sie wollte.«

»Und was sie wollte, waren Sie. Mack der Hengst.«

»Hey, ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass die

Frauen auf mich abfahren. Klingt, als wären Sie neidisch.«

Oh Mann. »Warum hat sie dann mir gegenüber behauptet,

dass sie noch nie in der Villa gewesen ist?«

»Ich hab keine Ahnung.«

Westmore war nicht sicher, was er sich von der Aktion ver-

sprochen hatte. Macks Reaktion wirkte jedenfalls unverfäng-

lich. »Und da wir gerade von Vivica reden ...« Er zog sein

Handy aus der Tasche, um zu überprüfen, ob sie inzwischen

zurückgerufen hatte. Immer noch nichts von ihr ... Allerdings

war eine andere Nachricht auf der Mailbox eingegangen.

Westmore fragte sie ab ...

»Ich bin’s wieder«, sagte Tom. »Ich habe diese Zahlen über-

prüft, die du mir gegeben hast ...«

Westmore kramte den Zettel mit dem Ausdruck des Scans

hervor:

EINGABEAUFFORDERUNG: NAHRUNG

APOGÄUM DÜNN

REAKTION: 06000430

BESTIMMUNGSPUNKT: 00000403

»›Apogäum dünn‹ steht für dünnlagiges Apogäum – das ist

ein Apogäum einer Umlaufbahn. Der Bestimmungspunkt ist

ein Datum und eine Uhrzeit, so wird das von Astronomen pro-

tokolliert, alles in einer durchgehenden Zeile. Die ersten vier

Nullen kennzeichnen die Zeit – Mitternacht – und null vier,

null drei steht für 3. April.«

3. April. Mitternacht, schoss es Westmore sofort durch den

Kopf. Die Nacht des Blutbads...

»Das ist der Bestimmungspunkt – oder der Startpunkt«, fuhr

Tom in der Nachricht fort. »Sieht so aus, als hätte Hildreth an

einem mathematischen Problem gearbeitet, und das war die

Ausgangsstellung. Die Reaktion ist die Antwort, ebenfalls ein

Datum und eine Uhrzeit. Null-sechs-null-null ist die Zeit –

sechs Uhr morgens. Null-vier-drei-null ist das Datum: 30.

April. Schau auf den Kalender, Kumpel. Das ist morgen früh.

Und was genau morgen früh passiert, ist Folgendes: Es gibt

einen Stern namens M39, der zum ersten Mal seit Beginn der

astronomischen Aufzeichnungen sein Apogäum erreichen wird.

Für die Experten ist das eine große Sache. Dieser Stern war der

Erde nicht mehr so nah, seit wir Affen waren.«

Morgen früh. Der Gedanke kreiste wie ein Damoklesschwert

über Westmores Kopf. Dann passiert, was immer Hildreth ge-

plant hat...

»Noch etwas«, ging Toms Nachricht weiter. »Du hast doch

behauptet, dass sich dieser Hildreth mit okkultem Kram be-

fasst, richtig? Tja, für so jemanden ist der 30. April ein wichti-

ges Datum. Es ist ein okkulter Festtag namens Beltane – der

Tag vor dem 1. Mai. Vor Tausenden Jahren führten Heiden am

Beltane Rituale durch, ein Zeichen ihrer Verehrung für die

Götter der Unterwelt – Dämonen und dergleichen. Sie glaub-

ten, diese Dämonen würden sie an dem Tag segnen, weil am

Beltane der Durchlass zwischen der Hölle und der Erde am

dünnsten ist oder so ähnlich.«

In der Leitung entstand eine längere Pause und Seiten wur-

den umgeblättert. Offensichtlich blätterte Tom in seinen Noti-

zen. »So, das war’s, mein Freund. Ich schicke dir meine Rech-

nung. Schönen Tag noch – oder vielleicht sollte ich sagen...«

Tom kicherte. »Schönen Beltane.«

Damit endete die Nachricht.

Westmores geistiges Getriebe rotierte auf Hochtouren. Er

hatte nun endlich einen Großteil des Rätsels, das ihm Vivica

mit ihrem Auftrag gestellt hatte, gelöst. »Das ist in sechs Stun-

den«, murmelte er.

»Was?«, fragte Mack.

»Am 3. April hat Hildreth jeden in diesem Haus als Teil ei-

nes Rituals abgeschlachtet. Der letzte Teil dieses Rituals be-

ginnt in sechs Stunden ...«

V

Cathleen glitzerte wieder. Sie lag nackt auf demselben Club-

sessel, den Adrianne benutzt hatte, als sie die letzte Astral-

wanderung ihres Lebens antrat. Cathleens Entschlossenheit

überwog ihre Furcht – zumindest hoffte sie das. Wer immer

Adrianne getötet hatte, konnte mühelos dasselbe mit ihr tun,

obendrein exakt vom selben Ort aus.

Aber es wurde wirklich Zeit – Zeit, Antworten zu erhalten.

Das Mondlicht auf der nackten Haut brachte den pontischen

Staub zusammen mit ihrem Schweiß zum Schäumen. In Ge-

danken verlangsamte sie ihren Puls, ihre Atmung und senkte

ihren Blutdruck ab – so wie sie durch mentale Kraft Gegen-

stände zu bewegen vermochte, konnte sie auch den eigenen

Metabolismus beeinflussen; eine Eigenschaft, die unter begab-

ten Mentalisten keineswegs als ungewöhnlich galt. Die Ruhe

der Nacht begann sie zu liebkosen, über ihre Haut zu strei-

cheln, ihre Brustwarzen zu verhärten. Der Steinstaub fühlte

sich strahlend und heiß an, und bald galt dasselbe für den Rest

von Cathleen.

Sie zwang sich, tiefer und tiefer hinabzusinken ...

