schen, deren Leben sich um Sex dreht«, führte Karen den Satz
zu Ende.
Mack kehrte in den Raum zurück und wirkte immer noch
stinksauer.
Willis meldete sich zu Wort. »Und die Zielvision, die ich
heute Nacht im Büro hatte ... Das war die bislang sexuellste
Vision. Diese Frau, Vanni – ich sah, wie sie es in dem verspie-
gelten Zimmer mit Mack trieb.«
Verlegen grinste Mack. »Na ja, ich geb’s zu, das ist wirklich
passiert. Sie hat mich angemacht und ...«
»Darum geht es nicht«, unterbrach ihn Willis bissig. »Was
zählt, ist die Art der Vision. Sie blieb sehr sexuell und war ak-
tiv, nicht passiv. Die Frau vom Schlüsseldienst wusste von
meiner Sexsucht – und deren Details. Dann zeigte sie mir
selbst eine Vision. Ich und jeder typische Taktionist erhaschen
durch die Gegenstände oder Personen, die wir berühren, einen
Blick auf die Vergangenheit. Die Vergangenheit. Aber ich
glaube, diese konkrete Vision hat mir einen Teil der Zukunft
vor Augen geführt.«
Plötzlich wirkte Nyvysk besorgt. »In welcher Hinsicht?«
»Die Zielobjektaktivität begann, als ich den Tresor berühr-
te«, fuhr Willis fort, der erschöpft und erschüttert wirkte. »Ich
glaube, es hat etwas mit dem Notizzettel zu tun, den Westmore
darin fand.«
Westmore schloss die Augen und dachte darüber nach. Das
werden wir sehen, ging ihm durch den Kopf, wenn ich heraus-
gefunden habe, was all die Zahlen darauf bedeuten ...
Aber Willis redete weiter und betonte, was er zuvor bereits
offenbart hatte. »Und ich habe diesen Ort gesehen, denselben
Ort, den Nyvysk für uns Anfang dieser Woche definiert hat.
Denselben Ort wie Adrianne, Cathleen und Karen.«
»Den Tempel des Fleisches«, sagte Adrianne.
»Das Chirice Flaesc«, ergänzte Nyvysk.
Eine Weile saß die Gruppe schweigend da.
Belarius, dachte Westmore.
Die Nacht war bedrückend. Ein Großteil der Gruppe fühlte
sich erschöpft und ging zu Bett. Nyvysk, Cathleen und West-
more gesellten sich für eine abschließende Unterhaltung hinaus
in den Innenhof.
»Als Hildreth durch Cathleen sprach, nahm er Bezug auf die
Zukunft«, erklärte Nyvysk gerade.
Westmore schaute zum Mond empor. »Ein Apogäum. Wenn
ich nicht so verdammt müde wäre, würde ich noch heute Nacht
mit einer ausführlichen Internetrecherche anfangen.«
»Verschieben Sie es auf morgen«, riet ihm Nyvysk. »Schla-
fen Sie erst ein wenig. Es war für uns alle ein anstrengender
Tag.«
Cathleen wirkte im Mondlicht abgehärmt und blass. »Alles
dreht sich um Sex. Dieses Haus, Hildreth und das Wesen, das
Hildreth und seine Leute angebetet haben. Diese Villa ist
wahrhaftig geladen.«
»Und offensichtlich verstärken wir die Ladung«, ergänzte
Nyvysk. »Hildreth hat diesen Ort speziell wegen seiner poten-
ziellen Wiedergängerenergie ausgesucht und die Grundlage
dieser Energie ist sexueller Natur. Ein idealer Fixpunkt für die
Anbetung einer so sexuellen Entität wie Belarius. Trotz seines
körperlichen Ablebens schart Hildreth weiterhin mehr und
mehr von dieser Energie für seine religiösen Absichten um
sich.«
»Dekadenz«, murmelte Cathleen. »Reuelose Lust.«
»Also wird dieser Belarius durch Lust geködert?«, ergriff
Westmore das Wort. »Verstehe ich das richtig?«
»Von Lust und allen fleischlichen Sünden, weshalb auch
sein Tempel aus Fleisch besteht«, erwiderte Nyvysk. »Diese
Energie verleiht Macht. Die beste Möglichkeit, das Chirice
Flaesc zu verehren, ist mittels einer Hommage durch einen Ort
wie die Hildreth-Villa. Hier durchtränkt Lust regelrecht die
Wände und vor drei Wochen fand hier eine Orgie mit sexuell
motivierten Morden statt. Anders ausgedrückt ...«
»Eine Opferung«, beendete Cathleen den Satz für ihn. »Was
die Ladung der Villa noch zusätzlich erhöht.«
Nyvysk genehmigte sich ein seltenes Kichern. »Allmählich
bekomme ich das Gefühl, manipuliert zu werden. Geht es noch
jemandem von euch so?«
»Oh, mir schon«, pflichtete Cathleen ihm bei.
»Manipuliert oder verflucht paranoid«, sagte Westmore, der
wieder einmal fasziniert die Verwehungen des Zigaretten-
rauchs beobachtete. Paranoid stellte eigentlich nicht mehr die
richtige Beschreibung für Westmore dar. Angesichts all dieser
Entwicklungen und dem, was er von Clements in der Kneipe
erfahren hatte, wusste er nicht recht, worauf er das meiste Ver-
trauen setzen sollte.
»Die Zeit wird es letztlich weisen«, orakelte Nyvysk in be-
ster Priestermanier.
»Ich frage mich nur, wie lange wir noch warten müssen«,
sagte Cathleen.
»Ich auch.« Erschöpft seufzte Nyvysk. »Es ist mir zwar sehr
peinlich, das zu sagen, aber ich habe fast Angst zu Bett zu ge-
hen, so müde ich auch bin.«
Cathleen stieß ein trockenes Lachen aus. »Ich habe nicht nur
fast Angst – ich habe Angst. Und das ist ungewöhnlich für
mich.«
Damit kam Westmore an die Reihe. »Hey, ich bin bloß frei-
beruflicher Schriftsteller. Ich bin zu objektiv – oder zu dumm
–, um Angst zu haben. Falls ich also mit abgeschnittenem Kopf
aufwache, dann verdiene ich es wohl nicht besser.«
Er hatte es als unbeschwerten Witz gemeint, um die Stim-
mung aufzulockern. Aber sowohl Nyvysk als auch Cathleen
schleuderten ihm stumme, tadelnde Blicke entgegen.
Scheiße. »Tut mir leid.«
»Gute Nacht«, sagte Nyvysk. »Ich sehe euch beide morgen
früh. Mit euren Köpfen.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und zogen sich zurück.
In seiner Schlafzelle zog sich Westmore bis auf die Unter-
hose aus und kroch unter die Decke. Im Atrium brannte noch
eine kleine Lampe; er konnte sie durch die Lücke zwischen den
Vorhängen sehen. Normalerweise hätte ihn so etwas gestört.
Aber nicht heute Nacht. Wer hatte sie brennen lassen? Tatsäch-
lich wünschte sich Westmore instinktiv eine ganze Batterie von
Scheinwerfern herbei. Dann kicherte er in sich hinein. Sieh sich
uns einer an. Ein Haufen Erwachsener, die sich wie Kinder vor
der Dunkelheit fürchten.
Jedes Mal, wenn ihn der Schlaf fast übermannte, ließ ihn
schlagartig das Gefühl aufschrecken, in einen tiefen Abgrund
zu blicken. Bilder von Hildreth, vom Fleischtempel, von dem
Kupferstich mit Belarius. Bilder von all den hübschen Gesich-
tern, die er auf den DVD-Covers gesehen hatte; der jähe Kon-
trast zu den abgeschlachteten Überresten, die er von den Au-
topsiefotos kannte.
Bilder von Debbie Rodenbaugh.
Scheiße ...
War dieses Haus wirklich »geladen«? Die denken, es sei
durch Hildreths Geist lebendig – einen bösen Geist, der finste-
re Pläne für die Zukunft hegt. Glaube ich wirklich daran?
Er stöhnte. Vielleicht will diese verwunschene Drecksbude
dafür sorgen, dass ich heute Nacht überhaupt keinen Schlaf
bekomme.
Westmore stand auf und sparte sich die Mühe, eine Hose
anzuziehen. Alle anderen schliefen – die Männer konnte er
sogar schnarchen hören –, wer also sollte ihn sehen, wenn er
nur in seiner Unterhose nach draußen tappte?
Außerdem ist’s mir egal.
Wenig später pirschte er rauchend und rastlos durch das
Atrium.
Er hörte die Uhr ticken. Dann schlug sie dreimal. Westmore
drehte sich um und hätte beinahe aufgeschrien, als eine Gestalt
mit raschen Schritten an ihm vorbeilief.
Adrianne, die einen Morgenrock trug, sah ihn mit großen
Augen an. »Sie haben mich zu Tode ...«
»... erschreckt«, beendete Westmore den Satz, die Hand über
dem Herzen.
Sie hob eine Kaffeetasse in die Höhe. »Ich konnte nicht
schlafen, deshalb habe ich mir Milch warm gemacht.«
»Sollte ich vielleicht auch versuchen. Ich kann überhaupt
nicht schlafen.« Dann erfasste ihn mit Verzögerung ein Anflug
von Verlegenheit. Oh Scheiße, ich stehe hier in meiner ver-
fluchten Fruit-of-the-Loom-Unterhose! Er lief knallrot an und
sagte: »Tut mir leid, ich dachte, sonst wäre niemand mehr
wach.«
»Entspannen Sie sich. Dass ich seit zehn Jahren keinen Sex
mehr hatte, bedeutet noch lange nicht, dass ich einen Mann im
Slip anstößig finde. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Damit trippelte sie davon und verschwand hinter ihrer
Trennwand. Super Auftritt, Westmore. Was bist du doch für ein
Volltrottel.
Er hätte nicht sagen können, wer am lautesten schnarchte –
Nyvysk, Mack oder Willis. Oh Mann, Leute, ihr hört euch an
wie ein Haufen Kettensägen.
Dann redete jemand im Schlaf. »Nein ... Oh Gott, nein ...«
Stille. Jemand musste wohl einen Albtraum haben. Dann
ertönte eine andere Stimme – die von Willis, glaubte er. »Auf-
hören, aufhören. Bitte, aufhören ...«
Dieses Haus setzt jedem zu. Die Luft rings um ihn fühlte sich
schwer und stickig an, als herrsche hohe Luftfeuchtigkeit, da-
bei funktionierte die Klimaanlage tadellos. Um diese Uhrzeit
fühlte sich das Haus verdichtet an.
Als er seine Zigarette ausdrückte, hörte er ein weibliches
Stöhnen. Es klang leidenschaftlich wie bei einer Frau kurz vor
dem Orgasmus. Das ist Cathleen ... Lächelnd schüttelte West-
more den Kopf. Entweder spielt sie an sich rum oder hat einen
Wahnsinnstraum. Vermutlich würden Nyvysk und Adrianne
unterstellen, dass es am Einfluss der Villa lag, der Cathleen
erregte und stimulierte.
Westmore fragte sich, ob sie damit richtig lagen.
Schließlich schlich er zurück in seine Zelle und legte sich
wieder auf das Bett. Anfangs hatte er Nyvysks Idee mit den
Trennwänden für albern gehalten – vor allem in einem so
prächtigen Haus. Nun jedoch, angesichts der unerklärlichen
Dichte, die auf ihm zu lasten schien, musste er zugeben, dass er
es als durchaus angenehm empfand, im selben Raum wie die
anderen zu schlafen.
Er driftete erneut durch Schleier lebhafter, unangenehmer
Traumfetzen in Richtung Schlaf, bevor er jedes Mal aufs Neue
ruckartig erwachte. Belarius, Ionensignaturen und Infrarotum-
risse. Nackte Frauen mit Piercings in Form von schwarzen,
umgekehrten Kreuzen in den Brustwarzen ...
Als er das nächste Mal hochschreckte, starrte er in die Dun-
kelheit, während sich sein Herzschlag zögernd verlangsamte.
Jemand stand in seiner Zelle. Ein regloser menschlicher Um-
riss.
Weitere Sekunden verstrichen in sprachloser Beklommen-
heit.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte Karen.
Mit einem Atemstoß strömte jegliche Zurückhaltung aus
ihm.
»Komm her«, forderte er sie auf.
Er machte ihr Platz und sie schlüpfte neben ihm unter die
Decke. Westmore konnte nicht erkennen, was sie trug, doch es
spielte keine Rolle. Einige Augenblicke lang beugte er sich
über sie und legte ihr eine Hand auf die Wange, dann küsste er
sie. Ihre Zungen berührten sich, sie teilten einen Atemzug ...
Dann schliefen sie ein und hielten einander dabei in den Ar-
men.
Westmore träumte nicht.
Kapitel 13
I
»Westmore, richtig?«
Westmore stand leicht überrumpelt an der Wand vor einem
Schild, das verkündete: PSYCHIATRISCHE ANSTALT MIT
BESONDEREN
SICHERHEITSVORKEHRUNGEN!
SÄMTLICHE SCHARFEN GEGENSTÄNDE VOR DEM
BETRETEN BEIM PERSONAL ABGEBEN!
»Ja, ich bin Westmore«, bestätigte er. »Ich habe zwar keinen
Termin, aber mir wurde gesagt ...«
»Ruhig.«
Ihm wurde ein Korb gereicht, in den er Schlüssel, Kugel-
schreiber und dergleichen legte.
»Die Brieftasche auch.«
»Meine Brieftasche würde ich nun nicht gerade als scharfen
Gegenstand bezeichnen.«
»Hier drinnen gibt es Irre, die würden Ihre Brieftasche nur
zu gern in die Finger kriegen.«
»Wofür?«
»Kreditkarten.«
Westmore verstand nicht. »Wozu könnte jemand in einer
geschlossenen psychiatrischen Anstalt eine gestohlene Kredit-
karte verwenden?«
»Die schlitzen sich andauernd die Kehlen damit auf.«
Du meine Güte! Westmore packte sein Portemonnaie auf den
Tisch und trat durch eine Schleuse mit Metalldetektor. Dann
konnte er endlich einen Blick auf die Person erhaschen, die mit
ihm redete, einen Mann um die 30 mit rasiertem Schädel, ern-
ster Miene und der Statur eines Feuerhydranten. Auf dem Na-
mensschild über seiner Brusttasche stand: WELLS – SI-
CHERHEITSCHEF.
