Halb sieben. Meine Güte, so früh! Ich hatte den Wecker auf acht gestellt. Immer wenn eine Reise bevorsteht, und sei sie noch so klein und kurz, wache ich schweißgebadet und Stunden zu früh auf. Die Nerven. Bereits eine lächerliche Tagestour nach Berlin ist zu viel. Oder war es der Ärger darüber, dass ich mich auf die Aktion, den Quatsch, die Zeitverschwendung, den Unfug überhaupt eingelassen hatte? C. I. Für was das wohl stand? Corporate Identity? City-Idee? Oder einfach gar nichts. Hybridformat, First Mover Advantage, Total Buyout, Production Value, Frontloading, Full Season Pickup, Spinoff. Ich kannte mich aus. Audience Flow heißt seit neuestem Lead in. Die Werbe und Medienszene kreiert wie unter Zwang ständig neue Begriffe für alte Tätigkeiten. «Wir machen uns in kleiner Runde Gedanken.» Vielleicht kommt das ja eines Tages wieder. Eine Wohltat. Bis dahin bin ich eben eine One Man Pressuregroup, Upgrade der Ich-AG.
Ich habe mir für Kurzreisen eine vierhundertfünfzig Euro teure Reisetasche aus rotbraunem Leder (bedrohte Tierart) zugelegt. So was nennt man in Männermagazinkreisen einen Weekender. Die teure Anschaffung hat ausschließlich reisepsychologische Gründe, denn die Garnitur Unterwäsche (wieso eigentlich?), Minikulturtasche (wieso eigentlich?) und Chinakladde würden auch in einem Jutesack mit Betonung auf Sack Platz finden. Ich möchte jedoch nicht für einen Honk – irgendwie echt gutes Wort – gehalten werden, der irgendwo hingurkt, sondern für einen Kunst- und Kulturschaffenden, der eine Reise antritt. Eine Reise antreten oder irgendwo hingurken, das ist nämlich der feine Unterschied. Am Gepäck sparen heißt an der falschen Stelle sparen.
Die Zeit bis zum Reiseantritt verbrachte ich mit einer Kanne grünem Tee vor dem Fernseher, wo sonst. Im «RTL Shop» wurden, wie üblich, hanebüchene Artikel angepriesen, angeblich proseccofarbene Blusen der Größen 46 bis unendlich, mit Schmetterlingen und Bienchenapplikationen für starke Frauen. Von wegen prosecco, leberwurstfarben waren die Blusen! Walter Freiwald: «Edel pur.» Wieder mal hatte ein anderer TV-Shop die Nase vorn, in diesem Fall HSE 24 (Slogan: «Ich seh shoppen»). Harald Glöckler, nach Angaben des Senders Modemacher, Visionär und Kosmopolit, hatte jetzt auch eine Schmucklinie im Programm, natürlich im bewährten Pompöös-Look (Pompöös mit Doppel-ö). O-Ton Harald Glöckler: «Es sieht einfach reich aus. Der Ring wirkt, als würde er zehn Millionen Dollar (Dollar!) kosten, er kostet aber nur 79,99.» Der Mann weiß, mit welchen Argumenten er seine Produkte unter die Leute bringt. Üben, Walter!
Als ich vor die Haustür trat, wurde ich beinahe von einem Fahrradkurier totgefahren. Die Sau drehte sich kurz um und raste dann ohne ein Wort der Entschuldigung weiter. Fahrradboten benehmen sich wie die Axt im Walde und tun immer, als ob sie was ganz Besonderes wären. Wieso eigentlich? Das sind doch durch die Bank Hänger, die für einen Hungerlohn den lieben langen Tag vom Fotografen zur Agentur und wieder zurück radeln, nichts vor dem Komma und nichts dahinter. Das einzige, objektive Plus: der Mehrwert ihres Hiwi-Jobs: sehnig, drahtig, kantig, ausgemergelt. Wahrscheinlich sind Fahrradboten ungerechterweise die glücklicheren Menschen. Das stupide Strampeln an der frischen Luft macht den Kopf frei und trocknet die schlechten Säfte aus. Ich blickte dem Kerl hinterher. Kopfschüttelnd. Hier war mal wieder Vater Staat gefragt. Im nächsten Leben gründe ich einen Fahrradkurierdienst mit extra alten Kurieren. Übergewichtige Pensionisten, die ihre schweren Klappräder (Massivrahmen, Bleileitungen, eingerostete Ketten) mit rasselnden Lungen durch die Innenstädte treten und für die Zustellung fast so viel Zeit benötigen wie die Post. Aber noch befand ich mich im aktuellen Leben, und da führen sich Fahrradkuriere auf wie Graf Koks und der Kaiser von China zusammen. Der Vergleich hinkte zwar, aber das war mir egal. Außerdem ist es schließlich meine Sache, welche Vergleiche ich in welchen Zusammenhängen benutze. Und bei Fahrradboten sollte man sich extra schlecht konstruierte Vergleiche aus den Fingern saugen, die an allen Ecken und Kanten hinken. Hinken wie Fahrradkuriere, denen man die Kniegelenke ausgekugelt hat, haha.
Wieso war der Zug am Dienstagmorgen um zwanzig vor zehn eigentlich zum Bersten voll? Es war ein stinknormaler Werktag, und die Menschen hatten ganz normal auf der Arbeit zu sein, Stichwort Solidargemeinschaft. Da ich niemals reserviere, musste ich mich durch mehrere knüppelvolle Waggons zwängen, bis ich im Großraumwagen mit der Ordnungsnummer sieben noch einen freien Gangplatz entdeckte. Dass da zur Abwechslung mal einer mit einem hochwertigen Weekender unterwegs war, fiel natürlich keinem auf. Neben mir saß ein älterer Mann, der seinen Kopf an die Scheibe gelehnt hatte und schlief, gegenüber zwei in Zeitungen vertiefte Schlipsmänner. Ich schaute aus dem Fenster. USP. Operatives Patt. Expansive Synergiemodule. Früher hatte ich mich auf solche Meetings vorbereitet. Jetzt nicht mehr. Entweder es fiel mir etwas ein oder nicht. Möglicherweise passten Fettschürze oder Weltraumdünger ins Konzept, man kann ja auch mal Glück haben im Leben.
Vielleicht stand im «Spiegel» was Verwertbares. Die Titelgeschichte verhieß allerdings nichts Gutes: «Wie viel Fernsehen und Computer verträgt ein Kind?» Meine Güte, langweiliger geht’s ja wohl nicht mehr. In «Politik» war erwartungsgemäß auch nichts. «Ausland» sowieso nichts. «Sport»: Der Abstieg eines Tenniswunderkinds. Sowiesosowieso, nie gehört. Seitdem Boris und Steffi ihre aktive Laufbahn beendet haben, interessiere ich mich nicht mehr für Tennis. Steffi geht es gut, ich vermute, dass es ihr deutlich besser geht als Schwerenöter Boris. Sie hat ihre Mitte gefunden, Boris noch nicht. Das ewige Bobbele. Es reicht eben nicht, sich von den erspielten Millionen Autohäuser und Firmenbeteiligungen zuzulegen: Boris Becker (Unternehmer). Da lachen ja die Hühner! Kernkompetenz, Leimener. Auf dem Platz ein Sitzriese, in der Geschäftswelt ein Zwerg, Advantage Finanzmarkt. Oliver Kahn könnte später mal Kapital aus seiner nussknackerartigen Physiognomie schlagen, indem er als Namensgeber, Pate und Leihvater einer neuen Generation Nussknacker herhält, die die herkömmlichen, gesichtslosen Standardnussknackerfiguren vom Markt fegen. Slogan: «Olli Kahn Nussknacker, nur echt mit dem Kiefer». Steffi Graf hat (aufgepasst, Bobbele!) seit vielen Jahren für nicht EINE EINZIGE NEGATIVSCHLAGZEILE gesorgt. Ich gönne ihr das Glück mit Andre und den Kindern. Manche Menschen sind für Ehe und Familie eben doch wie gemacht, da können Typen wie ich stänkern, was das Zeug hält.
In seiner wilden Zeit vor Stefanie hatte Andre Agassi mal einen Spruch gebracht, der auch von Onkel Friedrich hätte stammen können: «Ich bin so glücklich wie ’ne Schwuchtel im U-Boot.» Wahrscheinlich, um der Freude über sein Spitzenleben Ausdruck zu verleihen. Agassi ist ein ausgemachter Glückspilz1, seine Bilanz stimmt, hinten wie vorn.
