Haus Kolibri

Um Viertel nach drei halten zwei marode VW-Busse vor der Nougathöhle. Ungefähr ein Dutzend Jugendliche und drei Erwachsene steigen aus, die Erwachsenen helfen den Jugendlichen dabei. Die Jugendlichen sehen ganz komisch aus, das ist selbst durch die verregneten Scheiben deutlich zu erkennen. Im Stotterschritt und Entenmarsch tapern sie ins Haus, Pastor Schmidt steht an der Tür des Gemeinschaftsraums und begrüßt jeden Einzelnen überschwänglich, was denen aber scheinbar gar nicht so recht ist. Manche verweigern ihm den Handschlag, ein Mädchen läuft sofort aufs Klo, ein paar schneiden Grimassen, und einer spuckt sogar auf den Boden. Von nahem sehen die Jugendlichen nochmal komischer aus. Haus Kolibri ist offenbar eine Klinik oder ein Heim. Die Betreuer führen die Behinderten an die Tische, es sind nämlich Behinderte. Eines der beiden Mädchen, gekleidet wie ein formloses, gallertartiges Etwas, weigert sich. Sie bleibt an der Tür stehen und schaltet im Sekundenrhythmus den Lichtschalter an und aus, jeden Knips begleitet sie mit einem hohen, spitzen Schrei. Das nervt, und peinlich ist es auch. Ein Betreuer redet geduldig auf sie ein, sie soll sich doch zu den anderen setzen. Nix. Ein, aus, ein, aus, ein, aus, da helfen weder Geld noch gute Worte. Er zieht an ihrem Gallertärmel, woraufhin das Mädchen nach ihm tritt und davonläuft, der Betreuer hinterher, Türen knallen, dann verschwinden sie hinter einem dichten Nieselvorhang. Mein Gefühl sagt mir, dass das dauern kann. Fast alle sind nicht nur körperlich, sondern auch geistig behindert. Einer, er ist bestimmt schon zwanzig, hat einen riesigen Eierwasserkopf, gegen den er fortwährend mit seiner flachen Hand schlägt, ein anderer beißt sich in seinem Daumenballen fest. Bei den Mongoloiden kann man überhaupt nicht sagen, ob sie nun fünfzehn oder fünfundzwanzig sind, die Behinderung hat ihr Alter unkenntlich gemacht. Das andere Mädchen trägt eine unförmige Hose, die mit irgendwas gepolstert ist, wahrscheinlich einer Windel. Wohl einer der Gründe dafür, dass es zu müffeln beginnt. Die Behinderten scheinen sich genauso unwohl zu fühlen wie wir. Was um Himmels willen soll das? Na ja, schon klar, Nichtbehinderte und Behinderte machen gemeinsam etwas und tun dabei so, als wäre das die normalste Sache der Welt, was es natürlich nicht ist. Edam und Steiß haben nach Absprache mit den Behindertenbetreuern ein Programm vorbereitet. Geschicklichkeits-, Gedächtnis-, Wahrnehmungs-, Koordinations-, Schreib- und Vertrauensspiele fallen weg; eigentlich alle Spiele fallen weg. Übrig bleiben Fressspiele. Negerkusswettessen. Die Behinderten sind offenkundig noch ausgehungerter als wir und gewinnen. Ein Mongo hört gar nicht mehr auf, sich grunzend die Negerküsse reinzustopfen. Wieso nimmt sie ihm niemand weg. Wir haben doch eh nur so wenig (343 Mark). Als er endlich fertig ist, trommelt er mit seinen stummeligen, wie scheuermittelverätzten Händen auf der Tischplatte. Ein Betreuer redet beruhigend auf ihn ein und wischt ihm den Sabber vom Mund. Der Mongo schnalzt und seufzt und stöhnt, spuckt auf die Tischplatte und moddert mit seinen knotigen Fingern in der trüben Flüssigkeit herum. Niemand sagt oder macht etwas. Im nächsten Spiel stehen Leibniz-Butterkekse im Mittelpunkt: Wir müssen jeweils fünf der staubtrockenen Dinger in uns hineinstopfen, ohne etwas zu trinken. Jeder einzelne Keks hat zweiundfünfzig Zähne, Widerhaken, die sich in der Speiseröhre verhaken. Sieger ist, wer als Erster pfeifen kann. Die Behinderten scheinen nicht genau zu wissen, wie Pfeifen geht, und werden sauer, ohne zu wissen, warum.