Westmore wurde durch einen stillen Korridor aus glänzen-
den Fliesen geführt. »Sie sind also derjenige, der ...«
»Ruhig.«
Wells’ Stiefelabsätze klapperten über den Boden. »Was
wissen Sie über Faye Mullins? Wissen Sie, was ihr fehlt?«
»Nein, nicht wirklich. Was fehlt ihr denn?«
»In allgemein verständlichen Begriffen? Drogen haben ihr
die Rübe weich gekocht.«
»Und etwas genauer?«
»Drogeninduzierte monopolare schizoaffektive Schizophre-
nie und symbolhafte Wahnvorstellungen mit okkulten und se-
xuellen Gedankenmotiven.«
Westmore verschluckte sich fast. »Was für eine Diagnose.«
»Wir haben sie mit Beruhigungsmitteln ziemlich gut im
Griff, in der Regel ist sie friedlich«, versicherte ihm Wells.
»Meistens gibt sie nichts Zusammenhängendes von sich, son-
dern brabbelt nur wirres Zeug vor sich hin. Aber wenn Sie
Glück haben, bekommen Sie vielleicht trotzdem etwas aus ihr
heraus.«
»Hat sie je über etwas geredet, das mit Astronomie zu tun
hat? Etwas von einem Apogäum erzählt? Oder Sonne und
Mond?«
»Hauptsächlich Kauderwelsch über Drogen und Mas-
sen-Blowjobs. Und Blut.«
»Ich schätze, das macht Sinn«, meinte Westmore. »Dass sie
von Blut spricht.«
»Verdammt ja, und ob. Sie ist die einzige Überlebende der
Psychoshow, die Hildreth dort oben veranstaltet hat.«
Sie passierten mehrere Schwesternzimmer und medizinische
Stationen, alle verriegelt und gesichert. Konnte es hier viele
Patienten geben? Westmore hörte nirgendwo ein Geräusch. Er
hatte sich Karens Auto geliehen, um herzufahren. Von außen
wirkte die Anlage völlig unscheinbar – ein lang gezogener Ge-
bäudekomplex mit gepflegten Ziegelsteingebäuden, jeweils
eingeschossig. Ein schlichtes Schild an der Auffahrt verkünde-
te: DANELLETON-PRIVATKLINIK. Der Anblick erinnerte
ihn eher an eine Krankenkasse oder ein chiropraktisches The-
rapiezentrum.
Westmores Magen krampfte sich unvermittelt zusammen, als
in einem der kleinen Türfenster, die sie passierten, plötzlich ein
Gesicht aufblitzte: ein Mann, der sich anscheinend die Unter-
lippe abgekaut hatte. Dann ertönte ein markerschütternder
Schrei.
»Ich will dich fressen, Kumpel! Ich will dich fressen! Wenn
man Menschen falsch kocht, schmecken sie wie Pferd. Aber
ich bin ein guter Koch!«
Geschockt und mit unbehaglich hochgezogenen Schultern
lief Westmore weiter.
»Achten Sie gar nicht auf den«, riet Wells. »Er war mal
Chefkoch in einem bekannten Restaurant in der Innenstadt.«
Westmore wollte gar nicht genau wissen, in welchem. Meh-
rere Pflegerinnen gingen an ihnen vorbei, ohne sie anzusehen,
dann entriegelte Wells geräuschvoll eine Tür. »Möchten Sie,
dass ich sie fesseln lasse?«
Westmore sah ihn an. »Ist das nötig?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Oh Mann, das beruhigt mich jetzt aber unheimlich. »Nein,
lassen Sie mal. Sie wird viel eher reden, wenn sie sich wohl-
fühlt.«
»In Ordnung. Aber ich muss hinter mir absperren. Drücken
Sie den Knopf, falls sie austickt oder so.«
»Mach ich.«
Westmore fühlte sich wie betäubt, als er den kahlen weißen
Raum betrat. Das Gesicht, das ihn empfing, kannte er zwar von
den DVDs, doch nun wirkte es noch blasser, noch aufgedunse-
ner – eine Fratze hoffnungsloser Traurigkeit. Faye Mullins trug
ein weißes Nachthemd aus Leinen, unter dem bleiche, dicke
Beine hervorragten. Die Knöchel waren angeschwollen, ver-
mutlich durch Medikamente oder nachlässige Pflege verur-
sacht. Glanzlose Augen blinzelten über hängenden Wangen.
Das stumpfe braune Haar sah aus, als wäre es seit Tagen nicht
mehr gewaschen worden, und strotzte vor Schuppen.
»Ich habe Sie mal in einem Traum gesehen«, sagte sie kurz
darauf, und ihre Augen weiteten sich. »Sie sind im Regen aus
einem Bus gestiegen und in eine Bar gegangen. Dann haben
Sie sich betrunken, bis Sie sich fürchterlich übergeben haben.«
»Vor ein paar Jahren war das eindeutig ich«, bestätigte
Westmore.
»Nein, nein«, berichtigte sie hastig. Ihre Hände gestikulier-
ten aufgeregt. »Es war ein Traum von der Zukunft.«
»Oh, ich verstehe. Das klingt sehr interessant, Faye.« Sie
scheint mir ziemlich zusammenhängend zu reden, dachte er.
Westmore hatte mit einer Geistesgestörten gerechnet, die vor
sich hinbrabbelte, sabberte und ins Leere starrte. Der Raum
erwies sich als schlicht. Weiße Wände, weißer Boden, weiße
Decke, weißes Bett. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde
ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.«
»Hier gibt es eine Frau, die kann Welpen fliegen lassen«,
gab Faye zurück. »Sie hat eine spezielle Genehmigung dafür.
Sie lässt Welpen fliegen, als wären sie Flugzeuge.«
Westmore legte die Stirn in tiefe Falten. »Aha. Interessant.«
»Wir müssen uns das Football-Spiel ansehen, weil die Zu-
kunft der Welt davon abhängt. Davon und von Kaustangen und
von Windspielen – Windspielen wie Sternen, solchen, wie
meine Mutter sie früher immer für Bastelausstellungen ge-
macht hat. Oh, und von Toilettenpapier. Nicht vergessen! Ich
rede von der Zukunft der Welt! «
Westmore nickte und erinnerte sich daran, was Wells über
unsinniges Kauderwelsch gesagt hatte. »Oh, sicher, ich weiß.
Vor allem das mit den Knabberstangen stimmt. Debbie Ro-
denbaugh mag Kaustangen.«
»Nein, tut sie nicht, Sie Lügner.« Faye Mullins grinste ihn
dämlich an. »Sie isst nie Schweine-oder Rindfleisch!«
»Ach ja, richtig. Aber sie mag Windspiele. Das hat sie mir
gesagt.«
Faye senkte die Stimme. »Sie mag nur die mit Sternen.«
»Mit Sternen, genau. Ich mag die auch.« Dann dachte
Westmore: Sterne. Astronomie ... »Mag sie Mondapogäen?«
Fayes Gesicht bewegte sich auf dem dicken röhrenartigen
Hals ruckartig nach vorn. »Hä?«
»Der Mond, die Sonne, solche Dinge. Bestimmte Punkte
einer Umlaufbahn. Hatten Sie je Astronomie in der Schule?«
Ein ausdrucksloses Starren. »Ich glaube, Sie wollen mich
reinlegen.«
»Ich will Sie nicht reinlegen. Ich bin ein ehrlicher Mensch,
Faye. Ich bin nicht wie die Männer in der Villa.«
Ihr Blick wurde klarer. »Welche Männer? Die Adiposianer?
Das sind keine Männer.«
Die Erwiderung brachte Westmore aus dem Konzept. Sorg
dafür, dass sie weiterredet! »Nein, ich meine die Männer, die
Ihnen schlimme Dinge angetan haben. Die Männer, die Sie
vergewaltigt haben.«
»Eigentlich haben sie mich nicht vergewaltigt«, meinte Faye.
Ihre Vernunft schien schrittweise zurückzukehren. »Sie haben
mich dazu gezwungen, viel mit dem Mund bei ihnen zu ma-
chen.« Sie blinzelte. »Ist das Vergewaltigung?«
»Wenn Sie es gegen Ihren Willen tun mussten, dann ja.«
Ein kehliges Kichern. »Oh, und ob es gegen meinen Willen
war. Sie haben mich dazu gezwungen, um sich für ihre Spiel-
chen im Scharlachroten Zimmer aufgeilen zu lassen. Die Ri-
tuale. Sie haben mir Pistolen an den Kopf gehalten, damit ich
es ihnen besorgt habe, und Messer. Ja, ich schätze, das ist
schon Vergewaltigung. Aber ich meinte, dass sie nie Sex mit
mir hatten.«
»Sie meinen Geschlechtsverkehr.«
»Ja. Das wollte nie jemand, weil alle sagten, ich wäre zu fett
und hässlich. Einer von ihnen, Jaz, war der Fieseste von allen.
Er nannte mich immer ›Ständermörderin‹.« Plötzlich warf sie
den Kopf hin und her und ahmte offenbar Jaz nach. »›Dich
würde ich nicht mal ficken, wenn du der letzte Arsch auf Erden
wärst‹, sagte er immer. Dann zwang er mich, Crack zu rauchen
oder mir einen Schuss zu setzen.«
Westmore versuchte, sich die Einzelheiten der Grausamkei-
ten, die in der Villa vor sich gegangen waren, nicht genauer
auszumalen. Nur ein Haufen böser Menschen ...
»Aber er ist jetzt in der Hölle, und darüber bin ich froh«,
fuhr sie fort. »Und dasselbe gilt für Dreiei und Hildreth. Sie
können mir nicht mehr wehtun.«
»Nein. Nein, das können sie nicht.«
Was jetzt? Er musste dafür sorgen, dass sie weiterredete,
sonst würde sie vermutlich wieder in ihr Kauderwelsch verfal-
len. »Faye, wissen Sie, wo Debbie Rodenbaugh ist?«
Darauf erwiderte sie etwas ausgesprochen Seltsames – ein
Zitat, das Westmore kannte:
»›Wer Verstand hat, der ...‹«
Westmore beendete den Satz für sie. »›... überlege die Zahl
des Tieres.‹ Ich habe das Buch der Offenbarung gelesen, Faye.
Und wenn Sie mich fragen, ist dieser Satz ziemlicher Quatsch.
Die Kombination des Tresors ist eine Abwandlung von 666.«
»Also haben Sie ... den Tresor geöffnet?«, fragte sie ohne
Zögern.
»Ja. Ich habe darin das Stück Papier mit dem Geheimnis
gefunden.«
Unverhofft zeigte sie mit einem schmutzigen Finger mit ab-
gekautem Nagel auf ihn. »Sie versuchen mich auszutricksen!
Sie lügen!«
»Wieso?«
»Sie haben den Tresor nicht geöffnet. Sie tun nur so, als ob
Sie es getan hätten – um mich dazu zu bringen, etwas zu verra-
ten, das ich nicht sagen sollte.«
Westmore griff in seine Hosentasche. »Faye, wenn Sie
glauben, ich lüge Sie an, dann schauen Sie her. Hier ist das
Stück Papier, das wir im Safe gefunden haben.« Er reichte es
ihr. »Wissen Sie, was diese Zahlen bedeuten?«
Erstaunt betrachtete sie den Zettel, dann ...
»Faye, nicht!«
...aß sie ihn.
Frustriert ließ Westmore die Schultern hängen. »Sie sind
nicht besonders nett, Faye. Das waren wichtige Informationen.
Ich habe sie gebraucht.«
Ein breiteres, albernes Grinsen. »Tja, jetzt ist es in meinem
Bauch. Wenn Sie es so dringend brauchen, können Sie ja her-
kommen und es sich holen.«
Westmore täuschte seine Betroffenheit nur vor – natürlich
hatte er die Notiz vorher eingescannt und auf seinem Rechner
gesichert. »Das war wirklich gemein. Warum sagen Sie mir
nicht einfach, was es zu bedeuten hatte? Warum haben Sie
Angst davor, mit mir darüber zu sprechen?«
»Weil in dem Haus etwas geschehen wird ...«
»Ja? Was?«
»Geht Sie nichts an.«
»Hat es etwas mit den Zahlen auf dem Papier zu tun?«
»Sehen Sie sich meine Mumu an«, forderte sie ihn plötzlich
auf und hob mit einem Ruck den Saum ihres Nachthemds
hoch.
Entsetzt drehte Westmore den Kopf zur Seite. Fayes Vagina
sah verstümmelt aus.
Du lieber Himmel ...
Er musste sich zusammenreißen, um weiterzureden. »Wer
hat Ihnen das angetan? Die Männer in der Villa?«
»Es hat sich gut angefühlt.«
Westmore seufzte. »Faye, ich muss bald gehen. Warum tun
Sie mir nicht einen Gefallen und erzählen mir, was geschehen
wird?«
Nun masturbierte sie. Ihre Zunge hing dabei aus dem
Mundwinkel. »Sie werden den Spalt öffnen.«
»Wann?«, fragte Westmore und versuchte, sich seine Ver-
zweiflung nicht anmerken zu lassen.
»Das steht auf dem Zettel.« Grinsend klopfte sie sich auf den
Bauch.
»Es dreht sich alles um Belarius, nicht wahr?«
Faye gab einen spitzen Schrei von sich, stieß sich vom Bett
ab und sprang ihn an.
Heilige SCHEISSE!
Innerhalb einer Sekunde griff sie ihn an, schlug ihm ins Ge-
sicht, zielte mit den Fingern auf seine Augen. Der Schrei
schwoll an. »Sie dürfen seinen Namen nicht aussprechen! Sie
DÜRFEN ES NICHT!«
Ihr Mund öffnete und schloss sich vor seinem Gesicht, ihre
Zähne klackten aufeinander. Noch einen Zentimeter näher und
sie würde ihm die Nase abbeißen. Ihre Masse wuchtete sich
gegen ihn. Westmore hatte alle Hände voll zu tun, um sich zu
schützen.