Dabei hat er es zu Beginn seiner atemberaubenden Karriere nicht immer leicht gehabt: Wegen der langen Haare, dem schlechten Benehmen und den kunterbunten Klamotten war er als «Tennispunk» diskreditiert worden. Noch schlimmer: Dem als Sandplatzspezialisten (schöner: Sandplatzwühler) verhöhnten Agassi, der alle wichtigen Ascheturniere, darunter das French Open, bravourös und mit links gewonnen hatte, wurde Feigheit vor dem Feind vorgeworfen, weil er sich jahrelang vor Wimbledon gedrückt hatte. Die Tenniswelt, ach was, die Welt fieberte gespannt wie ein Flitzebogen seinem ersten Auftritt auf dem heiligen Rasen entgegen. Agassi würde sich eine vernichtende Packung abholen, so viel stand mal fest. Wenn man ihn mit seinen vollgekifften Hippieklamotten überhaupt auf den Platz ließ. Und dann: von wegen Müsli-Outfit! Weißes Hemd, weiße Hose, weiße Schuhe, weiße Socken, weiße Schweißbänder, schneeweiß, weißer geht’s nicht. Und er gewann ALS ERSTER SPIELER SEIT BJÖRN BORG das Turnier von der Grundlinie aus. Damit hängte er die Latte mal wieder ganz woandershin. Auch von seiner wirren Langhaarfrisur trennte er sich, wenngleich unfreiwillig, kurze Zeit später. Agassi hatte mit starkem Haarausfall zu kämpfen (er wurde häufig von seinem älteren Bruder zu den Turnieren begleitet, dessen blitzblank polierte Billardkugel die genetische Disposition der männlichen Agassis erahnen ließ). Eine Zeitlang kaschierte Andre seine diversen Tonsuren mit albernen Mützchen und Tüchern und ließ sich die verbliebenen Zotteln bis zum Arsch wachsen, doch irgendwann brach er unter dem Dauerfeuer der Boulevardpresse ein. Den Vogel schoss mal wieder die «Bild»-Zeitung ab, die ihn von «Tennispunk» in «Aglatzi» umtaufte.
Was ich nicht alles über Tennis wusste! Weiter. «Wissenschaft und Technik»: Ingenieure bauen einen Sportwagen mit Elektroantrieb. Interessierte mich nicht. Sportwagen ohne Verbrennungsmotor, da lachen ja schon wieder die Hühner. Dann stieß ich doch noch auf eine halbwegs interessante Meldung: Gleich zwei US-Studien wollten herausgefunden haben, dass regelmäßiger Genuss von Alkohol langfristig zu einem höheren Einkommen führt. Arbeitnehmer, die trinken, verdienen bis zu 14 % mehr als Abstinenzler, ein Phänomen, das allerdings nur bei Männern zu beobachten ist. Der Grund: Trinken in Gesellschaft fördert die Bildung von Sozialkapital. Geselligkeitstrinker integrieren sich in Netzwerke und pflegen Beziehungen. Der Effekt tritt allerdings nur auf, wenn der Alkohol in Gesellschaft genossen wird. Alleine saufen bringt also nichts. Das barg ein gewisses Potenzial, ich wusste nur nicht genau, welches. Egal, aufschreiben.
Aus dem Fenster gucken war langweilig. Ich wandte mich unauffällig den Schlipsmännern zu. Der Linke war ganz dick und weich und fleischig. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck zog er sich alle paar Augenblicke ein riesiges, knallgelbes Taschentuch über den Nacken. Endlich mal jemand, dem die Hitze auch was ausmachte. Komisch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er schien auf eine merkwürdige Art zu verschwimmen, als ob seine an den Rändern bereits durchsichtig schimmernde Masse auseinanderflösse. Vielleicht rührte dieser Eindruck daher, dass er nicht von Knochen, sondern von Gräten zusammengehalten wurde. Eine männliche Meerjungfrau. Man hatte ihm jede Gräte einzeln gebrochen, und jetzt versagte auch noch das Bindegewebe. Blickfang seines Gesichts war der volle, erschlaffte Mund. Sein extrem dehnbarer Kiefer sah aus wie der einer Schlange, als könne er den Mund ganz über den Kopf stülpen, um sich so vor Fressfeinden zu schützen. Entweder war es ganz genau so. Oder anders: Mir gegenüber saß ein im Dienst des Guide Michelin tätiger Restauranttester mit einer durch unablässiges Schmecken, Schlabbern, Schlürfen und Rotwein Einatmen geformten Maske des totalen Genusses. Oder noch was anderes: Der Chefeinkäufer einer Supermarktkette für Tiernahrung, der mit den Jahren selbst einem Fressnapf zu ähneln beginnt. Na ja. Optionen halt.
Sein Sitznachbar wirkte müde und eingefallen. Das fliehende Kinn ging direkt in den schlaffen Hals (Treppenkinn) über und der Hals in den Schlips, auf dem sich Goofy, Donald und Onkel Dagobert ein turbulentes Stelldichein gaben. Ein fließender Übergang. Goofy machte wie immer ein doofes Gesicht, und Onkel Dagobert jagte Donald (Geldangelegenheiten). Werden Mickymausschlipse heutzutage überhaupt noch hergestellt?
Er faltete die Zeitung zusammen, sein Kollege tat es ihm nach. Ihr überraschendes Gesprächsthema: China. Ich hätte eher mit dem beliebten Dauerbrenner «Scheiß-Deutsche-Bahn» gerechnet. Sich während einer Bahnfahrt über die «DEUTSCHE EISENBAHN». (geschrieben mit extragroßen Großdruckbuchstaben) aufzuregen passt immer. Sagt sogar Hartmut Mehdorn, und der muss es schließlich wissen. An der DEUTSCHEN EISENBAHN ist nämlich alles schlecht, sie ist schlecht, sogar noch schlechter als die zweitschlechteste Gurkentruppe, die
DEUTSCHE TELEKOM. Die DEUTSCHE EISENBAHN ist ein verrotteter Staatsbetrieb, ein satter Monopolist, dessen Riesengehälter verschlingender Personalwasserkopf ausschließlich damit beschäftigt ist, mit miesesten Gangstermethoden die Konkurrenz klein zu halten («Wenn die Deutsche Eisenbahn mal eine unrentable Strecke an einen privaten Konkurrenten abgibt – zack, kurze Zeit später ist der Service deutlich besser, die Züge fahren pünktlich, und die Fahrpreise haben sie auch noch gesenkt. Wie machen die das nur? Ja, Scheiß-Deutsche-Eisenbahn, wie machen die das nur! Denk mal drüber nach, Scheiß-Deutsche-Eisenbahn»). Die Subventionsmilliarden, die den Riesen künstlich am Leben halten, fließen nicht etwa in die überfällige Sanierung des maroden Streckennetzes oder den Ausbau des Güterfernverkehrs (von wegen, schön wär’s, dreimal laut gelacht. Hahaha), sondern zum einen Teil auf die Schweizer Konten der Führungsmafia, zum anderen Teil in Pensionsfonds, damit die elenden Bahnbediensteten zusammen mit ihren Großfamilien im Alter leben können wie die Maden im Speck. Höhepunkt und Abschluss eines solchen Gesprächs muss eine Hasstirade über das missglückte Design der Bordgastronomie sein: Designruine DEUTSCHE EISENBAHN. (Da soll mal Harald Glöckler Visionär ran.)
Egal. Also China. China, Angstgegner Nr. 1. Was wohl wäre, wenn jeder der schätzungsweise fünf Fantastillionen Chinesen bis 2018 ein eigenes Auto besäße? Spätestens dann würde die völlig außer Kontrolle geratene gelbe Population die Welt endgültig mit in den Abgrund reißen. Die Aussicht auf die bevorstehende Katastrophe begeisterte den Fischigen, die Rolle des Untergangspropheten war ihm wie auf den Leib geschrieben. Ich überlegte, ob man China nun eigentlich mit K ausspricht (Kina) oder mit extrabutterweichem SCH (Schina). Franz Josef Strauß hat immer Kina gesagt, wahrscheinlich der wahre Grund dafür, dass Mao ihn seinerzeit eingeladen hat. Na ja, man weiß es nicht, Schnee von gestern. Mir fiel ein Satz aus einem Interview mit Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann ein: «Die Wirtschaft hatte bis zum heutigen Tag keine systematische Krise.» Punkt, aus, Ende der Durchsage. Überhaupt: Ackermann, Deutsche Bank, DAX, Finanzmärkte, Dow Jones, Nikkei Index. Vielleicht war das eine Marktlücke, Humor rund um die große, weite Welt des großen, weiten Geldes. Titel der auf unserem neuen Haussender n-tv ausgestrahlten Primetimeshow: «Global Player». Sven in seiner neuen Figur als ätzender Finanzhai mit Maßanzug und Hosenträgern. Wall Street –
Vorläufige Materialsammlung:
«Brrr, wenn ich an eine zu dünne Eigenkapitaldecke denke, fange ich sofort an zu frösteln.»
«Totes Kapital erdrückt, nur lebendiges Kapital ist fröhliches Kapital.»
«Einer Wertschöpfungskette sollten niemals die Perlen ausfallen.»
«Eine Warnung wird es bei mir nie geben, nämlich die Gewinnwarnung.»
Und, jetzt aber echt mal witzig: «Ein Hedgefonds ist kein Streichelzoo.»
Danach geht’s in medias res:
«Primärziel ist die deutliche Verkürzung der Produktzyklen, vorrangiges Ziel Synthese von Produktinnovation und Markenidentität, nicht länger unlösbare Widersacher, sondern Blutsbrüder, Quadratmeterrentabilität, Sports und Lifestylepositionierung mit Schwerpunkt im Luxussegment. Humanressourcen müssen vom Image des Renditehemmers befreit werden, und: Eine Marke ist vor allem eins: ein Geisteszustand.»
