Kapitel 4
Willkommen im Klub!
Wen wundert es, dass ich nach positivem Feedback
japse wie ein Fisch auf Landurlaub nach Wasser? Ich brauche
dringend Frauen, die schon Erfahrungen mit Kindern haben und mich
unterstützen können, die mich ermutigen und bestätigen. Handfeste,
selbstbewusste, fröhliche Vorbilder, keine Papierleichen aus
überdrehten Ratgebern. Frauen, die mir ganz praktisch zeigen, wie
man mit Kindern umgeht und dabei ein schönes Leben hat, und die mir
vielleicht auch mal sagen, was ich vielleicht schon ganz gut
mache.
»Schließlich ist die Mutterschaft eine Art
Handwerk, und alle jungen Mütter brauchen in ihrer Lehrzeit eine
Art Rollenmodell oder Vorbild - eine Art Meisterin -, die all das
Neue schon einmal erlebt hat. Die Rolle des Vorbildes besteht nicht
nur darin, Ratschläge zu geben und Informationen zu vermitteln. Es
soll vielmehr ein psychologisches Umfeld schaffen, in dem Sie sich
sicher und vertrauenswürdig fühlen können, und in dem Sie den Mut
finden, Ihre Fähigkeiten als Mutter zu erkunden.«
So beschreiben es Bruschweiler und Stern in ihrem
Buch Geburt einer Mutter. Und das kling äußerst logisch. Wer
liegt da für mich theoretisch näher als meine eigene Mutter?
Schließlich verstehen wir uns prima und sie hat immer behauptet,
die Zeit mit ihren Kindern aus vollen Zügen genossen zu
haben.
Aber so einfach ist das mit dem Vorbild gar
nicht.
Im Perfektionsrausch
»Kind, was siehst du blass aus!« Meine Mutter
schaut mich besorgt an. »Meinst du nicht, du solltest mal etwas
ausruhen?«
»Mutti, wie soll ich mich ausruhen! Ich habe ein
Baby!« Aufgebracht blitze ich sie an.
»Ja, aber ich meine ja nur. Es muss doch nicht
immer alles so perfekt sein. Vielleicht solltest du mal etwas
locker lassen.« Freundlich lächelt sie mir zu.
»Mutti«, seufze ich genervt. »Das ist nicht mehr so
wie früher bei euch. Das ist nicht mehr so locker. Man muss da
ständig aufpassen!«
»Vielleicht solltest du das nicht alles so ernst
nehmen«, sagt sie vorsichtig.
»Du hast gut reden«, antworte ich wütend.
Düster beiße ich auf meine Unterlippe. Ganz klar,
meine Mutter geht völlig anders an die Mutterschaft heran als ich.
Sie hält mich für übervorsichtig, überängstlich und verbissen. Denn
es ist keineswegs die gestrenge Großmutter, die die junge Mutter zu
Vorsicht und Sorgfalt im Umgang mit dem Kleinkind mahnt. Nein, es
ist die junge, gut informierte Tochter - also ich -, die die
Großmutter laufend vor Risiken und Gefahren warnt. In allen
Kinderfragen ist meine Mutter viel unbekümmerter und spontaner als
ich. Gegen mich alte Oberglucke wirkt meine Mutter geradezu
jugendlich leichtsinnig, ob es um Aufsicht, Ernährung, Pflege,
Unterhaltung, Transport oder die Sicherung der Umgebung geht. Ich
habe laufend das ermüdende Gefühl, meine Mutter in das Handwerk der
Mutterschaft einweihen zu müssen, und nicht umgekehrt. Sie hat uns
Kinder früher unbekümmert zu Großtanten gegeben, die zwar nett
waren, aber selbst nie Kinder
hatten. Ich traue mich nicht mal, mein Kind meiner erfahrenen
Mutter für zwei Stunden zu geben, ohne ihr vorher ellenlange
Vorträge über Sicherheitsvorkehrungen zu halten.
Das kommt meiner Mutter merkwürdig vor. Sie will
einfach nicht sehen, dass nicht ich verbissen bin, sondern die
Situation. Sie kann nicht glauben, dass man heutzutage von uns
jungen Müttern erwartet, jegliche Gefahr, Krankheit und Risiko von
den Kindern fernzuhalten, um deren lebenslanges Glück, deren Erfolg
und Gesundheit zu verursachen. Sie hält diese Erwartungen für
reichlich weltfremd und schüttelt insgeheim den Kopf über meinen
Eifer.
Sie kann gut reden. Sie hatte sie ja nicht - die
pränatale Diagnostik, die dauernden Warnungen vor Risiko, Krankheit
und Gefahr, die mahnenden Broschüren, Bücher und Instruktionen, die
Kinderuntersuchungshefte und hochgesteckten Ziele. Zu ihrer Zeit
gab es zwar Ratgeberliteratur zur Pflege und Erziehung von Kindern,
aber sie war noch nicht sehr verbreitet. Meine Mutter las keine
Bücher zur Erziehung von Kindern und fand die Frauen auch immer
etwas seltsam, die in Büchern nach dem richtigen Umgang mit ihren
Kindern suchten. Sie war der Meinung, dass das eigene Gefühl und
der eigene Instinkt die besten Ratgeber seien. Das konnte sie auch
so locker denken, weil es sie ja für sie noch nicht gab, die
»Mutterschuld«.
Oder - schießt es mir schmerzhaft durch den Kopf -
hat sie recht? Bin ich vielleicht zu perfektionistisch?
Wieder einmal zweifle ich, ob ich zur Mutterschaft
überhaupt geeignet bin …
Aber wer versteht meine Lage? Wer bestärkt mich in
meinen Nöten? Wo finde ich Seelenverwandte, die den Druck genauso
spüren wie ich? Keine Frage, unter anderen Müttern mit Kindern. Es
ist eine Tatsache, dass junge Mütter nahezu ausschließlich die Nähe
von jungen Müttern suchen. Ja, es scheint eine Art biologischer
Zwang von Müttern zu sein, andere Mütter aufzuspüren und sich
paarweise oder in Gruppen zu sammeln. Alte Freundinnen mit Kindern
- vorher oft instinktiv gemieden, weil deren Leben wenig kompatibel
mit dem eigenen kinderlosen Leben schien - sind schlagartig
unglaublich interessant. Auf einmal könnte ich stundenlang mit
ihnen plaudern und einen Malzkaffee trinken. Es gibt ein unendlich
weites Gesprächsthemenfeld: das Kind. Endlich kann ich jemanden
fragen, der die neuesten Trends der Kindererziehung genauso
verinnerlicht hat wie ich.
»Wie oft bist du denn nachts aufgestanden?«
»Wie habt ihr eure Wohnung sicher gemacht?
»Wie lange hast du gestillt?«
Und die andere nickt wissend, erzählt aus ihrem
Erfahrungsschatz und gemeinsam gehen wir die wichtigen Dinge des
Lebens durch.
Kinderlose Freundinnen finden mich jetzt meist
wenig amüsant. Junge Mütter können mit erstaunlicher Akribie über
Windelinhalte, Schlafgewohnheiten, Babygarderobe und Stillpläne
reden, ohne sich um aufkeimende Unruhe beim Gegenüber zu
kümmern.
Bald ist die eine Freundin gelangweilt (»Ich muss
jetzt leider weg!«), die andere ist eifersüchtig (»Mein Gott, muss
sich denn wirklich immer alles um das Kind drehen?«), die dritte
hat kein Faible für Babys (»Sei mir nicht böse, Schätzchen, aber
ich mag Kinder nicht besonders.«) und die vierte ist neidisch
(»Hast du dir das mit einem Kind wirklich gut überlegt?«). Alle
zusammen haben zwar keine Kinder, wissen aber immer alles
besser.
Und ich, ich grolle manchmal und bin zickig, wenn
ich mitansehen muss, wie beneidenswert frei sich meine kinderlosen
Freundinnen bewegen, wie sie ausschlafen und ausgehen und
erfolgreich im Beruf sind. Ich habe lange so gelebt wie sie und
ehrgeizig auf eine berufliche Karriere hingearbeitet. Mutterschaft
heißt nicht, sämtliche Allüren fahren zu lassen.
Das alles sind Gründe, dass Treffen mit meinen
alten Freundinnen immer weniger werden, bis sie schließlich ganz
aufhören.
Es lebe die Mutter-Kind-Bewegung!
Glücklicherweise habe ich gute Aussichten, neue
Freundinnen zu finden. Es gibt eine Vielzahl von Kursen, die sich
gezielt an Mütter mit Baby wenden: Gruppenangebote zum Stillen, zur
Babymassage, zur Ernährung, zum Tragetuchbinden, zum PEKiP, zum
Babyturnen und vielen anderen interessanten Dingen, die eine Mutter
lernen sollte, um ihrem Kind von Anfang an optimale
Startbedingungen verschaffen zu können. Unter professioneller
Anleitung treffen Frauen mit Kindern andere Frauen mit
Kindern.
Früher, ab den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts,
soll es Frauengruppen gegeben haben, in denen Mütter über
Frauenbewegung, Frauenpower, Feminismus und das eigene
Selbstverständnis als Frau und Mutter diskutierten. Das hatte den
unschönen Nebeneffekt, dass Frauen miteinander stritten. Heute
machen wir Mütter in Gruppen so etwas nicht mehr. Wir geben uns
unpolitisch. Die Wörter »Feminismus« oder »Emanzipation« kommen in
Gruppengesprächen nie vor und würden auch deplatziert wirken, ja,
sogar geschmacklos und beleidigend. Schließlich halten wir uns alle
für gleichberechtigt und jede, die uns eines anderen belehren
möchte, nur weil wir jetzt Kinder haben, macht sich sofort
unbeliebt. Wir reden nicht gerne von Emanzipation, wir reden von
uns als »moderne Mütter«.
Die Grundidee unter modernen Müttern ist nicht,
sich auseinanderzusetzen, sondern sich hinzusetzen, um den
Nachwuchs in professionell geführten Gruppen zu fördern und sich zu
informieren, wie man ihn darüber hinaus effizient fördern kann.