Ja, es war an der Zeit, dem Wahnsinn in diesem Haus ein

Ende zu bereiten, doch sie wusste, dass ihnen das nicht ohne

Antworten gelingen würde.

Und sie fragte sich, wer sie finden würde, sobald sie in den

Theta-Schlaf fiel ...

Adrianne? Oder Hildreth?

VI

Westmore und Mack trennten sich für die Suche nach Willis.

Glaube ich wirklich, dass er Adrianne umgebracht hat? , fragte

er sich. Vermutlich hatte er es nicht getan – wahrscheinlich war

sie selbst gesprungen. Sie war von Natur aus labil – und dann

wurde es hier in der Villa einfach zu viel für sie. Die ganze

Gruppe bestand aus labilen Leuten.

Und trotzdem ...

Er malte sich in Bezug auf Willis den schlimmstmöglichen

Fall aus. Falls ihn jemand getötet hatte ... Wo befand sich der

beste Platz, um die Leiche verschwinden zu lassen?

Die verborgenen Gänge?

In zwei Stunden würde er ohnehin durch diese Gänge laufen

müssen, um Clements hereinzulassen. Westmore steuerte den

Vorhang an, trat hindurch und war mit einem Mal sehr froh

darüber, dass er Macks Pistole in der Tasche hatte. Er durch-

streifte das gesamte Netzwerk der schmalen Korridore, ver-

wundert darüber, dass er sich nicht zu Tode fürchtete. Die tul-

penförmigen Wandleuchten erhellten den Weg, aber nur

schwach. Was, wenn er um eine Ecke bog und dort jemand

stand, der ihn anstarrte?

Halt die Klappe!, schimpfte er mit sich selbst.

Als er die kleine Bibliothek erreichte, war er unterwegs auf

nichts Verdächtiges gestoßen – zumindest auf nichts, was man

in einem Geheimgang verdächtig nennen konnte. In der offen-

sichtlich kaum benutzten Bibliothek breitete sich der Staub

ungehindert aus. Die einzigen Fußabdrücke in der Schicht auf

dem Boden stammten eindeutig von ihm selbst.

Ich kehre wohl besser zurück zu den anderen, dachte er. Das

ist reine Zeitverschwendung.

Westmore wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne.

Etwas auf dem Boden.

Er starrte hinab.

Plötzlich erkannte er deutlich einen weiteren Satz Fußab-

drücke. Waren sie vorher schon da gewesen?

Es handelte sich um Spuren nackter kleinerer Füße ...

Offensichtlich die einer Frau, erkannte Westmore.

Sein Blick folgte den Abdrücken den kurzen Gang hinab zur

versteckten Ausgangstür.

Als Westmore in die frei zugänglichen Räume der Villa zu-

rückkehrte, kreisten ihm Fragen durch den Kopf. Wer weiß von

dem verborgenen Ausgang?

Wahrscheinlich niemand aus der Gruppe, aber was war mit

Mack und Karen? Sie kamen durchaus infrage.

Stammten die Abdrücke von Karen?

Es war unmöglich festzustellen, aber einen Moment später

nahm er etwas anderes wahr ...

Ein Schrei mit dem schrillen Klang einer Schiedsrichterpfei-

fe hallte die Treppen herab.

Und er stammte eindeutig von Karen.

Westmore rannte die Stufen hinauf – zwei Treppenfluchten,

das spürte er –, dann empfing ihn im dunklen Flur ein weiterer

Schrei.

Das Büro, erkannte er und lief dorthin.

Die anderen – Cathleen fehlte – hatten sich hinter dem

Schreibtisch versammelt. Nyvysk redete auf Karen ein. Sie

wirkte gebrochen, der Rest der Gruppe sah blass aus und starrte

auf den Boden.

»Was ist los?«, wollte Westmore wissen.

»Karen hat Willis gefunden«, antwortete jemand.

Die Leiche des Taktionisten war unter den Schreibtisch ge-

pfercht worden.

»Großer Gott. Was ist mit ihm passiert?«

»Anscheinend erwürgt«, sagte Nyvysk. »Sehen Sie die

Strangulationsmale an seinem Hals?«

Der düstere Anblick, der sich Westmore bot, wirkte wie aus

einer anderen Welt. Willis’ Gesicht war blau angelaufen und

rosa marmoriert, die Augen quollen fast aus den Höhlen.

»Bei Adrianne wissen wir es nicht mit Sicherheit, aber ich

würde sagen, niemand kann bestreiten, dass wir es hier mit

einem Mord zu tun haben. Schrecklich!«

»Mord«, ergänzte Nyvysk, »oder ein versehentliches Opfer.«

»Soll das heißen, die ›Ladung‹ des Hauses wird stärker?

Verstehe ich das richtig?«, fragte Westmore.

»Das verstehen Sie völlig richtig.«

»Scheiß auf den ganzen Dreck«, fluchte Mack. »Wer hat

Willis zuletzt lebend gesehen?«

Niemand antwortete ihm.

Nach einer unangenehmen Phase des Schweigens ergriff

Nyvysk das Wort. »Stand der Tresor gestern nicht offen? «

Alle schauten zur Wand. Ich glaube schon, dachte Westmo-

re. Ich habe ihn offen gelassen, als ich den Zettel fand ...

Nun war er wieder geschlossen.

Westmore rüttelte am Riegelgriff.

Er bewegte sich nicht.

Er stellte am Kombinationsknopf das neunstellige Akrosti-

chon ein, drehte den Riegel und öffnete den Tresor.

Im Inneren lag ein einziger, ziemlich unscheinbarer Gegen-

stand: der Gürtel von Patrick Willis.