Mickymausens Handy ging. Klingelton: «Toxic» von Britney Spears. Hatte ihm wohl seine Tochter draufgespielt. Wer hört denn heutzutage noch Britney Spears? «Krähenberg, guten Tag.» Aha, Herr Krähenberg. Er hatte trotz schmächtiger Statur eine Lagerhallenstimme, so genannt, weil man sich damit in mehrere Quadratkilometer großen Logistikcentern auch auf weite Distanzen problemlos durchsetzt. Zum Krähenberg’schen Geschnatter addierte sich plötzlich hochfrequentiges Gezischel. Ich schaute mich um. Zwei Soldaten hatten ihre MP3-Player aufgesetzt. Krähenbergs schneidende Lagerhallenstimme und das scharfe Gezischel verschmolzen zu einem akustischen Inferno, es war nicht zum Aushalten.
Das schien natürlich wieder mal nur mir so zu gehen. Meine Mitreisenden waren vertieft in Lektüre, schauten gedankenverloren aus dem Fenster, hielten ein Nickerchen oder unterhielten sich leise. Einer der wenigen guten Gründe für Reichtum: sich ein Erster-Klasse-Ticket leisten zu können. Ich saß auf einem «misanthropischen Rand, von dem aus ich die Unlust und das Unbehagen auf andere Menschen kultivierte». (Peter Sloterdijk). «Die zunehmende Gereiztheit in den Metropolen lässt sich zivilisatorisch nicht mehr kompensieren». (schon wieder Peter Sloterdijk). Peter Sloterdijk ist der Truck Stop der Philosophenszene. Das stimmt natürlich überhaupt nicht und ist himmelschreiender Quatsch, aber klingt irgendwie gut. Vom Ding her, Digga, vom Ding her! So, Peter, aufgepasst: Stichwort Desäkularisierung, Fundamentalismus. These: «Amerika haben wir schon verloren. Das ist kein westliches Land mehr.» Richtig oder falsch?
Ich schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Bilder meiner allerersten Bahnfahrt ohne Begleitung Erziehungsberechtigter stiegen in mir auf:
Die Reise hatte mich in das von Hamburg etwa sechzig Kilometer entfernte Örtchen Scheeßel geführt, zu meinem Ferienfreund Thomas. Ein ganzes, langes Wochenende auf dem Land! Schwimmen, Luftgewehr schießen, Starke treiben, Trecker fahren, Süßigkeiten naschen, fernsehgucken! Kein Herrenzimmer oder brauner Salon oder Luke zwei. Vor lauter Aufregung hatte ich die belegten Brote und die Sprite vergessen. Scheiß auf die Brote, aber die süße, kühle Sprite, mein Lieblingsgetränk! Ein Königreich für die prickelnde weiße Brause. Allein der Name: Sprite, da klingt die Erfrischung doch schon im Wort mit! Der Nahverkehrszug war krachend voll und hielt an jedem, aber wirklich jedem Geister- und Sackbahnhof. Mit eingetrocknetem Gaumen saß ich zwei lange Stunden eingekeilt zwischen lauter Erwachsenen in der morschen Bimmelbahn und langweilte mich zu Tode. Wenigstens hatte ich einen Fensterplatz abbekommen. Auf dem anderen Fensterplatz saß ein Mann, der aussah, als würde er häufiger mal vergessen, sich zu waschen. Das Auffälligste an ihm war sein unwahrscheinlich dicker Nacken (noch viel dicker als der des Fischigen). Einen so dicken Nacken hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Wenn er seinen Kopf zurücklegte, warf die von Schweiß, Fett, Staub und Glibberkram überzogene Nackenpartie tiefe Falten, ein Faltenpanorama mit Tälern, Gletschern und Lawinen. Ich fragte mich, ob man so einen Nacken wohl auswringen könne. Der Nackenmann war abstoßend und faszinierend zugleich, und weil ich sowieso nicht wusste, wo ich hingucken sollte, beobachtete ich ihn, während er dasaß wie ein Ölgötze und immer wieder seinen Nacken ins Panorama zwang. Kurz hinter Sprötze holte der Mann eine Literflasche Fanta aus seiner Reisetasche. Ausgerechnet Fanta, der Todfeind von Sprite! Er trank einen großen Schluck, setzte die Flasche jedoch nicht wieder ab, sondern behielt sie mittels Unterdruck direkt am Mund. Als ob er die Flasche einspeicheln wollte, wie ein Insekt sein Opfer. Mit Hilfe eines sehr starken Giftes verwandelte er die Brause in Spucke und umgekehrt. Igitt, war das eklig. Meine Hände wurden ganz feucht. Bitte, bitte, setz doch ab! Vielleicht war er als Kind nicht richtig gestillt worden, und sein Analytiker hatte ihm empfohlen, das Trauma wegzunuckeln. Oder er war gar kein Mensch, sondern eine Schlupfwespe, die nur darauf wartete, mir in einem Moment der Unachtsamkeit ihren Rüssel in die Eingeweide zu stoßen und mich genüsslich auszusaugen. Wenn alle erwachsenen Fahrgäste ausgestiegen sind, ist das mitreisende Frischfleisch dran, mjammjammjam, die elende Sauferei diente nur dazu, die Magensäfte zu stimulieren. Ich steigerte mich in diese Vorstellung derart hinein, dass ich vor Angst fast ohnmächtig wurde. Irgendwann bemerkte er, wie ich ihn fortwährend anstarrte, und hielt mir freundlich lächelnd die Brauseflasche hin. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen. So stellt man sich als Kind die Hölle vor: in kleinen Schlucken die handwarme, nahezu vollständig eingespeichelte Brause eines deutlich älteren Mannes trinken. Mit einer fahrigen Handbewegung winkte ich ab und schaute verzweifelt aus dem Fenster. Der Mann warf seinen Nacken in Falten, setzte die Flasche an den Hals und machte da weiter, wo er aufgehört hatte. Ich weiß auch nicht, wie ich den Rest der Fahrt überstanden habe.
Die Spucke alter Männer sollte zum Leitmotiv meiner Jugend werden, denn das nächste Speicheldrama folgte ein halbes Jahr später: Wie fast alle Jungen meines Alters war ich im Fußballverein, D-Jugend oder so, und unser Trainer, Herr Marquardt, war für einen Jugendtrainer ungewöhnlich alt. Sechzig, oder noch älter. Man munkelte, dass er möglicherweise von der «anderen Fakultät» stamme und die Cheftrainerposition nur übernommen habe, um sich an strammen Jungenpos zu erfreuen. Wir ekelten uns vor ihm, aber da er fachlich unbestritten etwas loshatte und sich nie etwas Einschlägiges zuschulden kommen ließ, bot sich auch keine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Der stets etwas traurig dreinblickende Frührentner roch säuerlich, nur an manchen Tagen dünstete sein von Narben übersäter Körper (Kriegsverletzung?) strengen Schnapsgeruch aus. Die fettigen, zerzausten Haare und sein über und über mit Flecken unklarer Herkunft gesprenkelter Trainingsanzug sorgten für eine weitere halbe Umdrehung auf der Ekelschraube. Das Allerunappetitlichste aber: Ihm war die Kontrolle über seine Sekretion entglitten. Fortwährend rannen ihm Speichelfäden aus den Mundwinkeln, und wenn er sprach, stoben mächtige Spuckeschauer aus seinem Mund. Manchmal bildeten sich zwischen Ober- und Unterkiefer Spinnweben, groß wie Meisenknödel. Die Dusche nach dem Spiel hätten wir uns auch sparen können, da er uns während der kompletten Trainingseinheit mit Gewittern erfrischte. Im Winter fand das Training immer Dienstag zwischen vier und sechs Uhr in einer maroden Turnhalle statt. Nach Aufwärm-, Konditions- und Techniktraining wurden Mannschaften gebildet, wegen des kleinen Spielfelds immer nur sechs gegen sechs, zweimal zehn Minuten. Die Jungen, die gerade nicht dran waren, saßen auf der Bank, kauten Kaugummi, langweilten sich und warteten auf ihren Einsatz. Eines nasskalten Dienstags saß ich direkt neben Herren Marquardt, der die Partie gewohnt nass und eklig leitete. Bei jedem Pfiff stoben Spuckeflocken aus dem zerkauten Stück Kautschuk. Vielleicht speichelte er die Pfeife ja auch ein, um sie nach Trainingsende, quasi zur Belohnung, zu essen. Dann passierte das Entsetzliche: Speichelmann stieß mich konspirativ an und hielt mir wortlos den abgenagten Klumpen hin. Das war sicher nett von ihm gemeint, eine Geste des Vertrauens, doch genauso wenig, wie die Irren wissen, dass sie irre sind, schien Herr Marquardt auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, wie es für einen zehnjährigen Jungen ist, eine von einem Alkoholiker abgekaute Trillerpfeife in den Mund zu nehmen. Ebenso gut hätte er mir seinen Schwanz hinhalten können. Ich spürte die Kotze in mir aufsteigen. So unauffällig wie möglich rieb ich den Stumpen an meiner Trainingshose trocken und führte ihn vorsichtig an den Mund, wobei ich die Lippen schürzte, um möglichst wenig Berührung mit der kontaminierten Oberfläche zu haben. Das hatte Auswirkung auf die Qualität der Pfiffe. Ganz schwach und zittrig waren sie und kaum zu hören.