Deshalb heißen wir Frauen in Gruppen auch nicht mehr
»Frauengruppen«, sondern »Mutter-Kind-Gruppen«, »Stillgruppen«,
»PEKiP-Gruppen«, »Babymassagegruppen«, »Babyschwimmgruppen«,
»Krabbelgruppen« oder »Spielgruppen«. Die Frauenbewegung ist tot,
es lebe die Mutter-Kind-Bewegung! Das Kind bewegt sich, die Mutter
begleitet es wohlwollend. Es soll spielerisch lernen, es soll unter
Gleichaltrige kommen und Sozialverhalten einüben. Im Prinzip sind
diese Versammlungen nichts anderes als gut
organisierte Arbeitstreffen, in denen Mütter sich wie Kolleginnen
über ihre Projekte austauschen und sich gegenseitig auf dem
neuesten Stand der Forschung halten. Wir wollen die erste Zeit mit
unserem Kind genießen. Diese Arbeitstreffen erleichtern das
Handwerk und geben uns die Möglichkeit, ein gutes Netzwerk
aufzubauen.
Aber welchen Kurs soll ich als Einstieg nehmen?
Private Frühförderung boomt. Was vor Jahren mit den Klassikern
PEKiP und Babyschwimmen begann, nimmt heute weite Dimensionen an.
In den politischen Diskussionen, in Zeitungen, Zeitschriften und
Broschüren, im Internet, in Arztpraxen und Institutionen - immer
und überall ist das Thema: Wie können unsere Kinder und wir besser
werden? Was können wir tun, um die Entwicklung der Kinder zu
fördern? Wie können wir von Anfang an das Beste für unseren
Nachwuchs tun? Der Hype ist überall und ansteckend. Nahezu alle
Mütter, die ich kenne, sind äußerst lernwillig und eifrig. Merke:
Ein erfolgreiches Leben beginnt in den Windeln.
Bald macht beeindruckendes Halbwissen die Runde:
Von der modernen Hirnforschung und dem sagenhaften Aufnahmevermögen
eines Kleinkindes, von neuronalen Netzwerken und Synapsen, die sich
schließen und verbinden, von den vielfältigen Anregungen, die ein
Kleinkindhirn braucht, um sich zu ungeahnten Höchstleistungen
aufzuschwingen, von der erstaunlichen Mühelosigkeit, mit der Zwei-
bis Vierjährige Fremdsprachen erlernen können - und von der
bitteren Erkenntnis, dass wir alle nur in den ersten zwei, drei,
vier, fünf, sechs, sieben oder auch zehn Jahren (die Angaben
variieren je nach Anbieter und Interessenlage) spielend lernen und
dann zunehmend dem geistigen Verfall anheimfallen. Hochmoderne
Wissenschaft paart sich mit alten Weisheiten: Was Hänschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr.
Da drängt natürlich die Zeit, da hat man keine Muße
mehr, mal in Ruhe nachzudenken, ob denn alles Gold ist, was glänzt.
Dass Zwei- bis Vierjährige Fremdsprachen genauso schnell wieder
vergessen, wie sie sie freudig aufgenommen haben, wenn sie nicht
kontinuierlich Tag für Tag weiterlernen und üben, das beeindruckt
uns in keiner Weise. Im Zweifelsfalle
ist so eine Frühförderung für die Katz, das weiß man ja, aber man
weiß ja auch nie, ob es nicht doch zu etwas gut ist. Die Zeit und
das Geld - wir investieren es mit gutem Gewissen. Wir geben uns
gerne fortschrittlich und es ist angenehm, neue Menschen
kennenzulernen und Termine zu haben, die den Alltag mit Kind etwas
strukturieren. Das hat etwas von Zielstrebigkeit. Das Klima für
Experimente ist exzellent.
Und so brauchen sich findige Geschäftsleute nicht
einmal zu schämen, wenn sie uns eifrigen Eltern Englisch-Kurse für
Babys im Alter von drei bis 18 Monaten anbieten.
»Babys und Eltern lernen gemeinsam Lieder,
Aktivitäten, Reime, Rhythmen und jede Menge über die kindlichen
Entwicklungsstadien.«
Was sich wie ein guter Witz anhört, ist gar keiner.
»Baby’s Best Start« heißt es vielversprechend auf der Website des
Helen-Doron-Sprachzentrums und wird auch gern mit Broschüren in
Kindergärten beworben. Wie praktisch, dass die Kinder noch nicht
sprechen können und die Liedertexte nicht auswendig lallen müssen.
Da ist der Leistungsdruck nicht ganz so hoch.
Ich hätte da eine kleine Anregung: Wie wäre es denn
mit Latein für Babys? Dann fällt das mit der Aussprache gar nicht
mehr auf. Ich sehe schon direkt vor mir, wie mancher Leser, manche
Leserin überlegt, ob das nicht tatsächlich eine gute Idee wäre.
Schließlich liegen Babys den lieben langen Tag nur rum. Da kann ein
bisschen Bildung nicht schaden, nicht wahr?
Ich verfüge inzwischen über ein ansehnliches Archiv
unterschiedlicher Informationsbroschüren und Ratgeber und täglich
kommen neue hinzu. Nicht nur beim Kinderarzt, in Apotheken und
Drogerie-Beilagen und in den gängigen Elternzeitschriften und
Internetforen gibt es stets interessante Artikel und Flyer über die
Möglichkeiten der frühen Förderung meines Säuglings. Nein, auch die
Stadt versieht uns in regelmäßigen Abständen gerne und
unaufgefordert mit den Kursangeboten der Familienbildung und
Erziehungsberatung
und lässt nützliche Elternbriefe aus Berlin zu Entwicklungsphasen
unseres Kindes jahrelang ins Haus flattern. Der Oberbürgermeister
erinnert uns in Broschüren seit der Geburt unseres Kindes in
freundlichen Grußworten immer mal wieder daran, wie wichtig die
körperliche und geistige Entwicklung unserer Kinder sei und wie
viel leichter unsere Kinder neue Bewegungen lernten, wenn sie über
gut trainierte, koordinatorische Fähigkeiten verfügten. Anbei
finden wir das Kursprogramm.
Eines ist klar: Wir Mütter - denn wir sind es nun
mal, die sich immer noch hauptsächlich um die Kinder kümmern - sind
nicht nur zum Vergnügen hier. Wir müssen uns da gar nichts
vormachen. Natürlich geht es dem Staat bei dem Aufruf zur Förderung
unserer Kinder auch um Chancengleichheit unabhängig von Geschlecht,
sozialer und ethnischer Herkunft und um den Ausgleich von
individuellen und sozialen Benachteiligungen. Aber der künftige
Bürger, den wir hier heranziehen, ist für den Staat existenziell
wichtig. Kinder sind unsere Zukunft, Kinder sind unser Kapital. Die
Gesellschaft braucht frische Talente. Und da die Geburtenrate
sinkt, liegt die Verantwortung umso schwerer auf den Schultern der
wenigen künftigen Staatsbürger. Die alte Maxime engagierter
Pädagogen »Kein Kind darf verloren gehen« bekommt da eine ganz neue
Bedeutung, eben nicht mehr nur nächstenliebend, sondern auch
profitorientiert, und daraus wird auch gar kein Hehl gemacht.
Gesund, intelligent, innovativ und geschickt sollen die lieben
Kleinen nämlich nicht nur später den Steuerzahlern keinesfalls auf
der Tasche liegen, sondern sie sollen einmal die Rente und die
Zukunft unseres Landes retten, die wir gerade in den Sand
setzen.
Das ist nicht wenig, und ja, ich gebe es offen zu,
wenn sie das schaffen sollen, was man von ihnen erwartet, brauchen
wir ständig guten Rat. Wir brauchen exzellente Schulen für alle
Kinder, um diese Mammutaufgabe zu stemmen. Aber unsere Nation
investiert ungern in Bildung. Deutschland gibt im Vergleich mit
anderen Industrieländern recht wenig Geld für Bildung aus. Nur die
Türkei, die Slowakei, Spanien und Irland sind noch sparsamer als
wir. Unser Staat flickschustert
lieber und hofft auf das Beste. Wir nehmen lernwillige Mütter, die
nicht streiken, wenn sie zwar von Anfang an von allen Tipps,
Belehrungen und Ratschläge erhalten, aber kaum praktische
Unterstützung bekommen. Meistens nicht mal von ihren Männern und
auch nicht vom Staat. Keine Haushaltshilfe, wenig Kinderbetreuung,
kaum Geld, nicht mal Aussicht auf Erfolg, von Ruhm und Ehre gar
nicht zu sprechen. Dafür bekommen sie Sprüche zu hören wie »Ein
Kind gehört zu seiner Mutter« und viele gute Wünsche an die Mutter,
wie sie denn zu sein hat, damit das Kind wird, wie es denn zu sein
hat. Und Schuldzuweisungen, wenn das alles nicht klappt.
Da ich nicht auswandern möchte und die Zeit knapp
ist - bevor ich als verantwortliche Bürgerin irgendeine politische
Veränderung anstoßen könnte, wäre meine Tochter aus ihrer
Hoch-Hirn-Phase entwachsen -, muss ich mich mit den Vorgaben meines
Landes arrangieren. Ich muss für mein Kind nehmen, was ich kriegen
kann, und das sind die Kurse. Außerdem möchte ich meine
Mutterschuld ein bisschen abarbeiten und ich brauche
Freundschaften. Die Kurse kommen mir gar nicht ungelegen. Ich
entscheide mich unter den Angeboten, die uns Müttern so warm ans
Herz gelegt werden, für einen Klassiker, den PEKiP-Kurs, weil er
Raum für Plauschereien gibt. Die sind beim Babyschwimmen schlecht
möglich. Man ist zu sehr bemüht, das Kind über Wasser zu halten,
während es seine Intelligenz entwickelt und die motorischen und
sensorischen Fähigkeiten schult.