»Er ist der Sexus Cyning! Er ist der Herr des Fleisches und
in seinem heiligen Tempel haben Sie sich vor ihm zu vernei-
gen!«
Mittlerweile hatte sie die Hände um Westmores Hals gelegt
und drückte mit den Daumen zu, versuchte ihn auf die Knie zu
zwingen. »Zollen Sie ihm Tribut, indem Sie mich mit dem
Mund befriedigen!«
Damit riss sie die Vorderseite ihres Nachthemds hoch und
plötzlich hatte Westmore ihre Möse im Gesicht. Trotz seiner
Gegenwehr drängte sich ein Gedanke in seinen Kopf: Das ist
etwas, das mit Sicherheit NICHT geschehen wird, Schätzchen...
Mit den Fäusten in seinen Haaren drückte sie seinen Hals
nach vorn. Sie versuchte gerade, sein Gesicht zwischen ihre
teigigen Oberschenkel zu pressen, als ...
Zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzt!
Als wäre sie geschlagen worden, prallte sie zurück. Ihr Rük-
ken klatschte wie eine rohe Rinderhälfte auf den Boden.
Wells und zwei seiner Männer hatten sie überwältigt. Als
Westmore wieder klar sehen konnte, erkannte er, dass sie eine
Art Betäubungsschocker benutzt hatten, um Faye von ihm los-
zubekommen.
»Also wirklich, Faye«, sagte Wells. »Du weißt doch, was
passiert, wenn du dich so aufführst.«
Ihr Gesicht war vor Schmerzen angespannt, die Augen ver-
quollen.
»Wir holen jetzt das Bettnetz ...«
»Nein, bitte nicht!« Sie schluchzte hemmungslos, verfiel
körperlich und mental in ihre Schizophrenie.
»Dann benimm dich und beruhige dich.« Wells’ Männer
drängten sie, sich hinzulegen. Als sie es tat, starrte sie hände-
ringend an die Decke.
»Sind Sie fertig?«, fragte Wells.
»Ja«, antwortete Westmore, immer noch etwas außer Atem.
Was für ein Tag! Und dabei hat er erst angefangen. Er wandte
sich der Tür zu. »Auf Wiedersehen, Faye. Danke, dass Sie mit
mir geredet haben.«
»Hüten Sie sich vor den Adiposianern«, sagte sie unverhofft
und fuhr mit dem Kopf herum. Aus ihren Augen sprach ver-
heißungsvolle Beklommenheit.
»Den was?«
»Sie werden den Spalt wieder öffnen ...«
Westmore schüttelte den Kopf. »Erklären Sie mir das bitte.«
Darauf folgte ein breites, irres Grinsen. »Sie werden das
Haus in einen großen Schlund verwandeln, der Sie fressen
wird. Er wird Sie alle einsaugen und verschlingen.«
Im Pausenraum der Sicherheitsmannschaft nahm Westmore
einen Kaffee und steckte sich eine Zigarette an.
»Ich hab’s Ihnen ja gesagt«, meinte Wells. »Total verrückt.«
»Aber stellenweise mit lichten Momenten. Es war eine ei-
genartige Mischung.«
»Manche sind so. Sie haben keine echte gespaltene Persön-
lichkeit. Die chemischen Vorgänge in ihrem Gehirn sind in
ständiger Bewegung. In einer Minute geben sie Sinnvolles von
sich und man kann etwas aus ihnen herausbekommen, in der
nächsten leben sie im Wolkenkuckucksheim und halten es für
real. Genau wie bei ihr – all dieser okkulte Scheiß.«
Die nächste Frage war Westmore zutiefst unangenehm.
»Was, äh, ist mit ihren Genitalien passiert?«
»Ich wette zehn zu eins, dass sie sich das selbst zugefügt hat.
Sexuelle Selbstverstümmelung. Kommt bei Patienten in der
Psychiatrie häufig vor. So betäuben sie den Schmerz ihrer
Misshandlungen oder so ähnlich. Sie sollten mal sehen, was
manche Geisteskranke mit ihren Dingern anstellen, vor allem,
wenn ihnen Drogen den Verstand kaputt gemacht haben.«
Nein, dachte Westmore. Das ist etwas, das ich ganz bestimmt
NICHT sehen sollte. Die Frau tat ihm entsetzlich leid. Zur
Drogenabhängigkeit gezwungen, wieder und wieder sexuell
erniedrigt. Und Gott allein wusste, wie ihre Kindheit ausgese-
hen haben mochte. »Wird sie sich jemals davon erholen?«
»Nein. Die Rezeptoren in ihrem Gehirn sind ausgebrannt.
Sie bleibt für den Rest ihres Lebens schizophren.«
»Vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte Westmore, ging hinaus
und konnte sich nicht erinnern, schon einmal ein solches Ge-
fühl absoluter Trostlosigkeit verspürt zu haben.
II
»Hat hier schon mal jemand den Begriff Apidosianer oder
Adiposianer erwähnt?«, fragte Westmore hinter der Reihe von
Monitoren in der Kommunikationszentrale.
Nyvysk schaute interessiert von seiner Arbeit auf. »Adrianne
und Cathleen behaupten, sie gesehen zu haben – bei ihren
Spritztouren. Wo haben Sie die Bezeichnung gehört?«
Westmore log. Niemand sollte erfahren, dass er von Faye
Mullins wusste. »Ich habe den Begriff in den letzten Tagen
irgendwo aufgeschnappt. Kann mich nicht mehr genau erin-
nern, von wem.«
»Nun, wir gehen davon aus, dass sie Frauen – und Männer –
in einem körperlosen Zustand sexuell belästigen. Die Wieder-
gängervergewaltigungen von Cathleen, Adrianne und Karen
zum Beispiel. Was durchaus Sinn ergibt.«
»Für mich nicht. Was sind sie? Dämonen?«
»Nicht wirklich. Sie sind bedeutend weniger als Dämonen.
Es handelt sich eher um Hex-Entitäten, wenn man sich an älte-
re Quellen hält, die möglicherweise zuverlässig sind, möglich-
erweise aber auch nicht. Ein Adiposianer ist eine von vielen
solchen Entitäten. Sie sind seelenlos, aber nicht geistlos, auch
wenn das verwirrend klingen mag. Laut den Mora-
kis-Kompendien aus dem 16. Jahrhundert werden Adiposianer
in der Hölle aus schmelzgereinigtem Fett geformt und an-
schließend durch Beschwörungsformeln zum Leben erweckt.
Angeblich. Sie sind sozusagen Wächter oder Hüter.«
»Was bewachen sie denn?«
»Die Adiposianer im Speziellen? Sie sind Wächter be-
stimmter Hoheitsgebiete oder Präfekturen in der Hölle. Ho-
heitsgebiete, die angeblich in der Hierarchie hoch angesiedel-
ten Sexualdämonen zugesprochen wurden.«
»Wie Belarius«, sagte Westmore. Es klang eher nach einer
Feststellung als nach einer Frage.
»Genau. Stellen Sie sich Säcke mit geronnenem Schmalz
vor, die in eine menschliche Form modelliert werden. Sie be-
sitzen keine Gesichter, lediglich einen Mund samt Zunge. Und
Genitalien. Sie können in männlicher oder weiblicher Form
erschaffen werden. Sagt man. Da sie seelenlos sind, können sie
recht einfach als körperlose Entitäten die körperlichen Grenzen
der Hölle überwinden und in unsere Welt eintreten. In Denieres
Index der Dämonografien aus dem Jahr 1618 wird behauptet,
dass Sex mit einem körperlosen Adiposianer eine rauschähnli-
che Erfahrung sei. Und wer von einem Adiposianer in der Höl-
le körperlich vergewaltigt wird, erlebt einen unendlichen Hö-
hepunkt. Angeblich.«
»Angeblich«, wiederholte Westmore.
»Natürlich. Wer kann das schon mit Sicherheit wissen?«
Ich nicht, so viel steht fest. Westmore erinnerte sich an den
anderen merkwürdigen Begriff aus der psychiatrischen Klinik,
den er in diesen Räumen ebenfalls schon einmal gehört hatte.
»Was ist ein Spalt? Sie verwenden den Begriff ab und an mal.
Ist das ein Portal oder etwas in der Art? Ein Portal zur Hölle?«
Nyvysk schien die Frage unangenehm zu sein. »In gewisser
Weise. In jeder Religion und Gegenreligion gibt es etwas Ähn-
liches. Die Christen glauben, dass sich eines Tages ein Spalt im
Himmel auftun wird. Durch ihn gelangen all jene, deren Name
im Buch des Lebens steht – mit anderen Worten: diejenigen,
die des Himmels würdig sind. Die alten Ägypter vertraten da-
gegen die Auffassung, der Tod selbst wäre der Spalt, durch den
sie Zugang zum Jenseits erlangen.«
»Und die Satanisten?«
»Manche sind davon überzeugt, dass durch bestimmte Riten,
Beschwörungen und Opfergaben eine Schwelle zur Hölle ge-
öffnet werden kann. Wahrscheinlich verfolgte Hildreth in der
Nacht des 3. April genau dieses Ziel. Er hat versucht, einen
entsprechenden Durchgang zu schaffen.«
Westmore sah ihn an. »Glauben Sie ...«
»Ob ich glaube, dass solche Spalte wirklich existieren?«
Nyvysk erwiderte den Blick gelassen. »Nein, natürlich nicht ...
und ja, natürlich.«
»Na toll.«
Nyvysk lächelte. »Das begründet sich auf Mythen und Le-
genden, die bis in die Zeit der Höhlenmenschen zurückreichen.
Später, als die Menschheit lernte, Aufzeichnungen zu hinter-
lassen, wurden diese Mythen und Legenden an nachfolgende
Generationen weitergegeben. Grimoiren, Kompendien und
mehr okkulte Bücher, als ein einzelner Mensch zu Lebzeiten
lesen könnte – seit dem Tod Christi durch das Mittelalter bis
hinein ins frühe 20. Jahrhundert. Erwähnungen von Spalten,
Portalen, Pforten in die Unterwelt und den mystischen Ge-
heimnissen, die man ergründen muss, um sie zu öffnen, finden
sich darin zuhauf. Meine Meinung? Wollen Sie die Wahrheit
hören?«
»Ja«, erwiderte Westmore.
»Das ist größtenteils Kacke, Mr. Westmore.« Ein weiteres
subtiles Lächeln, als Nyvysk eine Sensorleiste justierte. »Letzt-
lich ist Glaube der Spalt. Ich glaube an alles, woran ich glau-
ben muss. Ich glaube an den Himmel und die Hölle. Sie auch?«
»Verdammt, ich weiß es nicht.«
Nyvysks Lächeln war verpufft. »Ich vermute, das werden Sie
wissen, wenn wir diese Sache hier durchgestanden haben.«
Den Großteil des restlichen Tages verbrachte Westmore im
Büro und vergaß sogar, zum Essen nach unten zu gehen. Er sah
kaum ein anderes Mitglied der Gruppe für mehr als ein paar
Augenblicke. Als er Karen im Flur begegnete, hatte sie ihn nur
kurz angelächelt und ihm zugenickt, bevor sie mit grüblerisch
versunkener Miene weitergegangen war. Offensichtlich hatte
sie ihren Kuss und die gemeinsam verbrachte Nacht verdrängt
– vermutlich, weil sie zu betrunken gewesen war. Ein rein pla-
tonischer, dennoch auf exotische Weise erregender Vorfall. Sie
hatte sein Bett bereits verlassen, als er aufwachte. Zurückge-
blieben war nur der Duft ihres Haars.
Irgendwann entdeckte Westmore durch das Fenster Cathle-
en, wie sie barfuß auf die Öffnung des kleinen Wäldchens zu-
schlenderte, die zum Friedhof führte. Sie trug nur einen weißen
Bikini und einen Sarong. Einen Moment lang blieb sie vor der
Lücke zwischen den Bäumen stehen. Die Brise zerzauste ihr
das Haar und brachte den Sarong in Wallung. Dann drehte sie
sich plötzlich um und entfernte sich beinahe im Laufschritt.
Schlimme Erinnerungen, dachte Westmore. Allerdings ging
ihm dabei auch durch den Kopf, dass er in der kommenden
Nacht mit Clements denselben Friedhof betreten würde.
Falls der Kerl aufkreuzt.
Nachdem er sich einige weitere Stunden mit seinem Bericht
beschäftigt hatte, führte er ein paar Suchmaschinenanfragen zu
den Zahlen und Begriffen auf dem Zettel aus dem Tresor
durch. Nur das Wort »Apogäum« erbrachte eine schier endlose
Zahl von Treffern, die sich im Grunde genommen aber als
nutzlos erwiesen. Als er feststellte, dass er mit der Aufgabe
überfordert war, rief er abermals seinen Freund Tom an, der
widerwillig zustimmte, einige weitere kompetente Recherchen
anzustellen.
Rastlos entschied Westmore, ein wenig herumzustreunen. Er
musste noch vor Mitternacht die verborgene Tür finden, die
Clements’ bizarre Gefährtin erwähnt hatte. Sie hatte ihm be-
schrieben, wie er dorthin gelangte – ein Bereich, den er bereits
kannte. Und so kommt man dorthin, dachte er, während er den
schmalen, weinroten Vorhang in der Ecke des Büros betrach-
tete.
Er ging hindurch und betrat ein Netzwerk von schulterbrei-
ten Gängen, die von winzigen Leuchtern erhellt wurden. Die
Wege schienen um die Außenmauern der Villa herumzuführen
und über mehrere genauso schmale Treppen einen Zickzack-
kurs nach unten zu beschreiben. Schließlich erreichte er eine
prunkvoll ausgestattete, aber beengte Bibliothek. Laut dem
Mädchen ist das der Raum ... Bücherregale aus Eichenholz
säumten die Außenwand. Westmore begann, daran zu ziehen
und zu zerren. Dabei bemerkte er die seltsamen Titel auf den
Buchrücken. Viele der Werke schienen außerordentlich alt zu
sein: Cultes Des Ghoules, Terra Dementata, Megapolisomantie
und etliche weitere. »Komisches Fleckchen«, murmelte West-
more. Etwas schien die Luft zu verstopfen, doch er vermochte
nicht zu sagen, was. Außerdem fühlte er sich beobachtet, aber
er wusste, dass dies vermutlich nur an der Atmosphäre und
seiner Paranoia lag. Dann fiel ihm in einer abgelegenen Ecke
ein heller Vorhang auf. Er blickte dahinter und sah die schwere
metallgefasste Tür vor sich.
