweisen und etwas durchzusetzen.»
«Jaja. Wenn etwas auf dem Punkt ist, setzt es sich automatisch durch. Einen Hit kann man nicht verhindern.»
«Das hatten wir doch schon tausend Mal.»
«Nutten sind die Neger Bulgariens, ich weiß noch nicht mal, was das bedeuten soll, geschweige denn, was daran witzig ist.»
«Dann was Einfaches: ‹Die Ohnmacht – Jetlag für Arme!›»
«Probier’s doch einfach selber. Mach doch einfach Vorprogramm mit so Sachen und sieh zu, wie die Leute reagieren.»
«Ich werde niemals in meinem ganzen Leben eine Bühne betreten.»
«Tja, das ist dann dein Problem.»
«Mein Körper wehrt sich regelrecht gegen die Scheiße. Was wir machen, ist einfach nicht richtig.»
«Ach. Richtig. Richtig oder falsch, was soll das denn? Und die anderen machen das Richtige, oder was? Das stimmt doch hinten und vorne nicht!»
«Ach, ich kann nicht mehr. Die Scheißhitze und der ewige Streit.»
Ich öffnete noch ein Bier. Anstrengendes Gespräch. Ich hatte schon wieder einen sitzen.
«Entzündete Hände, die bedächtig den Mohn vom Brötchen pulen, mit spitzem Finger eine Öffnung in die rösche Kruste bohren, das Weiße herausholen und es minutenlang kneten. Der Teig wird zur Hand, und die Hand wird zu Teig, alles löst sich auf, wachsweiche Masse, aus der sich eine neue Gebäckgeneration formt.»
«Was soll das denn werden?»
«Bäcker-Standup. Du bist ab jetzt Comedybäcker. Das Programm heißt Nährschlamm für Gehirnjogger. Ein übermenschlicher Konditormeister, psychedelischer Tortenheber und Streuselguru, der alle Backmischungen auf der ganzen Welt auswendig kann.»
«Spitze. Hat jetzt schon das Zeug zum Klassiker. Nächster Vorschlag, bitte.»
«Improcomedy von und für Pfeifenraucher: Piffpaff, die Rübe brennt, ein Nischenpremiumformat für einen Nischenpremiumsender wie n-tv oder N 24. Du heißt ab sofort Herr von Klettenstein und bist der Spielleiter. Herr von Klettenstein ist Freiberufler und FDP-Wähler, sein Golfhandicap liegt bei dreiundzwanzig, und auf seiner rechten Arschbacke ist Sylt tätowiert. Dein Kultopener: Man hört ja so einiges, die Spatzen PFEIFEN es schon von den Dächern … Was war am Wochenende eigentlich weibermäßig so los?»
«Oha, abrupter Themenwechsel.»
«Ja und. Sag mal?»
«Ich hab jetzt aber keine Lust. Außerdem war da praktisch nichts.»
«Bitte! Ich lebe von den Krümeln, die der Herr vom Tisch fallen lässt.»
«Nächstes Mal.»
«Was sind denn das für Stasimethoden? Bekomm ich die Geschichten jetzt immer nur häppchenweise zugeteilt? Vielen Dank auch.»
«Bitte. Mir ist heute nicht danach.»
«Dann eben nicht. Was findest du besser: Ermüdungsbruch im Wichsarm? Oder Trümmerbruch im Wichsarm?»
«Ermüdungsbruch.»
«Sehr gut! Ich auch.»
«Mmmh.»
Die Rentner waren schon lange weg, und die Rastas schwächelten.
«Gehen wir noch irgendwo hin?» Er wollte noch nicht nach Hause.
«Nee, geht nicht, ich muss morgen um acht hoch, nach Berlin, weißt du doch.»
«Ach, morgen ist das schon. Hatte ich ganz vergessen.»
Ich brachte ihn zur U-Bahn.
«Dann mach’s gut. Und ruf mich mal an und sag, wie’s gewesen ist.»
Zum Abschied küsste er mich auf den Mund, eine neue Angewohnheit von ihm, vielleicht, um das Band zwischen uns enger zu schweißen. Manchmal glaube ich, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der ihm was bedeutet, noch vor seiner Frau. Ich hatte ihm vom anstehenden Berlin-Intermezzo nicht viel erzählt. Zum einen, weil ich selber nicht wusste, was genau die da von mir wollten, zum anderen, um ihn nicht zu beunruhigen. Es ging um irgendein neues Projekt, für das eine Produktionsfirma namens C. I. noch Autoren suchte. Da hieß es schwitzen und pitchen und pitchen und schwitzen und plotten und schwitzen und schwitzen und plotten. Zu Steinzeiten hatte man Brainstorming gesagt, aber das ist vorbei. Mir graute jetzt schon davor, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, mit der U-Bahn zum Hauptbahnhof zu fahren, dann mit dem Zug nach Berlin, mit dem Taxi zu irgendwelchen Beknackten, mir unter Beknacktenaufsicht stundenlang das Hirn auszuwringen und abends den ganzen weiten Weg wieder zurück.
Aber was blieb mir übrig?