Glück in der Gruppe
PEKiP steht für »Prager-Eltern-Kind-Programm«. Ab
der vierten bis sechsten Lebenswoche treffen sich junge Eltern mit
ihren Babys in kleinen Gruppen und bleiben für das erste Lebensjahr
zusammen. In Gruppenarbeit sollen die Säuglinge in ihrer
Entwicklung wahrgenommen, begleitet und gefördert werden. Das
Programm vermittelt Bewegungs-und Sinnesanregungen und soll
Kontakte zu Gleichaltrigen
ermöglichen. Letzteres ist meiner Tochter meiner Meinung nach in
den ersten Monaten herzlich egal, sie ist noch sehr mit sich selbst
beschäftigt, das junge Ding, aber ich freue mich sehr, neue
Gesichter kennenzulernen und Frauen zu treffen, die in den
kommenden Monaten ganz offensichtlich genau die gleichen Interessen
und den gleichen Tagesrhythmus haben wie ich.
In diesen PEKiP-Gruppen ist es vollkommen egal, wer
die Mütter sind, woher sie kommen und was sie früher getan haben.
Egal, ob vorher Arzthelferin, Hausfrau, Wissenschaftlerin,
Staatsanwältin, Lehrerin, oder Postangestellte - in diesen Gruppen
sind wir alle nur Mutter.
»Hallo«, sagt die Frau neben mir.«Ich bin Kathrin
und das ist Charlotte. Sie ist am 3. März geboren und sie ist unser
erstes Kind. Das ist unser erster PEKiP-Kurs.«
Alle stellen sich ganz unkompliziert vor. Wir
machen die Runde. Alle tragen mehr oder minder Einheitslook (meist
Shirts und leicht zu reinigende Hosen) und Haare werden schmucklos
mit Gummis zusammengehalten. Konversationen über Politik und
Wirtschaft, beeindruckende Urlaubsreisen, Hobbys, Autos und Freunde
sind tabu. Hier geht es schlicht um das Kind. Mütter - und selten
auch mal Väter - streben zueinander, um miteinander etwas Luft zu
holen, um sich ein bisschen fallen zu lassen, sich auszutauschen
und zu lernen. Wir sitzen alle im Kreis, die Babys liegen nackt und
frei auf Gummimatten vor uns und wir spielen mit ihnen und lernen
sie zu verstehen.
Ich genieße es, mit meinem Kind einen festen
Anlaufpunkt zu haben. Endlich finde ich Frauen und Männer, die in
derselben Situation sind wie ich. Wo finde ich sonst Menschen, die
sich so bereitwillig anhören, wie ganz außergewöhnlich das Leben
mit Kindern ist? Wo kann ich so intensiv über beunruhigende
Verdauung diskutieren, ohne fortan gemieden zu werden? Und wo
könnte ich theoretisch besser neue Freundschaften finden? Die
Gruppe fängt mich auf, beglückt mich und gibt mir endlich das
Gefühl, normal zu sein. Viele meiner Probleme entpuppen sich auf
einmal als Scheinprobleme:
»Was, dein Kind spuckt auch so wild?«
Oder:
»Schläft euer Kind auch noch nicht durch?«
Die Erfahrung, dass es anderen ähnlich geht, lässt
mich tief aufatmen und das Leben in rosigeren Farben sehen. Ich
fördere spielend mein Kind und spreche mit anderen Müttern über
Kinderernährung, Stillprobleme, Schlafgewohnheiten und kindliche
Entwicklungsphasen und fühle mich geborgen. Wir tauschen uns aus
über Panikattacken im Straßenverkehr, über Supermarkt-Theater,
aufdringliche Passanten und rüstige Rentner und sind ein Stück
getröstet. Es tut gut zu wissen, dass man nicht schuld ist an
diesem Aufruhr, sondern dass es in Deutschland eine Art Volkssport
ist, Müttern die Leviten zu lesen.
Und es gibt keine bessere Informationsbörse. Möchte
ich wissen, welche Windeln, Strampler, Fläschchen, Schnuller oder
sonstiges Babyutensil von Stiftung Warentest mit »gut« bewertet
wurden, wo ich sie am günstigsten erstehen kann und ob es dazu
Gutscheine gibt? Kein Problem. Eine von ihnen weiß es bestimmt.
Brauche ich einen guten Kinderarzt, einen Osteopathen, Logopäden
oder Ergotherapeuten? Hätte ich gerne einen guten Ratgeber über
gesunde Babynahrung oder effektives Schlaftraining? Bin ich
neugierig, welche anderen Fördergruppen für uns interessant wären
und wo ich die besten Anbieter finde? Ich frage die Gruppe. Es gibt
keine bessere Informationszentrale als zehn Mütter, die über die
Stadt verteilt wohnen, Internetanschluss besitzen und die Augen
offen halten.
Wer kann am besten sein Fäustchen drehen? - Baby-Wettbewerb
Nun ist es mit der menschlichen Natur so eine
Sache. Wir sind zwiespältig. Einerseits wollen wir Menschen uns in
einer Gruppe als Gleiche unter Gleichen aufgehoben fühlen. Vor
allem wir Frauen sehnen uns oft danach, harmonisch mit
anderen im Einklang zu leben, das zu tun, was alle machen, und uns
mit den Wellen zu wiegen. Wir möchten in dem beruhigenden Gefühl
leben, das Richtige zu tun, weil es eben alle tun.
Andererseits möchten wir Menschen aber gerne auch
etwas Besonderes sein, einzigartig unter Gleichen. Wir möchten in
unserem individuellen Wesen erkannt und anerkannt werden. Und wie
kann ich feststellen, was gerade mich ausmacht? Wie finde ich meine
Identität? Ganz einfach: indem ich mich abgrenze von den anderen.
Indem ich mich vergleiche. Was habe ich, was andere nicht haben?
Was haben die anderen, was mir fehlt? Erfolg, bestimmte
Fähigkeiten, Bildung, Schönheit, Klugheit, Geld, Aufmerksamkeit,
Autos, Häuser, Freunde, Männer, Glück? Die Liste lässt sich endlos
ausdehnen. Es gibt nichts, was sich nicht vergleichen ließe. Und
eben auch die Kinder.
Zunächst finde ich es schön, mit meinem Baby in der
Gruppe aufzugehen. Aber bald möchte ich auch wissen, was mein Kind
von den anderen unterscheidet. Was kann das Baby da zum Beispiel,
was meines nicht kann? Was zeigt meines, was anders ist? Es ist
interessant, das eigene Kind mit anderen zu vergleichen. Man lernt
es viel besser verstehen. Was ich in den Somatogrammen im
Kinderuntersuchungsheft oder in den zahlreichen Büchern nicht
nachvollziehen konnte - hier kann ich ganz praktisch sehen, was die
meisten Kinder in bestimmten Phasen können und wie sie sich
verhalten, und ich kann ganz leicht erkennen, ob mein Kind sich im
Bereich des Normalen bewegt oder auf den Normkurven gefährlich hin-
und herschwankt.
»Dein Kind ist aber ruhig«, sagt eine Mutter neben
mir und schaut prüfend auf meine Tochter. Ich habe mein Baby auf
meinen Knien liegen. Die Kleine schaut gebannt dem Schattenspiel
auf meinem Pullover zu.
»Ja«, antworte ich. »Sie schreit jetzt wirklich
selten.«
Die Mutter schweigt. Und nach einer Weile:
»Bist du sicher, dass das normal ist? Vielleicht
solltest du sie mal vom Arzt untersuchen lassen. Ist doch
merkwürdig.«
Ich schlucke.
»Nö, wir waren erst neulich da. Sie ist einfach nur
sehr zufrieden.«
Die Mutter schweigt.
»Na«, sagt sie plötzlich, »dafür sitzt meines
stundenlang im Tragetuch ohne zu mucken.« Und wendet sich brüsk
ihrer anderen Nachbarin zu.
Müttern ist es oft peinlich, dass sie vergleichen,
weil wir die Einzigartigkeit unserer Babys anerkennen wollen. Wir
leugnen es ab. Aber wir können uns noch so oft darüber lustig
machen, wie blöd es wäre, Kinder miteinander zu vergleichen, »weil
doch jedes Kind einzigartig« ist und jedes Kind »sein eigenes Tempo
hat« und wir können noch so sehr beteuern, dass wir das niemals tun
würden, weil es unwürdig wäre: Wir tun es doch. Wir schauen mit
gesenktem Blick auf das Nachbarkind auf der Gummimatte und klopfen
im Kopf wichtige Fragen ab. Ist mein Kind genauso weit? Kann es
schon, was das da kann? Was kann meines besser? Wo muss ich
aufpassen und wo kann ich beruhigt sein? Dieses Verhalten ist nicht
nur natürlich, sondern bei uns modernen Müttern auch überaus
hochgezüchtet. Denn wir haben ja nicht nur alle unsere Normkurven
und Kinderuntersuchungshefte, sondern auch alle mehr oder weniger
gewissenhaft gelernt, dass Risiko, Gefahr und Krankheit für unsere
Kinder von uns selbst gar nicht früh genug erkannt werden können.
Dazu haben wir ja vor und nach der Geburt die regelmäßigen
Kontrollen beim Arzt. Und wenn die eine Untersuchung gerade vorbei
und die andere noch in weiter Ferne weilt - was gibt es
Nützlicheres als solche vergleichenden Wissenschaften in
Babygruppen? Wenn sich genau jetzt, genau hier und heute im
Vergleich mit anderen Babys ein eklatantes Nachzüglertum bemerkbar
macht, ein Problem, eine Gefahr, ein Risiko, vielleicht sogar eine
Krankheit - dann kann ich es schön erkennen und flugs einen
Arzttermin außer der Reihe anberaumen.
Die Kinderarztpraxen und Notaufnahmen sind stets
voll mit besorgten Eltern und schlecht gelaunten Babys, und
manch eine Mutter, manch ein Vater ist so verunsichert, dass ein
nett gemeintes »Das wächst sich aus« des Arztes als unterlassene
Hilfeleistung gewertet wird. Wir trauen dem Frieden nicht so
leicht. Wir sind durch eine gründliche Schwangerschaftsschulung
gegangen. Da ist man nicht mehr so naiv und hofft auf das
Beste.
Je mehr Wochen und Monate ins Land ziehen, je älter
die Babys werden, desto deutlicher werden die Unterschiede.
»Schaut mal«, ruft die Gruppenleiterin erfreut.
»Niklas kann schon den Kopf heben.
Wir alle gucken auf Niklas. Da liegt er fröhlich
krähend auf dem Bauch, den Kopf hoch erhoben. Sein ganzer kleiner
Körper ist ein einziges Kraftwerk. Er trommelt mit den Händchen
begeistert auf die Matte.
