PROLOG

Die Nebel der Erinnerung sammeln sich, mit jedem Jahr werden es mehr. Doch ein Tag bleibt in meinem Gedächtnis so klar wie der Sonnenaufgang heute Morgen, obwohl er so viele Jahrhunderte zurückliegt.

Es war ein Tag, der von eigenen Nebeln und von dickem, finsterem Rauch verdunkelt wurde. Während das Schicksal von ganz Fincayra auf des Messers Schneide stand, hegte kein sterbliches Wesen irgendeinen Verdacht. Denn die Nebel jenes Tages verhüllten alles außer der Angst und dem Schmerz und einer nur ganz schwachen Andeutung von Hoffnung.

 

Unzählige Jahre lang hatte der massige Felsblock still wie ein Berg gestanden, jetzt regte er sich plötzlich.

Nicht der schnell strömende unaufhörliche Fluss, der an den Fuß des Felsens klatschte, bewirkte die Veränderung. Auch nicht der geschmeidige Otter, dessen Lieblingsbeschäftigung es schon lange war, die Spalte zwischen dem Felsen und dem schlammigen Flussufer hinunterzurutschen. Ebenso wenig die Familie gesprenkelter Eidechsen, die seit Generationen in dem Moos auf der Nordseite des Felsens lebte.

Nein, dass sich der Felsen an jenem Tag regte, hatte einen ganz anderen Auslöser. Einen, der, anders als die Eidechsen, noch nie an dieser Stelle gesehen worden war, obwohl er schon lange vor der Ankunft der ersten Eidechsen hier war. Denn die Bewegung entsprang dem tiefsten Innern des Felsens.

Nebel sammelte sich zwischen den Flussufern und lag wie ein dicker weißer Mantel auf dem Wasser, ein schwaches, schabendes Geräusch war zu hören. Im nächsten Moment schwankte der Felsblock ganz leicht. Während Nebelschwaden um seinen Fuß wirbelten, neigte er sich plötzlich auf die Seite. Drei Eidechsen zischten erschrocken, sprangen ab und huschten davon.

Falls die Eidechsen gehofft hatten im Moos auf einem der anderen Felsen ein neues Zuhause zu finden, so wurden sie enttäuscht. Denn weiteres Kratzen und Scharren mischte sich in das ständige Rauschen der Strömung. Die neun Felsblöcke, die den Fluss säumten, fingen nacheinander an zu schwanken, dann heftig zu schaukeln, als wären sie von einem Schauder befallen, den nur sie spüren könnten. Einer von ihnen, teilweise im sprudelnden Fluss versunken, rollte auf ein Hemlockstannengehölz am Ufer zu.

Oben am ersten Felsblock, der lebendig geworden war, erschien ein winziger Sprung. Ein weiterer Riss tat sich auf, dann wieder einer. Plötzlich brach ein gezackter Splitter ab und ließ ein Loch zurück, in dem ein seltsames, oranges Licht glühte. Langsam, vorsichtig versuchte sich etwas aus dem Loch zu schieben. Es glänzte dunkel, während es an der Oberfläche kratzte.

Es war eine Klaue.

 

Weit im Norden, in den einsamen Bergen der verlorenen Länder, stieg eine Rauchfahne auf und wand sich wie eine Giftschlange. Sonst regte sich nichts auf diesen Hängen, noch nicht einmal ein Insekt oder ein Grashalm, der im Wind zitterte. In diesem Gebiet hatte ein Feuer gewütet – so heftig, dass es Bäume zerstörte, Flüsse austrocknete, sogar Felsen sprengte und nichts zurückließ als verkohlte, mit Asche bedeckte Hänge. Denn dieses Gebiet war das Lager eines Drachen gewesen.

Vor Zeiten, auf der Höhe seines Zorns, hatte der Drache ganze Wälder verbrannt und Dörfer völlig verschluckt. Valdearg – dessen Name in Fincayras ältester Sprache Feuerflügel bedeutete – war der letzte und meistgefürchtete in einer langen Reihe von Kaiserdrachen. Ein großer Teil Fincayras war von seinem sengenden Atem geschwärzt und alle Bewohner lebten in schrecklicher Angst vor seinem Schatten. Schließlich war es dem mächtigen Zauberer Tuatha gelungen, den Drachen zurück in sein Lager zu scheuchen. Nach langem Kampf war Valdearg dem Schlafzauber des Magiers erlegen. Seither war er in seiner versengten Höhle geblieben und hatte unruhig geschlafen.

