«Ihr Stiefvater hat sie in der Dusche belauert. Ich hatte ihr versprochen, das nicht weiterzuerzählen.» Maiken Stenberg rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie musterte ihn ängstlich, während ihre Finger nervös über den flauschigen kleinen Fellkragen an ihrem rosa Pullover fuhren. Cato Isaksen spürte, wie sich seine Herzmuskeln zusammenzogen. Jetzt musste er sich wirklich beherrschen.
«Bist du dir da sicher?», fragte er so ruhig, wie er konnte.
Maiken Stenberg nickte stumm. «Ich habe bei ihr übernachtet. Ich habe es selbst gesehen.»
Cato Isaksen ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. «Dann musst du mir jetzt alles erzählen, was du weißt.»
Maiken Stenberg musterte ihn mit ernster Miene. Plötzlich fiel ihm auf, wie müde und durchsichtig sie aussah.
«Wir haben uns gegenseitig alles erzählt, Kathrine und ich. Wirklich alles. Niemand von uns kann Tage leiden. Der ist widerlich. So ein richtiger Pädo-Typ.»
«Wissen die anderen auch davon? Ich meine, Kenneth und Lars?»
«Vielleicht.» Sie überlegte einen Moment. «Nicht, dass er sie angegrapscht hat, glaube ich. Das glaube ich nicht. Davon hat sie jedenfalls nichts gesagt. Aber er hat geglotzt. Ich glaube nicht, dass ihre Mutter das weiß.»
«Helena Bjerke weiß es also nicht?»
«Sowas ist doch peinlich, oder nicht», sagte Maiken Stenberg mit ernster Miene.
Ein plötzliches Geräusch vom Flur her ließ das junge Mädchen herumfahren. Ihr blonder Pferdeschwanz peitschte hin und her.
«Kathrines Mutter und Tage hatten ziemlich viel Streit», sagte sie dann. «Aber ich glaube nicht, dass das etwas mit der Glotzerei zu tun hatte. Wir haben oft darüber geredet, Kathrine und ich. Manchmal haben wir auch darüber gelacht und ihn damit aufgezogen.»
«Ihr habt ihn aufgezogen?»
«Ja.»
«Wie habt ihr das gemacht?»
«Naja, wir haben gekichert und über ihn gelacht und so. Haben richtig Lachanfälle gekriegt.»
Cato Isaksen erwiderte ihren intensiven blauen Blick. Er konnte sich ihr Gekicher lebhaft vorstellen. Er schloss für einen Moment die Augen, um diese neuen Informationen sacken zu lassen. Tage Wolter hatte wahrscheinlich eine Heidenangst davor, dass seine Lebensgefährtin davon Wind bekommen könnte. Kathrine und Maiken waren für ihn gefährlich.
Dann riss er die Augen wieder auf. Saugte das Bild des blonden Mädchens, das vor ihm auf dem Stuhl saß und ihn neugierig ansah, in sich auf.
«Kann das eine Bedeutung haben?», fragte sie.
«Du hättest es mir schon viel früher sagen müssen», sagte er ernst.
«Das weiß ich», erwiderte sie rasch. «Aber ich hatte es Kathrine doch versprochen.»
«Kathrine ist verschwunden», sagte er.
Dann klingelte sein Handy. Er entschuldigte sich und nahm den Anruf entgegen. Es war Bente. Sigrid hatte angerufen um mitzuteilen, dass Catos Mutter an Lungenentzündung erkrankt war. Sie hatten sie offenbar am Vortag im Pflegeheim besucht, Sigrid und Hamza und die Kinder. Cato Isaksen merkte, dass er wütend wurde. Er hatte Sigrid und ihren neuen Mann schon so oft gebeten, die Mutter nicht mehr zu besuchen. Er ärgerte sich grenzenlos darüber. Es war schließlich seine Mutter. Er konnte sich selbst um sie kümmern.
Nach einem kurz gehaltenen Gespräch bat er Maiken, die offenbar tief in ihrem eigenen schlechten Gewissen versunken war, noch einmal um Entschuldigung für diese Unterbrechung. «Kann es meine Schuld sein, dass sie verschwunden ist?», fragte sie ängstlich.
Cato Isaksen schüttelte den Kopf.
«Wie hat Tage reagiert, wenn ihr über ihn gelacht habt?»
«Er ist zu seinem Boot gegangen oder so.»
Maiken streifte die Schuhe halbwegs ab und saß mit bloßen Fersen vor ihm. «Wir waren nicht die Einzigen, die ihn hassten. Die Jungs konnten ihn auch nicht leiden. Kenneth und Lars jedenfalls nicht. Sie sind nach der Schule oft im Einkaufszentrum vorbeigegangen.»
«Was wollten sie da?»
«Am Fleischtresen vorbeispazieren. Ihm den Finger zeigen und so. Außerdem ...» Sie schien nachzudenken, ehe sie hinzufugte: «Müssen Sie alles weitersagen, was ich erzähle?»
«Nicht unbedingt», sagte Cato Isaksen gespannt.
Maiken Stenberg schaute aus dem Fenster. Jetzt tanzte ihr Pferdeschwanz wieder. Die Adern an ihrem schlanken Hals waren deutlich zu sehen. Dann wandte sie sich wieder ihm zu. «Lars und Kenneth haben Pornos für ihn bestellt. In seinem Namen. Aber bitte, verraten Sie nicht, dass ich das gesagt habe.» Ihre Augen bohrten sich in seine.
Er versprach den Mund zu halten, wusste aber, dass er mit Tage Wolter darüber sprechen musste.