Wir schauen auf unsere Babys. Da liegen sie, auf
dem Rücken, nuckeln versonnen an Fäustchen, Füßchen und Tüchern und
schauen gemütlich dem strahlenden Siegertypen zu.
»Ist das schlimm, dass die Emma das noch nicht
kann?«, fragt die Mutter neben mir ängstlich.
»Nein, gar nicht«, sagt die Gruppenleiterin. »Das
kommt schon noch.«
Aber die eine oder andere von uns hat auf einmal
nachdenkliche Falten auf der Stirn.
Wer kann schon das Fäustchen drehen? Wer kann
alsbald das Köpfchen heben? Wer liegt als Erste oder Erster auf der
Seite? Wer spricht deutliche Laute? Wer reagiert geschickt am
schnellsten und am besten auf das angebotene Programm, sprich
Luftballons, Rasseln, Federn, Stöcke und so weiter? Und wer liegt
dröge auf der Matte, schreit vielleicht sogar noch wie am Spieß und
zeigt so gar kein Interesse für die Potenziale, die in ihr oder ihm
schlummern? Mit anderen Worten: Wer macht seine Mutter strahlend
stolz und wer gibt Anlass zu grauen Haaren?
Allmählich baut sich Druck auf. Je deutlicher die
Unterschiede werden, desto unruhiger werden wir Mütter. Wir
stupsen unsere Babys ein bisschen in die Seite, schubsen sie auf
den Bauch, halten ihre Köpfchen hoch, damit sie kapieren, wo es
hinführen soll, und treiben sie mütterlich liebevoll an, mal etwas
schneller zu machen, weil die anderen sie sonst überholen.
Wir glauben an Normkurven. Wir glauben, dass
unpopuläre Abweichungen von der Norm therapiert werden sollten. Wir
glauben, dass wir unser Kind antreiben müssen, weil das Leben ein
Wettrennen um die besten Plätze ist.
Und dann machen wir uns auf die Suche nach weiteren
Förderkursen und geeigneten Therapien. Babyschwimmen,
Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Osteopathen …
Natürlich sind Vergleiche im zarten Babyalter nicht
nur in Bezug auf körperliche, sondern auch auf gesellschaftliche
Normen genauso simpel wie später im Leben. Wenn ich wissen möchte,
ob mein Kind in der Gesellschaft von Anfang an gut ankommt, ist das
ganz einfach. Da gibt es klare Regeln: Als angenehm gilt ein Kind,
das in sauberer Kleidung steckt, wenig Mühe und Aufmerksamkeit
erfordert und sich leicht anpasst. Ruhige, saubere, freundliche und
aufgeweckte Kinder sind beliebt. Solche Kinder sehen kleine und
große Gesellschaften gerne.
Ist das Kind aber laut, dreckig, aggressiv,
uninteressiert und zeigt vielleicht noch, dass es bestimmte
Erwachsene nicht mag, erntet es schnell Befremden.
Natürlich gibt es bei den Wesensvergleichen
unterschiedliche Wertungen für Mädchen und Jungen. Ein lautstarker
dominanter Junge gilt im Windelalter noch als »echter Junge«, ein
ähnlich gestricktes Mädchen wird dagegen schon alsbald als »Zicke«
bezeichnet. Ein schüchternes Mädchen ist süß, ein schüchterner
Junge ein Weichei und so weiter und so fort.
Welche Mutter ist die beste?
Und wenn wir schon einmal dabei sind - warum
sollten wir nur die Kinder vergleichen? Ob ein Kind nun einen
besonders guten Eindruck macht oder aber einen ausnehmend
schlechten - die Frage ist doch: Was macht die Mutter, dass das
Kind ist, wie es ist? Wer ist wirklich eine gute Mutter und wer ist
es eher nicht?
Diese Frage zu beantworten, ist nicht so einfach,
will ich korrekt und objektiv sein und mich nicht auf reine
Sympathie oder Antipathie berufen. Es gibt einige
pseudowissenschaftliche Kriterien. Eine Mutter etwa, die alles im
Griff hat, ein gepflegtes, sauberes Aussehen, Fröhlichkeit und
souveränes Auftreten zur Schau trägt (eben so wie in den
Hochglanzbroschüren) und vor allem über beeindruckendes Wissen über
Kinderpflege, -ernährung, -ratgeber und optimale
Fördermöglichkeiten verfügt und sich auch noch konsequent an die
Richtlinien an die gute Mutter hält -, diese Frau genießt stillen
Respekt.
Mütter, die von oben bis unten wie ihre Kinder
bekleckert sind, fettige Haare haben, keine Ahnung von
Kinderpsychologie und optimalen Förderangeboten besitzen und dafür
auch noch demonstrativ Desinteresse zeigen, vielleicht noch frech
behaupten, es reiche, mit gesundem Menschenverstand, mütterlicher
Liebe und Intuition den richtigen Weg zu finden, ja, vielleicht
sogar mit dem Kind den lieben langen Tag zu kuscheln und wertvolle
Zeit ungenutzt vorüberstreichen zu lassen, ernten stummes
Kopfschütteln, auch wenn das Kind noch so goldig ist. Diese Mütter
haben einfach nicht verstanden, dass die Welt kein Kuschelpfad
ist.
Natürlich muss ich mich im Endeffekt bei meiner
Wertung bei diesen oberflächlichen Kontakten im geschützten Raum
eines PEKiP-Kurses darauf verlassen, wie die anderen sich
präsentieren und was sie von ihrem Alltag erzählen. Sie müssen ja
nicht mal lügen. Schweigen ist so einfach und beschönigen ist nicht
verboten. Kein Mensch sieht hier, wie dieselbe Frau, die hier
souverän ihr Baby behandelt und kundig neueste Forschungsergebnisse
über Frühförderung von sich gibt, unter Extrembedingungen reagiert,
sprich bei schreiendem Kind im Supermarkt oder in der völlig
verdreckten Wohnung und Schwiegermutterbesuch.
Auch kann ich schlecht kontrollieren, ob die Dame
mir gegenüber tatsächlich kontinuierlich eine halbe Stunde pro Tag
mit ihrem Baby motorische Übungseinheiten durchzieht. Ein
konsequentens Verhalten, das mir vor Neid die Mundwinkel fallen
lässt. Schon bei dem Gedanken, derartige Trainingseinheiten zu
leiten, fühle ich meine Füße einschlafen und Anflüge von Depression
über mich schwappen. Ich habe zwar den Verdacht, dass einige Mütter
gekonnte Selbstdarstellerinnen sind, kann es aber nicht beweisen,
und bald ertappe ich mich dabei, wie ich meinen Profi-Mutter-Alltag
etwas aufpeppe. Es müssen ja nicht alle wissen, wie oft ich mich
als komplette Versagerin fühle.
»War das heute ein schöner Tag!«, strahle ich die
anderen an.
»Mmh«, sagen die anderen. Sie sehen etwas müde
aus.
»Wir waren heute den ganzen Tag an der frischen
Luft«, sage ich und zupfe behaglich die Windel meiner Kleinen
zurecht. Ich verschweige geflissentlich, dass ich den Rest der
Woche sehr häuslich war.
»Es hat ihr so gut gefallen. Sie haben immer so
viel Spaß draußen, nicht?«
Und schon habe ich mein Image etwas
aufpoliert.
Dummerweise ist die Mutter-Kind-Welt eine, wie sie
ungerechter nicht sein könnte: Das eine Kind schreit sieben Stunden
am Tag, das andere sieben Minuten in der Woche. Jenes Baby schläft
bald durch, das andere niemals. Das eine Kind ist krank oder
behindert, das andere ist kerngesund. Das Kind dort erntet überall
Wohlwollen, das andere da meistens Missfallen. Das da ist
bildschön, das andere eher nicht. Das da reagiert schnell, das
andere gar nicht. Dort hat eine Mutter rund um die Uhr Hilfe vom
Vater, von Verwandten und Freunden, eine andere muss alles alleine
machen. Da hat eine Mutter genügend Geld, um sich Babysitter,
Designermode und exklusive Frühförderung zu leisten, die andere
weiß kaum, wie sie die Windeln bezahlen soll. Die eine sieht
blühend aus, die andere verwelkt. Jene hat abgenommen, die andere
hat Speck angesetzt. Die eine Mutter ist glücklich, die andere
verzweifelt. Ach, du schöne Gruppenharmonie! Du kannst einem schon
zum Halse raushängen, wenn ich
mich in puncto Zufriedenheit am unteren Ende der Skala
befinde.
Meine Nachbarin ist glücklich. Ihr Baby ist zwei
Wochen alt. Meines ist fast fünf Monate auf der Welt.
»Stell dir vor«, sagt sie, »die Kleine schläft
durch! Ich habe die ganze Woche geschlafen wie ein
Murmeltier!«
Ich merke, wie meine Gesichtszüge entgleiten. Ich
werde gallenbittergrün. Nie in meinem Leben war ich so hässlich
neidisch.
»Aha«, sage ich tonlos. »Wie schön.« Tiefe Schatten
liegen um meine Augen.
»Ich muss dann mal los«, sage ich. Und lasse sie
einfach sitzen.
Neid und Gruppenharmonie
Es ist ohne Zweifel eine der größten
Herausforderungen, andere Eltern glücklich und zufrieden zu sehen,
ohne es selbst gerade zu sein. Da kann ein Mensch schon mal schnell
neidisch werden.
Nun ist Neid an sich nicht nur eine schlechte
Eigenschaft. Im Gegenteil - er kann Menschen positiv motivieren.
