Panzerflak mit Zwillingskanone
Kling, Glöckchen, klingelingeling …
REISE, REISE!
Thema der Morgenandacht von Peter Edam: Wann ist ein Tag ein verlorener und wann ein guter Tag? Antwort: An einem guten Tag hat Gott eine Rolle gespielt.
Mittagessen: Gemüseeintopf mit Klößchen. Angeblich hat Frau Thieß die ganze Nacht in der Küche gestanden und jedes einzelne Klößchen handgedreht. Ich weiß zwar nicht, wie das genau gehen soll, Klöße von Hand drehen, aber wird schon stimmen. Scheiß fünf Freunde, wenn die eines nie in ihrem Leben kosten werden, dann sind es handgedrehte Klößchen. Detlef interessiert das alles nicht. Er salzt und salzt und salzt, wie immer, ohne vorher zu kosten. Eine unglaubliche Respektlosigkeit Frau Thieß gegenüber. Das geht jetzt aber echt nicht mehr lange gut. Bei den drei Mongos hat sich die Unart etabliert, auch während der Mahlzeiten weiterzukloppen. Mich wundert, dass die Chefs (Schmidt, Steiß, Edam) kein Machtwort sprechen. Von Harald geht kaum noch Gefahr aus. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass er endlich zuschlägt, aber von ihm kommt immer nur: «Weißt du noch, wann dir mal jemand das letzte Mal so richtig in den Arsch reingekackt hat?» Hunde, die bellen, beißen nicht.
Nachmittags steht ein Fußballturnier auf dem Programm. Heiko ist Stürmer und haut mir (Torwart) insgesamt sechs Dinger rein. Tiedemann muss Verteidiger machen, weil er so grottenschlecht spielt, er sieht ganz komisch aus in Turnhosen, ohne Pfeffer-und-Salz-Mantel verliert er mindestens fünfzig Prozent seiner Aura. Weil er so schlecht spielt, foult er außerdem dauernd.
Abendandacht (Pastor Schmidt): Der Unterschied zwischen Freund und Kumpel. Kann Jesus auch unser Kumpel sein? Antwort: Jein.
Ich verstehe nicht, wie man eine Sommerfreizeit ausschließlich mit Skatgekloppe verbringen kann. Um die Mongos zu ärgern, unterbreite ich meiner Clique einen Vorschlag: Wir setzen uns direkt neben sie und spielen Quartett, extralaut und nach den Beklopptenregeln. Sie sind einverstanden. Endlich habe ich auch mal eine gute Idee. Roland und ich spielen die erste Runde. Wir diskutieren die Wahl des Spiels, in Brülllautstärke:
ALSO ENTWEDER GETUNTE AUTOS ODER PANZER.
DANN PANZER.
Und in dem Stil bölken wir:
WAS IST EIGENTLICH MIT DER BEWAFFNUNG, ZÄHLT DIE AUCH?
JA. NATÜRLICH.
UND WAS IST DAS BESTE?
DAS SCHLECHTESTE IST EIN MG, UND DAS BESTE IST JA WOHL RAKETENMEHRFACHWERFER.
VERLIERER FÄNGT AN. DU KOMMST RAUS.
REICHWEITE 500 KM.
483 KM. HIER.
Die Mongos werfen uns böse Blicke zu. Wir tun so, als würden wir es nicht bemerken.
GEWICHT 45 TONNEN.
22,7 TONNEN.
GESCHWINDIGKEIT 100 KM.
72 KM.
LÄNGE 9,7 METER.
7,3 METER.
LÄUFT JA GANZ GUT. WEITER GEHT’S: REICHWEITE 500 KM.
HAB ICH AUCH.
DANN LÄNGE 9,7 METER.
EIGENTLICH WÄRE ICH JETZT JA MAL DRAN.
WIESO?
WIR KÖNNEN JA MACHEN, WENN WIR DAS GLEICHE HABEN, KOMMT DER ZWEITE.
NEE, DAS HABEN WIR NOCH NIE SO GESPIELT.
DANN EBEN AB JETZT.
Der Namenlose wirft uns giftige Blicke zu und fragt: «Muss das so?»
«Wie, muss das so, was meinst du?»
«Könnt ihr nicht ein bisschen leiser machen?»
«Wieso, was ist denn?»
«Ich frag ja nur, ob ihr euch die ganze Zeit so anbrüllen müsst. Das ist doch Quatsch.»
«Jaja.»
Er wendet sich wieder seinen Skatbrüdern zu. Weiter geht’s:
250 PS.
240 PS.
DAS IST ’NE GURKE. HIER, LÄNGE 9,8 METER.