VII

Nyvysk standen die Nackenhaare hart wie Stacheldraht zu

Berge, als er die Gaussmeter in das Südatrium schleppte und

sie dort an die Steckdosen anschloss, um sie aufzuladen. Er

richtete sie in verschiedenen Winkeln nach außen und verband

sie mit der Prozessoreinheit, die er mit dem Fernseher verka-

belt hatte. Kann nicht schaden, auch hier unten einige Mes-

sungen durchzuführen.

Aber er konnte sich nicht richtig konzentrieren.

In seinem Hals kribbelte es.

Es war das Gefühl, das sie alle in den letzten Stunden ken-

nengelernt hatten: Die Ladung des Hauses stieg unaufhaltsam

an. Daran bestand kein Zweifel. Adriannes Tod hatte dazu

ebenso beigetragen wie der von Willis. Dann gab es da noch

die Frau vom Schlüsseldienst, die sicherlich auch nicht mehr

unter den Lebenden weilte, obwohl ihre Leiche bislang noch

nicht aufgetaucht war.

Es sammelt sich Wiedergängerenergie... Er betrachtete die

Gaussmeter und erkannte die Metapher. Die Villa lädt ihre

EIGENEN Batterien für eine gewaltige Entladung auf, die

Hildreth seit langer Zeit plant – vielleicht schon seit JAHREN.

Was immer das eigentliche Ereignis sein mag, die Lunte dafür

hat er am 3. April angezündet. Und diese Lunte erreicht das

Pulverfass in ...

Er blickte auf die Uhr: 01:15 Uhr...

In weniger als fünf Stunden.

Er hatte die Gaussmeter aus dem Scharlachroten Zimmer

geholt, um die mobilen Akkus aufzuladen. Wo soll ich es als

Nächstes damit versuchen?, überlegte er. Das Scharlachrote

Zimmer müsste eigentlich die besten Wiedergängerbilder lie-

fern ... bislang herrschte diesbezüglich allerdings Fehlanzeige.

Nach den ganzen Morden wäre zu erwarten gewesen, dass es

vor Restenergie nur so strotzte. Aber die Messungen, die er

bisher durchgeführt hatte, waren kaum stärker als in anderen,

gewöhnlicheren Bereichen der Villa gewesen. Höchstwahr-

scheinlich werden sie sich noch beschleunigen, dachte er, als

die Akkus fertig angeschlossen waren. Sobald sich die Villa

dem Ziel nähert, auf das sie zusteuert.

Sie steuerte auf etwas zu – so viel stand für ihn fest. Nun

richteten sich auch die Härchen an seinen Armen auf. Selbst

seine Zahnfüllungen schienen leicht zu vibrieren.

»Nyvysk«, hörte er eine Stimme.

Ein aufgeregtes Flüstern.

Er hatte es so flüchtig vernommen, dass er glaubte, es wäre

in seinem Kopf entstanden. Dann:

»Mein Liebster ...«

Nun füllte die Stimme den Raum aus und er wusste, zu wem

sie gehörte.

Saeed ...

Sie schien aus der Kommunikationsanlage zu kommen, aber

als er sich dem Lautsprecher näherte, kam sie plötzlich aus

einer anderen Richtung.

»Wir können so zusammen sein, wie es uns im Leben nie

vergönnt war.«

Erneut drehte Nyvysk sich um.

Ihm blieb keine Zeit, um viel zu erkennen, dafür hörte er

noch etwas.

»Komm zu mir in diesen wundervollen Tod...«

VIII

Es ist gleich so weit, dachte Westmore.

Zehn Minuten vor zwei.

Er ging zurück durch die geheimen Gänge und als er in die

kleine Bibliothek gelangte, stellte er fest, dass die Abdrücke

immer noch vorhanden waren. Spuren von nackten Frauenfü-

ßen, die hinaus, aber nicht wieder hereinführten. Das bilde ich

mir nicht ein, ging ihm durch den Kopf.

Aber die Abdrücke konnten doch auch alt sein, oder? Eine

der Pornodarstellerinnen konnte sie bereits vor den Morden

hinterlassen haben. Daran hab ich noch gar nicht gedacht ...

Allerdings war er davon auch nicht wirklich überzeugt.

Als er die verborgene Tür öffnete, setzte sein Herz für einen

Schlag aus. Eine Gestalt stand vor ihm.

»Ich hoffe, Sie haben sich meinetwegen nicht in die Hose

geschissen.« Es war Clements, der ein verschmitztes Lächeln

im Gesicht und einen kleinen Rucksack auf dem Rücken trug.

Der ehemalige Polizist sah auf die Uhr. »Sie kommen genau

pünktlich.«

Verdammter Penner. Westmore entspannte sich wieder.

»Was ist in dem Rucksack?«

»Taschenlampen, Werkzeug, Schießeisen.«

Keine Thermoskanne mit Kaffee? »Wo ist Connie?«

»Draußen beim Auto.« Clements überprüfte das Magazin

einer außerordentlich großen Pistole, bevor er die Waffe wie-

der unter seinem Hemd verschwinden ließ. »Sie hat eines mei-

ner anderen Handys – ich rufe sie an, sobald wir Debbie ge-

funden haben, dann kommt sie mit dem Wagen her und bringt

das Mädchen und Sie zu meinem Haus.«

Westmore kratzte sich am Kopf. »Wo werden Sie sein?«

»Hier. Um nach Hildreth zu suchen – falls wir ihn nicht zu-

erst finden. So oder so, er beißt heute Nacht ins Gras.«

Westmore widersprach dem Mann nicht. Clements folgte

ihm durch die dunklen Eingeweide der Villa. »Wo sind denn

alle? Ich möchte nicht gesehen werden, außer, es lässt sich

überhaupt nicht vermeiden.«

»Alle außer Cathleen sind unten«, antwortete Westmore.

Dann schluckte er. »Aber Adrianne Saundlund und Patrick

Willis sind tot.«

»Wie ist das denn passiert?«

»Das wissen wir nicht genau. Allerdings wurde Willis ein-

deutig ermordet, bei Adrianne ist das auch nicht ausgeschlos-

sen.«

Clements schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich Hildreth.