Nehmen wir folgenden Witz vom Neid-Forscher Rolf Haubl aus seinem
Buch Neidisch sind immer nur die anderen:
»Geht ein US-Amerikaner mit seinem Freund
spazieren. Kommt ein großer Cadillac vorbei. Sagt der Amerikaner zu
seinem Freund: ›So einen Wagen fahre ich auch noch mal!‹ - Geht ein
Deutscher mit seinem Freund die Straße entlang, fährt ein BMW
vorbei. Sagt der Deutsche zu seinem Freund: ›Der Typ geht auch noch
mal zu Fuß!‹«
Wie der Witz durchblicken lässt, gelten wir
Deutsche im interkulturellen Vergleich nicht gerade als besonders
großzügig. Uns Deutschen wird eher nachgesagt, ordentlich
missgünstig neidisch zu sein. Wir sehen es nicht gerne, wenn
Einzelne sich allzu deutlich von der Gruppe entfernen, ob nach
unten oder nach oben. Nur wenige fühlen sich durch die Güter
anderer angespornt. Im Allgemeinen frustriert den Deutschen das
offensichtliche Glück anderer eher, als dass es ihn zum Nacheifern
veranlasst.
Und Mütter sind da nicht anders. Ja, um ehrlich zu
sein, bin ich besonders anfällig für missgünstigen Neid. Ich bin
todmüde und erschöpft. Ich habe keine Hilfe von Verwandten und mein
Mann arbeitet viel. Die pränatale Diagnostik sitzt mir immer noch
in den Knochen, die Angst im Alltag macht mich fertig, die
Anforderungen der Ratgeber schnüren mir den Hals zu und die
Mutterschuld sitzt mir im Nacken. Ich habe ständig Angst zu
versagen und nage an gewaltigen Schuldgefühlen. In einer Zeit, in
der Medien rund um die Uhr verkünden, dass alles machbar sei - »man
muss es nur wollen« -, finde ich es sehr beschämend, wenn mein Baby
oder ich eben nicht »alles« machen. Mir fällt gar nicht auf, dass
es den meisten anderen Müttern auch so geht. Sie wirken so viel
selbstsicherer, zielstrebiger und entschlossener als ich.
Manchmal reicht es in einer miesen Stimmung, eine
andere Mutter zufrieden mit ihrem Kind auf dem Spielplatz sitzen zu
sehen, um mich schlecht zu fühlen. Ich schätze es nicht besonders,
wenn eine andere Mutter es anders macht als ich, vor allem nicht,
wenn sie es irgendwie besser zu machen scheint. Das hat einerseits
mit dem Wunsch zu tun, Gleiche unter Gleichen zu sein, andererseits
mit meinem Bestreben, einzigartig sein zu wollen. Einzigartig
schlecht zu sein, war eigentlich nicht meine Absicht. Geht es mir
gerade schlecht und einer anderen Mutter so richtig gut, fühle ich
mich ganz schnell ganz klein. Und da können harmlos gemeinte
Bemerkungen anderer Mütter in meinem frustrierten Mutterohr
überraschend heftig zu bösen Vorwürfen mutieren:
»Na, sie SCHREIT aber VIEL!«
»Was? Du bringst dein Kind um 10 Uhr ins Bett? Ist
dir das nicht ZU SPÄT?«,
»Ich KOCHE unseren Brei immer SELBST. Man weiß ja
nie, was in den Gläsern ist.«
Es ist wirklich schwer zu sagen, wie Sticheleien
zwischen Müttern beginnen - ist die eine unbefangen in ihren
Bemerkungen und die andere einfach überempfindlich? Oder will mich
da tatsächlich eine ärgern? Es ist Vorsicht geboten vor voreiligen
Schlüssen und ausgeprägtem Selbstmitleid, denn die Deutschen sind
an sich kein Volk, das zu Lob und positivem Denken neigt. In
Deutschland ist es die Kritik, die weiterbringen soll, der Fokus
auf den Mangel - und nicht das ausufernde Lob. Das Glas ist halb
leer und nicht halb voll, und jeder, der etwas anderes behauptet,
ist ein armer Optimist. Manche Mutter fühlt sich ganz zu Unrecht
bestraft. Vielleicht ist die Dame gar nicht missgünstig, sondern
nur einfach typisch deutsch zurückhaltend, besserwisserisch oder
freut sich auch nicht an ihrem eigenen Kind. Wie soll sie sich dann
mit anderen freuen?
Das ist vielleicht das wahrhaft Aufregende unter
deutschen Müttern. Die verkannte Würze im Kinder-Mütter-Alltag: Man
weiß nie, woran man ist. Es bleibt immer etwas aufregend.
Ressentiments zwischen Müttern laufen meist sehr subtil ab. Es sind
Nadelspitzen, kleine, feine Pfeile, die verschossen werden, und
damit ist es wohl auch wie in vielen Arbeitstreffen: Antipathien,
Neid und Konkurrenzgefühle werden unter der Oberfläche, indirekt
ausgetragen. Es gilt, sich keine Blöße zu geben und sich nicht
angreifbar zu machen. Wichtig ist, die Gegnerin im Unklaren zu
lassen. Hat sie mich nun ärgern wollen oder bin ich einfach nur
verweichlicht? Dazu eignen sich sehr schön bedeutsames Schweigen
oder unerbetene Informationen, zum Beispiel »Mein Harry kann schon
laufen«, wohl wissend, dass es Lisbeth noch nicht kann, oder
intensives Nachfragen zum Entwicklungszustand des Kindes, als Sorge
getarnt:
»Kann er immer noch nicht laufen? Mach dir keine
Sorgen, das wächst sich bestimmt irgendwann aus. Hat er denn andere
Talente?«
Die Informationen und Bemerkungen müssen so
geschickt platziert werden, dass frau im Notfall alles treuherzig
abstreiten
kann. Das ist wichtig, da sie sonst Gefahr läuft, für ihr
ungebührliches Verhalten von der Gruppe ausgegrenzt zu werden. Und
wo sollte sie dann noch hin?
Dabei wäre es so einfach, sich gegenseitig zu
bestärken. Hey, ihr Gruppenleiterinnen! Wie wäre es denn mit
Lobrunden, die wir in deutschen Mutter-Kind-Gruppen einführen?
Vielleicht können wir so etwas üben. Wir richten das Augenmerk auf
das Gelungene und das Gute unter uns und bauen uns gegenseitig auf.
Damit wir das psychologische Umfeld bekommen, in dem wir uns als
Mütter ausprobieren und unsere Fähigkeiten erkunden können, anstatt
irgendwelchen weltfremden Richtlinien nachzueifern. Vielleicht
merken wir dann, wie stark wir sind und dass nicht nur ein
besonnener Mutter-Coach das Gelbe vom Ei ist. Vielleicht entsteht
dann so etwas wie Vertrauen, Gruppengefühl und Toleranz unter
Müttern. Es geht ja nicht darum, uns schönzureden. Es geht darum,
die Ansprüche mal etwas herunterzuschrauben. Und nebenbei wird
unser Nachwuchs auf gelungene Motivation eingeschworen für
Arbeitstreffen jeder Art künftiger Generationen. Das wäre doch mal
was.
Leider ist es noch nicht so weit und ich will bald
keine Hilfsnetzwerke mit anderen Müttern mehr gründen und mich mit
ihnen austauschen, so wie ich es vor der Schwangerschaft geplant
hatte, denn mir schwant dunkel, dass wir uns herzlich wenig
bestärken würden, sondern uns eher gegenseitig runterziehen würden.
Wir haben ja alle kaum Kraft, uns selbst über Wasser zu
halten.
Die Stärkung des Selbstbewusstseins scheint eher
anders herum zu funktionieren: Wir Mütter werden guter Dinge, wenn
wir andere Mütter bekritteln können. Es tut doch gut, nicht immer
die Erste in der Nahrungskette zu sein, die gefressen wird, sondern
ein paar andere hübsch vor mir über die Klinge springen zu
lassen.
Wir beherrschen sie alle, diese Taktik zur Rettung
unseres Rest Seelenfriedens: Wir treffen uns mit Müttern, die ihr
Kind ähnlich pflegen und erziehen wie wir (dann fühlen wir uns
wenigstens in der Wahl unserer Herangehensweise bestärkt, wenn
schon nicht in der Ausführung derselben), und dann
tun wir so, als wüssten wir am besten, was gut für Kinder ist. Und
dann wundern wir uns gemeinsam über die Pflege und Erziehung der
anderen. Und dann fühlen wir uns gut.
»Hast du gesehen, wie sie mit ihrem Kind umgeht?
Das würde ich nie machen. Das ist doch wirklich seltsam!«
Es spielt keine Rolle, ob uns Frauen in diesen
Momenten irgendetwas anderes verbindet als ein kleines gemeinsames
Stück Kindererziehung. Was zählt, ist dieses bisschen Sicherheit
und Entspannung. Wir wollen auch mal das Gefühl haben, es richtig
zu machen. Der Druck ist so hoch. Und je höher der Druck, desto
unerbittlicher sind wir mit anderen.
Es ist immer wieder verblüffend, wie wir bei aller
Verunsicherung, die uns bei unseren eigenen Kindern von Zeit zu
Zeit überfällt, für Kinder anderer Mütter immer ganz genau sagen
können, was richtig für sie wäre. Damit wir uns recht verstehen -
es geht nicht nur um große grundsätzliche Belange, die diskutiert
werden - ob Kinder gedemütigt, vernachlässigt, missbraucht oder
geschlagen werden -, sondern es geht um die vielen kleinen Details,
die den Alltag von Mutter und Kind ausmachen. Es geht um die
kleinen Mosaiksteine, die das Bild der perfekten Mutter
zusammensetzen.
Da ist zum Beispiel die ausländische Mitbürgerin,
die ihr Kind zweisprachig erzieht, und das in einer Gruppe, in der
ansonsten nur Deutsch gesprochen wird. Sie hat es nicht einfach.
Ihr werden gerne mal diverse Theorien aus Ratgeberbüchern
unterbreitet, was das Beste für ihr Kind sei, und das, was sie
mache, wäre es ganz sicher nicht.
Da ist die Mutter, die ihr Kind um Mitternacht zu
Bett legt. Sie kann sich freuen: Auch das wird diskutiert. Ein
deutsches Baby schläft am besten von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens.
Punktum!
Da ist die Frau, die ihrem Baby frühzeitig harte
Brötchen zum Lutschen gibt. Aufregung in der Gruppe. Ob das denn
schon gut für das Kind ist? Sie kann doch nicht einfach machen, was
sie will. Wo kämen wir da hin?
Ja, du schöne Gruppenharmonie.
Das erklärt doch gut, warum die eine oder andere
Mutter einfach dem Herdentrieb folgt, anstatt überhaupt erst in
Versuchung zu geraten, eine eigene Meinung zu entwickeln.