«Elfer, ey, das war ganz klar Elfer. Ey, Schiri, was los, hast du Buletten auf den Augen?»
Das Spiel lief aus dem Ruder. Speichelmann starrte mich an.
«Was machst du denn da. Mach ma ordentlich. Ach komm, gib her.»
Er nahm mir die Pfeife wieder ab. Probe nicht bestanden. Ob Herr Marquardt noch lebte? Er musste mittlerweile in den hohen Achtzigern sein. Jugendtrainer ist er hoffentlich nicht mehr.
Fantamann, Speichelmann, trübe Zweite-Klasse-Erinnerungen. Meine Nerven, meine armen Nerven, sie spielten verrückt, als fehlte die Dämpfung, die schützende Hülle, Federung und Stoßdämpfer kaputt, vielleicht war nachts jemand unbemerkt in mein Zimmer geschlichen und hatte sie ausgebaut. Und das Gehirnwasser gleich mit abgelassen. Wenn sich der Trübsinn erst verfestigt, entwickelt er ein Eigenleben, das Gehirn versucht sogar, die negative Stimmung aufrechtzuerhalten, indem es gezielt die Reize auswählt, die zur Niedergeschlagenheit passen.
Ein kompletter Reset musste her. Eichung. Neuro-Enhancement.
In Berlin war es noch ein paar Grad heißer als in Hamburg, das sog. Kontinentalklima. Auf der Taxifahrt versuchte ich, mir Herrn Block vorzustellen. Block, der Name war wahrscheinlich Programm: Nassforscher, juveniler BWLer, wie sie heutzutage die Chefetagen von Produktionsfirmen und TV-Sendern besetzt halten. Oliver-Geißen-Look (Oliver Geißen ist die konsequente Weiterentwicklung von Hans Meiser). Einer, der keine Zeit verschwendet, sondern Kompetenzen bündelt und Win-Win-Situationen schafft. Lieblingswort: Affin. Alles ist affin. Zielgruppenaffin, sowiesoaffin, sowiesoaffin. Robuste Konstitution, treibt täglich Sport, wird praktisch nie krank. Der scheißt den Viren auf den Kopf. Fundiert, konzentriert, studiert, versiert, motiviert (Reimlexikon). Apropos motiviert: Ich stellte mir vor, Block wäre der letzte Schüler von Jürgen Höller gewesen. Astrein. Höller-Schüler, wie beknackt das schon wieder klingt. Jürgen Höller, oberster aller Motivationsgurus, hatte in seinen Glanzzeiten mehrmals nacheinander die Dortmunder Westfalenhalle ausverkauft. Gestandene Manager latschten in Todesangst und unter hysterischen «Tschakka, du schaffst es»-Rufen – stimmt nicht ganz, Tschakka war Emil Ratelband, aber egal, kümmt vum Herze – durch Scherben und über brennende Teppiche und empfahlen sich nach bestandener Feuertaufe für einen kräftigen Karriereschub. Groteskes Schmierentheater, Jobtraining inszeniert wie eine spirituelle Erweckung oder ein Naziaufmarsch. Der aus einfachen Verhältnissen stammende, stets in feinstem Managerzwirn gewandete Selfmademann Höller sprang zu den Klängen des Dr.-Alban-Gassenhauers «Sing Halleluja» auf die Bühne und hielt mehrstündige, gehirnwäschenartige Predigten. Kernthesen:
«Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance.»
«Bereits der Händedruck entscheidet über Sieg oder Niederlage. Eine schlaffe Hand gehört gebrochen, vielleicht wächst sie ja stark wieder zusammen.»
«Hinter einer schiefen Körperhaltung stehen schiefe Menschen, vom Leben wie Halme geknickt.»
Und so weiter. So was will doch heutzutage kein Mensch mehr hören. Wahrscheinlich arbeitet Jürgen Höller längst wieder als Mietnomade.
Die C. I. residierte in Mitte, wo sonst, im vierten Stock eines kernsanierten Bürohauses mit sündhaft teurem Marmorboden (pompöös). Die Firmengemeinschaft gönnte sich sogar den Luxus eines eigenen Pförtners. Der verwitterte Rentner hockte in einem winzigen Kabuff und blätterte, wie nicht anders zu erwarten, mit schlechten Augen in einer Illustrierten (vielleicht die «Apothekenzeitung». Öder Gag, noch relativ neu: «Die ‹Apothekenzeitung› ist die ‹Bravo› für alte Leute»). Auf seinem Tischchen stand ein Keramikbecher mit dem eingebrannten Aufdruck des Ostseebades Scharbeutz. Ich stellte mich vors Kabuff und wartete ab. Der Pförtner las und las und las. Ich begann Grimassen zu schneiden. Nichts. Er war, wie alle Pförtner auf der ganzen Welt, fehlbesetzt. Was, wenn ich lichtscheues Gesindel wäre? Ich ging zum Fahrstuhl. In letzter Sekunde bemerkte er mich, ruderte hilflos mit seinem dünnen Ärmchen und machte «schschsch» oder so was in der Art. Bereits diese überschaubare Situation überforderte ihn. Er hatte sehr lange auf seinen Traumjob warten müssen, und jetzt wollte er’s unter keinen Umständen vermasseln. Wild fuchtelnd schraubte er sich aus seinem Stuhl. Ich winkte zurück. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und weg war ich.
«Markus Erdmann, ich bin um elf mit Herrn Block verabredet.»
Die Empfangsdame (anderes Wort fällt mir nicht ein, aber Empfangsdame ist wahrscheinlich genauso veraltet wie Brainstorming) musterte mich unverschämt geringschätzig. Blöde Sau. Die würde auch bald aussehen wie eine Backpflaume, und dann nützt alles Winseln und Flehen nichts.
«Augenblick, Herr Block telefoniert noch. Sie können dort in der Sitzgruppe Platz nehmen.»
Sie sagte tatsächlich «Sitzgruppe». Was für eine dumme Nuss. Wenn ich hier der Chef wäre, würde ich sie sofort rausschmeißen mit ihrem DDR-Vokabular. Das darf doch nicht wahr sein! Wenn nun Josef Ackermann hereinspazieren würde oder wenigstens Wolfgang Reitzle nebst Gattin (Nina Ruge). «Grüß, grüß, in der Sitzgruppe ist noch ein Plätzchen frei.» Eine Katastrophe, die Frau! Nach ein paar Minuten trat sie hinter dem Tresen hervor und verschwand in einem der vielen Büros. Sie war hochschwanger. Gesegnet mit der stumpfen, fröhlichen Disziplin einer Heidi Klum, würde sie spätestens vier Wochen nach der Niederkunft wieder gertenschlank sein. Aber bald: Backpflaume.
Fortwährend taperten bleistiftdünne junge Menschen herum, selbstverständlich, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Praktikanten. Betont gelangweilt dreinschauende Skater-Typen mit affigen Britpop-Haarschnitten, tätowierte Wichsvorlagen, die sich aufführten, als würden sie demnächst bei einem wichtigen europäischen Film Regieassistenz machen. In Wahrheit durften sie sich hier gerade mal für umsonst den Rücken bucklig schuften und dabei während der Arbeitszeit noch nicht mal firmeneigenes Leitungswasser trinken, weil der Controller das seit neuestem verboten hatte. Um sich ihr beschissenes Praktikum zu finanzieren, haben sie noch Zweit- und Drittjobs als Fahrradkuriere. So schließt sich der Kreis.
Mein Blut pulsierte in hastigen Stößen. Die Nerven. Hört das denn nie auf?
«So, Herr Block erwartet Sie jetzt. Da, dritte Tür links, die offen steht.»
An der Wand hinter Herrn Blocks Schreibtisch hing ein Spruch: «Lass nie zu, dass du jemandem begegnest, der nach der Begegnung mit dir nicht glücklicher ist.» Was sollte das denn? Manager mit Esoeinschlag und Fengshui-Wohnung. Fehlte bloß noch die Meditationsecke.
Bis auf die alte Rodenstockbrille und die nicht vorhandene Glatze sah Block ungefähr so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Hybridformat, Fokusgruppen, Unique Selling Point, ich würde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen.
«Und, wie war die Fahrt?»
Er hatte eine eigentümlich schartige, kraftlose Stimme, die gar nicht zu seiner Erscheinung passen wollte.
«Eine Katastrophe. Gegenüber ein Handyochse, kennen Sie sicher, diese Typen, die das ganze Abteil zusammenbrüllen, und dann noch alles voll mit Soldaten, die in Mörderlautstärke Nazimusik hören.»
«Mmh.»