Das ist sie.
Keine besonders schwierige Sache. Es war jetzt kurz nach
20:00 Uhr – ihm blieben noch knapp vier Stunden. Er konnte
noch mal ins Büro zurück, um weiterzuarbeiten, doch plötzlich
überkam ihn eine spontane Müdigkeitsattacke. Ich denke, ich
genehmige mir ein kurzes Nickerchen, dachte Westmore und
fühlte sich alt. Aber wo? Ganz bestimmt nicht in seiner kleinen
Schlafzelle, während alle anderen um ihn herumwuselten.
Warum nicht gleich hier?
Unter einer gerahmten tiefschwarzen Leinwand stand eine
lange Bank mit weicher Polsterung und Messingziernieten. Das
würde reichen. Westmore legte sich hin und döste sofort weg.
Er träumte davon, wach, aber gelähmt zu sein, auf derselben
gepolsterten Bank, auf der er nun lag, in derselben Bibliothek.
Rings um ihn herum standen Gestalten, aber er konnte den
Kopf nicht drehen, um sie zu betrachten. Nackte Angst weitete
seine Augen; ein Schemen kletterte über die Bank – ein nackter
Schemen, das konnte er erkennen – und ...
Oh Scheiße!
... setzte sich direkt auf sein Gesicht. Fett hing herab und
drückte seine Nase zusammen. Noch bevor sich eine Hand in
sein Haar krallte, es verdrehte und eine sehr leise Stimme er-
tönte, wusste er, um wen es sich handelte.
»Sie dürfen seinen Namen nicht aussprechen.«
Über die Speckfalten hinweg sah er Faye Mullins’ aus-
drucksloses Gesicht, das auf ihn herabstarrte.
»Zollen Sie ihm Tribut, indem Sie mich mit dem Mund be-
friedigen! Und machen Sie es ordentlich, sonst ...«
Klick!
»... begegnen Sie ihm früher, als Sie glauben.«
Sie hatte ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten und den
Hahn gespannt. Hilflos tat Westmore, wozu er gezwungen
wurde. Seine Zunge näherte sich dem verheerten Fleisch ...
»So ist es gut«, lobte sie ihn. Ihre breiten Schenkel zappelten
kurz, um besseren Halt zu finden. Hände – oder etwas, das an
Hände erinnerte – zogen auf der Bank seine Hose nach unten,
doch er konnte nicht sehen, wer oder was dafür verantwortlich
war. Dann ein Mund, der sich unmenschlich anfühlte. Etwas
wesentlich Dickeres und Wärmeres als Speichel triefte heraus.
Westmore ekelte sich, aber seine Reaktionen wollten seinen
Emotionen nicht gehorchen. Schlagartig setzte Erregung ein,
alsbald gefolgt von einem Orgasmus, unter dem er sich auf-
bäumte. Er ergoss sich in das, was ihn geblasen hatte, aber als
er abspritzte, schien er zu ersticken. Faye Mullins Scham be-
deckte seinen Mund und seine Nase völlig. In der Zwischenzeit
steuerte Faye ihrerseits einem Höhepunkt entgegen und der
grundlegendste Teil von Westmores schwindendem Bewusst-
sein stellte sich die Frage, ob er wohl zuerst ersticken oder eine
Kugel ins Gehirn bekommen würde, wenn sie ihren Orgasmus
hatte. Seine Lungen blähten und blähten sich. Er fing an,
krampfhaft zu zucken.
Ein ausgedehntes Stöhnen umschwirrte ihn, als sein Gesicht
noch fester umklammert wurde, aber gleich darauf erschlaffte
Faye und bewegte sich ein paar Zentimeter rückwärts, sodass
sein Mund und seine Nase endlich wieder freilagen.
Westmore sog hastig Luft ein, als sie von ihm herunterklet-
terte. Sein Blick folgte dem unförmigen, nackten und massigen
Leib. Sie ging zu einem halbrunden, mit Schnitzereien verzier-
ten Tisch. Dort öffnete sie an der Vorderseite eine kleine
Schublade, sah hinein und schloss sie wieder. Schließlich
schaute sie zu ihm.
»Jetzt wissen Sie, wie ich mich jeden Tag gefühlt habe«,
sagte sie grinsend.
Westmore konnte nicht sprechen.
»Etwas wird hier geschehen«, stieß sie hervor. Ihre Stimme
schien zu einem Gurgeln zu verkommen.
Westmore starrte sie an.
»Wenn es so weit ist, sollten Sie besser nicht hier sein.«
Schlagartig erwachte Westmore.
Also gut, Westmore, reiß dich zusammen. Sei kein Idiot. Das
war keine körperlose sexuelle Belästigung, verdammt! Das war
keine Heimsuchung, keine übersinnliche Vision oder eine ähn-
liche Scheiße. Es war bloß ein MIESER TRAUM.
Dann blickte er in die kleine Schublade des Tischs und fand
einige DVDs. Nichts Aufregendes, nichts Aufregendes. Was
soll’ s? Überall in diesem Haus liegen DVDs herum. Zufall!
Dennoch steckte er sie ein. Im selben Augenblick schlug die
Uhr zwölfmal.
Verdammt! Ich sollte draußen sein und Clements treffen!
Westmore eilte durch den Vorhang, drehte den Riegel und
öffnete die stabile Tür. Draußen angekommen steckte er einen
Stift in die Öffnung, damit sie nicht zufallen konnte. Zwielicht
umfing ihn. Ein heller Halbmond und Sterne wie Diamant-
splitter beherrschten den Himmel. Es war noch angenehm
warm, aber er hielt sich nüchtern vor Augen: Wenn wir erst
mal mit den Schaufeln loslegen, wird die Wärme schnell nicht
mehr so angenehm sein. Mit forschen Schritten entfernte er
sich von der Seite des Hauses und hielt auf den Wald zu, dann
ging er langsam der Zufahrtsstraße entgegen. Er konnte kaum
etwas erkennen.
»Verdammt, ich dachte schon, Sie lassen mich hängen«,
sagte Clements, der sich im Schatten verbarg. Connie stand
neben ihm, aber Westmore überraschte viel mehr, dass er vier
weitere Männer sah, die Jeans, Stiefel und T-Shirts trugen. Je-
der hatte eine Schaufel über der Schulter.
»Wer sind diese Leute?«
Als Clements an seiner Zigarette zog, tauchte die aufleuch-
tende Glut sein Gesicht in Orange. »Sie haben gesagt, dass Sie
Hilfe brauchen, um ein Grab aufzuschaufeln. Hier ist die Hilfe.
Jüngere Leute mit Muskeln. Sie und ich sind zu alt für so einen
Kram.«
Du vielleicht!, dachte Westmore halbherzig. In Wirklichkeit
jedoch empfand er große Erleichterung.
Clements stellte die anderen vor. »Higgins, Schichtleiter bei
der Polizei von Shreveport; Butler, stellvertretender Kreisab-
geordneter für öffentliche Sicherheit; und mein Neffe Skibinis-
ki aus der Bezirksverwaltung – er war einer meiner Schüler, als
ich an der Akademie unterrichtet habe. Und das hier ist mein
anderer Neffe Jimmy Wells, den Sie heute schon kennengelernt
haben.«
Der Kerl aus der Klinik, erkannte Westmore. Er tauschte ein
Nicken mit den anderen Männern aus, dann sagte Clements:
»Gehen Sie vor. Alle mal herhören: Leise sein und innerhalb
der Baumgrenze bleiben. Und versucht, euch nicht wie die ver-
fluchten Deutschen anzuhören, wenn sie nach Stalingrad ein-
marschieren.«
Westmore führte die Gruppe vorsichtig um das Gelände
herum auf die andere Seite des Hauses. Das Zirpen von Grillen
folgte ihnen und war ähnlich drückend wie die Luftfeuchtig-
keit. »Hier lang ...« Die nächtlichen Umgebungsgeräusche
wurden lauter, als sie den überwucherten Pfad betraten.
Wells stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Ihre Freundin hat
nach Ihnen gefragt.«
»Wer? Faye Mullins?«
»Ja, gegen elf. Meine Schicht ging gerade zu Ende. Ich habe
einer der Pflegerinnen geholfen, die Medikamente für die
Nacht zu verteilen. Mullins ist aufgewacht, hat mich angesehen
und nach Ihnen gefragt.«
Westmore runzelte die Stirn. »Was hat sie denn genau ge-
sagt?«
»Sie meinte, sie hätte Sie gerade gesehen.«
»Hä? Wo?«
Wells kicherte. »In einer Bibliothek.«
Wo ich geschlafen habe ... Westmore ließ sich nichts an-
merken.
»Dann sagte sie, ich soll Sie fragen, ob Sie die Schublade im
Tisch gefunden haben.«
Westmores Magen krampfte sich jäh zusammen.
Wells kicherte erneut. »Diese Psychos sind schon der Brül-
ler, oder?«
»Ja ...«
Westmores Augen waren immer noch damit beschäftigt, sich
an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. »Hat jemand eine Ta-
schenlampe? Ich kann nicht sehen, wo Hildreths Grabstein ist.
Es ist zu dunkel.«
Aber die jüngeren Männer waren schon durch das Tor ge-
stapft und suchten die Grabmale mit dem gebündelten Licht
ihrer Stablampen ab. »Hier«, sagte einer von ihnen.
»Bleiben wir ihnen aus dem Weg«, riet Clements und zog
Connie und Westmore beiseite. Das Geräusch von Schaufeln,
die auf Erde trafen, war zu hören. »Ich wette, die haben das
Grab innerhalb von zehn Minuten freigelegt.«
Connie stand da und rieb sich die Augen. Sie wirkte nervös
und elend. Im Mondlicht sah ihr Gesicht noch blasser aus.
Clements schlang einen Arm um sie und gab ihr eine Tablette.
»Nimm jetzt noch eine, das lindert die Symptome.«
Sie nickte, schluckte die Pille und spülte sie mit etwas Li-
monade hinunter.
»Was war das?«
»Ein verschreibungspflichtiges Medikament, das die Ent-
zugserscheinungen von Crack lindert. Ich komme über die be-
ste Freundin meiner Schwester jederzeit an das Zeug ran.«
»Apothekerin?«
»Nein, sie leitet das hiesige Rehazentrum.«
Westmore verdrehte die Augen.
Tatsächlich dauerte es nicht einmal zehn Minuten, bis Wells
verkündete: »Wir haben den Sarg freigelegt, Bart. Sollen wir
ihn aufmachen?«
»Das übernehmen wir«, gab Clements zurück. »Lasst zwei
Schaufeln da, damit wir das Loch hinterher wieder auffüllen
können. Ihr bewegt jetzt eure Ärsche hier weg und fahrt zu mir
nach Hause. Dort warten zwei eisgekühlte Kästen Bier auf
euch.«
Westmore dankte den anderen Männern aus der Ferne, als
sie nacheinander den Friedhof verließen und in der undurch-
dringlichen Dunkelheit verschwanden. Dann standen sie zu
dritt beklommen schweigend da. Wir sind im Begriff, ein Grab
zu öffnen. Wer mag da drinliegen? Westmore trat an das Loch
heran und spähte in die Tiefe.
»Connie, leuchte mal hier runter, ja?« Clements stieg mit
einem Brecheisen hinab, während Connie mit dem schmalen
Strahl der Stablampe in das Grab zielte. Der Sarg erwies sich
als unverschlossen. Clements konnte den Deckel mühelos öff-
nen.
»Was meinst du? Sieht für mich nicht nach Hildreth aus ...«
»Das ist er nicht«, bestätigte Connie mit zusammengeknif-
fenen Augen.
Westmore spähte hinein und sah einen großen, schlanken
Mann Mitte 60 mit grau meliertem Haar, dessen Fleisch durch
den mehrwöchigen Zerfall schlaff herabhing. »Dieselbe Größe,
dasselbe Gewicht. Sind Sie sicher?«
»Das ist er nicht«, beharrte Connie. »Ich kenne diesen
Kerl...«
»Was?«, stießen Westmore und Clements gleichzeitig her-
vor.
»Großer Gott. Das ist einer der Säufer, die unter der Über-
führung der 275 leben. Ich habe ihn oft auf dem Weg zur
Hauptstraße gesehen, wenn ich mir Crack besorgen musste.«
Verstört von dem Anblick wandte sie sich ab. »Sieh mal nach,
ob ihm einige Zähne fehlen.«
Clements zwängte den Unterkiefer mit der Schuhspitze auf.
»Etwa die Hälfte ist ausgefallen.« Er sah Westmore an. »Zu-
frieden?«
»Ich denke schon.« Es handelte sich eindeutig nicht um
Hildreth. »Ein Ersatzkörper, auf den ersten Blick ähnlich ge-
nug.«
»Ich warte draußen«, verkündete Connie und schickte sich
an, den Friedhof zu verlassen. »Das ist mir zu unheimlich.«
Westmore konnte es ihr nicht verübeln. »Vivica hat mir er-
zählt, dass die Todesanzeige und der Autopsiebericht von je-
mandem gefälscht wurden, den sie dafür bezahlt hat.«
Clements trat den Deckel zu und sprang aus der Grube her-
aus. »Der Typ stinkt.«
»Aber Adrianne hat gesagt, sie hätte eine Leiche in dem Sarg
gesehen.«
»Hä? Sie meinen, sie war bei der Beerdigung?«
»Nein, ich meine, dass sie eine Leiche in dem Sarg gesehen
hat, als sie eine Astralwanderung unternahm.«
Clements grinste im Mondschein vor Belustigung. »Sie
Spatzenhirn. Wahrscheinlich war sie diejenige, die diese Lei-
che in den Sarg gepackt hat.«
»Herrgott, sie ist eine zierliche Frau, die vielleicht 50 Kilo
wiegt«, konterte Westmore. »Wollen Sie ernsthaft behaupten,
sie hätte einen Penner umgebracht, um ihn als Hildreth auszu-
geben, und sei dann hierhergekommen, um das Grab zu öffnen
und die Leiche in einen leeren Sarg zu legen?«
»Irgendjemand hat es jedenfalls getan.« Clements zündete
sich eine Zigarette an. »Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie sollen
niemandem im Haus vertrauen und nichts von dem übersinnli-
chen Quatsch glauben, den die abziehen. Das ist alles Blöd-
sinn.«
»Am wenigsten traue ich Mack«, erwiderte Westmore. »Alle
anderen scheinen mir ziemlich in Ordnung zu sein.«
»Geben Sie Bescheid, wenn Sie die verfluchte Brooklyn
Bridge kaufen wollen – ich kann sie Ihnen zu einem guten
Preis beschaffen. Machen wir das Loch zu und verschwinden
wir.« Er griff sich eine Schaufel und warf die andere in West-
mores Richtung. Plötzlich meldete sich Connie zu Wort. »Hey
Bart. Ich ... ich glaube, hier ist etwas ...«
Die junge Frau stand unmittelbar außerhalb der Begrenzung
des Friedhofs zu ihrer Rechten. Sie beugte sich vor, zielte mit
der Lampe auf den Boden und stupste etwas mit dem Fuß an.