9,2 METER. KOMM ICH VIELLEICHT AUCH NOCHMAL DRAN?
WIESO, WAR DOCH SCHON GANZ DICHT. 155-MM-GESCHOSS, 1 FLAK MG.
PANZERFLAK MIT 4 BODEN-LUFT-RAKETEN. GIB HER.
NEE, ICH BIN BESSER.
STIMMT DOCH GAR NICHT. BODEN-LUFT-RAKETEN SIND JA WOHL BESSER ALS GESCHÜTZE!
ICH HAB ABER GESCHÜTZ UND FLAK MG. LOS, GIB SCHON HER.
Der Namenlose lässt die Karten fallen und blökt mit sich überschlagender Stimme:
«JETZT REICHT’S ABER ECHT. SAG MAL, MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS?»
Roland (seine Stimmbruchstimme nachäffend): MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS, MERKT IHR EIGENTLICH NOCH WAS? KÜMMER DICH DOCH UM DEINEN EIGENEN SCHEISS. JEDER KANN DOCH WOHL SO LAUT, WIE ER WILL!
«ABER NICHT HIER. DANN GEHT DOCH INS ZELT ODER NACH DRAUSSEN, DA KÖNNT IHR BRÜLLEN, WIE IHR WOLLT.»
«DANN SAG DOCH DEM PASTOR BESCHEID. AUSSERDEM SIND WIR SOWIESO FERTIG MIT DEM IDIOTENSPIEL.»
Danach wieder zu den Weibern. Alles genau wie gestern, Roland und Heiko punkten, Tiedemann raucht und fühlt sich wohl, und ich gerate mehr und mehr ins Hintertreffen. Ich überlege, die Geschichte von gestern («Fick misch hädda») zum Besten zu geben und mit meinem genialen Satz (Mundartliches – Sex, Jodeln – Philosophie) zu krönen, entscheide mich nach sorgfältiger Abwägung jedoch dagegen:
1. Es ist seltsam, wenn einer zwei Abende lang durchgehend schweigt und sich dann mit einer Supergeschichte in den Vordergrund spielen will.
2. Was habe ich nachts am Strand verloren?
3. Es ist unsympathisch, auf Kosten anderer zu punkten (außerdem sind die Wöllmanns sehr nett).
Heiko gibt eine langweilige Fußballgeschichte zum Besten: Wie sich zwei Jugendtrainer mal fast geprügelt hätten, haha. Dabei berühren seine Hände beiläufig die von Susanne. Meine schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen. Jetzt ist alles nur noch eine Frage der Zeit. Schrecklich. Andererseits: War ja eh klar. Wenn nicht Heiko, wer dann? Wenigstens ist der Bumskaiser Dieter Dorsch abgemeldet.
Leise rieselt der Schnee.
REISE, REISE!
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich doch nochmal zu Hause anrufen sollte, damit mir meine Mutter hinterher keinen Strick aus der Sache drehen kann, zusätzlich zu den vielen anderen Stricken, die in Vorbereitung sind. Besser, ich erledige es gleich nach dem Frühstück, dann hab ich’s hinter mir.
Sie geht nach dem vierten Läuten ran. Statt Vorwürfen endloses Gesabbel. Wie immer. Sie interessiert sich nicht für mich, sie interessiert sich einfach kein Fitzelchen für mich. Nach ein paar Standardfragen (Wie geht’s? Wetter? Hast du Alkohol getrunken?) geht es los. Sie redet und redet. Sie redet und redet und redet. Und redet und redet und redet und redet und hört einfach nicht mehr auf. Irgendwann, so mein frommer Wunsch, hat sie alles erzählt, irgendwann muss sie einfach alles erzählt haben. Mutter: auserzählt. Dann ist gesagt, was es zu sagen gab. Alle Dinge wurden beim Namen genannt, jedes Detail ist erörtert, das gesamte Quasselwasser, das sie im Laufe ihres Lebens getrunken hat, ausgepisst. Ich stelle mir vor, dass es dafür ein konkretes Datum gibt. Den 3. 7. 1979 beispielsweise. Es könnte aber auch ein anderer Tag sein, der 11. 12. 1978 oder der 7. 9. 1978. Je eher, desto besser. Also: Ab dem 7. 9. 1978 gibt es nichts mehr zu sagen, dann kehrt Frieden ein bei uns zu Hause und in der Welt. Mutter sitzt wie Oma ganz normal auf dem Sofa und liest ein gutes Buch oder schaut vor dem Zubettgehen noch ein wenig fern.
Das muss das Paradies sein.