Während viele Fincayraner murrten, Tuatha hätte den Drachen töten sollen, als er die Möglichkeit dazu hatte, behaupteten andere, dass der Zauberer ihn nicht ohne Grund verschont hatte – doch was das für ein Grund sein mochte, wusste niemand. Wenigstens konnte Feuerflügel im Schlaf keinen Schaden mehr anrichten. Die Zeit verging, so viel Zeit, dass die Leute sich fragten, ob der Drache jemals wieder aufwachen würde. Manche bezweifelten sogar die alten Geschichten von seinem Wüten. Andere gingen noch weiter und überlegten, ob er je wirklich existiert hatte, auch wenn nur sehr wenige bereit waren bis in die verlorenen Länder zu reisen, um es herauszufinden. Von jenen, die sich auf die gefährliche Fahrt machten, kamen nur die wenigsten zurück.

Nur ein kleiner Teil dessen, was Tuatha am Ende des Kampfes der hellen Flammen gesagt hatte, war verständlich, denn der Zauberer hatte in Rätseln gesprochen. Und viele seiner Worte waren lange vergessen gewesen. Dennoch hielten einige Barden lebendig, was in Form eines Gedichts mit dem Titel Der Drachenkampf erhalten war. Obwohl es viele Versionen des Gedichts gab, eine so unklar wie die andere, waren sich alle darin einig, dass an einem finsteren Tag in der Zukunft Valdearg wieder erwachen würde.

Selbst jetzt stank dieses Gebiet nach Holzkohle. In der Nähe der Höhle zitterte die Luft von der ständigen Hitze des Drachenatems. Das tiefe, dröhnende Geräusch von Valdeargs Schnarchen hallte durch die geschwärzten Berge, während die dunkle Rauchsäule weiter langsam aus seinen Nüstern zum Himmel stieg.

 

Die Klaue schob sich höher und klopfte so vorsichtig an den Rand der steinähnlichen Schale wie jemand, der aufs Eis schlägt, bevor er den Fuß auf einen gefrorenen Teich setzt. Schließlich grub sich die messerscharfe Krallenspitze in die Oberfläche und jagte Risse in alle Richtungen. Ein unterdrückter Laut, halb Schrei und halb Stöhnen, kam tief aus dem Inneren. Dann riss die Klaue plötzlich einen großen Teil der Schale weg.

Das riesige Ei schaukelte wieder und rollte weiter das Flussufer hinunter. Als es in das rauschende Wasser klatschte, fielen weitere Schalenstücke ab. Obwohl die Morgensonne schon durch den Nebel schien, ließ ihr Licht das orange Glühen, das aus dem klaffenden Loch strahlte, nicht erblassen.

Weitere Sprünge schlängelten sich an den Seiten entlang. Die Klaue, wie ein scharfer Haken gebogen, schlug auf den Rand des Lochs und spritzte Schalensplitter in den Fluss und auf das schlammige Ufer. Unter Stöhnen schob das Geschöpf in der Schale die Klaue ganz aus dem Loch und zeigte einen verdrehten dünnen Arm, der mit purpurrot schillernden Schuppen bedeckt war. Als Nächstes kam eine hochgezogene knochige Schulter, von der lavendelfarbener Schleim tropfte. An der Schulter hing schlaff eine zerknitterte ledrige Hautfalte, die ein Flügel sein konnte.

Dann blieben Arm und Schulter aus irgendeinem Grund ruhig. Mehrere Sekunden lang kam kein Laut aus dem Ei, es schaukelte auch nicht mehr.