Dann schrie sie auf und sprang zurück. »Da ist etwas! Ich
glaube, es ist eine Hand!«
Westmore und Clements sprangen über den Zaun, schwenk-
ten ihre eigenen Stablampen. »Beruhige dich«, forderte Cle-
ments sie auf. »Wo?«
Mit klappernden Zähnen deutete sie nach unten.
»Die Erde ist weich«, stellte Westmore sofort fest. Er zog
das Blatt seiner Schaufel über das Laub auf dem Boden und
legte umgegrabene Erde frei.
»Hier hat schon mal jemand gebuddelt«, sagte Clements.
»Einer ihrer Kumpel von der Freakshow da drinnen.«
Westmore überlegte. »Cathleen hat behauptet, sie sei genau
an dieser Stelle von etwas vergewaltigt worden. Sie meinte, es
sei in unmittelbarer Nähe von Hildreths Grab passiert.«
»Die ist doch nicht zurechnungsfähig. Aber hier ist wirklich
etwas. Die Erde wurde definitiv vor Kurzem umgegraben.« Er
stocherte ein wenig mit dem Schaufelblatt herum. »Was
zum...«
»Was ist das?«, fragte Westmore und kniff instinktiv die
Augen zusammen, um besser sehen zu können.
»Es ist eine Hand!«, rief Connie.
Aber stimmte das? In den schmalen Lichtstrahlen sahen sie
etwas, das an einen weißen Handschuh erinnerte. Clements
kniete sich hin, hob es auf und murmelte »Mein Gott!«, als
daran etwas Langes und Weißes hing.
Etwas wie ein Arm, der zu dem Handschuh gehörte.
Niemand sprach ein Wort; stattdessen begannen Clements
und Westmore vorsichtig zu graben. Was immer sich dort be-
fand, lag nicht besonders tief in der Erde. Für ein gewöhnliches
Grab wirkte es zu improvisiert. Ein abscheulicher Gestank von
verwesendem Fleisch stieg auf und brachte sie zum Würgen.
Dabei musste Westmore ständig denken: Was sind das für
Dinger?
Sie legten mehrere Leichen frei, denen allerdings jegliche
charakteristischen Merkmale und klare Knochenstrukturen zu
fehlen schienen. Nur Arme, Beine und Köpfe oder zumindest
Andeutungen davon. Westmore konnte in den Strahlen der
Stablampen nicht allzu viel erkennen ... aber das musste er
auch gar nicht.
»Das sind keine Menschen ...«
»Natürlich sind es Menschen«, widersprach Clements, wobei
er sich jedoch nicht allzu überzeugt anhörte. »Das sind verwe-
ste nackte Leichen. Sehen wie Wasserleichen aus. Wenn man
sie so flach vergräbt, verrotten sie schnell und es entstehen eine
Menge Gase.«
Als Connie in die Grube schaute, wandte sie rasch den Blick
ab und würgte.
»Die Gase könnten giftig sein«, fuhr Clements fort. »Und
wir atmen die Scheiße ein wie zwei Idioten. Buddeln wir sie
schnell wieder ein.« Er begann damit, die paraffinartigen, wei-
ßen und glänzenden Körper mit Erde zu bedecken.
»Wie wär’s, wenn wir sie nicht wieder einbuddeln?«, schlug
Westmore fort. »Verschwinden wir einfach und rufen die Poli-
zei.«
»Jetzt schwingen Sie schon endlich die Schaufel und helfen
Sie mir.« Clements runzelte die Stirn und schleuderte weitere
Erde in die Grube. »Wir rufen die Polizei nicht an. Auf gar
keinen Fall. Damit wären unsere Pläne im Eimer. Ich hole
Debbie Rodenbaugh aus diesem Haus. Wenn Sie hier eine
Horde Bullen antanzen lassen, bläst Vivica ab, was immer sie
und Hildreth vorhaben. Damit wäre sowohl mein als auch Ihr
Vorhaben vereitelt.« Clements pikte Westmore in die Brust.
»Wir beide haben eine Abmachung miteinander. Ich habe Ih-
nen versprochen, Ihnen beim Öffnen des Grabs zu helfen, und
Sie haben versprochen, mich ins Haus zu lassen. Halten Sie
sich gefälligst daran.«
Westmore verstand, worauf Clements hinauswollte, oder
hoffte es zumindest. Innerhalb weniger Minuten hatten sie die
Grube und auch Hildreths Grab wieder halbwegs in den vorhe-
rigen Zustand versetzt.
Die Schaufeln warfen sie in den Wald. Connie sah aus, als
wäre ihr speiübel, als sie davongingen, und Clements selbst
wirkte ebenfalls mitgenommen. Seine Fassade vom harten Kerl
hatte einige Risse bekommen.
»Er hat recht«, meinte Connie mit einem Nicken in West-
mores Richtung. »Diese Dinger sahen nicht menschlich ...«
»Es sind tote menschliche Körper«, beharrte Clements. »Die
Hitze und der Regen in den vergangenen Wochen haben ihnen
übel zugesetzt. Ich habe sie mir aufmerksam angesehen. Das
sind keine verfluchten Monster, die Hildreth für eine satanische
Opferung hierhergebracht hat. Du und er, ihr lasst euch von
diesem beschissenen Guruquatsch mit Luziferanbetung total
das Gehirn vernebeln.«
Westmore fühlte sich durch die jüngsten Erlebnisse und den
Gestank zu ausgelaugt, um zu widersprechen. Natürlich hatte
Clements recht, trotzdem jagte ihm das Aussehen der Leichen
immer noch eine Heidenangst ein.
Sie überquerten das Grundstück und kehrten zur Zufahrts-
straße zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte Clements gereizt.
»Sie sehen aus, als würden Sie gleich im Strahl kotzen.«
»Ich fühle mich auch so.«
»Keine Sorge. Morgen Nacht ist die ganze Scheiße vorbei.«
Westmore zog eine Augenbraue hoch. »Was passiert denn
dann?«
»Dann lassen Sie mich ins Haus und ich bereite dem Spuk
ein schnelles Ende. Ich schaffe Debbie da raus, suche Hildreth
und blase ihm das Licht aus. Wenn Sie sich die Hände nicht
schmutzig machen wollen, okay. Lassen Sie mich einfach rein
und die Drecksarbeit für Sie erledigen, so wie wir es ausge-
macht haben.
Westmore seufzte. »In Ordnung. Wann?«
»Punkt zwei Uhr morgens.«
»Gut.«
Clements und das Mädchen stiegen ins Auto. »Das wird die
letzte Nacht sein, die Sie in dem Haus verbringen.« Der ehe-
malige Polizist grinste im Mondlicht. »Lassen Sie sich nicht
umbringen, ja? Ich will nicht, dass Sie die nächste Leiche sind,
die ich ausgrabe«, sagte er und fuhr davon.
Kapitel 14
I
Das wird eine hartes Stück Arbeit, dachte Adrianne, als sie am
nächsten Tag gegen Mittag durch das Haus schlenderte. Zu-
nächst hatte sie einen kleinen Streifzug über das Grundstück
geplant – draußen herrschte herrliches Wetter –, aber selbst
nach einigen Minuten im Freien gelang es ihr nicht, die drük-
kende Stimmung in der Villa von sich abfallen zu lassen; das
Gefühl, dass etwas in der Luft lag, auf ihr lastete und sie
beobachtete, war übermächtig. Diese Empfindung erwies sich
draußen als unvermindert stark, ungeachtet des Grases, der
kitzelnden Sonnenstrahlen und des tiefblauen Himmels. Sie
konnte sich weder drinnen noch draußen davon frei machen. Es
liegt bloß an mir, hoffte sie und kehrte ins Haus zurück.
Im Hauptflur starrten sie Porträts und nachdenklich wirkende
Büsten an. Als sie das Atrium betrat, hörte sie einige der ande-
ren in der Küche miteinander reden. Anscheinend pflegten sie
gerade etwas, das normalem gesellschaftlichem Umgang zu-
mindest nahekam. Adrianne wollte damit nichts zu tun haben.
Zwar mochte sie die anderen, dennoch wollte sie jetzt nicht in
ihrer Nähe sein – sie konnte es nicht. Andere Menschen emp-
fand sie als störende Ablenkung, insbesondere vor einer
Spritztour. Sie musste sich konzentrieren. Sie musste in ihrer
Zone bleiben.
So ging sie weiter bis hinauf in die Kommunikationszentrale,
wo Nyvysk einen Großteil seiner Zeit verbrachte. Die Wieder-
gaben auf den verschiedenen Monitoren übten weder eine Fas-
zination auf Adrianne aus, noch jagten sie ihr Angst ein. Sie
waren ihr schlicht gleichgültig. Infrarotumrisse und Ionen-
signaturen von Gestalten in Räumen ohne körperliche Präsen-
zen. Adrianne kritzelte eine kurze Notiz für Nyvysk, damit
wenigstens irgendjemand wusste, was sie für diesen Tag ge-
plant hatte.
ICH UNTERNEHME HEUTE EINE ASTRALWANDE-
RUNG, WAHRSCHEINLICH AUF DEM DACH. BIN
NICHT SICHER, WANN ICH FERTIG SEIN WERDE –
ADRIANNE
Sie klebte den Zettel an einen der Monitore und ging.
Als sie das Büro passierte, hörte sie Westmore auf seiner
Tastatur herumhämmern, ging aber vorbei, ohne Hallo zu sa-
gen. Im Augenblick wollte sie mit niemandem reden, zumin-
dest mit niemandem, der lebte oder sich auf dieser Existenz-
ebene aufhielt.
Die einzige Entität, mit der sie reden wollte, war Jaemessyn,
der offenbar den Torwächter des Tempels verkörperte. Denn
sie wusste, dass sie nur mithilfe dieses gefallenen Engels unter
Umständen Zugang zu Belarius erlangen konnte.
Das ist perfekt, dachte sie eine Weile später. Sie hatte hier-
hingewollt, nur hatte sie den genauen Weg bisher nicht gefun-
den. Nachdem sie einigen weiteren Treppenfluchten nach oben
gefolgt war, trat sie auf ein Dach mit Brüstung hinaus. Dort
befand sich eine verlockende Sonnenterrasse mit einem Club-
sessel und einem Sonnenschirm. Ja. Das ist sehr gut ...
Adrianne legte sich auf den Klubsessel und entspannte. Der
Sonnenschirm spendete ihr Schatten. Wovor habe ich Angst?,
fragte sie sich nach einigen Minuten.
Nichts von dort drüben konnte ihr hier auch nur das Gering-
ste anhaben.
Sie schluckte eine Lonolox, schloss die Augen und murmelte
ihre Vorbereitungsgebete.
II
Westmore fühlte sich verkatert, als er aus dem Bett stieg . Mo-
ment mal, dachte er. Ich trinke doch nichts mehr. Das schreck-
liche Gefühl musste von den Leichen stammen, die er in der
vergangenen Nacht gesehen hatte. Vielleicht lag Clements
richtig und ihre Ausdünstungen waren tatsächlich giftig. Aber
zumindest gab er dem anderen mittlerweile recht: Es würde
besser sein, mit der Meldung des Leichenfunds an die Polizei
noch einen Tag zu warten. Mehr Zeit, um herauszufinden, was
an diesem Ort wirklich vor sich geht. Inzwischen wollte
Westmore es unbedingt wissen. Noch sollte ich nicht auspak-
ken.
Wörter nagten an ihm, während er lustlos seine Arbeit fort-
setzte, Wörter in der Stimme von Faye Mullins ...
Sie werden das Haus in einen großen Schlund verwandeln,
der Sie fressen wird.
Westmore verdrängte alle Gedanken aus dem Kopf. Er legte
eine der DVDs ein, die er in der kleinen Bibliothek gefunden
hatte, und starrte stumpfsinnig auf den Bildschirm. Es schien
sich um denselben Dreck wie immer zu handeln. Männer, die
Sex mit Frauen hatten, offenbar nur um dem Zuschauer zu be-
weisen, dass sie einen geilen Abgang hinbekamen. Aber er
konnte die mahnende Stimme von Faye nicht abschütteln.
Er wird Sie alle einsaugen und verschlingen.
Westmore riss die Augen auf und sah genauer hin. In der
nächsten Szene erkannte er den männlichen »Star«, der eine
Blondine heftig rannahm, die von Drogen benebelt wirkte.
Es war Mack.
Zunächst schockierte es ihn, aber ... warum sollte es? Mack
hatte schließlich offen eingestanden, in der Vergangenheit tie-
fer in die Branche verstrickt gewesen zu sein. Pornografie in
Los Angeles. Na schön. Und weiter? Nur weil der Typ Pornos
für Hildreth gedreht hat, muss er noch lange keine Leichen im
Wald verscharrt haben. Bleib mal auf dem Teppich. Die Szene
wechselte zum Foyer im Erdgeschoss. Diesmal fand die Action
auf der mit rotem Samt ausgelegten Treppe statt, aber als sich
die grazile Frau umdrehte, mit der Mack es gerade trieb, kippte
Westmore beinahe vom Stuhl.
Es war Vivica Hildreth.