Die Erwachsenen sitzen an ihren Tischen und beäugen aus sicherem Abstand das Geschehen, sie haben Angst davor, in die Spiele mit eingebunden zu werden. Nach Negerkuss- und Keksspiel wird es noch trockener und staubiger, denn es folgt das Mehlspiel: Auf einen Tisch wird jeweils dieselbe Portion Mehl gelegt. Jeder Mitspieler muss mit dem Mund das Mehl in ein leeres Marmeladenglas einfüllen. Wer in einer Minute das meiste Mehl in das Glas füllen kann, hat gewonnen. Ich weiß mittlerweile nicht mehr, ob ich die Behinderten oder die Nichtbehinderten bedauernswerter finde. Dem Mongo ist die Speichelmodderei offenbar zu langweilig geworden, zeitlupenhaft gleitet er von seinem Stuhl und robbt, aufgestützt auf beide Ellenbogen, Richtung Erwachsenentische. Ich bin anscheinend der Einzige, der das bemerkt oder bemerken will. Spannend. Die Fressspiele sind vorbei, der dumme Peter verteilt Blasrohre, mit denen wir Papierkügelchen in einen Eimer schießen. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Plopp. Daneben. Schrecklich. Furchtbar. Der Mongo hat mittlerweile sein Ziel erreicht und bleibt vor den Fiedlers hocken: «Määääääh.» Gleich nochmal: «Määääääähh.» Fiedlers sind zu dick zum Fliehen. «Määäähh.» Frau Schmidt steht auf, streichelt dem Jungen beruhigend über den Kopf und sagt zu den Fiedlers: «Das ist ein Schaf.» Sie schaut sehr freundlich abwechselnd zu dem Jungen und dann zu den vor Schreck starren Fiedlers: «Ein Schaf. Das ist ein Schaf.» Endlich nimmt ein Betreuer den Jungen an der Hand und zerrt ihn unter lautem Gemähe wieder nach hinten. Plopp. Daneben. Plötzlich lautes Gebrüll: Das entlaufene Mädchen ist wieder da. Pitschnass steht sie mit ihrem ebenfalls pitschnassen Betreuer an der Tür und versucht sofort wieder, an den Lichtschalter zu kommen. Pastor Schmidt steht auf, weiß aber nicht, was er machen soll. Er weiß nur, dass das alles hier keine gute Idee war. Der Chefbehindertenbetreuer steht ebenfalls auf: «So, wir müssen dann mal wieder.»

Zum Abschied schneiden die Behinderten Fratzen. Wenn ich es richtig verstehe, sind sie froh, dass es endlich wieder nach Hause geht. Und ich bin froh, dass ich endlich wieder ins Zelt kann, Bukowski lesen. Plötzlich tun mir die Behinderten leid. Ich tu mir aber auch leid, und Pastor Schmidt und die Erwachsenen und überhaupt alle tun mir leid. Wieso ist das gerade eben so entsetzlich schief und krumm gelaufen, wenn wir doch eine christliche Gemeinschaft sind? Und wieso habe ich die ganze Zeit nur verkrampft auf meinem Stuhl gehockt und mir nichts mehr gewünscht, als dass die endlich wieder abhauen? Da kann doch was nicht stimmen mit mir. Meine Güte, die waren doch gerade mal drei Stunden bei uns, da hätte ich mir doch etwas Mühe geben können. Wenigstens ein freundliches Gesicht machen, was Nettes sagen, irgendwas, da hätte ich doch auch selber viel mehr von gehabt. Ach je, ich hab echt noch viel zu lernen.


Lasst uns froh und munter sein.

REISE, REISE!