Was für Außenstehende wie der übliche harmlose
Zickenkrieg aussieht, ist Müttern von Babys und Kleinkindern
todernst. In kaum einer anderen Gruppe wird so gnadenlos selektiert
wie unter Müttern. Sehen Sie die Geburt als bewegendes
Naturerlebnis und wollen auf keinen Fall Schmerzmittel? Vermutlich
werden Sie erst einmal keine Anhängerin von Vollnarkose und
Kaiserschnitten zur Freundin haben. Gebären Sie im Geburtshaus und
legen Sie Wert auf Stoffwindeln? Es ist unwahrscheinlich, dass Sie
Freundinnen im Krankenhaus-Pampers-Lager finden. Stillen Sie oder
geben Sie die Flasche? Eine wichtige Entscheidung für Ihren
Freundeskreis. Kaufen Sie Gläschen oder kochen Sie selbst Öko-Brei?
Favorisieren Sie das Familienbett? Beschäftigen Sie Babysitter? All
diese für Außenstehende nichtig erscheinenden Aspekte haben das
Potenzial, ganze Riegen unerfahrener Mütter zu trennen. War die
Suche nach Freundinnen in einem früheren Leben oft ein langes
Auseinandertüfteln von »so bist du und so bin ich und wir schauen,
ob wir zusammenpassen«, ist sie jetzt ein Ruck-zuck-Verfahren. Frei
nach dem Motto: »Zeige mir dein Kind und wie du es behandelst, und
dann schaue ich, ob ich dich treffen will.«
Die Impfdebatte: Mehr als eine persönliche Entscheidung
Das Thema »Impfen: ja oder nein?« ist hierbei
regelrecht zum Glaubenskrieg mutiert, nicht nur unter Müttern. Denn
hier geht es ja nicht mehr allein darum, dass Eltern für ihr
eigenes Kind entscheiden, sondern es geht auch um die Frage, ob
Impfverweigerung anderen Kindern schaden könnte, eine These, die
von vielen Ärzten und Eltern vehement vertreten wird, von anderen
Ärzten und Eltern genauso heftig bestritten wird. Zu dem Thema gibt
es unzählige Texte, Argumente, Gespräche und Studien. Forscher X
behauptet dies, Forscherin Y proklamiert das, und im Freundes- und
Bekanntenkreis
kursieren haarsträubende Geschichten und Bücher über Impfungen
genauso wie über Impfverweigerer. Letztendlich gibt es keine
absolut richtige oder absolut falsche Entscheidung. Es gibt nur
eine Wahl zwischen beiden. Wir müssen ins kalte Wasser springen, ob
es uns gefällt oder nicht. Viele drehen sich im Kreis auf der Suche
nach der perfekten Lösung, andere folgen den Empfehlungen ihres
Kinderarztes, aber wie wir uns auch entscheiden - so oder so könnte
ein Kind Schaden nehmen.
Und deshalb sind Diskussionen um dieses Thema immer
besonders sensibel. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander,
vergleichbar den Diskussionen zwischen eingefleischten
Schulmedizinern und überzeugten Homöopathen, sondern hier sitzen
Mütter, die echte und begründete Angst haben, mit ihrer
Entscheidung ihrem Kind zu schaden, und nur gutgläubige
Anfängerinnen in der Mutterwelt wie ich beginnen arglos Gespräche
über Impfungen und wissen dann gar nicht, wie ihnen geschieht.
Mutter-Kind-Gruppen werden ja meist nach dem Alter der Kinder
zusammengestellt, nicht nach den Interessen und Weltbildern ihrer
Mütter. Da können sich schon mal spannende Konstellationen in der
Gruppendynamik ergeben. Wer einmal erlebt hat, wie Mütter sich über
dieses Thema von jetzt auf gleich bitterböse in die Haare geraten,
ist fassungslos, wie tief die Ängste schwelen und wie hoch die
Aggressionen kochen können - und macht sich keine Illusionen mehr
über die Toleranz unter Müttern.
Zehn nette Mütter, die sich immer gut verstanden
haben, sitzen im PEKiP-Kreis auf dem Boden. Die Sonne lacht, wir
sind gut gelaunt, unsere Babys liegen ruhig auf den Gummimatten und
machen Pause. Wir haben Zeit zum Plauschen.
»Habt ihr eure Kinder schon geimpft?«, frage
ich.
»Ja, letzte Woche«, sagt Sabine.
»Ich weiß nicht, ob ich impfen lasse«, sagt
Katrin.
Kurzes Schweigen.
»Wieso weißt du das nicht?«, fragt Sabine.
»Weil ich gelesen habe, dass Impfschäden auftreten
können. Ich finde das gefährlich«, antwortet Katrin.
Kurzes Schweigen.
»Also, wir haben die Fünffachimpfung gemacht und
sie hat alles gut vertragen«, sagt Sabine plötzlich mit hochrotem
Kopf. »Ich glaube nicht, dass wir unser Kind in Gefahr gebracht
haben.« Sie holt Luft. »Ich finde es eher kriminell, sein Kind
nicht zu impfen. Damit gefährdet man alle anderen Kinder.«
Wieder Schweigen.
Die Mütter nesteln nervös an ihren Kindern
rum.
Katrin betont ruhig:
»Willst du damit sagen, dass ich eine Verbrecherin
bin, wenn ich nicht impfen lasse?«
»In gewissem Sinne ja, schon«, sagt Sabine.
Katrin zeigt rote Flecken am Hals.
»Das ist doch absurd. Schließlich haben wir immer
noch die Impffreiheit.« Kurze Pause. Dann fügt sie hinzu: »Ich
finde die Fünffachimpfung kriminell. Das würde ich schon mal gar
nicht machen. Damit spritzt man doch etliche Krankheitserreger auf
einmal. Weißt du, wie viele Kinder davon behindert wurden nach
dieser Impfung?«
»Weißt du, wie viele Kinder durch Leute wie du
schon gestorben sind?«, ruft Brigitte auf einmal hitzig von hinten
in den Raum. »Das ist total egoistisch. Dein Kind kann Krankheiten
übertragen und unsere sterben daran.«
»Wenn das Kind geimpft ist und die Impfung nicht
anschlägt, kann man ja wohl nicht denen die Schuld geben, die nicht
geimpft sind. Dann war die Impfdosis wohl Schrott«, wirft Katrin
erbost zurück.
»Ja, klar! So einfach kann man sich das machen. Wir
lassen unsere Kinder alle impfen, damit ihr schön ohne Krankheit
und Impfung leben könnt«, zischt Sabine.
»Die Krankheiten, gegen die man impft, sind so gut
wie ausgerottet, und übrigens nicht wegen der Impfungen, sondern
wegen der gestiegenen Hygiene. Ich bringe mein Kind nicht in
Gefahr, nur weil ihr glaubt, dass ich das machen muss. Impfung ist
doch nichts anderes als Körperverletzung!«
»Nicht-Impfung ist kriminell!«, ruft
Brigitte.
Aufgebracht starren sich die Frauen an.
»Ich muss jetzt weg«, sage ich mit vor Schreck
geweiteten Augen und laut klopfendem Herzen, und im Nu rennen wir
alle auseinander.
Die Impfdebatte zu aller Zufriedenheit aufzulösen
ist unmöglich, und daher ist sie ein hervorragendes Beispiel, wie
die moderne Mutter-Kind-Welt im Grunde funktioniert: Wenn ich es
anders mache als die anderen, kann ich nicht mit Toleranz und schon
gar nicht mit aufrichtigem Interesse oder Respekt rechnen. Ganz im
Gegenteil: Ich kann mich auf Schuldzuweisungen freuen. Wenn ich es
anders mache als andere Mütter, bin ich per se die Doofe. Wohl der,
die eine Gruppe von Müttern findet, zu der sie passt. Und
bedauernswert die, die keine Verbündeten findet. Es kann ganz schön
einsam werden. Und der ganze Spaß unter Müttern geht erst richtig
los, wenn es nicht mehr allein um die Frage geht, ob denn eine
Spritze gesetzt werden soll oder ein Brötchen geknabbert werden
darf. Die wahren Brüche unter Müttern finden ganz woanders statt.
Die echte Trennung vollzieht sich zwischen Hausfrauen und
Berufstätigen.
Wer ist der bessere Coach: Hausfrau oder Erwerbstätige?
Interessanterweise wird im Gegensatz zum Thema
Impfung dieser Punkt »Zu Hause bleiben oder arbeiten gehen« kaum
noch im Alltag zwischen Müttern entgegengesetzter Positionen
diskutiert. Da sind wir inzwischen alle vorgewarnt. Aber unter
Gleichgesinnten und auch in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und
im Internet können wir, auch gerne anonym, ungezwungen die Meinung
sagen. Und es ist nicht übertrieben zu sagen: Die gegenseitigen
Vorwürfe von einer Mutter zur anderen schwingen sich zu einer
Gehässigkeit und Aggression auf, die man sich so im Alltag besser
nicht erlauben sollte, wenn man gedenkt, noch einmal unbehelligt
auf die Straße zu gehen. In diesen uns allen wohlbekannten
Statements, welche Mutter denn nun die beste Kinderbetreuung
leistet, herrschen eine Intoleranz und eine Angriffslust, die
ihresgleichen suchen. »Du vernachlässigst dein Kind« kontra »Du
klammerst« ist da noch freundlich.
Es ist übrigens in diesen Beiträgen zur gelungenen
Kinderbetreuung für alle Mütter immer ganz wichtig zu
signalisieren, dass es ihnen als Mutter natürlich nicht darauf
ankommt, was sie als Frau im Leben wollen, wie sie ihre Tage
verbringen möchten oder sich für ihr Leben zu rechtfertigen.
Sondern es ist natürlich immer nur wichtig, was ich als Mutter und
gute Bürgerin darf. Wo leiste ich am meisten für die Gesellschaft?
Wie kann mein Kind durch meine Arbeit optimal aufwachsen?