Westmore musste den Anblick erst einmal verdauen. Sie so
zu sehen – nackt, in obszöner Pose, ein unverhohlenes Sexob-
jekt – erregte ihn einerseits, gleichzeitig brachte es ihn aber auf
die Palme. Sie war in der Tat eine wunderschöne Frau, nackt
genauso betörend, wie er es sich vorgestellt hatte, trotz ihres
kosmetisch gelinderten mittleren Alters nahezu perfekt. Rasch
kehrte sein klares Denken zurück. Westmore schnappte sich
sein Mobiltelefon und wählte ihre Nummer.
Als ihre Mailbox ansprang, sagte er mit gespielter Gelassen-
heit: »Mrs. Hildreth, hier spricht Richard Westmore. Ich sehe
mir gerade einen Porno an, in dem Sie mitspielen. Eine höchst
pikante Sexszene auf der Treppe im Foyer – mit Mack. Ich
möchte wissen, warum Sie mich angelogen haben. Ich möchte
wissen, warum Sie behauptet haben, noch nie zuvor in der Vil-
la gewesen zu sein. Ich kann unmöglich einen Auftrag für Sie
erledigen, wenn Sie nicht ehrlich zu mir sind. Rufen Sie mich
bitte umgehend zurück und liefern Sie mir eine Erklärung. Im
Moment weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Ich komme
mir wie ein betrogener Trottel vor, den man sich mit Geld ge-
fügig macht.«
Kochend vor Zorn legte er auf, zündete sich eine Zigarette
an und knirschte mit den Zähnen. Was bin ich doch für ein Idi-
ot! Aber warum hatte sie behauptet, noch nie in der Villa ge-
wesen zu sein? Er versuchte, einen Grund für die Lüge zu fin-
den, aber er fand keinen. Als sein Telefon klingelte, hätte er es
um ein Haar fallen gelassen, weil er zu hastig danach griff. Das
ging ja schnell, dachte er. Mal sehen, was die Bienenkönigin zu
sagen hat ...
»Hallo?«
»Du klingst ja unheimlich glücklich, meine Stimme zu hö-
ren. Ich schwöre dir, ich war’s nicht, der deinen Hund auf dem
Gewissen hat.«
Westmore runzelte die Stirn. Es war nicht Vivica, sondern
Tom. »Tut mir leid, Tom. Ich bin ein wenig durch den Wind.
Warte dringend auf einen anderen Anruf.«
»Na ja, vielleicht bringt dich diese Info zurück in die Spur.
Keine Ahnung.«
»Hast du noch was über Hildreth rausgefunden?«
»Nein, nur weitere Details über seinen kometenhaften Auf-
stieg. Der Kerl zahlt seine Steuern und hat geradezu unver-
schämtes Glück auf dem Aktienmarkt. Über Vivica Hildreth
findet sich kaum etwas, erst recht nichts, was auf fragwürdige
Geschäfte schließen lässt. Eine gesellschaftliche Aufsteigerin
aus Sarasota, Florida. Hat sich Mitte der 80er mit Hildreth zu-
sammengetan. Sie ist 52. Vivica scheint mir ein kultivierter
Vamp zu sein, der vor allem auf Geld scharf ist. Sieht so aus,
als hätte sie dafür genau den richtigen Kerl gefunden. Und ...«
»Was ist mit Debbie Rodenbaugh?«, fiel ihm Westmore ins
Wort.
»Immer langsam mit den jungen Pferden, das wollte ich dir
gerade erzählen. Deborah Rodenbaugh ist derzeit Studienan-
fängerin an der Universität von Oxford mit Kunstgeschichte als
Hauptfach.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Die Sekretärin aus dem Immatrikulationsbüro, zwei Kunst-
professoren, bei denen sie Kurse belegt, der Leiter der Bodlei-
an-Bibliothek, in der sie einen Teilzeitjob hat, und sie selbst.«
»Was soll das heißen, ›und sie selbst‹?«
»Ich habe gerade am Telefon mit ihr gesprochen. Übrigens,
das Ferngespräch nach Oxfordshire geht natürlich auf deine
Rechnung. Verfickte 35 Dollar, ist das zu fassen?«
»Ja, ja, schon gut. Aber du sagst, du hast mit ihr geredet?«
»Ja. Wegen der Zeitverschiebung war es drüben gerade
19:00 Uhr, aber ich habe sie in ihrem Studentenwohnheim er-
reicht. Nennt sich Lady Margaret Hall.«
Westmore konnte es kaum fassen. »Was hat sie gesagt? Et-
was über ...«
»Hildreth? Sie meinte, er sei ein seltsamer Mann, der aber
immer sehr nett zu ihr war. Ursprünglich wurde er wohl wegen
ihrer gemeinsamen Begeisterung für Kunst auf sie aufmerk-
sam. Sie hat anderthalb Jahre lang als eine Art Bürohilfe für
ihn gearbeitet. Seinen Tod schien sie aufrichtig zu bedauern.
Ihre Tante und ihr Onkel in Jacksonville erzählten ihr davon.
Sie meinte, sie könne es kaum glauben. Ihrer Meinung nach
wäre er zu einer solchen Tat nicht fähig und hätte nie wie ein
Verrückter auf sie gewirkt. Sobald das Frühjahrssemester zu
Ende ist, kommt sie für den Sommer zurück in die Staaten. Sie
sagte, wir könnten sie jederzeit anrufen.«
Stumm lauschte Westmore.
»Alles mitbekommen, Kumpel?«, fragte Tom nach. »Das
Mädchen hat sich echt angehört.«
»Ja, ja«, erwiderte Westmore. Er blinzelte. »Das ist eine Er-
leichterung.«
»Als Nächstes kümmere ich mich um diese Zahlen, die du in
dem Tresor gefunden hast. Ich rufe dich in ein paar Stunden
wieder an.«
»Prima, Tom. Ich bin dir wirklich dankbar.«
»Kein Problem. Du kannst mich ja mal zum Abendessen
einladen, wenn ich fertig bin.«
»Wird gemacht.«
Westmore fühlte sich erleichtert und entspannt. Vielleicht
sollte ich Clements anrufen, überlegte er. Die Handynummer
des ehemaligen Polizisten kannte er. Nein, ich hab eine bessere
Idee. Da war immer noch das Rätsel um Hildreths verschwun-
dene Leiche. Debbie Rodenbaugh mochte in Sicherheit sein,
aber vielleicht hatte Clements recht, was den Rest anging. Hier
stimmt trotzdem etwas ganz und gar nicht. Er hatte noch bis
zwei Uhr morgens Zeit, um weitere Informationen zu sammeln.
Clements glaubt auch, dass Hildreth irgendwo im Haus steckt.
Vielleicht kann ich ihn als Erster finden...
Westmore schickte sich an, genau das zu tun. Ihm stand der
ganze Tag zur Verfügung, um jeden Winkel, jede Ritze, jede
Wand und jeden Raum zu durchsuchen.
Allerdings unterliefen ihm zwei entscheidende Fehler, als er
das Büro verließ. Zum einen ließ er sein Mobiltelefon auf dem
Schreibtisch liegen, zum anderen zog er nicht für eine Sekunde
in Erwägung, dass alles, was Tom ihm gerade erzählt hatte,
möglicherweise erstunken und erlogen war.
III
Drei Adiposianer starrten gesichtslos auf die körperlose Hülle,
die Adrianne war. Sie erwiderte den Blick der grotesken Krea-
turen, glaubte sich in Sicherheit. Hinter ihnen glänzte das Chi-
rice Flaesc vor Schweiß. Die Haut des Gebäudes pulsierte
leicht, die Adern, die über die Mauern verliefen, bebten vor
Lebenskraft.
Ich bin hier, dachte Adrianne. Was jetzt?
»Du bist gekommen, um mich auf die Probe zu stellen«,
sagte eine volltönende Stimme. Wieder klang die Stimme des
gefallenen Engels wie Licht, was unmöglich war, aber gerade
deshalb zu diesem unwirklichen Ort passte.
Jaemessyn tauchte neben seinen geistlosen Dienern auf – er
trat hinter den Säulen des Tempels hervor, die aus angespann-
ten Muskeln bestanden. Die Penisse, die er als Finger hatte,
waren nach der jüngst erfolgten Vergewaltigung einer minde-
ren Dämonenspezies erschlafft. Doch so furchteinflößend seine
Gestalt auch sein mochte – das kantige, wunderschöne Antlitz,
die abscheulichen, auf den engelsgleichen Rumpf gepfropften
Arme und Beine –, Adrianne verspürte keine Angst. In ihrem
außerkörperlichen Zustand glich sie einem Spatz auf einem
hohen Ast, der auf ein Rudel Wölfe hinabblickte.
Ich bin gekommen, um dich beim Wort zu nehmen, verkün-
dete sie. Du bietest einen schauerlichen Anblick. Aber bist du
auch ein Lügner?
Der Engel lächelte sie an, wodurch ein Kranz aus grellem
Licht in seine schwarze Aura trat. Ich lüge nie. Ich habe nicht
einmal Gott belogen, als ich ihn kannte.
Adriannes augenloser Blick wanderte zu den geschlossenen
Türen des Tempels. Ich möchte zu...
Jaemessyn schnitt ihr das Wort ab und hob einen Phallusfin-
ger. »Sprich seinen Namen nicht aus.«
Ich möchte zum Sexus Cyning.
»Öffnet die Türen für unseren höflichen Gast«, befahl Ja-
emessyn den Adiposianern. »Ich gewähre ihr die Erlaubnis
einzutreten und unserem Herrn von Angesicht zu Angesicht zu
begegnen.«
Die schmalzfarbigen Kreaturen trotteten zurück, legten die
Hände klatschend auf Sehnen, die als Griffe dienten, und zogen
daran. Die Türen des Tempels schwangen mit einem Geräusch
zur Seite, das an mahlenden Stein erinnerte, obwohl sie aus
heißer, lebendiger Haut und ebensolchen Muskeln bestanden ...
Die Adiposianer wichen zurück und schienen zu Tode ver-
ängstigt, wenngleich geistlose, gesichtslose und seelenlose
Wesen nicht zu Furcht in der Lage sein sollten. Sie verneigten
sich und verschwanden schmatzend in nassen Öffnungen der
Wand.
Jaemessyn sank auf die Knie.
Das monströseste Wesen, das Adrianne sich je hätte ausma-
len können, erwartete sie. Ein gewaltiger Penis ragte zwischen
starken Beinen mit grauer Haut und Muskelsträngen auf.
Adriannes erster Reflex bestand darin, davonzurennen, zu flie-
hen und diesen grauenhaften Ort samt seinen Geheimnissen für
immer hinter sich zu lassen.
»Die wackere Reisende«, stieg eine seltsame leise Stimme
hervor. Sie erinnerte Adrianne an Stöcke, die rasch aneinan-
dergerieben wurden, ein kratzendes Geräusch, das irgendwie
Worte ergab, die sie verstehen konnte. »Ich bin Belarius.«
Adrianne konnte nichts erwidern. Der Anblick von Luzifers
oberstem Diener schien zu wabern; sie war dankbar, dass sie
sich nicht auf Einzelheiten konzentrieren konnte. Das Gesicht
glich einem Albtraum, an den man sich nur noch vage erinner-
te, nachdem man in klebrigem Schweiß gebadet aufgewacht
war. Alles, was sie erkannte, war ein Antlitz, das abgeschrägt
wie eine Meißelspitze zu sein schien, mit großen Augen wie
leeren Löchern im Raum.
»Ich lade dich ein, mir zu dienen«, sagte der Herr der Lust zu
ihr. »Nur wenigen wird diese Ehre zuteil, selbst unter jenen,
die sich so weit vorgewagt haben wie du.«
Ich werde dir nicht dienen, erklärte Adrianne der Kreatur
unverhohlen. Dafür bin ich nicht gekommen. Ich bin hier, um
Antworten zu finden, das ist alles. Kannst du mir daraus einen
Vorwurf machen?
»Nein. Das gesamte Leben und der gesamte Tod sind ein
Verweilen und Warten – ein Suchen nach Antworten auf Fra-
gen, die man nicht versteht.«
Danke, versuchte Adrianne sich einzuschmeicheln. Ich will
wissen, was in der Hildreth-Villa vor sich geht.
»Und deine Frage wird dir auf die eine oder andere Weise
beantwortet werden. Entscheide dich dafür, mir zu dienen – das
würde mich sehr erfreuen.«
Ich habe dir schon gesagt, das kann ich nicht. Also wirst du
mir nur antworten, wenn ich dir diene?
Die kratzige Stimme wiederholte: »Du wirst auf die eine
oder andere Weise eine Antwort erhalten. An deinem stoffli-
chen Körper habe ich mich bereits erfreut – durch meine Ako-
luthen ...« Der Finger des Herrn der Lust zeigte auf die Adipo-
sianer. »Es ist ein herrlicher Körper. Diene mir und ich ver-
spreche, dass ich dich im Moment deines Todes mit ungekann-
ten Ekstasen vertraut mache.«
Nein.
»Dann wirst du trotzdem hierherkommen, wenn du stirbst.
Und ich werde dich jeden Tag vergewaltigen, solange bis das
Licht der Sterne erlischt.«
Nein, wiederholte Adrianne. Aber du hast gesagt, du würdest
meine Frage beantworten.
Das unwägbare Antlitz musterte sie eingehender. »Frag
meinen Diener Hildreth doch selbst. Er wird dir gerne antwor-
ten.«
Adriannes Sicht schwenkte. Neben einem altarähnlichen
Sockel aus Fleisch stand eine große schlanke Gestalt in einem
Kapuzenmantel. Ein unvorstellbar düsteres Lächeln richtete
sich auf sie. Das Gesicht im Oval der Kapuze war jenes von
Reginald Hildreth.
Er flüsterte mit einer kratzigen, kaum hörbaren Stimme, die
der von Belarius glich.
Mein Gott, reagierte Adrianne, als sie hörte, was er ihr zu
sagen hatte.
»Nun hast du deine Antwort«, meinte Belarius. »Mach da-
mit, was du willst. Du wähnst dich in Sicherheit, nicht wahr?
Dein physischer Körper befindet sich an einem anderen Ort –
im Augenblick bist du nur ein Geist, der hier nicht verletzt
werden kann, richtig?«
Das glaube ich nicht nur, gab Adrianne zurück. Ich weiß es.