Peter Edam: Was macht einen Tag zu einem guten Tag? Was macht beispielsweise diesen Mittwoch, den 10. August, den sechsten Tag unserer Freizeit, zu einem guten Tag? Zusammenfassung: Gott hat an jedem Tag etwas vor mit uns. Er will an uns etwas tun. Er will mit uns etwas tun. Wenn wir Gelegenheit hatten, anderen von Jesus zu erzählen, dann ist der Tag wertvoll. Der Tag ist umso besser, je mehr wir uns auf Gott einstellen. Wie kann ich mir am Morgen sicher sein, dass es ein guter Tag wird? Man sollte vermeiden zu sündigen. Gott kann alles.

Die Kackasitzung ergibt in etwa das gleiche Ergebnis wie gestern: zehn bis zwölf Zentimeter, zirka 100 Gramm. Dabei ist doch mindestens ein Pfund dazugekommen. Wie viel Prozent der festen Nahrung werden eigentlich zu Kot? 60 %? 50 %? 40 %? 25 %? Und der Rest? Wird der durch die Atemluft ausgeschieden, verwandelt er sich in Restwärme, löst er sich einfach auf? Keine Ahnung, wirklich nicht die geringste Ahnung. Ich weiß auch nicht, warum es Ebbe und Flut gibt und warum an dem einen Meer, am anderen aber nicht. Vergessen. Wann wer wo untergeht und was um was kreist und aus welchen Gründen. Kann schon sein, dass ich’s mal wusste, bestimmt sogar, jetzt aber eben nicht mehr. An manchen Tagen bringen mich meine Informationslücken schier um den Verstand. Das mit Ebbe und Flut ist in Wahrheit kackegal, braucht man eh nicht, und falls doch mal, steht’s im Lexikon. Was ich benötige, ist Spezialwissen, spezielle Thorsten-Bruhn-Informationen, ein nur für mich zugeschnittenes Wissenspaket. Manchmal bete ich zum lieben Gott, dass er mir die entscheidenden Fakten quasi über Nacht zukommen lässt. Schon klar, warum die meisten Wissenschaftler fromm sind: Sie wissen tausendmal mehr als ich oder Pastor Schmidt, aber selbst wenn sie zwanzigtausendmal mehr wüssten, brächte ihnen dieser Informationsvorsprung nichts, jedenfalls nichts Entscheidendes. Da muss man doch kirre werden. Gegenbeispiel Oma: Sie weiß praktisch nichts. Nach der Volksschule hat sie gleich geheiratet und nie einen Beruf erlernt. Opa ist früh gestorben, und seither ist Oma mit nur wenigen Basisinformationen durchs Leben gekommen: «Vertrau auf Gott, verlier nie den Mut, hab Sonne im Herzen, und alles wird gut.» Dieser Spruch hängt neben einer Jesusschnitzerei über ihrem Bett. Echt wenig, aber es hat dicke gereicht. Eingebrocktes schmeckt am besten, wenn man vorher das Gebiss rausnimmt. Je weniger man weiß, desto glücklicher ist man.

Noch Fragen? Manchmal wünschte ich, ich wäre wie Oma. Bin ich aber nicht. Ich bin auch nicht wie meine Mutter oder mein Vater oder meine Schwester oder mein Opaomatanteonkel. Eigentlich bin ich wie niemand, aber das finde ich nicht gut. Im Gegenteil, ich wäre gern wie irgendwer, damit ich mich nicht immer so allein auf der Welt fühle. Ach, scheißegal, vielleicht ergibt es sich ja noch von selbst. Voraussetzung für ALLES ist sowieso, dass ich bald mal wachse. Früher wurden Kinder, wenn sie nicht wuchsen, nachts in ein Streckbett gespannt und Millimeter für Millimeter auseinandergezogen. Oder sie wurden mit Lebertran aufgepumpt. Oder mit Ovomaltine gefoltert. Oder mit Trockenobst gemästet. Oder mit Rotbäckchen unter Wasser gesetzt. Oder mit Sauerkrautsaft verdünnt. Angeblich.