Vorwort
Als ich schwanger wurde, habe ich mich an Experten gewandt und Ratgeber gelesen, weil ich wollte, dass es meinem Kind und mir von Anfang an gut geht. Ich war wie alle Mütter, die noch keine Erfahrungen mit Kindern haben, hellhörig für Ratschläge und Einflüsterungen aller Art. Ich machte in der Regel gutwillig das, was andere von mir erwarteten.
Und genau das war mein Untergang.
Denn leider ist es ganz und gar nicht so, dass alle das Beste von Müttern im Sinn haben oder zumindest das unserer Kinder. Viele Menschen profitieren viel eher von unseren Ängsten und hochgezüchteten Bedürfnissen nach Sicherheit, Perfektion und Erfolg. Eine ganze Experten- und Ratgeber- Industrie lebt davon, kräftig elterliche Ängste zu schüren und dann das Heil zu versprechen. Und auch der deutsche Staat ist seit den bescheidenen Ergebnissen der PISA-Studien mehr denn je daran interessiert, mit geringen Mitteln exzellentes Leistungsträgerpersonal zu bekommen. Und was ist preiswerter als die eindringliche Belehrung von Müttern?
Und so umgeben uns von der Schwangerschaft bis in die Schulzeit hinein Tag für Tag haarsträubende Risikoszenarien, Erwartungen, Ideale und Strukturen, die nur eine Halbgöttin zu aller Zufriedenheit in den Griff kriegen könnte, und selbst die hätte wahrscheinlich bald eine hübsche kleine Depression. Denn gelobt und bestätigt werden Mütter selten. Kritisiert, beschuldigt, angezweifelt oder an den Pranger gestellt dagegen oft. Und die Ansprüche an Kinder sind in den letzten Jahren geradezu aberwitzig gestiegen. Sie sollen nicht mehr einfach nur zu anständigen Menschen heranwachsen, die ihrer Tage Arbeit ehrlich nachgehen. Sie sollen sich vielmehr zu den bestmöglichen Individuen entwickeln, die ihre Gene hergeben. Bestmöglich meint in unserer modernen Leistungsgesellschaft nicht liebevoll, hilfsbereit und gütig, sondern leistungsstark, ehrgeizig, schnell, erfolgreich, zielstrebig und bienenfleißig. Fünf Sprachen, sportlich, schlank. »Kind sein« heißt nicht mehr »frei spielen und Spaß haben«, sondern »spielerisch lernen und Potenziale erschließen«. Es gilt, von Anfang an das Optimum aus den Kindern herauszuholen.
 
Was das für uns Mütter bedeutet - denn wir kümmern uns immer noch hauptsächlich um die Kinder -, liegt auf der Hand. Karriereplanung für Kinder ist eine Vollzeitbeschäftigung. Die Sprösslinge können sich ja schlecht alleine fördern. Waren unsere Mütter vor vierzig Jahren zumindest meist zu Hause frei, ihr Leben mit Kindern so zu gestalten, wie sie es gern hatten, sollen wir uns heute ganz auf die wundersame Entfaltung unseres Nachwuchses konzentrieren und ihm allzeit perfekte Vorbilder sein. Wir Mütter sollen möglichst ab dem Zeitpunkt der Zeugung die besten Bedingungen und Anleitungen bieten, die so ein kleines Wesen zur perfekten Entwicklung braucht.
Wie das grundsätzlich anzugehen ist, lernen wir meist früh in der Schwangerschaft bei unseren Gynäkologen, durch Broschüren und Bücher: Die Frau, die sich auf ihre Intuition verlassen möchte, ist verantwortungslos. Risiko, Krankheit und Gefahr lauern überall. Erst die regelmäßige Untersuchung unseres Nachwuchses durch Experten ermöglicht ein gesundes Kind. Und nur mit gründlichen Einarbeitungen in die notwendigen Thematiken (Ausstattung, Ernährung, Pflege, Hygiene, Medizin, Sicherheits- und Schadstoffkunde, Psychologie und Pädagogik) sowie dem Besuch von Kursen (Geburtsvorbereitung, Stillen, PEKiP - das Prager Eltern-Kind-Programm für Kinder im ersten Lebensjahr -, Krabbeln, Spielen, Turnen und so weiter) ist die Mutter eine gute. Nahrung, Pflege, Umgebung und Umgang - alles sollte perfekt sein. Nichts darf dem Zufall überlassen bleiben.
 