Sein Blick schweifte kurz auf irgendwelche Unterlagen ab. So genau hatte er es gar nicht wissen wollen. Er war jedoch routiniert genug, sich nichts anmerken zu lassen. Sozialkompetenz. Wahrscheinlich dachte er: «Ach du Schreck, ein Irrer.» Das denken solche Leute immer. Dabei sind sie die Irren. Typisch Irre, versuchen dauernd, den Spieß umzudrehen. Ein sicheres Zeichen für Wahnsinn ist fehlende Krankheitseinsicht.
«Na ja. Also, um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht genau, warum ich hier bin.»
«Sie sind uns empfohlen worden.»
«Aha. Von wem denn?»
«Thomas Kern. Der arbeitet projektbezogen als Producer für uns.»
«So, das ist ja nett.». (Sehr stumpf: «Das ist ja nett.» Manchmal geht’s halt nicht besser.)
Mit Thomas hatte ich mich seinerzeit so gut verstanden, dass wir uns als freies Schreiberteam zusammentun wollten. Quasi in letzter Minute hatte er einen gut dotierten Posten als Unterhaltungschef beim marktführenden Privatradio angeboten bekommen, und da er im Grunde seines Herzens das Risiko scheute, nahm er an. Radiocomedy ist noch beschissener als Fernsehcomedy, die Gags sind platt bis zur Schmerzgrenze und die witzigen Stimmen nur deshalb so witzig, weil sie unerträglich hysterisch, verstellt, überdreht und gekünstelt sind. Thomas hatte sich vorgenommen, den Schrott auszumustern und im Zuge der Säuberungsmaßnahmen gleich noch den entsetzlichen Morningman rauszumobben, jedoch war der Morningman das Aushängeschild, und seine Popularitätswerte waren unschlagbar. Die Comedy hatte auch hervorragende Werte. So blieb, wie immer, alles beim Alten. Der Programmchef tat hinter vorgehaltener Hand immer so, als wolle er, wenn’s nach ihm ginge, eigentlich auch etwas ganz anderes machen. Aber leider ginge es ja nicht nach ihm, sondern ausschließlich nach der bis ins Mark verblödeten Hörerschaft. Das sagen sie alle.
«Aha, Thomas. Wir haben uns damals aus den Augen verloren. Ich dachte, der ist immer noch beim Radio.»
«Nein, schon ewig nicht mehr. Mal was anderes: Kennen Sie überhaupt unsere Firma?»
«Nein», log ich.
Natürlich hatte ich im Netz recherchiert. C. I. war für ungefähr 99 Prozent der Schlechtigkeiten verantwortlich, die in den letzten Jahren für Kino und Fernsehen produziert worden waren.
«Ist auch nicht so wichtig. Ich will’s mal so sagen: Die letzten Jahre liefen sehr gut für uns, und nun wollen wir uns auch in andere Richtungen orientieren.»
«Ach so. Was meinen Sie denn? Zum Beispiel?»
«Sie kennen doch sicher die Coenbrüder?»
«Klar kenn ich die.»
«Oder Pulp Fiction.»
Komisch. Was hatten die alle immer nur mit dem beschissenen Pulp Fiction?
«Finde ich furchtbar. Überhaupt Tarantino, schreckliche Filme macht der. Wenn man den mit John Cassavetes vergleicht. Cassavetes verhält sich zu Tarantino wie etwas Bedeutsames zu nichts.»
Das saß! Astreine Formulierung, war mir spontan eingefallen. Die musste ich mir unbedingt merken. Verhält sich wie etwas Bedeutsames zu nichts. Universell anwendbar.
«Na gut, Tarantino mögen Sie also nicht. Geschmackssache. Wir können auch in Deutschland bleiben.»
Ich hätte das natürlich auch anders sagen können. Undiplomatisches Verhalten. Egal, es war jetzt schon klar, dass ich hier nichts verloren hatte. Je länger ich Block anschaute, desto mehr wandelte sich sein Gesicht, als ob die Kantigkeit nur eine Oberfläche war, durch die das gedunsene und gleichzeitig scharf gefaltete Alkoholikermondgesicht eines altgedienten Schlagersängers schien. Bernhard Brink, Bernd Clüver, Roland Kaiser, Costa Cordalis sehen sich nach vierzig Jahren Hossa Hossa und Saufi Saufi je zum Verwechseln ähnlich. Block war aber kein Schlagersänger. Die etwas zu weit auseinanderstehenden, mongolischen Augen passten nicht in den Kopf, der wiederum zu groß für den Körper war. Verschiedene Persönlichkeiten, widersprüchliche Programme, die sich überlagerten wie eine unscharfe Bilderserie und dabei gegenseitig auslöschten. Der ganze Mensch Stückwerk.
«Sie kommen doch aus Hamburg. Sind Sie gebürtiger Hamburger?»
«Ja, sicher. Und ich beabsichtige, auch dort zu sterben.»
«Haha, sehr gut. Also, worum es bei dem Projekt geht: Sie kennen doch sicherlich die frühen Klaus-Lemke-Filme?»
«Ja, klar, Sie meinen wohl Rocker? Oder Arabische Nächte.»
«Rocker, genau. Und Nordsee ist Mordsee von Hark Bohm.»
«Aber bitte nicht den letzten Luden.»
«Schon klar. In dieser Tradition soll das jedenfalls stehen. Ich möchte das mal Hamburger Milieufilm nennen. Und da suchen wir fürs Drehbuch jemanden, der sich in der Ecke auskennt.»
So war das also! Was bildet der sich ein, der Stiesel! Sich mit Dreck eine goldene Nase verdienen und dann in den heiligen Hallen des deutschen Films ein handwarmes Plätzchen sichern. Wahrscheinlich führte er täglich solche Gespräche. Jeden Tag wurde ein anderer Autor angekarrt, und Blockwart Block sitzt an der Witzerampe und selektiert. Daumen rauf, Daumen runter. Unter keinen Umständen und für kein Geld der Welt würde ich ihm meine kostbaren Ideen vertickern. Pitchen, Plotten, Turnaround, von wegen. Arschlecken, rasieren. Um wenigstens das Fahrgeld erstattet zu bekommen, musste ich wohl oder übel noch ein Weilchen so tun, als ob.
«Fällt Ihnen dazu spontan etwas ein?»
«Kennen Sie Heino Jäger?»
Block guckte erwartungsvoll.
«Heino Jäger? Ich glaube, ja. Was hat der nochmal gemacht? Ist der nicht schon tot?»
«Er ist in der Nähe von Hamburg in einem Pflegeheim gestorben. Aber das ist ja egal. Der hat Supersachen gemacht. Zum Beispiel Patientenkarteien.»
«Aha. Patientenkarteien.»
Auf seinem Gesicht las ich eine gewisse Irritation.
«Beispiel Arztbericht. Also Fakearztberichte, die Jäger sich ausgedacht hat. Die sind spitze, die krieg ich praktisch auswendig zusammen.»
«Na ja, dann.»
«Also. Vorgeschichte: Der Patient ist seit seiner frühesten Kindheit labilvegetativ aversiert, dadurch stark eingeschränkte Mimik, Gesichtsatrophie, während der Pubertät zeitweise Entwicklung zum Pneumatiker mit leichtem Dauertremor. Befund: Abdomen am Wetzbauch, Fraktur der linken Schlüsselbeinpfanne, doppelseitiges Ödem im linken Lungenlappen, übergreifend, progressive Raumforderung im Unterbauch. Trüffelleib, dadurch bedingt expansive Grünbäuchigkeit, neigt zum Wundsitzen, Harnstottern, der das Tragen eines Urindämpfers erforderlich macht, einseitige Spermenkranzbelastung, Apostelwahn. Beschreibung: Gesicht ist pfannenförmig konzentrisch, Kasperkopf, Gummihaut, Stirn oft zurückgewendet (Auflieger), Pressbrüste, Kürbishals, Tomatengesäß. Verminderte Kausalaffekte, abnormer Zungenbiss, temporär Mundklemme erforderlich, Sauermann’scher Konflikt mit expansiver Fischatmung, dabei löffelartige Haltung der Lippen. Allgemeine Konstitution: mittel, schlecht, schwach, dick. Therapie, auch nachts: Einmalgabe Borax 50 mg, Dreimonatsdepotspritze Lubdosan, Milzspülungen, Heidelberger Wannenbäder, Stockhiebe nach Dr. Wassermann.»
«Aha. Aber was hat das denn mit dem Milieufilm zu tun?»
«Heino Jäger hat in Hamburg gelebt und gearbeitet. Der Film könnte sich mit seinem Leben beschäftigen, er gilt schließlich als einer der wichtigsten deutschen Komiker, ein unentdecktes Genie.»
«Sie sagen es. Unentdeckt. Den kennen zu wenige.»
«Dann wird’s höchste Zeit, dass sich das ändert.»
Immer schön bremsen und Schwung rausnehmen. Ich wurde immer bockiger. Sollte Block mich doch für einen Schwachkopf halten. Ich wartete darauf, dass er die Notklingel betätigt, um mich von den Bodyguards rausschmeißen zu lassen. Nach einer weiteren Viertelstunde gab er auf.