Noch aber ist es nicht so weit, noch gibt es sehr viel zu erzählen. Nach einer halben Stunde rette ich mich unter dem Vorwand, dass gleich Gottesdienst sei. Gottesdienst am Freitag, so ein Quatsch! Zum Glück hakt sie nicht nach, sondern entlässt mich.
«Gut, Thorsten, schön, dass du doch nochmal angerufen hast.»
«Ja, fand ich auch. Also bis in einer Woche dann.»
«Und du versprichst mir, dass du keinen Alkohol trinkst!»
«Jaja.»
«Thorsten?»
«Nein, mach ich nicht.»
«Dann will ich dir mal glauben. Tschüs dann.»
«Ja, tschüs, und grüß alle.»
Klack.
Die Kackasitzung bringt die gleichen Ergebnisse wie gestern und vorgestern. Ich werde dicker und dicker, und irgendwann platze ich, und zwar genau auf der Hälfte der Rückfahrt. Im Bus steht meterhoch die Scheiße, der Fahrer gerät in Panik und öffnet die Türen, und das auf der Autobahn bei voller Fahrt! Scheiße auf kochendem Asphalt, Scheiße ist schlimmer als Öl, es kommt zu einer Massenkarambolage usw.
Was ich mir da dauernd zusammenphantasiere. Manchmal befürchte ich, verrückt zu werden, irgendwann wird sich der ganze Unfug in meinem Kopf zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammenzuzzeln, und dann bin ich endgültig irre. Davor habe ich ernsthaft Angst.
Es ist bewölkt, aber ziemlich warm. Und windig, drum herrscht ordentlicher Wellengang. Endlich mal wieder schwimmen beziehungsweise sich mit voller Wucht gegen die Brecher schmeißen, das macht eh am meisten Spaß, und außerdem fällt niemandem auf, dass ich trotz DLRG so lausig schwimme.
Mittagessen: Königsberger Klopse ohne Kapern, Salzkartoffeln. Wackelpudding.
Am Nachmittag spielen wir ein besonders dämliches Spiel: Tiefgefrorenes T-Shirt. Der dumme Peter hat am Vorabend ein paar alte T-Shirts in die Tiefkühltruhe getan, und die müssen wir uns jetzt anziehen. Nur wer will. Freiwillige vor. Ich bin kein Freiwilliger. Wo haben die nur die ganzen Spiele her? Das ist vielleicht für Zehnjährige lustig, überhaupt stehen neben Fußball, Völkerball und Rallyes praktisch nur Kinderspiele auf dem Programm. Negerkusswettessen. Mehlspiele. Kartoffelspiele. Da lachen doch die Hühner, und noch nicht mal die.
Abendandacht von Wolfram Steiß: Selbstmitleid, nein danke: Man soll sich als Christ nicht dauernd so wichtig nehmen, gerade in Deutschland, wo es allen doch sehr gut geht. Gott sieht das gar nicht gerne, weil er uns das Leben und die Welt geschenkt hat, laberlaber.
Nach dem Spieleabend zu den Weibern. Lange dauert’s nicht, dann lässt sich Susanne von Heiko küssen, mit Zunge und allem. Karin wird von Tag zu Tag hässlicher, die Arme. Die Idee mit Ina obenrum und Andreas untenrum finde ich immer interessanter, um nicht zu sagen genial. Da könnte man was daraus machen, ein Geschäft, ich weiß bloß noch nicht, wie und welches. Geil sind irgendwie auch Petras riesige Nasenlöcher. Ihre Eltern haben die Nase bestimmt nachts jahrelang mit einer Wäscheklammer fixiert, um sie unten enger zu machen. Die Wäscheklammer ist die Zahnklammer der Nase, fällt mir ein. Haha.
Heiko und Roland geben richtig Gas. Morgen wird die Ernte eingefahren, denn morgen ist Samstag, und nach dem Abendbrot ist statt ewig Karten kloppen Partyabend angesagt. Discoabend, Fetenabend, Engtanzabend. Anschließend, so der Cliquenplan, wird Apfelkorn und Persico gesoffen. Danach alle Mann besoffen ins Vogelschutzgebiet, Schweinereien machen. Stelle ich mir jedenfalls so vor. Karin darf Schmiere stehen. Wolfram Steiß umarmt sie von hinten, seine lüsternen Hände tasten in den Falten ihres feisten Bauches umher, Karin lässt es wortlos geschehen.
