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Die Jungen zogen sich hinter einigen hohen Bäumen um. Diesmal waren sie einundzwanzig. Ein Stück weiter unten gab es eine Lichtung, die in einer Schlucht endete. Unten in die Schlucht hatte jemand einige verrottete Baumstämme gelegt. In einem davon klaffte ein Loch. Nils Bergman ging in die Knie und zog etwas heraus.

Die anderen steckten ihre Kleidung in Plastiktüten und verstauten sie in ihren Rucksäcken, die dann unter einem Baum aufeinander getürmt wurden. Sie hatten makabre Verkleidungen gewählt. Die jungen Leute verwandelten sich in Vampire und Ungeheuer mit langen Umhängen, Schwertern und Masken. Ihre ernsten Gesichter verrieten deutlich, wie wichtig das hier für sie war. Für alle in der Gruppe war die Wirklichkeit nur ein Ersatz. Ein Ort, den man tagsüber aufsuchte. Es war kein Kinderspiel. Es war eine Beschäftigung für hochentwickelte Seelen.

Beim Umziehen sahen sie einander nicht an. Wichen den Blicken der anderen bewusst aus. Einige machte diese Verwandlung ziemlich nervös. Die Nervosität konnte sich durch Lachen Luft machen, und das könnte die Stimmung verderben. Wer in die andere Wirklichkeit eintreten wollte, musste sich zu hundert Prozent einbringen.

André Hansen legte eine Maske mit Gesichtsfell an. Ein wohliger Schauer rieselte durch seinen Körper. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Er schien zu wachsen, schien tatsächlich zu dem Halbtier zu werden, als das er sich gerade verkleidete. 

Am Vortag hatte er sich in einem Café in der Stadt mit Solvi getroffen. Sie hatte sich Tee und Kuchen bestellt. Er selber hatte eine Cola vorgezogen. Anfangs hatten sie nicht viel gesagt. Er war ein wenig verlegen. Er kannte sie ja nicht besonders gut. Sie hatten schweigend dagesessen und den endlosen Menschenstrom betrachtet, der vor den Fenstern vorüberwanderte. Danach hatten sie die Spielanleitung mit dem rätselhaften Namen «Brüder der Nacht» durchgesehen.

Es war ein ziemlicher Unsinn, da waren sie beide einer Meinung. Solvi sah ihn an und lachte. Sie machte ihm ein Kompliment wegen seiner Frisur. Er gab keine Antwort, er wusste nicht so recht, welche angebracht gewesen wäre. Am Ende zog sie ihn ein wenig auf und fragte, ob er gern bisse und so. Er begriff ja, dass sie den Vampir meinte, den er im Stück spielen sollte, aber auch hier fiel ihm keine Antwort ein. Sie erzählte außerdem, dass sie mit Nils gesprochen und dass er eine Überraschung erwähnt habe. Er hatte offenbar auf irgendeine Weise echtes Blut aufgetrieben. André fand das eine ziemliche Schweinerei. Er verspürte kein Bedürfnis nach echtem Blut.

Vor dem Caféfenster hielt jetzt auf der anderen Straßenseite ein Bus. Er stieß eine dicke Abgaswolke aus, dann fuhr er wieder los. In der Gruppe von Menschen, die aus dem Bus ausgestiegen waren, entdeckte André plötzlich seinen Bruder Stein Ove. Seine Mutter hatte nichts davon gesagt, dass er auf Urlaub kommen würde.

Jetzt stand Solvi Steen fünf Meter von ihm entfernt da und musterte ihn. «Warm heute Abend», sagte sie. Er gab keine Antwort, sondern wandte sich kurz ab, es machte ihn ein wenig verlegen, dass sie ihn dermaßen anstarrte. Er glaubte, sie interessiere sich für ihn. Und das reizte ihn und machte ihm zugleich Angst. Er konnte mit Frauen nicht gerade gut umgehen. Hatte noch nie eine Freundin gehabt. Solvi war stark geschminkt. Um die Augen hatte sie einen dicken schwarzen Strich gezogen. Ihr Gesicht war fast weiß gepudert.

André ging weiter zu Nils Bergman, der an einem dicken Baumstamm lehnte. Er trug einen schwarzen Umhang, in dem er fast verschwand. André fragte, ob er Stein Ove in letzter Zeit gesehen habe. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass Nils nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

«Ich bilde mir ein, ihn gestern gesehen zu haben, verstehst du», sagte André. «Ich saß in einem Café, und da stieg er aus dem Bus.»

«Um ganz ehrlich zu sein, ja, ich habe ihn gesehen», sagte Nils Bergman und ging zu dem Rucksackberg hinüber. «Er war kurz bei mir, um etwas zu besprechen.»

«Was denn? Und warum ist er nicht nach Hause gekommen?» André trottete hinter ihm her.

Nils Bergman seufzte. «Er wollte nur etwas bei mir abholen.»

«Was denn?»

«Ich weiß nicht, ob ich darüber reden sollte.»

André Hansen musterte ihn mit düsterer Miene. «Warum denn nicht», fragte er misstrauisch.

«Na gut. Ich hab den ganzen Scheiß satt.» Jetzt schien Nils Bergman plötzlich wütend zu sein. «Stein Ove hatte zwei Waffen. Nicht nur die, die Kenneth bei Kathrine versteckt hatte.»

André Hansen sah verwirrt aus.

«In Rygge wurden zwei Waffen gestohlen», erklärte Nils. «Und dein Bruder hatte sie beide. Die eine habe ich für ihn versteckt.»   

«Und?»

«Er hat sie geholt, weil er sie der Polizei übergeben wollte», sagte Nils Bergman und rief einem Schauspieler zu, er solle schwarze Stiefel anziehen. «Stein Ove ist doch von der Polizei verhört worden und hat zugegeben, dass die Waffe in Kathrines Schrank ihm gehörte.»

André nickte ernsthaft.

«Jetzt will er alle Karten auf den Tisch legen. Noch mehr Scheiß verträgt er nicht, sagt er. Er ist vom Dienst beurlaubt worden. Gestern ist er nicht nach Hause gegangen, weil deine Mutter immer alles wissen will und herumschnüffelt.

Die Bullerei war einige Male bei mir, ich konnte die Waffe nicht länger aufbewahren.»

André Hansen nickte noch einmal. «Ich habe gesagt, dass wir Plastikschwerter verwenden», sagte er.

«Gut», sagte Nils Bergman und klopfte ihm auf die Schulter. «Dein Bruder wohnt für ein paar Tage bei mir.»