Im Prinzip ist damit in unserer modernen Zeit an
die Stelle des Patriarchen, der die Frau jahrhundertelang zur
Leistung antrieb, das Kind getreten, dem wir unter Anleitung von
Experten dienen und opfern. Und das Kind muss nicht mal selbst die
Peitsche schwingen. Was für selbstlose, göttliche Kreaturen wir
Mütter doch sind!
Zurück zur Schuldfrage: In den letzten Jahren haben
sich die Positionen in Deutschland verschoben. Während es vor gar
nicht allzu langer Zeit in diesen wunderbaren Kleinkriegen zwischen
Berufstätigen und Hausfrauen im Prinzip darum ging, dass das Kind
zu seiner Mutter gehört, weil es nur bei ihr die echte Liebe
erfahre, die es brauche, um Urvertrauen zu bilden, steht heute
zunehmend die Frage im Fokus, welcher Muttertyp dem Kind eine
bessere Karriere ermöglicht. Wie kann man beim Kind mehr Synapsen
im Hirn zum Wachsen anreizen und seine soziale Kompetenz schulen?
Welches Kind ist hier begünstigt? Das, welches gemütlich an Mamis
Rock hängt, oder jenes, welches in Kindergruppen von Anfang an
gefordert wird? Welche Mutter ist das bessere Vorbild für kleine
Töchter, für die späteren erfolgreichen Geschäftsleute,
Ingenieurinnen und Projektentwicklerinnen, die jetzt noch in den
Windeln stecken? Das Heimchen am Herd oder die berufstätige Frau?
Na eben.
Mit anderen Worten: Hausfrauen haben heutzutage ein
denkbar schlechtes Image. Sie gelten bei Nicht-Hausfrauen als
langweilig, dumm und unterdrückt und als karrierehemmend
für ihren Nachwuchs. Also würde ich mir eher die Zunge abbeißen
als von mir zu sagen, ich wäre Hausfrau. Je nach Stimmung variiere
ich meine Antworten, wenn es Fragen nach meiner beruflichen
Situation gibt. Ich nuschele durch die Zähne solche Sachen wie »bin
zurzeit zu Hause«, »Erziehungszeit« oder »momentan Vollzeitmutter«.
Hausfrau sein ist völlig out, und ich möchte mich nicht
mitleidig belächeln lassen, zumal ich gar kein Haus bewohne,
sondern nur eine Wohnung. Der Begriff »Hausfrau« kommt mir da
doppelt albern vor. Ich bin eine moderne junge Mutter, ich will
auch als solche gelten.
Das Dumme ist nur, dass ich nicht erwerbstätig bin
und auch keinen Arbeitsplatz vorweisen kann, an den ich eines Tages
zurückkehren könnte. Wenn man es genau nimmt, bin ich eine
Hausfrau, nur habe ich noch keinen Namen gefunden, der diesen Fakt
für andere als das Erstrebenswerte darstellt, was es trotz aller
Schwierigkeiten als Mutter für mich ist. Wohin ich auch schaue -
der Begriff »Hausfrau« weckte düstere Vorstellungen.
Denn ich bin als Hausfrau kein Opfer mehr, und so
paradox es klingen mag: Das genau ist mein Problem. Ich werde nicht
mehr durch Ehegesetze gezwungen, zu Hause zu bleiben, die Kinder zu
erziehen, zu waschen, zu kochen, zu putzen und zu trösten. Heute
dürfen Frauen lernen, studieren, arbeiten, Geld verdienen. Sie
können theoretisch selbst entscheiden, ob sie schwanger werden
wollen oder nicht. Sie müssen nicht mehr heiraten und Kinder
kriegen, um akzeptiert zu werden. Sie heißen nicht mehr »Fräulein«
oder »alte Juffer« (auch: »alte Jungfer«), wenn sie ledig bleiben.
Seit 1977 dürfen Männer ihren Ehefrauen nicht mehr verbieten,
berufstätig zu sein, seit 1994 dürfen Frauen ihren Namen bei einer
Eheschließung behalten und seit 1997 darf der Gatte sie auch
tatsächlich nicht mehr straffrei in der Ehe vergewaltigen. Frauen
sind in Deutschland per Gesetz keine Untergebenen mehr - zwar noch
nicht lange, aber immerhin - und daher kann ich nicht wie meine
Kolleginnen in den 70er-Jahren mit dem Mitleidsbonus rechnen. Ganz
im Gegenteil. Ich muss mich für meine Lebensweise
rechtfertigen.
Interessanterweise bedeutet für viele Menschen
»Emanzipation der Frau« nicht die Freiheit einer Frau, über ihr
Leben selbst entscheiden zu können und gemäß ihren Neigungen und
Anschauungen zu leben, solange sie mit dem Grundgesetz und der
Verfassung einhergehen. Sondern »Emanzipation der Frau« heißt hier
vielmehr, sich richtig entscheiden zu müssen, einem höheren Ganzen
zuliebe. Sprich: sich so zu entscheiden, wie es diese oder jene
Gruppierung für richtig hält, um unsere Gesellschaft im Ganzen zu
verbessern. In diesem Zusammenhang wird häufig nicht der
Zwang zur Hausarbeit als Unterdrückung gesehen, sondern die
Hausarbeit an sich, die Arbeit einer Hausfrau zum Wohle anderer,
auch wenn sie freiwillig geleistet wird.
Mir ist das alles sehr peinlich. Ich habe mich
immer als Feministin verstanden und bin aufrichtig betrübt, nicht
mehr dazuzugehören. Ich will den Fortschritt der Frauen nicht
aufhalten. Ich fühle mich schuldig und unwohl bei dem Gedanken,
patriarchalen Strukturen zum Auftrieb zu verhelfen, auch wenn mir
nicht ganz klar wird - so denke ich ketzerisch -, was ich früher im
Büro zur Rettung der Frauen beitrug, so fremdbestimmt und
ausgeliefert ich mich damals oft fühlte.
Aber wie dem auch sein - ich bin wild entschlossen,
jeden Verdacht einer unterdrückten Mutti und Hausfrau im Keime zu
ersticken. Ich möchte zeigen, dass auch ich mich mündig in die
Gesellschaft einbringe. Ich möchte zeigen, dass auch ich als
Hausfrau im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, Rechte und
Pflichten bin. Schließlich bin ich immer noch dieselbe wie früher,
nur jetzt mit Kind und ohne Lohn.
Allerdings scheint meine Überzeugungskraft mäßig zu
sein. Während ich früher mein stressiges Arbeitsleben in
Partygesprächen zu eindrucksvollen Projekten einer Powerfrau
aufpeppen konnte, hängt mir heute keiner mehr an den Lippen. Meine
Versuche, mein Leben als Mutter und Hausfrau als erfüllend und
anspruchsvoll darzustellen, werden höchstens belächelt. Ja, ich
werde sogar gefragt, wann ich wieder richtig arbeiten werde, ob ich
mich nicht langweilen würde und nicht intellektuell unterfordert
sei. Anfangs habe ich auf diese Fragen noch fröhlich und ehrlich
geantwortet, dass ich
es liebe, keinen Chef zu haben und gute Zeitungen und Bücher zu
lesen, aber eines musste ich schnell lernen: langweilige Hausfrauen
sind schlecht. Hausfrauen, die sich ein schönes Leben zu machen
versuchen, sind noch viel schlechter. Wo doch alle anderen so
selbstlos schuften. Pfui!
Mit einiger Verblüffung sehe ich, dass es meiner
berufstätigen Freundin auch nicht besser geht. Zwar erfüllt sie
formal alle Kriterien einer emanzipierten Frau und Mutter, und ihr
Kind wird von Anfang an gefordert, aber man will ihr doch nicht so
recht verzeihen, dass sie auch noch zufrieden ist. Wenn schon
Karriere als Mutter, dann doch bitte als Verzicht! Wenn sie sagt,
dass sie gerne arbeitet und es nicht anders haben möchte, schnappen
viele Menschen hörbar nach Luft. Beim kleinsten Fehlverhalten ihres
Kindes wird sie scheel angesehen und das Wort »Rabenmutter« schwebt
laufend unausgesprochen im Raum. Sie muss sich immer mal wieder
fragen lassen, warum sie denn überhaupt Kinder hat, wenn sie
Karriere möchte, und im Büro schwingen sie gerne die »Dein Kind ist
immer krank«-Keule, die sie schmerzhaft trifft, weil ihr
Unternehmen alles andere als familienfreundliche Arbeitszeiten hat
und gute flexible Kinderbetreuung, die sich der Arbeitswelt
anpasst, eigentlich gar nicht existiert. Einige interessante
Projekte gehen ihr durch die Lappen, weil sie wegen ihrer Kinder
nicht uneingeschränkt einsetzbar ist. Wenn sie aber gnädigerweise
ein wichtiges Projekt ergattert, muss sie sich wieder von anderer
Stelle vorhalten lassen, eine schlechte Mutter zu sein.
Da kann man schon mal sauer werden, auch
aufeinander, die Hausfrauen und die Berufstätigen. Denn eines ist
doch wohl klar: Wäre die Mutter nicht, die es anders macht, müsste
ich mich nicht rechtfertigen für das, was ich mache. Wenn wir alle
dasselbe machen würden, gäbe es keine Diskussionen, keine Angriffe,
keine Rechtfertigungen, keine Schuldgefühle, keine Versagensängste,
keine vernichtenden Urteile.
Gäbe es keine Hausfrauen, hätten die Berufstätigen
ein leichteres Leben, weil die Unternehmen sich darauf einstellten
und die Gesellschaft sie nicht mehr als Rabenmutter beschimpfte
und lückenlose professionelle Kinderbetreuung anbieten
müsste.
Wären die Berufstätigen nicht, müssten sich die
Hausfrauen nicht vorwerfen lassen, langweilige Frauen und Heimchen
am Herd zu sein und ihre Kinder nicht genügend zu fordern, sondern
im Gegenteil maßlos zu behüten.
Wir würden alle besser leben.