Plötzlich flog die ganze obere Hälfte der Schale weg und landete mit einem Platsch im Wasser. Orange Lichtstrahlen bohrten sich in den aufreißenden Nebel. Unbeholfen, zögernd hob sich die schuppige Schulter, sie stützte einen dünnen purpurroten Hals mit scharlachroten Flecken. Vom Hals hing schwer ein Kopf – zweimal so groß wie der eines ausgewachsenen Pferds –, der sich langsam aufrichtete. Über dem massigen Kinn und dem Maul mit vielen Reihen glänzender Zähne zuckten zwei enorme Nüstern und schnupperten zum ersten Mal Luft.

Aus den beiden dreieckigen Augen des Geschöpfs drang das orange Licht wie glühende Lava. Die Augen blinzelten alle paar Sekunden und spähten durch den Nebel zu den anderen Eiern hinüber, die ebenfalls aufgesprungen waren. Das Geschöpf hob eine Klaue und versuchte sich an der leuchtend gelben Beule mitten auf der Stirn zu kratzen. Aber die Klaue verfehlte ihr Ziel und stieß stattdessen in die weiche, runzlige Haut der Nase.

Laut wimmernd schüttelte das Wesen so heftig den Kopf, dass die blauen, fahnenähnlichen Ohren flatterten. Als das Schütteln aufhörte, legte sich das rechte Ohr nicht mehr flach. Im Gegensatz zum linken, das bis fast auf die Schulter hing, streckte es sich zur Seite wie ein falsch angebrachtes Horn. Nur die leichte Krümmung an der Spitze verriet, dass es tatsächlich ein Ohr war.

 

Tief in der rauchigen Höhle bewegte sich unruhig die gewaltige Gestalt. Valdeargs Kopf, fast so breit wie ein Hügel, ruckte plötzlich und zermalmte einen Haufen Schädel, die vor langer Zeit von Flammen geschwärzt worden waren. Der Atem des Drachen kam immer schneller und rauschte wie tausend Wasserfälle. Obwohl die riesigen Augen geschlossen blieben, schlugen die Klauen erbarmungslos auf einen unsichtbaren Gegner ein.

Der Drachenschwanz holte aus und knallte gegen die verkohlte Steinwand. Der Drache knurrte, nicht so sehr über die Steine, die auf seine grünen und orangen Rückenschuppen fielen, als über die Qualen seines Traums – eines Traums, der ihn an den Rand des Erwachens trieb. Einer seiner ausladenden Flügel hieb durch die Luft, und als er mit dem Rand den Höhlenboden streifte, flogen Dutzende edelsteinbesetzter Schwerter und Harnische, vergoldete Harfen und Trompeten, Juwelen und Perlen in alle Richtungen. Rauchwolken verdunkelten den Tag.

 

Die Augen des Geschöpfs im Ei funkelten wütend, seine Nase schmerzte immer noch. Ein uralter Instinkt ließ es so tief Atem holen, dass ihm die purpurrote Brust schwoll. Mit jähem Schnauben atmete es aus und blähte dabei die Nüstern. Doch keine Flammen kamen, noch nicht einmal ein dünnes Rauchwölkchen. Denn obwohl das Wesen tatsächlich ein Drachenbaby war, konnte es noch nicht Feuer speien.

Wieder wimmerte das Drachenbaby niedergeschlagen. Es hob ein Bein, um endgültig aus der Schale zu klettern, dann hielt es abrupt inne, legte den Kopf zur Seite und lauschte. Ein Ohr hing schlaff wie eine blaue Fahne, das andere ragte zum Himmel, während es aufmerksam horchte und nicht wagte, sich zu regen.

Plötzlich zog sich das Kleine ängstlich und zitternd in den Schalenrest zurück. Es hatte gerade den dunklen Schatten bemerkt, der sich im Nebel am anderen Flussufer bildete. Es ahnte Gefahr und verkroch sich tiefer in seinem Gehäuse. Das störrische Ohr ragte über den Rand hinaus.

Nach einigen Sekunden hob das kleine Geschöpf ein wenig den Kopf. Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Es sah, wie der Schatten langsam näher kam, durch das brodelnde Wasser watete und sich dabei zu einer seltsamen zweibeinigen Gestalt verdichtete – mit einer gebogenen Klinge in der Hand, die drohend blinkte. Erschrocken fuhr das Drachenbaby zusammen, als es merkte, dass sich die Klinge hob, um zuzuschlagen.