«Ich weiß, dass ich dich schon mal danach gefragt habe, aber bist du sicher, dass Kathrine sich in der Zeit, kurz bevor sie verschwand, nicht verändert hat?»
«In den letzten Tagen kam sie mir vielleicht ein bisschen traurig vor. Aber sie hat nichts gesagt.»
«Wieso kommst du dann auf diesen Gedanken?»
«Sie hatte sich doch das Bein gebrochen. Und kein Geld für diese Hose bekommen. Die war ein bisschen weit, wissen Sie. Und deshalb hätte sie sie über den Gips ziehen können.»
«Wie hat sie sich denn umher bewegt? Ich meine, mit den Krücken?»
«Lars hat sie fast überall hingefahren. Aber sie konnte sich auch mit Krücken ziemlich gut bewegen. Das ist gar nicht so schwer, wissen Sie, wenn man es erst einmal gelernt hat.»
«Das mit dem T-Shirt und dem Blut kannst du übrigens vergessen», sagte Cato Isaksen und erzählte ihr von dem Hühnerblut. Maiken Stenberg brach in Tränen aus. Sie sei erleichtert, sagte sie, und gab zu, dass Kathrine und Kenneth ab und zu allein im Gartenhaus gewesen waren, und dass alle gewusst hatten, was dort vor sich ging. «Sicher hat Kenneth vergessen, das T-Shirt wieder anzuziehen», sagte sie leichthin. «Bestimmt war das so, und dann hat Alexander es gefunden und damit seine Schweinerei aufgewischt.»
Als Maiken Stenberg gegangen war, wanderte Cato Isaksen mit der Kaffeetasse in der Hand über den Flur zu Roger Høibakks Büro. Er hatte gerade in einer Zeitung eine Untersuchung darüber gelesen, dass die Jugend sexuell viel experimentierfreudiger war als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Außerdem war dabei herausgekommen, dass Mädchen sich von Jungen oft zu Dingen gedrängt fühlten, zu denen sie gar keine Lust hatten. Das alles machte ihm in Bezug auf Kathrine durchaus Gedanken.
Er klopfte leicht an die Tür und ging dann hinein. Roger Høibakk hatte den Artikel auch gelesen, fand es aber nicht weiter interessant, dass Kenneth Hansen Pornos bezogen hatte. «Das kommt vielleicht ziemlich häufig vor», sagte er.
«Aber sie unter falschem Namen für Tage Wolter zu bestellen», sagte Cato Isaksen.
«Das ist etwas anderes», sagte Roger Høibakk. «Kathrine Bjerke ist zwar erst vierzehn, aber offenbar leben wir in unmoralischen Zeiten. Offenbar haben heute alle Sex, egal, wie alt sie sind.» Roger Høibakk wollte gerade einen Witz über Ellen Grue reißen, nahm sich dann aber zusammen.
Cato Isaksen dachte an den siebzehnjährigen Vetle. Er glaubte nicht, dass der Junge schon mal mit einem Mädchen geschlafen hatte. Und wer hätte dieses Mädchen auch sein sollen? Soweit der Vater wusste, hatte Vetle noch nie eine Freundin gehabt.
«Maiken hat zugegeben, dass Kenneth und Kathrine manchmal allein im Gartenhaus waren, und auch in Tage Wolters Boot. Alle wussten, was da ablief. Vermutlich hat Kenneth nach so einer Runde das T-Shirt vergessen. Er hatte sicher einen Pullover darüber. Und dann lag das T-Shirt einfach herum, bis Maikens Bruder es dafür benutzte, das Blut eines Huhns, das er umgebracht hatte, wegzuwischen.»
«Das ist doch einfach albern», sagte Roger Høibakk. «Da glauben wir, den Fall schon halb gelöst zu haben, und dann war es bloß ein verdammtes Huhn.»
«Aber ich habe eine andere interessante Neuigkeit.» Cato Isaksen ließ sich auf einen Stuhl fallen. «Kathrines Stiefvater hat sie beim Duschen belauert.»
Roger Høibakk schaute seinen Chef ungläubig an. «Ach was», sagte er nur.
«Das ist doch vielleicht etwas», meinte Cato Isaksen und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare.
«Von wem weißt du das? Von Maiken Stenberg?»
Cato Isaksen nickte. «Ich habe kein so gutes Gefühl, was Tage Wolter angeht», sagte er.
«Du glaubst, dass er etwas mit dem Verschwinden zu tun hat?»
«Ich weiß nicht. Aber dass es eine Verbindung zwischen dem Tod der Großmutter und Kathrines Verschwinden gibt. Da bin ich mir ganz sicher.»
«Du warst in letzter Zeit doch immer wieder in Drøbak», sagte Roger Høibakk.
Cato Isaksen nickte. «Ich werde noch einmal versuchen, mit Brenda Moens Freundinnen zu reden. Versuchen, die Dinge aus einem etwas anderen Blickwinkel zu sehen. Die Perspektive zu verschieben, vielleicht. Aber die alten Damen scheinen viel unterwegs zu sein», fügte er hinzu. «Ich muss sie anrufen und eine Uhrzeit ausmachen.»
Roger Høibakk versprach, sich um Anders Ovesen und die Jungs aus Folio zu kümmern. «Die kommen heute Nachmittag, um die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Sie finden offenbar, dass wir zu sehr die Führung an uns gerissen haben. Myklebust ist sauer. Aber jetzt hast du ja immerhin eine Kleinigkeit, mit der du auf den Tisch hauen kannst. Ich meine diese Glotzerei in der Dusche.»
Cato Isaksen nickte und wanderte in sein Büro zurück.