»Dann geh, Reisende. Flieg weg, zurück zu deinem Körper.«
Adrianne konzentrierte ihre Willenskraft darauf, genau das
zu tun, doch...
Was?
Als sie versuchte, sich abzuwenden und aus dem Tempel
hinauszubewegen, geschah nichts.
Belarius grinste sie an. »Jaemessyn«, befahl er. »Führe un-
seren nächsten Gesprächspartner herein.«
Adrianne fühlte sich in der Luft festgehalten, als Jaemessyn
den Tempel betrat, gefolgt von zwei Adiposianern, die etwas
Kurviges mit beträchtlicher Masse hereinschleiften. Es handel-
te sich um eine Art Dämonin, gehörnt, kräftig und mit schie-
fergrauer, schwitzender Haut. Die Brüste, um ein Vielfaches
größer als die einer menschlichen Frau, hoben und senkten
sich. Das Schamhaar zwischen den muskulösen Schenkeln
weckte Vergleiche zu schwarzem Seetang. Die Adiposianer
spreizten die Beine der Kreatur, dann gingen sie aus dem
Tempel und ließen das bewusstlose Geschöpf liegen.
Was ist das?, fragte Adrianne beklommen.
»Eine weitere Sehenswürdigkeit für dich«, erhielt sie zur
Antwort. »Um dir einen bestmöglichen Vorgeschmack auf
diesen Ort zu bieten.«
Adrianne versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu las-
sen, wusste jedoch, dass es ihr kläglich misslang. Sie konnte
sich nicht vom Fleck rühren; irgendwie hatte Belarius die gei-
stige Hülle gelähmt, in der sie sich fortbewegte. Was wird er
jetzt mit mir anstellen? , blitzte die Frage in ihrer innigsten Be-
klommenheit auf.
Dann begann Belarius’ höllisches Grinsen an ihr zu zerren.
Je angestrengter sie versuchte, sich von ihm zu entfernen, desto
schneller wurde sie hinabgezogen. Adrianne war nicht mehr
der Spatz, der unantastbar auf einem hohen Baum hockte. In-
nerhalb kürzester Zeit hatte sie der Willen der Kreatur unmit-
telbar vor ihr unerfassbares Gesicht befördert und ließ sie dort
erstarren, dann...
Ein Geräusch wie der Wind.
...wurde Adrianne eingesaugt.
Es kam ihr vor, als wäre sie gasförmig; eine Lufttasche, die
sich in drei Ströme teilte. Zwei wurden in Belarius’ grubenar-
tige Nasenlöcher gesogen, der Dritte in seinen mit Fängen be-
wehrten Mund. Blankes Entsetzen hielt sie vom Denken ab. Sie
befand sich in Belarius, wurde von seinen Lungen eingeatmet,
verteilte sich in seinen Blutkreislauf. Das monströse Herz
pumpte sie durch den viele Äonen alten Körper, und irgendwie
wusste sie, dass die Reise in seinem Schritt enden würde. Eine
unvermittelte, ruckartige Bewegung verriet ihr, was er gerade
tat – er vergewaltigte die stämmige Dämonin, die hereinge-
bracht worden war.
Die Bewegungen schienen nicht aufzuhören. Adriannes
Geist durchmischte sich mit Belarius’ Lust. Dann ...
Ein kehliges Kichern ließ die Fleischwände des Tempels
erbeben. Adrianne wurde mit dem Samen des Sexus Cyning
aus seinem Körper ausgestoßen. Sie schoss durch den gewalti-
gen Penis geradewegs hinein in den Gebärmutterhals der Dä-
monin...
Dabei überkam sie eine Vision der Hölle, die noch nie zuvor
gesehen worden war.
»Eine wunderbare Vereinigung«, ertönte die kratzige Stim-
me über ihr. Im Inneren des Körpers spürte Adrianne, wie das
Herz der Dämonin stehen blieb. Die Zellen von Belarius’
Sperma schwammen rings um ihren Geist, vermengten sich mit
ihm.
Dann strömte Adrianne aus der Vagina der Dämonin und
sammelte sich wie eine Lache auf dem Boden – ein mentaler
nasser Fleck.
»Piss diese Frevlerin von meinem Boden«, befahl Belarius.
Adrianne war nur noch halb bei Bewusstsein, als der Äther
ihrer Seele versuchte, sich wieder zu sammeln. Sie konnte
nicht richtig sehen, sie konnte nur empfinden. Jaemessyn nä-
herte sich den gespreizten Beinen der nunmehr toten Dämonin,
zielte mit seinen zehn Penisfingern nach unten und spülte den
Fleck, der Adrianne verkörperte, aus dem Chirice Flaesc. Jeder
Urinstrahl fühlte sich so heftig wie ein Stoß aus einem Feuer-
wehrschlauch an. Adrianne wurde regelrecht aufgelöst.
Sich in ihrem gegenwärtigen Zustand neu zu formieren,
konnte man nur als mentales Gegenstück der Mühen beschrei-
ben, die es kostete, eine Ladung Ziegelsteine einen steilen
Hang hinaufzuschleppen. Ihre Erschöpfung drohte, sie zu
überwältigen, doch als sie schon aufgeben wollte, begann ihre
wiedervereinte Essenz langsam zu schweben.
»Flieg davon, Reisende«, drang aus dem Inneren des Tem-
pels die kratzige Stimme zu ihr heran. Mahlend begannen die
Türen sich zu schließen. »Nimm deine nutzlosen Geheimnisse
mit in deine Welt. Wir sehen uns schon bald wieder ...«
Wie von Mördern gehetzt, raste Adrianne davon, zurück in
die vermeintliche Sicherheit ihres Körpers.
Wie immer hatte Gott sie auch diesmal beschützt ... aber es
war knapp gewesen. Vielleicht will er mir eine Lektion erteilen,
mutmaßte sie. Doch sie war unversehrt geblieben. Sobald sie
erwachte, konnte sie den anderen detailliert berichten, was sie
erfahren hatte.
Durch eine kristallklare Nacht und über atemberaubende,
vom Mond erhellte Landschaften kehrte sie in ihre Welt zu-
rück. Die Villa kam in Sicht ...
OH MEIN GOTT!, brüllte sie, als sie das Dach des Gebäudes
erreichte, auf dem sie ihren Körper verlassen hatte.
Adriannes Körper war nicht mehr da.
Kapitel 15
I
Im fünften Stock hielt Westmore inne, um eine Pause einzule-
gen. Er trat hinaus auf die Steinveranda einer der Suiten, wo er
sich eine Zigarette anzündete und beobachtete, wie der Rauch
davongetrieben wurde. Die Sonne war bereits untergegangen.
Das Gelände vor der Villa präsentierte sich in gespenstisches
Mondlicht getaucht.
Er hatte alle Räume im Haus durchsucht, alle Schränke,
Gänge und Dachkammern, die er finden konnte. Von Reginald
Hildreth fehlte jede Spur. Ebenso wenig gab es Anzeichen da-
für, dass sich sonst jemand heimlich im Gebäude aufhielt.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es 23:59 Uhr war.
Um zwei soll ich die Seitentür für Clements öffnen. Mittlerwei-
le wusste Westmore nicht mehr, was er glauben sollte. Seine
Stimmung und seine Überzeugungen schwenkten mal in die
eine Richtung, mal in die andere. Vielleicht sollte ich Clements
einfach anrufen und ihm sagen, dass ich die Villa durchsucht,
aber keinerlei Anzeichen gefunden habe, dass sich Hildreth
dort aufhält. Auch Toms Informationen würden den Mann
zweifellos interessieren; vor allem jene, dass sich Debbie Ro-
denbaugh definitiv auf dem Gelände der Universität von
Oxford aufhielt.
Er wird mir zwar nicht glauben, aber es ist trotzdem eine
gute Idee. Und noch etwas anderes fiel ihm ein. Vivica sollte
ich auch noch einmal anrufen. Sie hatte sich nach seiner unan-
genehmen Nachricht von vorhin nicht gemeldet, was Westmore
höchst interessant fand.
Er verfluchte sich, als er in seine Tasche fasste und merkte,
dass sie leer war. Idiot! Wahrscheinlich HAT sie längst zu-
rückgerufen. Ich muss das verfluchte Telefon in Hildreths Büro
liegen gelassen haben!
Westmore schleppte sich zurück in den dritten Stock zum
Büro. Sein Handy lag noch auf dem Schreibtisch. Er wollte es
gerade in die Hand nehmen, um die Mailbox abzufragen, als
plötzlich...
»An alle!«, quäkte Nyvysks Stimme aus den Lautsprechern
der Kommunikationsanlage. »Kommt aufs Dach!«
Hä? Nyvysk hörte sich beunruhigt an. Westmore eilte wie-
der hinaus und wäre beinahe mit Cathleen zusammengestoßen,
die auf die Treppe zurannte.
»Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
»Wie kommen wir aufs Dach?«
»Weiß ich auch nicht!«
Oben im fünften Stock endeten die Treppen. Nyvysk wie-
derholte seinen Aufruf über die Kommunikationsanlage. »Wo
zum Teufel ist die Treppe zum Dach?«, brüllte Westmore in
das Mikrofon zurück.
Mack und Karen tauchten am anderen Ende des Flurs auf.
»Hier lang!«
Sie liefen hinter den beiden eine weitere Treppe hinauf.
Dann gelangten sie zu viert auf eine vornehme Terrasse mit
Brüstung, Clubsesseln, Sonnenschirmen und Blumentöpfen.
»Adrianne hat mir in der Kommunikationszentrale eine
Nachricht hinterlassen«, teilte ihnen Nyvysk mit, der an der
hohen Steinmauer lehnte. Er wirkte niedergeschlagen. »Sie
meinte, sie würde von hier oben aus eine Astralwanderung an-
treten.«
»Was stimmt denn nicht?«, wollte Karen wissen.
»Sehen Sie selbst.«
Nyvysk deutete über den Rand der Brüstung nach unten.
Alle Blicke folgten seinem ausgestreckten Arm.
»Oh du lieber Himmel«, murmelte Westmore und fuhr sich
mit der Hand an den Kopf.
Cathleen und Karen stießen einen erstickten Schrei aus.
Mack und Nyvysk starrten wortlos hinunter.
Adriannes nackter Körper lag ausgestreckt auf dem Natur-
steinweg. Durch den fünf Geschosse tiefen Sturz war er übel
zugerichtet und durch ein gebrochenes Rückgrat in einem
Winkel von fast 90 Grad verkrümmt. Um ihren Kopf herum
hatte sich eine Blutlache gebildet.
»Jemand muss sie runtergeworfen haben«, stieß Karen
schluchzend hervor.
»Ja«, pflichtete Nyvysk ihr bei. »Und zwar, während sie sich
außerhalb ihres Körpers befand. In ihrem schutzlosesten Zu-
stand.«
Cathleen wischte sich über die Augen. »Na ja, vielleicht
auch nicht. Sie hatte in der Vergangenheit häufiger mal
Selbstmordgedanken.«
Verstört streckte Westmore die Hand aus. »Jetzt hören Sie
aber auf. Selbstmord? Sie ist nackt. Wahrscheinlich wurde sie
erst vergewaltigt und dann vom Dach geworfen. Warum sollte
sie die Kleider ausziehen, um Selbstmord zu begehen?«
»Manchmal legen Astralwanderer ihre Kleider ab, bevor sie
ihren Körper verlassen«, gab Cathleen zu bedenken. »Ich tue
oft dasselbe, wenn ich eine Divination beginne oder mich in
Trance versetze.«
Westmore schüttelte den Kopf. »Das kaufe ich Ihnen nicht
ab. Es ist offensichtlich, dass sie jemand über die Brüstung
geschleudert hat.« Ein unwillkürlicher Reflex ließ ihn auf
Mack schauen. Einige andere taten es ihm gleich.
»He, lecken Sie mich, Mann!«, wehrte sich Mack. »Das
könnte jeder gewesen sein. Sie zeigen bloß auf mich, weil ich
nicht zu ihrem übersinnlichen Hokuspokusverein gehöre. Und
wo bitteschön waren eigentlich Sie, als es passiert ist?«
»Er kam gerade aus dem Büro, ich habe ihn gesehen«, be-
teuerte Cathleen.
Mack runzelte die Stirn. »Er hätte es jederzeit tun können!«
»Ach ja?«, entgegnete Westmore gereizt. »Und was ist aus
der Frau vom Schlüsseldienst geworden? Sie waren der Letzte,
der sie gesehen hat. Sie hatten sogar Sex mit ihr, und was pas-
siert dann? Sie verschwindet.«
»Sie reden Scheiße, Kumpel!« Mack sprang vor und packte
Westmore am Kragen. »Ich glaube, Sie haben Sie umge-
bracht!«
Nyvysks Größe und Masse ermöglichten es ihm mühelos,
die beiden Männer voneinander zu trennen. »Niemand be-
schuldigt hier irgendwen. Lassen Sie uns einen kühlen Kopf
bewahren.«
»Und wo steckt eigentlich dieser perverse Crackdealer Wil-
lis?«, fügte Mack hinzu.
»Ich glaube, jemand hat sie vergewaltigt und dann eiskalt in
den Tod gestoßen«, wiederholte Westmore.
»Sie wurde schon einmal vergewaltigt«, rief Karen ihnen in
Erinnerung. »Und nicht von jemandem. Von denselben Krea-
turen, die Cathleen und mich vergewaltigt haben.«
»Das ist durchaus ein Ansatzpunkt«, räumte Nyvysk ein.
»Morde durch körperlose Entitäten sind selten, aber es gibt
einige dokumentierte Fälle.«
Westmore jedoch ging plötzlich etwas anderes durch den
Kopf. Von JEMANDEM oder von ETWAS? Oder vielleicht von
Hildreth höchstpersönlich...
II
Willis hatte Nyvysks Rundruf nicht gehört, weil er ohnmächtig
in einem der Salons lag. Wieder hatte seine letzte Zielvision
ihm wohl die Zukunft anstelle der Vergangenheit gezeigt.
Ein Raum aus Fleisch. Ein Tempel aus Fleisch.
Eine Mauer. Nein, eine Tür – eine Tür, die sich ebenfalls aus
wallendem, warmem Fleisch zusammensetzte.
Die Tür stand ein Stück weit offen.