Träume sind Schäume. Mein Status als öder, stummer Zwerg ist zementiert, ich bin ein kleines Äffche, das geduldet wird, weil wir eine christliche Gemeinschaft sind. Wenn die wüssten, was sich im Kopf vom Äffche so alles abspielt, da komms gar nich drauf! Nachdem Wolfram Steiß zu Ende gegrabbelt hat, stellt er Karin auf den Kopf. Während ich mir das vorstelle, schaue ich sie freundlich an. Sie bemerkt es und lächelt. Ich lächle zurück, was soll ich tun. Meine Güte, ist das trostlos. Um eins geht’s wieder zurück.
Ich muschel mich in den Schlafsack und lese mit Hilfe der Taschenlampe die letzten Seiten von Aufzeichnungen eines Außenseiters. Genial. Warum gibt es in Deutschland keinen, der auch nur so ähnlich schreibt? Für eine solche Schreibe muss es doch Bedarf geben, außerdem hat Tiedemann gesagt, dass Bukowski gerade in Deutschland total beliebt ist. Deutschland: Grass, Lenz, Böll, Mann. Alles Scheiße.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit.
REISE, REISE!
Herr Schrader sieht gar nicht gut aus. Er atmet schwer, seine Augen sind blutunterlaufen. Und fett ist er vielleicht. Schrader ist zusammengesetzt aus Sauf- und Kummerspeck, beides sehr bösartige Specksorten. Genuss- und Langeweilespeck sind gutartige Specksorten. Reime ich mir so zusammen, vielleicht ist es ja auch Quatsch, wie immer.
Morgenandacht (Peter Edam): Gott spricht überall mit den Menschen, auch durch den Fernseher und das Radio. Man muss nur gut aufpassen und hinhören, Gottes Wort ist allgegenwärtig. Schrader sieht aus, als könne er sich kaum noch auf den Beinen halten, sterbenskrank und zu Tode gepredigt, ein Wahnsinn schon wieder alles.
Das Wetter ist wie gestern, die Ostsee gibt sich aufgewühlt, meterhohe Brecher, herrlich. Trotz Formschwäche lässt sich Schrader seinen Auftritt nicht nehmen:
«Weißu was?»
«Nee. Wie? Was denn?»
«Ich mein, wenn dir schlecht ist?»
«Versteh ich nicht. Was soll denn da sein.»
«Vorbeugen ist besser als auf die Schuhe kotzen.»
«Haha.»
Fiedlers sitzen auf der rechten Bank, die Körper steif und fett und wächsern. Sie haben bläuliche Schatten unter ihren Augen und schauen sehnsüchtig aufs Meer. Einmal schwimmen, nur einmal schwimmen!
Mittagessen: Spaghetti mit Tomatensoße und Kochschinken, dazu geriebener Schweizer Käse. Herrlich, wie der Käse Fäden zieht. Nachtisch klumpiger Grießpudding. Grießpudding ist ja wohl das Allerletzte! Wer denkt sich so was eigentlich aus? Überhaupt, immer nur Pudding. Pudding, Pudding, Pudding. Na ja, mehr ist in den 343 Mark nicht drin. Ich stelle mir vor, wie ich mit ungewaschenen Kackahänden an Pastor Schmidts Tisch gehe und sie ihm unter die Nase halte: «Riech ma, ich war grad groß. Gut, nä?»
Zwanghaft ist das schon. Wenn das so weitergeht, mach ich’s irgendwann wirklich.
Nachmittags Strandspiele: Strandboccia, Strandvolleyball, ein paar Verrückte versuchen Frisbee, aber das ist natürlich eine Schwachsinnsidee bei den Böen.
In Volleyball bin ich Mittelmaß, in erster Linie natürlich, weil ich so klein bin, in zweiter Linie, weil ich nicht schmettern kann, ich kann’s einfach nicht. Blocken auch nicht. Dabei ist es doch gar nicht so schwer, sieht zumindest nicht so aus, bei den anderen. Was ich hingegen gut kann, sind Eingaben und vor allem Bälle retten, weil ich perfekt falle und mich schockermäßig hinpacke. Ich freue mich auf die Nachmittagsbadezeit, denn ich bin total verschwitzt.
Bimmel bimmel!
Als ich den Fluten entsteige (DLRG), glotzt mich Harald böse an: «Hat dir eigentlich schon mal jemand richtig in den Arsch reingekackt?» Der Satz klingt leer und hohl, er ist nicht mehr mit dem nötigen Hass aufgeladen. Harald scheint nur noch ein Schatten seiner selbst, man kann ihn nicht mehr ernst nehmen, unter anderem auch, weil er die ganze Zeit nur noch mit Gundula und anderen Dicken, Hässlichen zusammengluckt.