Glauben Sie immer noch, dass hier nichts Ungewöhnliches vor

sich geht?«

»Oh, ich weiß, dass hier etwas vor sich geht.« Dann erklärte

Westmore dem ehemaligen Polizisten das Apogäum, das um

sechs Uhr morgens auftreten würde.

»Was für eine verdammte Freakshow satanistischer Irrer«,

kommentierte Clements kichernd.

»Was wollen Sie machen, wenn Sie Cathleen über den Weg

laufen?«

»Ich schaffe sie nach draußen ins Auto.«

»Und wenn sie nicht gehen will?«

»Dann schaffe ich sie mit vorgehaltener Waffe ins Auto und

sperre sie in den Kofferraum. Mir steht nicht der Sinn nach

Spielchen.«

»Ja, scheint so.« Sie waren dem Geflecht der Treppen zurück

zum dritten Stock gefolgt. Vor ihnen befand sich der Vorhang.

»Wir sind da. Wie sieht Ihr Plan aus?«

»Sie ziehen Ihr Ding durch und verhalten sich normal«, er-

widerte Clements. »Ich fange oben an und arbeite mich Zim-

mer für Zimmer nach unten durch.«

»Das habe ich bereits gemacht ...«

»Prima, dann mache ich es noch mal. Debbie ist hier im

Haus, das weiß ich. Stellen Sie Ihr Handy auf Vibration. Wenn

ich sie finde oder irgendein Mist passiert, rufe ich Sie an. Sie

tun umgekehrt dasselbe. Hier ...« Er zog sein Hemd hoch und

griff nach einer seiner Pistolen. »Nehmen Sie die.«

Westmore zeigte ihm die Waffe, die Mack ihm gegeben hat-

te. »Ich habe schon eine.«

»Kluger Mann. Ich suche jetzt Debbie. Bis später.« Damit

schob Clements den Vorhang beiseite.

»Seien Sie vorsichtig«, riet Westmore dem Mann.

»Ich brauche nicht vorsichtig zu sein. Das muss Hildreth

tun.« Damit verschwand er.

Westmore fühlte sich kribbelig, als er nach unten ging. Un-

willkürlich ging ihm dabei durch den Kopf, was die anderen

schon so viele Male erwähnt hatten: die Ladung des Hauses

und die Wahrscheinlichkeit, dass diese zunahm. Was genau

bedeutete das? Und wie würde sich diese Ladung nach sechs

Uhr morgens auf das Haus auswirken?

Allerdings endeten seine Überlegungen unvermittelt, als er

das Südatrium betrat. Karen und Mack waren da. Westmore

fiel die Zigarette aus dem Mund, als er zu Boden blickte.

»Er ist tot«, sagte Karen mit brüchiger Stimme.

Mack kniete neben Nyvysk, der mit ausgestreckten Armen

und Beinen in der Ecke lag.

»Was ist passiert?«

»Keine Ahnung. Wir sind gerade reingekommen und da lag

er«, antwortete Mack.

»Es sind keine Wunden zu sehen«, fügte Karen hinzu. »Und

auch kein Blut.«

»Sein Herz schlägt nicht, so viel kann ich sagen.«

Westmore kniete sich ebenfalls hin und tastete nach einem

Puls. Nichts. Der Körper fühlte sich noch warm an. »Es muss

vor weniger als einer Stunde passiert sein.« Als er sich im

Raum umsah, fielen ihm die auf sie gerichteten Gaussmeter

auf. »Sind diese Dinger eingeschaltet?«

»Ich weiß nicht mal, was diese Dinger sind«, gab Mack zu-

rück.

»Sie messen Ionenfluktuationen in der Luft«, erklärte

Westmore abwesend.

»Die Bilder, die wir unlängst auf dem Monitor gesehen ha-

ben?«, fragte Karen.

»Die stammten von einem dieser Geräte, genau. Sieht so aus,

als wollte er die Akkus aufladen und gleichzeitig Messungen

vornehmen.« Westmore ging zum Prozessor auf dem Bespre-

chungstisch.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Mack.

»Einer der Scanner zeigt genau auf diese Ecke ...«

Westmore betätigte einige Schalter am Prozessor. Er

brauchte eine Weile, um mit der Bedienung klarzukommen,

doch schließlich gelang es ihm, die Aufzeichnung zurückzu-

spulen und abzuspielen.

Alle Blicke richteten sich auf den großen Fernseher vor der

Couch. Die Aufnahme zeigte die Ecke des Raums – an dieser

Stelle noch leer – bei normalem Licht. Plötzlich geriet Nyvysk

mit geweiteten Augen und verkniffener Miene ins Bild. Gleich

darauf bewegte er sich rücklings in die Ecke, als weiche er vor

etwas zurück.

»Sieht aus, als hätte er Angst«, meinte Karen mit einer Hand

am Gesicht.

»Angst wovor?«, fragte Mack.

»Vielleicht sehen wir das hier.« Westmore drückte einen

anderen Schalter, wodurch die parallel laufende Ionenauf-

zeichnung eingeblendet wurde. Der Bildschirm wurde schwarz,

außer ...

Der Bereich, in dem Nyvysk stand, präsentierte sich als An-

sammlung leuchtender, dotterblumengelber Punkte. Sie bilde-

ten grob eine menschliche Gestalt.

»Diese funkelnden Punkte sind Nyvysk?«, fragte Karen.

»Ja. Genauer gesagt, sie sind eine Aufzeichnung der Ionen in

der Luft, die ihre elektrische Ladung dadurch verändern, dass

sich sein Körper dort aufhält.«

»Und was ist das? «, fragte Mack etwas erschrocken.