Dieser Gedanke einer uniformen Mutterbeschäftigung
für alle ist in unserer vielfältigen Gesellschaft heutzutage so
simpel wie absurd, ist aber nichtsdestotrotz ein kleiner, kräftiger
Motor für unzählige Mütter-Fehden. Zahllose Mütter versuchen
grimmig andere Mütter in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und im
Internet zu überzeugen, dass sie sich genauso - oh Verzeihung -
anders verhalten sollen, damit die Schwierigkeiten endlich
aufhören. Solche Feldzüge finden auch gerne mal
pseudowissenschaftlich in Fernseh-Talkshows statt. Hausfrauen
schimpfen über Berufstätige und Berufstätige über Hausfrauen und
zwischendrin flackert die eine oder andere psychologische,
feministische, ökonomische, soziologische oder sonst eine Theorie
auf sowie viele schöne Vorurteile und Schubladendenken.
Natürlich schneiden wir Mütter uns ins eigene
Fleisch, wenn wir uns gegenseitig immerzu angreifen. Es rächt sich,
dass wir nicht miteinander diskutieren und unsere unterschiedlichen
Lebensentwürfe anerkennen, sondern lieber aufeinander
draufhauen.
Wenn zum Beispiel Berufstätige behaupten, dass
Lohnarbeit viel mehr wert sei als die Arbeit zu Hause, machen sie
sich blind für ihre eigene alltägliche Leistung, die sie selbst Tag
für Tag zu Hause erbringen, und das führt zu solch merkwürdigen
Wahrnehmungen wie die einer teilzeitarbeitenden Mutter, die nicht
versteht, warum sie sich so ausgebrannt fühlt.
»Ich arbeite doch nur zwei Vormittage in der Woche.
Den Rest der Woche bin ich doch zu Hause.«
Oder es kommt zu solch rührenden Bekenntnissen von
beruflich erfolgreichen Frauen, wie sie immer mal wieder durch
Interviews in Frauenzeitschriften geistern:
»Im Büro mache ich Urlaub von den Kindern und wenn
ich bei den Kindern bin, mache ich Urlaub vom Büro.«
Man möchte ihnen am liebsten zurufen: Wie wäre es
denn mal mit Urlaub auf dem Tennisplatz?
Und wenn Hausfrauen berufstätige Mütter als
schlechte Mütter verurteilen und Sätze verbreiten wie: »Wenn eine
Frau nicht zu Hause bleiben will, soll sie doch gar keine Kinder
kriegen!«, manövrieren sie sich selbst ganz schnell in eine
Sackgasse.
Eine Mutter, die denkt, eine Mutter sei eine
schlechte Mutter, wenn sie nicht stets in erster Linie an ihre
Kinder denkt und immerzu bei ihnen ist, verbaut sich schlicht
selbst alle Wege, nicht nur Mutter, sondern auch Mensch zu sein.
Sie sieht dann nicht, dass das Leben auch für Frauen mit Kindern
heutzutage tatsächlich sehr viel mehr zu bieten hat als aufopfernde
Selbstaufgabe und dass es Kindern auf viele verschiedene Arten gut
gehen kann. Das kann dazu führen, dass eine Hausfrau tatsächlich
lebt wie ein Klischee der frustrierten Hausfrau, die sich Tag und
Nacht abrackert und Undankbarkeit von allen beklagt, aber nicht
weiß, wie sie dem Hamsterrad entkommen soll.
Es ist schade, aber wir Frauen mit Kindern sind
eine heillos zerstrittene Mannschaft, in der jede die Position der
anderen auf dem Spielfeld beäugt und beschimpft. Willkommen im Klub
der ewigen Verliererinnen. So kann man keine Siege einfahren und
kein gutes Gefühl unter Müttern verbreiten.
Inzwischen bin ich auf der Hut. Wann immer ich das
Wort »Mutter« in einer Schlagzeile lese oder im Fernsehen höre,
blättere ich schnell weiter oder schalte um. Ich will mir nicht
schon wieder die Laune verderben lassen.
Das andere Geschlecht: die Väter
Väter können sich übrigens inzwischen entspannt
zurücklehnen und die Hände reiben. Die Frauen halten sich so
angestrengt in Schach und werfen sich gegenseitig so vehement vor,
ihren Pflichten als Frau oder Mutter nicht zu genügen,
dass sie völlig vergessen, auch die Väter stärker in die Pflicht
zu nehmen. Ja, es geht sogar so weit, dass - hurra, wir sind
modern! - der Nutzen der Frau für den Mann zum ernst gemeinten
Diskussionsargument wird: »Eine Hausfrau ist für den Mann
langweilig« kontra »Karrierefrauen geben dem Mann nicht die
Aufmerksamkeit, die er braucht«. Wenn er sie verlässt, ist immer
sie schuld. Darüber herrscht Einigkeit. Da ist man doch gerne
Mann.
Sehen wir es positiv - ist es nicht schön, dass wir
so gut zu unseren Männern sind, wenn wir es schon nicht zu uns
selbst sind? Es sei ihnen doch gegönnt, den neuen Vätern, auch wenn
es sehr viel weniger sind, als man gemeinhin annimmt.
Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, als
würde ich die vielen guten Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten
bei den Männern nicht sehen. Natürlich gibt es den neuen Vater, der
sich liebevoll und verantwortungsbewusst um sein Kind kümmert.
Natürlich gibt es Männer, die echte Partner sind. Und es gibt immer
mehr von ihnen. Schön! Ich hätte kein Kind, wenn es nicht so wäre.
Dank an den Trüffel! Aber all denen, die deswegen die rosa
Papi-Brille tragen, sei gesagt: Es gibt immer noch nicht genug von
ihnen. Wir sollten uns nicht davon täuschen lassen, dass Männer in
Kreißsälen zu sehen sind, Elterngeld beantragen, geschickt windeln
und füttern und mit Kinderwagen das Straßenbild bevölkern. In
Deutschland hält sich nach wie vor hartnäckig die Auffassung, dass
ein Kind zu seiner Mutter gehört und der Haushalt Frauensache ist.
Nach einer Familienstudie von Vorwerk 2008 wünscht sich fast jede
zweite Frau (42 Prozent) vom Partner mehr Hilfe im Haushalt - wobei
das Wort »Hilfe« schon alles über das Rollenverständnis sagt. 90
Prozent der Männer aber sind überzeugt: »Mehr Hilfe ist nicht
nötig!« Und während 64 Prozent der 16- bis 29-jährigen Frauen es
für »ganz besonders wichtig halten«, dass berufstätige Mütter ihre
Freizeit nicht nur mit Hausarbeit und Kinderpflege verbringen,
findet nur jeder Dritte der gleichaltrigen Männer, dass Frauen sich
nicht für die Familie aufopfern, sondern selbstbewusst auch eigene
Interessen und Wünsche durchsetzen sollten.
Man muss es diesen Männern lassen: In ihrem Kosmos
sind sie logisch. Sie wollen doch auch nur das Beste für ihr Kind,
und dafür sind sie bereit, das Beste ihrer Frauen zu opfern. Wie
sollen Mütter auch Zeit haben für ihre Interessen, wenn sie
»Haushalt und Kinder« sorgfältig »erledigen«? Denn »Haushalt und
Kinder« ist großzügig definiert: Es ist nicht nur Waschen, Putzen,
Bügeln, Staubsaugen, Einkaufen und Kochen, Kinderpflege,
-einkleidung, -transport, -erziehung, Babysitten und Betreuung der
Hausaufgaben, nicht nur die Erforschung und Begleitung zu
sämtlichen Förderkursen, Therapien und Elternabenden, sondern auch
die Planung und Organisation aller Familien- und Gesellschaftsfeste
und gemeinsamen Unternehmungen in der Familie. Ob Geburtstage für
Groß und Klein, Karneval, Ostern, Sankt Martin, Halloween oder
Weihnachten, ob Taufe, Kommunion, Konfirmation oder Feste anderer
Religionen, denen man angehört, ob Verwandtenbesuche,
Wochenendausflüge oder Jahresurlaube: Es sind meist Frauen,
berufstätig oder nicht, die sich hier den Kopf zerbrechen, planen,
basteln, nähen, kaufen, einladen und buchen und sich die Hacken
ablaufen, während die Männer, wenn es hochkommt, an besagten Tagen
selbst gerne mal kräftig mit anfassen, ansonsten aber ihre Hirne
und Alltage gerne unbelastet von derlei Tamtam lassen.
Ach, für Mütter und unter Müttern könnte es heute
so schön sein. Ist es aber oft nicht. Wirklich dumm, dass auch wir
Frauen uns gegenseitig so wenig Respekt zollen. Es ist ein
Bumerang, der uns schmerzhaft trifft. Es ist die letzte Bastion,
die fällt. Denn wenn selbst wir Mütter uns nicht das gute Gefühl
geben, genug zu leisten, wer soll es denn dann noch tun?
Nein, Ihr Herren und Damen Ratgeber! Ich weiß
nicht, in welch glücklicher Gesellschaft die Autoren Bruschweiler
und Stern unter Müttern ein »psychologisches Umfeld« finden,
»in dem Sie sich sicher und vertrauenswürdig fühlen können und
in dem Sie den Mut finden, Ihre Fähigkeiten als Mutter zu
erkunden«, aber in meinem Umfeld ganz sicher nicht. In der
Gesellschaft, in der ich mich bewege, sind selbstständige
Erkundungen einer Mutter gar nicht gefragt. Falls ich jemals die
Erwartung hatte, dass ich, wenn ich als Mutter zu anderen Müttern
stoße, einer Welt aus mütterlicher Güte, Freude, Toleranz,
liebender Aufmerksamkeit und unerschütterlicher Sicherheit im
Umgang mit Kindern begegne, war das leider recht kindlich und
falsch. Mütter sind entgegen allen hartnäckigen Gerüchten auch nur
Menschen, und zwar häufig sehr müde, überforderte, ängstliche,
erschöpfte, verunsicherte, geschmähte und aggressionsgeladene
Exemplare, die von allen Seiten massiv unter Druck gesetzt werden,
ein perfektes Kind in einem perfekten Heim zu einem perfekten
Menschen heranziehen zu müssen und nach allen Seiten dabei
versuchen, ein bisschen Sicherheit zu ergattern. Und das bisschen
Sicherheit finden sie oft nur noch unter Gleichgesinnten, nicht
aber bei Andersdenkenden.
Sagt die eine Mutter zur anderen: »Mein Gott, was
ist mein Kind frech. Was habe ich nur falsch gemacht?«
Sagt die andere: »Das kann ich dir genau
sagen!«