«Na gut, dann würd ich mal sagen, für heute soll’s gut sein. Denken Sie trotzdem mal drüber nach. Ich lass Ihnen auf jeden Fall mal den Vertragsentwurf fürs Treatment zukommen.»
Und Abmarsch. Einmal Berlin und zurück zum Nulltarif, was für eine beschissene Tagesbilanz. Ich erwischte zum Glück den hinteren, mit Bordrestaurant ausgestatteten Teil des ICE. Jetzt ein Bier! Und gleich noch eins! Herrlich. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Am gegenüberliegenden Vierertisch schnitt eine außerordentlich aparte Frau (Typ Lady) ihren beiden kleinen, wohlerzogenen Kindern das Essen klein. Einen Haps für Mama, einen Haps für Papa, einen Haps für Oma, einen Haps für Opa. Brav wie die Vögelchen sperrten die Kleinen ihre Münder auf, wenn sie an der Reihe waren. Kein Futterneid, kein Kleckern, kein Quengeln, kein nichts. Gut erzogen = leicht erziehbar. Da beißt sich die Supernanny die Zähne aus, und das Bootcamp bleibt denen auch erspart. Am Tisch dahinter saß ein Rentnerpaar, das einen mit dem Leben ausgesöhnten Eindruck machte. Die Frau trank Rot-, der Mann Weißwein. Er hatte die Eigenart, am Glas nur zu nippen und die winzigen Schlucke unendlich langsam auf der Zunge zergehen zu lassen. Ganze Schnauze voll Wein. Das jedenfalls pflegte die Zunge bei der Weinverkostung für gewöhnlich zu sagen. Von Wein verstand Onkel Friedrich nämlich auch etwas. Zunge ist Zunge ist Zunge. Die Frau schaute ihren Mann liebevoll an, dann blickte sie aus dem Fenster. Dann wieder zum Mann. Das Leben war halbwegs gut gelaufen, und jetzt konnten sie einfach mal nur so sitzen. Auch der Kellner fügte sich ins friedliche und freundliche Bild. Er sah aus, als wäre er schon über siebzig. Alles an ihm war sympathisch nachlässig, die ausgebeulte Knitterhose, das zerknitterte Beulenjackett mit Schuppennestern auf beiden Schultern, die wirren, gelbstichigen Haare, sogar das Hemd hing aus der Hose. Toll. Er brauchte niemandem mehr etwas zu beweisen und freute sich, so kurz vor der Pensionierung, sicher schon auf die Subventionsmilliarden, die bald auf sein Privatkonto fließen würden. Vielleicht war es sein Lebenstraum, als Weltraumtourist den Mars oder wenigstens den Mond zu bereisen. Meinen Segen hatte er.
Immer öfter halten Kreationen von fernsehbekannten Starköchen Einzug in die Bahnspeisekarte: «Dialog von Kresseschaum-Salbeisüppchen und Kochschinkentatar». «Monolog vom Kotelett» wäre mir lieber gewesen, haha. Gleich aufschreiben.
«Guten Tag. Ein großes Bier.»
«Pils haben wir nur null drei.»
«Ach so, ja, stimmt. Na, dann eben Weizen.»
«Danke.»
«Na dann, fein, danke auch.»
Ich nahm mir vor, nachher ein paar ganz einfache Sachen zu erledigen, die gestern liegengeblieben waren: Uhr am Computer richtig stellen, Kopf der elektrischen Zahnbürste austauschen, welken Blumenstrauß entsorgen. Die Nerven hatten jetzt Feierabend. Und der Kopf. Und Bauch, Beine, Po und überhaupt alles. War das alles wieder ein Stress gewesen. Der ganze Tag ein einziger Stressor. In Stressor klingt schon Aggressor mit. Stress, Stress, Stress. Das Wort gibt es auch noch nicht ewig, Großmutter hat es jedenfalls in ihrem ganzen Leben nicht einmal benutzt. Scheiße kommt in ihrem Wortschatz auch nicht vor. Na ja, nicht ganz, ein einziges Mal habe ich es sie vor sich hin murmeln hören, im Zusammenhang mit dem engen, dunklen, ungünstig geschnittenen Käferhaus: «Scheißhaus». Ich habe mal gelesen, «Stress» sei eine Kreation amerikanischer Wissenschaftler, die, stolz auf ihre Entdeckung, nichts Besseres zu tun hatten, als unverzüglich auch den Rest der Welt mit der einsilbigen Worthülse zu überziehen. Cola. Star Wars. Elvis. Levis. Stress. Unter extremen Stresssituationen konfiguriert sich das Gehirn bisweilen neu. Die Prozessoren werden dann in Reihe geschaltet und erlauben eine rasend schnelle, sequenzielle Informationsverarbeitung. Dann produziert der Kopf statt schwach angereicherter Gedanken intelligente Algorithmen. Makroskopische Skalen, Inflation. So was in der Art. Ein Quatsch schon wieder.
Das Bier schmeckte herrlich. So gut hatte mir Bier noch nie geschmeckt, aber das kommt einem bei Bier öfter mal so vor. Jedoch nur bei Bier. Geheimnis Bier. Herrlich, diese Anflutung, die leider viel zu kurze Phase zwischen Nüchternheit und Rausch, in der die quälende, gestochen scharfe Wahrnehmung der Realität mit jedem Glas ungenauer wird. Amerikanische Wissenschaftler könnten zur Abwechslung mal was Sinnvolles erfinden, eine Pille etwa, mit der sich dieser erste Teil des Rausches stabilisieren ließe. Man wäre nicht mehr gezwungen, weiterzusaufen, sondern wirft eine Tablette ein, und alles bliebe so schön, wie es gerade ist. Den ganzen Tag leicht angesoffen, was für eine herrliche Vorstellung. Abgesehen davon, dass exzessives Trinken in chronischen Depressionen endet. Schwergewicht und Schwergemüt Ernest Hemingway legte deshalb immer wieder längere Trinkpausen ein. Es ging ihm dann zwar deutlich besser, aber dafür langweilte er sich entsetzlich. Den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Langeweile ist verdünnter Schmerz (Ernst Jünger). Fortan pendelte Hemingways Leben zwischen Langeweile und Depression hin und her, unschlüssig, wie es sich entscheiden sollte. Das Ende kennt man ja. Herrlich, der Glimmer. Ich döste vor mich hin, und der Tag verlor seinen Schrecken, er löste sich gewissermaßen in nichts auf.
Dieser angenehme Zustand wurde jäh durch einen neuen Gast beendet: Eine junge Frau pflanzte sich an den letzten freien Vierertisch. In meiner Blickrichtung. Eine schwitzende Dicke mit Rucksack, geflochtener Haut und Tina-Turner-Kartoffelstampfern (Tramperin) wäre ja in Ordnung gewesen, aber diese Schönheit mit dem Nimbus einer Diva vergangener Epochen war nicht in Ordnung. Diva vergangener Epochen, das war nämlich mein erster Gedanke. Ihr ausgeprägter Mund war fast etwas zu groß für das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den mandelförmigen blaugrauen Augen. Der lange Hals! Die schönen langen Haare! Da war irgendwas Slawisches mit drin. Ganz dezent. Viertel oder Achtel oder Achteltriole oder Sechzehntel. Eine außergewöhnlich schöne junge Frau und, da mir nichts Originelleres einfiel: speziell. Nicht die durchschnittliche, geheimnislose Schönheit ausgelutschter Supermodels, sondern die seltsam entrückte Aura eines ausgestorbenen Typus: Das theatralisch ausdrucksvolle Gesicht einer Unberührbaren, einer einst weltberühmten Schauspielerin, die sich nach ihrer großen Zeit weder fotografieren ließ noch in der Öffentlichkeit zeigte, eine, die bereits zu Lebzeiten den eigenen Mythos nährte, aus der Zeit gefallen, in den Dreißigern konserviert.