Eine weitere Anordnung leuchtender Punkte geriet ins Bild,

ebenfalls menschenförmig.

Die Gestalt näherte sich Nyvysk langsam, dann schien sie

ihn zu umarmen.

Und der Schemen, der Nyvysk darstellte, brach zusammen.

Westmore drückte erneut auf die Taste für die Normalauf-

nahme. Sie sahen Nyvysk tot in der Ecke liegen, doch sie sahen

außerdem ...

»Was um alles in der Welt ist das?«, stieß Mack hervor.

Eine brodelnde Gestalt. Sie war schwarz wie ein Schatten,

besaß jedoch anscheinend eine kaum geformte Substanz.

Karen zitterte. »Das sieht wie eine der Kreaturen aus, die

mich vergewaltigt haben. Cathleen hat sie körperlose Entitäten

genannt. Aber die auf dem Bildschirm ist dunkler. Sie sieht

fester aus, hat mehr Substanz.«

»Dann hatte Nyvysk recht mit seiner Vermutung, was im

Haus geschieht«, stellte Westmore fest. »Die Ladung. Sie wird

stetig stärker, und ich vermute, dass sie um sechs Uhr morgens

ihren Höhepunkt erreichen wird.«

»Das Apogäum«, sagte Mack.

»Genau.«

Sie sahen gleichzeitig zur Wand. Mittlerweile war es drei

Uhr morgens.

»Dieses Ding, das Nyvysk umgebracht hat«, meldete sich

Mack zu Wort. »War das Hildreth?«

»Glaube ich nicht. Hildreth war größer, oder? Ich denke, was

immer Nyvysk getötet hat, stammte aus seiner Vergangenheit –

und ist jetzt hier

Mack wirkte unbehaglicher als je zuvor. »Damit will ich

nichts zu tun haben. Karen und ich – wir arbeiten jetzt für Vi-

vica. Dieser spirituelle Krempel gehört nicht zu unserem Auf-

gabengebiet. Wenn die Kreaturen in diesem Haus – Geister

oder was auch immer – so einfach Menschen töten können ...«

»Könnte es uns auch passieren«, beendete Karen den Satz

mit hörbarer Besorgnis.

»Vielleicht, aber das glaube ich nicht«, entgegnete Westmo-

re. Er betrachtete die reich bestückte Bar auf der gegenüberlie-

genden Seite des Raums. Scheiße, jetzt könnte ich echt einen

Drink vertragen. »Die Villa scheint es auf Menschen abgese-

hen zu haben, die auf ihrer Wellenlänge sind – auf übersinnlich

begabte Menschen.«

»Adrianne und Willis«, sagte Mack.

»Aber Nyvysk war nicht übersinnlich begabt«, warf Karen

ein.

»Nein, aber er war ein Priester, der früher Exorzismen

durchgeführt hat«, erwiderte Westmore. »Vielleicht liege ich

auch vollkommen falsch und wir sind alle im Arsch. Aber so

oder so, ich bleibe auf jeden Fall bis sechs Uhr hier. Wenn ihr

beide gehen wollt, nur zu. Ich würde euch keinen Vorwurf

machen.«

»Bleiben wir und halten wir zusammen«, schlug Mack vor.

Karen schien davon wenig begeistert, war aber bereit, sich

zu fügen. »Suchen wir zumindest Cathleen.«

Aber als die Türen klickend aufsprangen und sie sich um-

drehten, stellten sie fest, dass Cathleen sie bereits gefunden

hatte.

Schweigend betrat sie den Raum. Ihr Kleid klebte durch hef-

tigen Schweiß an den Konturen ihres Körpers. Ihr Mund stand

offen, ihre Augen waren geweitet, als sie den Blick über die

Anwesenden wandern ließ.

»Cathleen«, setzte Westmore an. »Was ...«

»Ich bin nicht Cathleen ...«

»Sie ist wieder in einer solchen Trance«, sagte Mack.

»Sie ist besessen«, flüsterte Karen.

Nicht besessen, erinnerte sich Westmore. »Sie ist ein Medi-

um. Jemand anders spricht durch sie.«

»Hildreth«, sagte jemand.

Cathleen näherte sich. »Nein. Er kann mich jetzt nicht an-

rühren.« Als sie sich bewegte, wirkte sie instabil, erschöpft und

doch entschlossen, etwas zu tun. »Um sechs Uhr wird Hildreth

den Spalt wieder öffnen.«

»Den was?«, fragte Mack.

»Die Türen des Chirice Flaesc werden sich öffnen. Aber sie

werden sich nicht in der Hölle öffnen. Sie werden sich hier

öffnen.«

»Was geschieht dann?«, wollte Westmore mit zittriger

Stimme wissen.

»Dann wird das, was am 3. April hineingegangen ist, wieder

herauskommen. 666 Stunden, nachdem sie in der Nacht des

Gemetzels eingetreten ist.«

»Sie meinen Deborah Rodenbaugh, nicht wahr?«

Gelassen nickte Cathleen. »Die Jungfrau, ja. Die ultimative

Hommage, die Entweihung der perfekten Unschuld. All das ist

von jeher symbolisch. Belarius wird mit ihr fertig sein und

wenn ihr ihn nicht aufhaltet, wird ihm Erfolg beschieden sein.«

Westmore trat näher an sie heran. »Erfolg wobei?«

»Wenn sich der Spalt öffnet, wird hier alles so, wie es dort

ist. Alles wird zu Fleisch. Hildreth war Belarius’ Jünger. Er hat

alles arrangiert, hat es seit Jahren geplant. Aber jetzt zieht der

Anker meines Geistes an mir. Ich kann nicht länger bleiben ...«

»Gehen Sie noch nicht!«, brüllte Westmore. »Wir müssen

mehr erfahren!«

Flackerten die Lichter im Raum?