Wir lesen eifrig Ratgeber, schulen uns in den geforderten Disziplinen und besorgen die beste Babyausstattung, die wir für unser Geld erstehen können. Wir traben mit oder ohne Mann durch die ortsansässigen Krankenhäuser auf der Suche nach dem optimalen Ort für die Niederkunft. Wir hecheln in Geburtsvorbereitungskursen und machen uns mit akrobatischen Gebärtechniken vertraut. Die Geburt - perfekt geplant und unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen. Nach der Geburt nehmen wir von Anfang an die regelmäßigen Gesundheitschecks beim Kinderarzt wahr - die ersten Stationen auf dem langen Weg der Förderung. Es kostet uns Mütter fast genauso viel Zeit, mit unseren Kindern zu Ärzten, Ergotherapeuten, Logopäden, Krankengymnasten, Osteopathen oder Lerntherapeuten zu gehen, wie von Anfang an die eingehende Recherche nach weiteren Verbesserungswegen zu betreiben. Denn es gibt die Qual der Wahl. Es gibt ja keinen vorgeschriebenen Pfad, nur vorgeschriebene Ziele.
 
Und wenn es nichts zu beanstanden gibt? Auch dann können die Babys nicht einfach machen, was sie wollen, und entspannt in den Tag hinein leben und sich mal eben so von selbst entwickeln. Nein, das Babyalter ist für die ganze Zukunft entscheidend. Ein erfolgreiches, glückliches Leben beginnt in den Windeln. Frühförderung ist angesagt. Wir tragen unsere winzigen Kinder zu den richtigen Kursen und treiben sie mütterlich liebevoll an, mal etwas schneller zu machen, weil die anderen sie sonst überholen. Was nett beginnt mit Singen, Spielen, Schwimmen und Turnen, wird im Vorschulalter immer mehr zur zeitraubenden Pflichterfüllung. Musik-, Kunst- und Kochprojekte, Klavier, Englisch, Computer, Schach, vielleicht Tennis, Fußball, Reiten, Karate, Ballett und Yoga? Kein Problem, wir kriegen alles hin. Nicht nur in Baby-oder Krabbelgruppen, Arztpraxen, Müttervereinen, Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Lehranstalten, sondern auch in den Medien geht es ständig und immer wieder um die Frage: Wie können unsere Kinder und wir besser werden? Wie können wir Tag für Tag unserem Nachwuchs das Beste bieten? Nahezu alle Mütter, die ich kenne, sind äußerst lernwillig und eifrig. Wir Mütter studieren unsere Kinder bis ins kleinste Detail und werden zu ihren Terminplanerinnen, Chauffeurinnen, Assistenzlehrerinnen und Hausaufgabenbetreuerinnen, zu Hobbypsychologinnen und Leistungscoachs, zu flexibel einsetzbaren ehrenamtlichen Hilfskräften in Kindergarten und Schule. Wenn wir an unsere Grenzen kommen, greifen wir zu Nachhilfeinstituten, Therapien und Medikamenten. Und wehe, wenn eine Mutter nicht mitmacht! Kindergarten, Schule, Ärzte, Institutionen, Familie, Freunde, Nachbarn, Bekannte und andere Mütter haben immer gern einen Ratschlag parat.
Ja, schlimmer noch: Seit dem Moment zu Beginn meiner Schwangerschaft, in dem mein Gynäkologe mich milde lächelnd zwang, mit ihm über Abtreibung zu reden, weil mein Baby vielleicht nicht perfekt gestaltet sein könnte, hatte ich zunehmend das Gefühl, für dumm gehalten zu werden. Meine Autorität als Mutter wurde nicht gesehen. Ständig mischten sich Ärzte, Erzieher, Lehrer und andere Mütter ohne Hemmungen in unser Leben ein, weil sie uns »verbessern« wollten. Und ich wurde mit Handreichungen für Mütter und Kinder überschüttet, die mir schon allein wegen der Überfülle den Tag vermiesten. Dabei bin ich eine ganz normale Frau und meine Töchter sind ganz normale Kinder. Wir sind weder begriffsstutzig noch verhaltensauffällig. Wir leben in keiner Sekte, sind nicht drogenabhängig oder in einer kriminellen Vereinigung. Mein Mann und ich und die Kinder sind eigentlich eine ganz normale Familie.
 