Entrückte Stammeleien eines Honks. Ich war auch in irgendwas konserviert. Na ja. Der Alkohol. Die Erschöpfung. Aber schön war sie, wirklich wunderschön. Sie schaute in die Karte. Es war doch alles gerade ganz gut gewesen. So eine Scheiße. Die sollte wieder abhauen. Kaum kommt jemand wie sie, ist kein Platz mehr für mich. Vielleicht findet sie ja nichts zu fressen und geht gleich wieder. Ich schaute zu den alten Leuten hinüber und dann aus dem Fenster und versuchte, mich wieder auf den Bierglimmer zu konzentrieren. Klappte nicht. Das gewohnte Programm ratterte los: Jede schöne Frau konfrontiert mich sofort mit meinen sämtlichen Unzulänglichkeiten. Die hatte bestimmt auch eine Topfigur, ist ja immer so. Ich hatte das Gefühl, sie anzustarren wie ein idiotisches Tier. Mein Gott, wer oder was war ich eigentlich? Seltsames graubraunes, behindertes Leben, gezeichnet von den Strapazen vieler grimmiger Tage. Plötzlich blickte sie auf und schaute mir direkt ins Gesicht. Erwischt! Als ob ich es geahnt hätte. Noch bevor ich meinen Blick abwenden konnte, lächelte sie. Es war ein offenes, herzliches Lächeln, ohne eine Spur von Geringschätzung, Tadel oder Spott. Meine Reaktion: Ich zuckte mit den Schultern. Tatsächlich. Achselzucken. Was sollte das? Was wollte ich damit ausdrücken? Entschuldigung? Hallo? Ich kann grad nicht? Ein Wahnsinn. Um die Situation halbwegs zu retten, versuchte ich zurückzulächeln. Da ich keine Routine in freundlichen Gesichtern habe, verdrehten, verrenkten und verstauchten sich alle zweiundvierzig für die Mimik verantwortlichen Muskeln, mein Mund blieb in halber Bewegung stecken und erstarrte zur Fratze. Zum Glück kam der Ober, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Die Gelegenheit, endlich pinkeln zu gehen. Danach würde ich mir ein freies Abteil suchen und mich darin bis Hamburg verschanzen. Als ich mich aus der Bank schraubte, wurde mir auch noch schwindlig. Obwohl ich starr geradeaus guckend an ihrem Platz vorbeiging, registrierte ich aus den Augenwinkeln, dass mich ihr Blick verfolgte. Irgendwann reicht’s auch mal. Höfliche Menschen schauen weg, wenn sich jemand schämt oder unwohl fühlt. Metzgergemüt. Ich blieb bestimmt fünf Minuten auf der Bordtoilette, bis ich mich halbwegs wieder gefangen hatte. Mir fiel ein, dass ich noch nicht gezahlt hatte. So eine Scheiße. Als ich auf meinen Platz zurückging, blieb mein Blick kurz an ihrem Hinterkopf hängen. Auch sehr schön. Schöne Menschen sind von hinten oft noch schöner als von vorn. Hässliche sind von allen Seiten gleich hässlich und haben immer platte Hinterköpfe, eine Laune der Natur. Ich schloss die Augen und versuchte, mich auf die kümmerlichen Reste des Alkohols zu konzentrieren. Ach Gott, ach Gott.
Mit einem Mal roch es gut. Ich öffnete die Augen und wäre fast ohnmächtig geworden. Die Frau stand vor mir und schaute mich freundlich an.
«Entschuldigung, ich hab die ganze Zeit schon überlegt, bist du Markus?»
«Äh. Ja, genau.»
Wer war das? Was wollte die? Woher kannte die mich? «Ich war mir nicht sicher, aber als du eben rausgegangen bist, hab ich dich an deinem Gang erkannt.»
«Ach so. Ja.»
Alles klar. Das Einzige, woran man sich noch Jahre später erinnert, ist mein affenartiger Gang. Der seltsam asynchron pendelnde Oberkörper, der ganz woandershin will als die untere Hälfte. Die Schultern steif, eine ewige Fermate, danach kommt irgendwas, und die Beine haben noch einmal einen ganz anderen Rhythmus, Triole gegen Synkope gegen Quintole. Als ob ich mir als Kind einen Splitter in den Fuß getreten hätte, der seither auf einen bestimmten Nerv drückt und mich in diese Watschelbewegung zwingt. Sabine Dausel hatte mal gesagt, ich ginge «wie ein Mülleimer», was auch immer das heißen mochte.
«Du kennst mich wahrscheinlich nicht mehr. Ich bin Janne. Marienkäferweg 24a, das muss jetzt ungefähr zehn Jahre her sein, erinnerst du dich?»
Janne. Das sollte Janne sein? Die nervige kleine Dickmadam, der ich mal ein halbes Jahr Englischnachhilfeunterricht gegeben hatte? Eine solche Verwandlung hatte ich überhaupt noch nie gesehen. Vom Saulus zum Paulus.
«Ich setz mich mal.»
«Ach so, jaja.»
«Deine Großeltern wohnen doch auch noch in der Käfersiedlung. Meine Eltern auch. Und mein älterer Bruder, Gunter, kannst du dich noch erinnern?»
«Gunter, der hatte sich doch auf ewig verpflichtet?»
«Zwölf Jahre. Während der Zeit hat er Betriebswirtschaft studiert, und jetzt ist er Unternehmensberater. Er tut jedenfalls so. Er ist seit fünf Jahren verheiratet und hat sich tatsächlich in der Käfersiedlung ein Haus gekauft.»
«Ach herrjemine.»
Plötzlich änderte sich ihr Blick. Forschend, ernst, gläsern, beschlagen.
«Ich bin auch erst seit ein paar Monaten wieder in Deutschland.»
«Ach. Warst du im Ausland?»
Was für eine Frage. Köstlich!
«Die Bundesrepublik hat mich freigekauft.»
«Hä, wie freigekauft? Versteh ich nicht.»
Was sollte das denn jetzt? Wollte sie mir etwas Privates anvertrauen, nach gerade mal zwei Minuten? Vertraulich und ungefragt. So ein uncooler Style passte doch gar nicht zu ihr. Und überhaupt, Geiseln! Freigekauft. Deutsche Geiseln sind so schlimm. Blockieren wochenlang die Hauptberichterstattung der Nachrichtensendungen und sind nach ihrer millionenteuren Auslösung (Vater Staat!) auch noch undankbar oder entpuppen sich als langweilige Trantüten oder beides.
«Bei mir ist einiges schiefgelaufen. Ich war für längere Zeit in Bolivien, und eine Woche vor meinem Rückflug haben sie mir alles geklaut. Geld, Handy, alles außer dem Pass, den hatte ich im Hotel gelassen. Und dann hab ich mich überreden lassen.»
Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.
«Ja. Also überreden lassen. Wozu überreden lassen?»
«Hast du schon mal den Begriff Maulesel gehört?»
«Maulesel?»
«Oder Schlucker?»
«So nennt man Drogenkuriere.»
«Aha. Und darauf hast du dich eingelassen?»
«Ich wusste nicht mehr weiter. Und dann haben die mich am Flughafen gleich geschnappt mit einem halben Kilo Kokain im Bauch. Die haben einen Blick dafür. Ich war wohl aufgedunsen wie ein Hamster, der seine Jungen gefressen hat. Zu zwanzig Jahren bin ich verurteilt worden. Die Gefängnisse da sind das Härteste.»
«Ach. Ja?»
«Im Landesinneren war das, mitten im bolivianischen Urwald. Und ich die einzige Europäerin.»
Ich schaute verlegen weg. Hör doch auf, Mädchen.
«Von den Einheimischen wird das Gefängnis ‹Bananenknast› genannt. Nach einem halben Jahr sind schlagartig fast alle Gefangenen entlassen worden, also alle politischen, und das waren ja fast alles politische, wegen den Fünfzig-Jahr-Feiern der Revolution, die hat der Präsident zum Anlass genommen für einen Gnadenerlass.»
Präsident? Revolution? Fünfzig-Jahr-Feiern? Ich kannte mich in Bolivien nicht so aus.
«Ach ja.»
«Wir waren danach nur noch neun Gefangene, und von denen sind drei in andere Gefängnisse verlegt worden. Zwei sind gestorben, und die letzten drei eine nach der anderen entlassen worden. Am Ende war ich allein. Die einzige Gefangene.»
«Wie, ganz alleine? Ein ganzer Knast für eine Person?»
Sie beugte sich konspirativ vor und senkte ihre Stimme, wie jemand, dem es schwerfällt, über ein schreckliches Erlebnis zu sprechen. «Und einen Spitznamen haben sie mir auch gegeben.»
«Spitznamen? Was denn für einen Spitznamen?»
«Mama Bonute.»
«Mama Bonute? Wieso das denn?»
Sie begann zu glucksen und machte eine schwer zu deutende Handbewegung.
«Ich könnte wohl ewig so weitermachen!?»
Ach so, verarscht, wie originell. Sie hatte wohl gleich durchschaut, dass meine Gutgläubigkeit zuweilen an Geistesschwäche grenzt und man es mit mir machen kann. So richtig machen kann. Mir käme es niemals in den Sinn, jemanden, den ich seit zehn Jahren nicht gesehen habe, zur Begrüßung als Erstes zu verarschen. Auch niemanden, den ich fünf Jahre oder sieben Wochen oder vier Tage nicht gesehen hatte. Verarschung gehört einfach nicht zu meinem Programm. Ich bin so gottverdammt höflich, dass ich, wenn sich jemand neben mich auf eine Parkbank setzt, ich aber gerade gehen will, so lange, bis der andere nicht das Gefühl hat, ich ginge wegen ihm, sitzen bleibe. (Schachtelsatz zum Analysieren. Obertertia.) Egal. So gottverdammt höflich bin ich. Mama Bonute, eine Unverschämtheit.
«Tut mir leid, aber die Geschichte ist mir gerade eingefallen. Ich schwöre.»
«Im Moment ausgedacht, oder wie?»
«Ja. Ich musste das einfach bringen, ich hätte das nie wieder hingekriegt. Vorschlag: Ich schenk sie dir. Ab jetzt ist es deine Geschichte. Und ich geb einen aus.»