»Das Haus wird stärker«, sagte Adrianne durch Cathleens

Mund. »Was bedeutet, dass auch die Wesen in diesem Haus

stärker werden.«

Alle starrten sie an.

» Hildreth wird stärker ...«

Ein leises Knistern ertönte. Dann richtete sich Cathleens

langes hellblondes Haar auf, als wäre es von gewaltiger stati-

scher Elektrizität erfasst worden.

Sie sackte auf den Boden zusammen.

»Mein Gott«, stieß Karen hervor.

Als Westmore und Mack herbeieilten, um Cathleen hochzu-

heben, kreischte sie und fuchtelte wild mit den Armen. »Geht

weg, geht weg!« Westmore und Mack wurden zurückge-

schleudert. Die Stühle um den Besprechungstisch kippten um,

die Gauss-Sensoren schlitterten drei Meter weit über den Bo-

den und mehrere Gemälde purzelten von der Wand.

»Cathleen!«, brüllte Westmore sie an. »Wir sind’s! Beruhi-

gen Sie sich! Es ist alles in Ordnung!«

Als Cathleen die Augen aufschlug, implodierte der Fernse-

her.

»Großer Gott!«, entfuhr es Mack. »Was soll das alles?«

»Sie ist aus ihrer Trance zurückgekehrt und war verwirrt.«

Westmore half Cathleen auf die Couch. »Ich vermute, sie hat

die Kontrolle über ihre telekinetischen Fähigkeiten verloren.«

»Wie im Büro, als Hildreth durch sie gesprochen hat«,

meinte Karen.

»Ja.«

Flatternd öffnete Cathleen erneut die Augenlider. Sie hob

eine Hand an die Stirn, als sie den Blick durch den Raum wan-

dern ließ. »Oh Gott. Ich habe doch niemanden verletzt, oder?«

»Nein, es geht uns allen gut. Und Ihnen?«

Mit weit aufgerissenen Augen lehnte sich Cathleen zurück.

»Adrianne hat mich gefunden ...«

»Ja. Erinnern Sie sich daran, was sie gesagt hat?«

Eine Pause, nach der Cathleen erwiderte: »Ja.« Dann spähte

sie furchtsam auf die Uhr. »Noch zweieinhalb Stunden.«

»Hat Adrianne etwas zu Ihnen gesagt, bevor sie anfing, mit

uns zu kommunizieren?«

»Ich ... glaube schon.« Cathleen runzelte die Stirn. »Ver-

dammt noch mal, ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«

Westmore nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an.

Mack und Karen schenkten sich starke Drinks ein.

»Was machen wir jetzt?«, wollte Karen wissen.

»Wir warten«, antwortete Cathleen. »Darauf, dass sich der

Spalt öffnet.«

»Es wird im Scharlachroten Zimmer passieren. Also gehen

wir dorthin«, entschied Westmore. »Sofort.«

IX

Clements war im Zuge seiner Suche ins Büro geschlichen. Er

schüttelte den Kopf, als er Willis’ Leichnam hinter dem

Schreibtisch entdeckte. Armer dummer Tropf ... Die Übelkeit

überkam ihn jedoch erst, als er zufällig auf einen eingeschalte-

ten Monitor blickte und etwas sah ...

Heilige Mutter Gottes, diese kranken, kranken Scheißhaufen!

Es war Debbie, die sich benommen auf einen Tisch stützte,

nachdem ihre Vagina mit winzigen Chromringen verschlossen

worden war.

Mein Gott, ich kann’s kaum erwarten, Hildreth umzubrin-

gen, ICH KANN’S VERDAMMT NOCH MAL KAUM ER-

WARTEN!

Im Büro zu bleiben, erschien ihm ebenso sinnlos wie die

Suche nach weiteren Auftritten von Debbie auf den DVDs. Er

hatte gesehen, was er sehen musste. Wenigstens ist es kein

Snuff-Film. Diese beschissenen kranken Arschlöcher...

Dann wirbelte Clements herum und zog eine seiner Pistolen.

Hatte er gerade ein Kichern gehört?

Clements lächelte. »Falls Sie das sind, Hildreth – kommen

Sie doch her und holen Sie mich.« Ohne die geringste Furcht

verließ er das Büro und begann mit der Durchsuchung des rest-

lichen Hauses.

X

Connie verspürte Entzugserscheinungen, allerdings im Augen-

blick keine allzu schlimmen. Mittlerweile hielt sie es seit einer

Woche ohne Crack aus – so lang wie noch nie, seit sie die

Pfeife zum ersten Mal an die Lippen gesetzt hatte. Allerdings

war sie zappelig, nervös und es fühlte sich an, als krabbelten

Käfer über ihre Haut. Trotzdem stimmte Clements’ Vermu-

tung: Ein Großteil der körperlichen Abhängigkeit verflüchtigte

sich allmählich, sodass sie nur noch ihre Psyche in den Griff

bekommen musste. Sie wusste, es würde ihr gelingen, solange

er sie nicht im Stich ließ.

Connie hatte noch nie einen Mann wie ihn kennengelernt. Er

will nichts, ist nicht wie die Freier, nicht wie jedes andere

Arschloch da draußen, das nur einen Haufen Scheiße daherre-

det...

Ihr war bewusst, dass sie ihr Glück nicht als Selbstverständ-

lichkeit betrachten durfte. Dies war ihre letzte Chance.

Die nächtlichen Geräusche irritierten sie – Grillen und Früh-

lingspfeifer. Sie schienen zu laut zu sein. Trotz der schwülen

Hitze fühlte sich das Mondlicht in ihrem Gesicht kalt an.

Ihr Blick wanderte zur Villa und ihre Eingeweide krampften

sich zusammen.

Bitte sei da drin vorsichtig, dachte sie.