Ich lebte mehrere Jahre in Paris und Kalifornien, studierte und arbeitete in diversen Städten und Unternehmen. Aber jetzt ist mein selbstständiges Denken und Handeln nicht mehr gefragt. Heute bin ich Mutter in Deutschland und muss offenbar als solche ständig belehrt werden, obwohl ich bei der Geburt meines ersten Kindes 35 Jahre alt war und bis dahin keine Zweifel aufkommen ließ, über gesunden Menschenverstand zu verfügen. Aber es geht ganz offensichtlich nicht mehr darum, was ich als Frau im Leben will, weiß oder kann. Es geht darum, was meine Töchter nach Meinung der anderen einmal leisten sollen. Kinder sind unsere Zukunft, Kinder sind unser Kapital. Die Gesellschaft braucht Talente. Gesund, talentiert, innovativ und geschickt sollen die lieben Kleinen nämlich nichts anderes, als einmal die Zukunft unseres Landes retten, die wir gerade in den Sand setzen.
Das ist nicht wenig, und ja, ich gebe es offen zu, wenn sie das schaffen sollen, was man von ihnen erwartet, bräuchten wir tatsächlich ständig guten Rat. Wir bräuchten exzellente Schulen mit kleinen Klassen für alle Kinder, um diese Mammutaufgabe zu stemmen. Aber da unsere Nation ungern in Bildung investiert, flickschustern wir lieber und hoffen das Beste. Wir nehmen lernwillige Mütter, die nicht streiken, wenn sie zwar für die hehren Ziele von allen Tipps, Belehrungen und Ratschläge, aber kaum praktische Unterstützung bekommen. Oft nicht einmal von ihren Männern, und auch nicht vom Staat. Keine Haushaltshilfe, wenig Kinderbetreuung, kein Geld, wenig Aussicht auf Erfolg. Dafür bekommen sie Sprüche zu hören wie »Ein Kind gehört zu seiner Mutter« und Wünsche, wie sie denn zu sein hat, damit das Kind wird, wie es denn zu sein hat. Und Schuldzuweisungen, wenn das alles nicht klappt. Es winkt der Erfolg des Kindes, es winkt sein Ruhm - und auf der anderen Seite lauert der Abgrund: die »Mutterschuld«. Wenn die Mutter versagt, droht lebenslanges Unglück. Wir können den beliebten Leitsatz der letzten Jahrzehnte »Mutter ist immer schuld!« gerade mit neuem Akzent in den Medien entdecken: Ach, diese gehetzten Mütter von heute! Rastlos rennen sie der Perfektion ihrer Kinder hinterher, verwöhnen und treiben sie an wie nie zuvor und helfen mit Therapien und Medikamenten nach. Sie sind ängstlich und folgen lieber Experten als ihrem Bauchgefühl. Was soll nur aus den armen Kindern werden?
 
Jetzt ist Schluss. Jetzt reicht es. Ich bin ja all die Jahre nicht von allein wie ein aufgescheuchtes Huhn um meine Kinder herumgelaufen. Ich habe nicht etwa freiwillig auf meine Intuition und meinen gesunden Menschenverstand verzichtet. Ich wurde dazu systematisch erzogen. Ich sollte ein perfektes Kind in einem perfekten Heim zu einer perfekten Karriere heranziehen und dazu wurde mir Tag für Tag gehörig Angst vor der Zukunft gemacht. Früher hätte ich mir nie träumen lassen, welchen Druck die Außenwelt auf mich und mein Kind auszuüben versteht und wie sich der Druck im Laufe der Jahre verstärkt. Heute, zwei Töchter und viele Krisen weiter, weiß ich: Das hat System. Das ist nicht mein individueller Leidensweg sondern das Phänomen einer ganzen Müttergeneration. Meine persönlichen Erfahrungen sind nicht spektakulär, sondern ganz normal.
Der Wunsch, als perfekte Mutter ein perfektes Kind heranzuziehen, ist in unser aller Köpfe tief verankert und wird von den verschiedensten Seiten massiv verstärkt. Wir und unsere Kinder hecheln der Erfüllung idealer Normen hinterher und wundern uns, warum wir uns dabei so mies fühlen. Die meisten spüren einen absurden Leistungsdruck, aber die wenigsten fragen sich, ob er unausweichlich oder berechtigt ist. Im Gegenteil: Wie Statistiken zeigen, suchen Eltern die Gründe für ihr Unbehagen bei sich selbst. Vor allem Mütter zweifeln an sich und sind verunsichert im Umgang mit ihren Kindern - gerade die, die es besonders gut machen wollen. Und das sind entgegen allen anders lautenden Gerüchten fast alle.
 
Die gute Nachricht: Es ist viel einfacher, als wir denken, uns von diesem absurden Leistungswahn zu befreien. Wenn eine Mutter ihre Schwierigkeiten in der Kindererziehung nicht mehr als ihr individuelles Problem begreift, sondern in ihnen ein Massenphänomen erkennt, hat sie schon viel gewonnen. Hätte ich eher gewusst, was auf mich und mein Kind zukommt, hätte ich in vielen Situationen viel gelassener und klüger reagiert, mich nicht in die Enge treiben lassen und mich als Mutter von Anfang an besser und freier gefühlt.
Zum anderen haben die meisten Förderungsmaßnahmen einen weit geringeren Einfluss auf gesunde Kinder, als man gemeinhin denkt. Wir brauchen keine Studien, sondern nur unseren gesunden Menschenverstand, um etwa die Wirkung von wöchentlichen Englischkursen für Babys und Vorschulkinder realistisch einschätzen zu können.
Zum Dritten hilft es ungemein, sich einmal in Ruhe anzusehen, mit wem und was wir eigentlich kämpfen. Welche Personen und Strukturen setzen mich im Alltag so unter Druck? Und was sind das für Ideale, denen ich nacheifere? Stimme ich ihnen überhaupt zu? Und wie kann ich Leistungsdruck vermeiden oder ihm souverän begegnen?