«Na gut. Ich nehm noch ein Bier.»
Sie bestellte zwei Weizen. Mit mir konnte man es machen, wirklich. Erst eine reinhauen und dann einen Schnaps ausgeben. Zum Glück hatte sich meine Befangenheit gelegt. Mama Bonute. Bananenknast. Maulesel. Vielleicht war sie ja lustig. Kommt bei Frauen leider nicht allzu häufig vor. Das galt es rauszufinden, jetzt war ich am Drücker:
«Mal was andres, fällt dir was zu Pfeifenrauchern ein?»
«Pfeifenraucher? Weiß nicht. Wie meinst du das denn?»
«Der innere Kern, verbindende Charakterzüge, Typologie.»
«Aha. Typologie.»
«Es gibt auf der ganzen Welt insgesamt und überhaupt nur ungefähr zehn verschiedene Typen. Bereinigt.»
«Kann sein, ich kenn jedenfalls keine Pfeifenraucher. Genauso wenig, wie ich Astronauten oder Klimaforscher kenne. Ich hab mal irgendwo gelesen, dass Pfeifenraucher viermal häufiger von ihren Frauen betrogen werden als Zigarettenraucher.»
«Kann gut sein. Ist sogar wahrscheinlich.»
«Arglose Genusstypen, die sich mehr für ihre kostspieligen Hobbys interessieren als für ihre Frau und deshalb nach Strich und Faden belogen, betrogen, hintergangen und ausgenommen werden wie die Weihnachtsgänse. Pfeifenraucher sagen Sachen wie: Neue Autos sind seelenlos. Nur Oldtimer haben Sexappeal!»
«Sprach’s und klopfte die Pfeifensammlung aus.»
«Wieso interessiert dich das überhaupt? Bist du Pfeifenraucher? Oder willst du einer werden?»
«Piffpaff, die Rübe brennt. Sag ich nicht.»
«Na gut, dann nicht. Also weiter: Pfeifenraucher fahren Autos mit Airbag-Maximalausstattung. Dreiundsechzig Airbags. Und sie benutzen Blockadewörter.»
«Was sind denn Blockadewörter?»
«Zum Beispiel Bedarfsklärung.»
«Was du alles weißt.»
«Ja, und jetzt mal Pfeifenraucherinnen. Das ist doch viel interessanter.»
«Kenn ich keine.»
«Ich aber. Ulrike Meinhof.»
«Die hat Pfeife geraucht?»
«Ja. Und die anderen RAF-Frauen auch.»
«Ach Quatsch.»
«Ja, natürlich. Ensslin, Mohnhaupt, Hogefeld, das war der einzige private Luxus, den die sich geleistet haben, praktisch das einzige Privateigentum überhaupt.»
«Alles klar. Ich sag nur Bananenknast.»
Sie lachte.
«Das mit der Meinhof stimmt übrigens. Das hatte mit der RAF aber nichts zu tun. Bei der RAF hat sie nicht mehr geraucht, nur vorher, als sie für die ‹Konkret› geschrieben hat.»
«Und wieso hat sie das Gerauche ausgerechnet bei der RAF aufgegeben? Gerade da doch.»
«Aber keine Pfeife. Nur noch Zigaretten.»
«Jaja. Als die RAF noch Baader-Meinhof-Bande hieß.»
«Und Sartre? Hat der nicht auch Pfeife geraucht?»
«Wie kommst du denn jetzt auf Sartre?»
«Weil der die Terroristen damals im Knast besucht hat. Wie beurteilst du eigentlich seine damalige Haltung?»
«Welche damalige Haltung? Wozu?»
«Das war doch ein Paradebeispiel freiwilliger Selbstverblendung, der Besuch in Stammheim. Oder interessiert dich das nicht? Bist du kein politischer Mensch?»
Da ging’s schon wieder los! Sie wollte mir auf den Zahn fühlen. Streberscheiße. Ekelhaft. Exstudentin, die mit angelesenem Quatschkram hausieren geht. Freiwillige Selbstverblendung, ich glaub, mich laust der Affe, ich glaub, mich streift ein Bus, ich glaub, mein Schwein pfeift.
«Was ist denn eigentlich los mit dir? Willst du schon wieder Streit anfangen? Ich könnte dir jetzt auch ein paar Sachen an den Kopf werfen, von denen du noch nie was gehört hast.»
Von der würde ich mir nicht nochmal die Butter vom Brot nehmen lassen. Jetzt nicht mehr, schön hin, schön her. Wer war ich denn? Eben.
«Ach ja. Tut mir leid. War nicht so gemeint. Das ist leider eine Schwäche von mir. Schlechte Angewohnheit, ist in gewissen Szenekreisen gang und gäbe, hat wohl abgefärbt.»
«Ich bin aber kein Szenekreis. Mich strengt so was einfach nur an.»
«Der Lungenzug ist abgefahren.»
«Was?»
«Fiel mir gerade ein. Wegen Pfeifenrauchern. Hab ich mal gehört. Ich glaub, das war der Titel einer Fernsehreportage. Vielleicht ist dir damit geholfen.»
«Na, mal sehen. Jetzt was Einfaches: Musicalfans.»
«Schnäppchenjäger, Sparfüchse. Betanken ihre Autos an Billigtankstellen in der Pampa und machen die Reservekanister auch gleich noch mit voll. Durchforsten morgens als Erstes die Tagespresse nach günstigen Telefonvorwahlen. Und das ganze Geld, das sie sparen, investieren sie in neue Tickets. Spielen im Winter Dart und boulen im Sommer.»
«Du hast ja vielleicht grausame Vorurteile.»
«Wenn man immer nur zurückguckt, ist irgendwann nichts mehr da.»
Der war gut. Jetzt musste ich auch lachen.
«Wo hast du den denn her?»
«Weiß ich auch nicht mehr, irgendwo aufgeschnappt.»
«Sehr gut.»
«Weißt du eigentlich, warum der deutsche Fußball international nicht mehr konkurrenzfähig ist?»
«Nein, warum?»
«Weil die deutschen Profikicker aus dem Stand nur 55 Zentimeter in die Höhe springen können, während ein Durchschnittssportler schon 50 Zentimeter schafft, Spitzensportler anderer Disziplinen dagegen 70 bis 80 Zentimeter. Mehr braucht man doch wohl nicht zu sagen.»
«Das hast du dir bestimmt gerade wieder ausgedacht. Ich glaub dir kein Wort.»
«Du, wir sind gleich am Hauptbahnhof.»
Ach, schon? Schade. Dann doch schade.
«Du musst hier bestimmt raus.»
«So seh ich wohl aus. Ich wohn in einem so langweiligen Stadtteil, dass sich auf dem Weg von der U-Bahn zu meiner Wohnung an der Kleidung Spinnweben bilden. Du wohnst bestimmt in Ottensen oder Altona.»
«So ungefähr. Kannst du mir nicht mal deine Telefonnummer geben?»
Ich kritzelte meine Nummer auf den Reiseplan. Wieso gab sie mir nicht auch ihre Nummer? Ich traute mich natürlich nicht, sie danach zu fragen. Stattdessen:
«Aber nicht anrufen. Ich ruf dich auch nicht an.»
Cooler Spruch. Sie sagte nichts und grinste. Wohlwollend. Ich schrumpfte wieder auf Normalmaß.
«Na ja, dann grüß mir deinen Bruder.»
Die natürliche Distanz zwischen uns war endgültig wiederhergestellt.
«Bis bald, Markus.»
Sie stand auf, legte ihre Hand auf meine Schulter und küsste mich auf die Wange. Das war schön. Wahrscheinlich war es nur deshalb so entspannt und leicht gewesen, weil die Kluft zwischen uns so groß war. Ich machte mir zum Glück nichts vor, und sie wusste sowieso Bescheid. Als ich auf dem Bahnsteig an ihrem Fenster vorbeiging, traute ich mich, ihr einen Blick zuzuwerfen. Sie winkte und machte ein freundliches Gesicht.
Ich stieg eine Station früher aus, holte mir beim Asia-Imbiss S4 (Thunfisch japanische Art) und setzte mich in den Sandpark. Menschenleer, bis auf zwei Omis, die unter der wohlwollenden Aufsicht der Schachfiguren ein munteres Schwätzchen hielten. Über was die wohl immer so sprachen? «Und dann habe ich dem Oheim aber eine so was von geharnischte Epistel geschrieben!» Recht so, schlafen könnt ihr noch genug! Der Holzpyjama bleibt noch eine Weile im Schrank hängen, und der Sensenmann hat bis auf weiteres Hausverbot.
Der Thunfisch schmeckte für Imbissfraß sensationell. Die benutzen immer frischen Koriander. Was das ausmacht! Mit frischen Kräutern kann man sich den Einsatz von Geschmacksverstärkern sparen, und die Salzkeule sowieso. Nach einer Weile wurde ich müde und schlurfte nach Haus. Manchmal tapert man, manchmal watschelt man, manchmal stolziert man, und heute schlurfte ich eben. Es ging mir zur Abwechslung mal ganz gut. Das musste fürs Erste reichen.