Immer wieder fingerte sie ungeduldig nach dem Mobiltele-

fon in ihrer Tasche. Wahrscheinlich würden Clements und die

anderen erst in einigen Stunden herauskommen. Connie

schlenderte ein Stück die Straße entlang, dann ging sie um den

Wald herum, ohne näher darüber nachzudenken. Ehe sie sich

versah, hatte sie ein Drittel des Weges zurückgelegt, der an der

Außengrenze des Grundstücks entlangführte, und ertappte sich

dabei, einen Pfad zu betreten, der zwischen die Bäume führte.

Wo... Scheiße...

Unbewusst war sie zum Friedhof zurückgekehrt. Was stimmt

bloß nicht mit dir, Connie? Durch die Woche ohne Crack bist

du anscheinend völlig durchgeknallt...

Beim Friedhof handelte es sich nun wirklich um den letzten

Ort, an dem sie sein wollte. Sie erinnerte sich noch lebhaft,

worauf sie dort in der vergangenen Nacht gestoßen waren. Der

Leichnam des toten Obdachlosen im Sarg war schon schlimm

genug gewesen, aber der Fund in dem anderen Loch ... diese

verrotteten... DINGER. Connie interessierte nicht, was andere

dachten. Für sie hatten sie eindeutig nicht menschlich ausgese-

hen.

Was also wollte sie hier?

Statt den Friedhof zu verlassen, ging sie um das Tor herum

zu der Grube mit den Kreaturen. Konnte ein toter Mensch

wirklich so aussehen? Wie große Plastiktüten voller Butter,

dachte sie unbehaglich. Connie hatte keine Ahnung, welche

morbide Neugier sie dazu trieb, aber sie tat es trotzdem.

Sie knipste ihre Taschenlampe an und leuchtete auf den Bo-

den.

Und erstarrte.

Die Grube war nicht nur wieder freigelegt, sondern außer-

dem auch noch leer.

Sie bezweifelte, dass jemand ihren Aufschrei hörte, als sie

sich umdrehte und feststellte, dass eine nackte Frau unmittelbar

vor ihr stand. Sie sah aus, als wäre sie gerade aus dem Grab

herausgekrochen: Graue Haut spannte sich eng über vortreten-

de Adern, Rippen zeichneten sich ab, der Bauch war eingefal-

len. Ihr Schambein ragte vor wie bei jemandem, der an Ma-

gersucht litt, und die Augen wirkten so dunkel und in die Höh-

len gesunken, dass es sich ebenso gut um tiefe Gruben handeln

konnte.

»Du hättest in das Auto steigen und wegfahren sollen«, sagte

die Unbekannte, deren Stimme durch die Verwesung wie ein

verflüssigtes Krächzen klang. Der Wald verschluckte Connies

nächsten Schrei, dann stieß die Leiche, die vor ihr stand – im

Leben eine Schlüsseldienstmitarbeiterin namens Vanni, im Tod

jedoch eine Marionette der Hölle –, Connie in die leere Grube

hinein.

Der wandelnde Leichnam blickte auf sie herunter, eine kno-

chige Silhouette vor dem Mondlicht ... dann tauchte eine wei-

tere Gestalt neben ihr auf; groß, aufrecht und erhaben.

Connie brüllte erneut, als sie erkannte, dass es sich um Re-

ginald Hildreth handelte, und sie brüllte noch lauter, als vier

männliche Adiposianer in die Grube stiegen, schadenfroh un-

geachtet ihrer gesichtslosen Züge, die schmalzfarbigen Ständer

hart wie Stahl.

XI

Gegen 04:30 Uhr hatte Clements einen Großteil der oberen

Etagen der Villa durchsucht. Er war weder jemandem begegnet

noch auf eine Spur von Debbie oder Hildreth gestoßen. Das

Haus wirkte trostlos, unwürdig für das Ereignis, das Westmore

erwartete, worum auch immer es sich handeln mochte. Ir-

gendwann schlich sich Clements in einen der Salons, weil er

das Geräusch von Stimmen hörte. Durch den Türspalt erspähte

er, wie Westmore und die anderen die Treppe am Ende des

Flurs hinaufgingen; vermutlich auf dem Weg in dieses Schar-

lachrote Zimmer, in dem Hildreth am 3. April die meisten sei-

ner Opfer abgeschlachtet hatte.

Clements stand regungslos, beobachtete, wie sie verschwan-

den, und setzte seine Suche fort. Er wollte immer noch nicht

gesehen werden, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Das Scharlachrote Zimmer hatte er bereits ganz am Anfang

überprüft. Ein rotes Zimmer – das war alles. Nichts Interessan-

tes, nichts Verdächtiges. Nur die Besessenheit eines reichen

Wahnsinnigen, dachte Clements. Was zum Geier erwartet die-

ser Psychopath eigentlich? Doch es spielte keine Rolle. Tief in

seinem Inneren wusste Clements, dass sich Hildreth irgendwo

in diesem Haus aufhielt ...

Als er alle Räume im dritten Stock überprüft hatte, schlich er

sich zurück ins Büro und griff nach dem Handy. Ich höre bes-

ser mal nach, wie es Connie geht ... Er wählte, wartete – und

wartete noch länger.

Verdammt. Warum geht sie nicht ran?

Natürlich konnte er zum Auto gehen, um nach ihr zu sehen,

aber das wollte er nicht riskieren. Unter Umständen komme ich

dann nicht wieder rein. Vielleicht störten ja auch die Mauern

der Villa den Empfang und sie hatte längst abgenommen?

Daran muss es wohl liegen, dachte er, womit er einen Fehler

beging.

Clements unterlief noch ein weiterer Fehler, bevor er das

Büro wieder verließ – eigentlich nicht wirklich ein Fehler.

Vielmehr übersah er ein entscheidendes Detail.