Plötzlich bewirkte Willis’ Vision, dass sich sein Gehirn an-
fühlte, als würde es brodeln. Der Druck stieg an, bis sein
Schädel zu platzen drohte.
Er spähte durch den Spalt und erblickte hinter der Tür etwas
Abscheuliches. Dann erfuhr die Vision eine blitzartige Verän-
derung, und er sah sich selbst, wie er langsam erwürgt wurde,
während Hildreth und mehrere unbeschreibliche Kreaturen
dabei zusahen.
Da brach er bewusstlos zusammen.
Als er wieder aufwachte, glaubte er, vielleicht einen leichten
Schlaganfall erlitten zu haben. Schmerzen pulsierten durch
seinen Kopf. Ich habe genug von diesem Ort, beschloss er,
kaum dass er sich aufgerappelt hatte. Ich sollte einfach von hier
verschwinden...
Taumelnd tat er ein paar Schritte.
Ja. Ich verschwinde.
Was nützte ihm Vivicas Geld, wenn er tot war? Er fasste den
Entschluss, nach den anderen zu suchen, um ihnen mitzuteilen,
dass er es hier nicht mehr aushielt. Würden sie ihn für einen
Feigling halten? Das bezweifle ich. Tief in ihrem Inneren wol-
len sie doch alle weg von hier!
In der Hoffnung, Westmore zu finden, betrat er das Büro,
das allerdings verwaist dalag. Am Rand des Raums flimmerte
etwas.
Willis hatte keine andere Wahl, als hinzugehen, sobald ihm
klar wurde, worum es sich handelte...
Westmore hatte eine der DVDs auf seinem Laptop abge-
spielt, allerdings mit stumm geschaltetem Ton. Es war ein
Porno, eine weitere Versuchung für Willis.
Seine Schwäche zwang ihn dazu, sich den Film anzusehen.
Das hört bei mir nie auf... Obwohl ihn ein tiefes Schamge-
fühl überkam, konnte er seinen Blick nicht losreißen, betrach-
tete eine Szene nach der anderen, eine wunderschöne nackte
Frau nach der anderen.
Als der Abspann lief, griff er wahllos eine weitere DVD vom
Schreibtisch und legte sie ins Laufwerk ein.
Willis runzelte die Stirn.
Nichts. Im schnellen Vorlauf zog mehrere Minuten lang ein
schwarzer Bildschirm vorüber. Als schließlich etwas zu erken-
nen war, schaltete er auf normale Wiedergabegeschwindigkeit
um und rechnete mit einem weiteren Porno, doch stattdessen ...
Pfui, dachte er. Auf diesen Sadomaso-Kram stehe ich über-
haupt nicht.
Eine nackte Frau lag mit ausgestreckten Armen und Beinen
auf einem Tisch. Willis konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber es
schien sich nicht um eine der üblichen Pornodarstellerinnen
von Hildreth zu handeln. Keine Implantate, keine verblüffende
Sonnenbräune. Die Frau wirkte blutjung.
Jemand führte ein Genitalpiercing der extremen Art durch.
Zentimeterweise wurden ihre Schamlippen mit Chromringen
verschlossen. Bei jedem weiteren Ring zuckte die Frau zu-
sammen. Als die Tortur überstanden war, sah ihr Geschlecht
aus, als habe man es mit einer silbernen Naht versiegelt.
Das ist kein Porno. Was ist das für Scheiße?
Auf dem Bildschirm stützte sich die Frau einen Moment lang
auf und bot ihr Gesicht der Kamera preis. Erschüttert, um die
Augen gerötet.
Es war die junge Frau, für die sich Westmore so brennend
interessierte, das Mädchen vom Gemälde. Wie hieß sie noch
gleich?
Ach ja. Debbie Rodenbaugh.
Hatte Westmore diese DVD schon gesehen? Vielleicht nicht.
Vielleicht sollte ich ihm besser davon erzählen. Seine letzte
Handlung in der Villa, bevor er sie für immer verließ.
»Das ist ein Keuschheitsgürtel«, ertönte hinter ihm eine
Stimme. »Er symbolisiert ihre Jungfräulichkeit. Belarius liebt
huldigende Symbole.«
Willis wirbelte herum.
Seine Augen weiteten sich.
Es war Vanni, die Frau vom Schlüsseldienst.
Sie sah schlimmer aus als bei seiner ersten Begegnung mit
ihrem Wiedergänger. Dünner, grauer, ausgemergelter, wie eine
Leiche in einem Konzentrationslager.
»Letztes Mal hatte ich keine Angst vor dir und diesmal auch
nicht. Du bist eine Vision. Du bist ein totes Bild.«
Ihre einst üppigen Brüste hingen schlaff herab und die Nip-
pel hatten sich dermaßen verdunkelt, dass sie fast schwarz
wirkten.
»Ein Wiedergänger? Eine körperlose Erscheinung?«
»Ja.«
Mit knochigen Hüften und Beinen gleich grauen Stöcken trat
sie vor. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher«, erwiderte Willis.
»Aber du nimmst Erscheinungen von Wiedergängern doch
nur wahr, wenn du Gegenstände berührst, oder?«
»Ja.«
Ein finsteres Lächeln. »Du hast deine Handschuhe noch an.«
Erneut weiteten sich Willis’ Augen. Er blickte auf seine
Hände hinab.
Sie hatte recht.
Finger wie Haken schnellten vor und packten ihn an der
Kehle. Willis versuchte zu schreien, aber es gelang ihm nicht –
der Druck würgte ihm die Stimme ab. Mit einer jähen Bewe-
gung toter grauer Glieder wurde er zu Boden gezerrt. Finger-
spitzen drückten fester zu, als wollten sie ihm den Adamsapfel
wie einen Korken aus dem Hals drehen.
»Das Haus setzt einen Teil seiner gespeicherten Energie
frei«, erklärte die Kreatur, die einst Vanni gewesen war. »Es ist
fast so weit. Hildreth wird den Spalt wieder öffnen.«
Willis fuchtelte hilflos mit den Armen und röchelte. Die
schlaffen Brüste mit den dunklen Warzen schaukelten vor sei-
ner schwindenden Sicht. Speichel tropfte aus seinem Mund.
»In der Hölle wird es für dich so viel zu berühren geben ...«
Mit einem Ruck wurde der Gürtel aus den Schlaufen seiner
Hose gezogen und fachkundig um seinen Hals gelegt. Zenti-
meter für Zentimeter zog er sich zu, bis sein Gesicht rot anlief
und er krampfhaft zuckend auf dem Boden starb.
III
»Wäre es nicht jetzt an der Zeit, die Polizei zu rufen?«, fragte
Cathleen. Sie saß völlig außer Fassung auf dem Clubsessel, auf
dem sich zuvor Adriannes Körper befunden hatte, bevor sie
vom Dach gesprungen – oder geworfen worden – war.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht«, brabbelte Westmore
regelrecht. »Rechtlich gesehen wäre es das Richtige, aber ich
glaube, inzwischen wissen wir alle, dass bald noch etwas an-
deres passieren wird.«
»Es wäre ein Fehler, die Polizei ausgerechnet jetzt zu rufen«,
stellte Nyvysk fest. Mondlicht ließ sein Gesicht blass erschei-
nen. »Und ich denke, wir sollten auch Vivica nichts davon sa-
gen. Ich weiß, das klingt unlogisch. Aber Westmore hat recht.
Adrianne können wir ohnehin nicht zurückholen. Und hier
wird etwas passieren. Und wir müssen herausfinden, was ge-
nau. Wenn wir jetzt die Polizei rufen, wird sie das Haus abrie-
geln.«
Mack schaute über den Rand hinunter. »Wir können ihre
Leiche nicht einfach dort unten liegen lassen.«
»Nein, das können wir nicht. Wir holen sie rein. Wir legen
sie in einen der begehbaren Kühlschränke in der Küche. Was
Besseres fällt mir jedenfalls gerade nicht ein.«
Denen ist Hildreths Geheimnis wichtiger als Recht und Ge-
setz. Westmore musste sich eingestehen: Das ... geht mir selbst
auch nicht anders.
»Ich kannte Adrianne gut«, fuhr Nyvysk fort. »Sie war eine
recht überzeugte Christin, aber eine anständige Beerdigung und
das ganze Drumherum sind ihr nicht wichtig. Sie glaubt genau
wie ich, dass ihr Geist ewig leben wird. Ich bin überzeugt da-
von, dass sie sich im Himmel befindet. Sie würde wollen, dass
wir die Vorgänge in der Villa weiter untersuchen.«
»Aha, und was, wenn Sie sich irren?«, herrschte Karen ihn
an. »Woher wissen Sie, was sie wollen würde? Sie ist tot.«
»Sie ist nur körperlich tot. Wenn ich dort unten läge, würde
ich wollen, dass der Rest der Gruppe mit unserer Mission fort-
fährt«, sprach Nyvysk weiter.
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich Ihnen zustimme, aber
ich tu’s«, meldete sich Westmore zu Wort. »Allerdings sollten
wir die Leiche trotzdem ins Haus holen. Mack und ich können
das übernehmen.« Er schaute zu Nyvysk, Karen und Cathleen.
»Warum suchen Sie drei nicht inzwischen nach Willis?«
»Gute Idee«, fand Nyvysk.
»Aber was, wenn Willis derjenige war, der Adrianne umge-
bracht hat?«, gab Mack mit angespannter Stimme zu bedenken.
»Ich bin überzeugt, dass er es nicht war«, entgegnete
Nyvysk. »Zuerst suchen wir ihn, dann verbringe ich den Rest
der Nacht damit, die Gaussmessungen grafisch auszuwerten. In
bestimmten Segmenten sind die Werte den ganzen Tag lang
gestiegen.«
Cathleen wirkte besorgt. »Warum hast du uns das nicht
schon früher erzählt?«
»Ich wollte niemanden beunruhigen...«
Karen schien gereizt zu sein ... oder verängstigt. »Sie meinen
diese Ionendinger? Warum sollte das jemanden beunruhigen?«
»Es könnte bedeuten, dass sich die Wiedergängerladung im
Haus verändert und stärker wird«, antwortete ihr Cathleen.
Nyvysk nickte. »Um die nächste Phase von Hildreths Plänen
einzuläuten. Was immer der Kerl genau vorhaben mag.«
»Fein.« Westmore versuchte, seine Gedanken im Zaum zu
halten. »Sie tun, was immer Sie zu tun haben. Mack und ich
kümmern uns um Adriannes Leiche. Bringen wir es am besten
direkt hinter uns. An die Arbeit!«
Als Westmore und Mack das Dach verließen, sagte Nyvysk
zu Karen: »Ich muss mich mit Cathleen unterhalten – unter vier
Augen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Na toll!«, fauchte Karen. »Irgendjemand im Haus könnte
ein Mörder sein und Sie beide fangen jetzt mit so einer komi-
schen Geheimniskrämerei an!«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Cathleen. »Wir kommen gleich
runter.«
Beleidigt zog Karen von dannen.
»Beunruhigt dich etwas?«, fragte Nyvysk, nachdem Karen
gegangen war.
»Ich ...«
»Was?«
»Du und Karen, ihr macht euch auf die Suche nach Willis,
okay? Ich möchte etwas anderes tun.«
Der Mond zeichnete einen scharfkantigen Umriss von
Nyvysks großer Gestalt. »Ich verstehe. Viel Glück!«
Cathleen seufzte und schaute ihm nach.
Sie fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
IV
Westmore war völlig außer Fassung, nachdem sie hinausge-
gangen waren und Adriannes nackten Leichnam in eine Decke
gehüllt hatten. Wenigstens hatten sich die Insekten noch nicht
darüber hergemacht. Mack schaltete den Alarm wieder scharf,
als sie ins Haus zurückkamen, dann half er Westmore, die Lei-
che im Kühlraum zu verstauen.
»Sie trauen mir überhaupt nicht, was?«, fragte Mack.
Westmore schloss die Tür des Kühlraums. »Nein.«
»Sie denken, ich hätte sie umgebracht?«
»Nein... äh, das denke ich nicht. Ich traue im Augenblick
generell niemandem«, entgegnete Westmore und zündete sich
eine Zigarette an.
»Na schön. Hier, schauen Sie...«
Westmore erstarrte, als Mack eine kleine Pistole aus der Ta-
sche holte, deutlich kleiner als das Exemplar, das er oben in der
Schublade im Büro entdeckt hatte. Wie lange trug er die Waffe
schon?
Er reichte sie Westmore mit dem Griff voraus. »Jetzt können
Sie alle vor mir großem, bösem Kerl beschützen.«
»Das war nicht persönlich gemeint.« Westmore nahm die
Pistole entgegen. Zumindest empfand er es als interessante
Geste. »Ich gehe davon aus, dass Sie mir ebenso wenig trauen
wie ich Ihnen – oder sonst jemandem.«
»Jemand, den Sie vielleicht im Auge behalten sollten, ist
Karen«, schlug Mack vor.
»Wieso das?«
»Glauben Sie mir einfach.«
»Ich glaube keine Minute lang, dass Karen Adrianne vom
Dach geworfen hat, Mack.«
»Warum nicht? Sie ist völlig durchgeknallt und Willis ist
auch total im Arsch. Verstehen Sie nicht, was mit all diesen
Typen los ist? Sie sind halb wahnsinnig. Man weiß nicht, wozu
sie in der Lage sind.«
Westmore schüttelte nur den Kopf. »Wollen Sie wissen, wen
ich am stärksten in Verdacht habe?«
»Sie meinen, nicht mich?«
Westmore glaubte nicht, dass es schaden konnte, Mack zu
erzählen, was er gesehen hatte. Außerdem war er neugierig,
wie der andere darauf reagieren würde. »Vivica hat mir erzählt,
sie sei noch nie in der Villa gewesen.«
»Ja?«
»Ja. Aber ich habe vorhin in einem T&T-Porno gesehen, wie
sie auf der Treppe im Foyer gevögelt wurde.« Westmore sah
Mack direkt in die Augen. »Von Ihnen.«
»Na und? Sie ist halt nymphoman, genau wie es jedes andere
Flittchen hier war«, erwiderte Mack. »In diesem Haus haben es
wahrscheinlich mehr Leute miteinander getrieben als in jedem
anderen Haus der Geschichte. Hildreth ließ sie tun, was immer