Er übersah, dass Willis’ Leichnam nicht mehr hinter dem

Schreibtisch lag.

XII

Westmore zog die Vorhänge auseinander und sah ohne beson-

deren Grund durch die hohen, an Schießscharten erinnernden

Fenster hinaus. Die Nacht präsentierte sich als dunkler Schlei-

er, immerhin vom Mondlicht getüncht, das ihm heller vorkam,

als es sein sollte. Verdammt, bin ich müde, dachte er. Als er

sich wieder umdrehte, sah er, dass Karen und Mack bereits auf

zwei der roten Samtsofas eingeschlafen waren. Cathleen saß an

dem rot furnierten Tisch im hinteren Teil des Raums. Sie

konnte kaum noch die Augen offen halten.

»Wie spät ist es?«

»Viertel nach fünf«, antwortete Westmore, nachdem er auf

die Uhr gesehen hatte. Die kirchenartig anmutende Umgebung

des Scharlachroten Zimmers fühlte sich irgendwie tot an.

»Woran liegt es«, begann Westmore, »dass ausgerechnet der

Raum, der sich am unheimlichsten anfühlen sollte – und der

am satanischsten aussieht –, überhaupt nicht so rüberkommt?«

»Warten Sie bis sechs Uhr«, erwiderte Cathleen. »Ladungen

können sich schlagartig ändern.«

»Glauben Sie diesen Kram mit dem Apogäum?«

»Ich weiß es nicht.« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Aber ich denke, wir sollten daran glauben. Wir haben schon

zu viel erlebt, um es nicht zu tun.«

Das kannst du aber laut sagen, dachte Westmore. »Was sol-

len wir tun, falls ...« Doch der Rest des Satzes blieb unausge-

sprochen. Cathleen war eingeschlafen.

Westmore selbst wollte trotz seiner Erschöpfung nicht

schlafen. Fürchtete er sich zu sehr davor, in was für einem

Szenario er unter Umständen erwachen würde? Ich möchte

bloß nicht verpassen, was um Punkt sechs Uhr geschieht, rede-

te er sich ein.

Die anderen schliefen ringsum tief und fest. Westmore fand,

dass Kaffee eine gute Idee wäre, deshalb verließ er das Schar-

lachrote Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Im Büro

stand eine Kaffeemaschine, also quälte er seine müden Beine in

den dritten Stock hinunter. Erst da musste er an Clements den-

ken. Hätte der ehemalige Polizist etwas gefunden, wäre längst

ein Anruf gekommen. Ich frage mich, wo er sich gerade her-

umtreibt.

Im Büro ging er um den Schreibtisch herum, um die Kaf-

feemaschine einzuschalten, und erstarrte.

Willis’ Leiche war verschwunden.

Verständnislos starrte Westmore auf den Boden. Wer um

alles in der Welt würde ... Er war felsenfest davon überzeugt,

dass Willis tot war. Kein Mitglied der Gruppe konnte den

Leichnam wegtransportiert haben, weil er ständig mit ihnen

zusammen gewesen war. Clements vielleicht?

Warum sollte er?

Warum sollte überhaupt jemand es getan haben?

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus eilte er die Treppen

hinunter ins Südatrium ...

Nyvysks Leiche war ebenfalls verschwunden.

Westmore raste in die Küche und riss die Tür des Kühlraums

auf.

Keine Spur von Adriannes Leiche.

Das ist jetzt wirklich vollkommen verrückt ...

Als Nächstes rannte er zurück zum Foyer und die Stufen

zum ersten Stock hinauf. Er umrundete den Treppenabsatz, um

weiter in die zweite Etage zu laufen.

Plötzlich erloschen sämtliche Lichter im Haus auf einen

Schlag.

In völliger Finsternis blieb er stehen. Die Villa schien rings

um ihn zu ticken und er spürte ein statisches Knistern an den

Armen. Dann ...

Wumm!

Jemand schlug ihm von hinten auf den Schädel. Westmore

brach vor den Stufen zusammen.

Ohnmacht zerrte seine Lider nach unten. Bevor er endgültig

das Bewusstsein verlor, sah er am Kopf der Treppe ein mattes

Licht – ein Licht, das irgendwie düster wirkte. Darin zeichnete

sich der Umriss von Reginald Hildreth ab.

Und Hildreth lächelte.

XIII

Clements wählte erneut Connies Nummer, wartete und wartete.

Niemand ging ran. VERDAMMT NOCH MAL! Wo steckt sie

bloß?

Als die Lichter ausgingen, überkam ihn Verwirrung statt

Angst. Handelte es sich um einen schlichten Stromausfall oder

hatte jemand absichtlich die Sicherungen abgeschaltet? Plötz-

lich fühlte sich Clements unbeholfen und verloren.

Den Grundriss des Hauses kannte er überhaupt nicht. Im

Strahl seiner Taschenlampe folgte er einem weiteren seltsamen

Korridor mit grimmigen Statuen und seltsamen Gesichtern auf

düsteren Porträts, die ihm unheilvoll nachschauten. Er wusste,

dass er losziehen sollte, um Connie zu suchen, aber ...

Es war kurz vor sechs Uhr.

Clements folgte einem weiteren lang gezogenen Flur. Eine

Doppeltür. Als er eintrat...

Die Dunkelheit im Raum schien so absolut zu sein, dass sie

die Helligkeit der Taschenlampe halbierte. Wo bin ich?, dachte

Clements verdutzt. Was ist das hier?

Nackte wachsweiße Leichen baumelten verkehrt herum von

der Decke. Alle waren enthauptet worden.

Clements fühlte sich kaum in der Lage, klar zu denken, als er

einen Schritt nach vorne tat. Ein stumpfer Instinkt trieb ihn

dazu an, seine Waffe zu ziehen, eine Halbautomatik. Als er

stolperte, löste sich beinahe ein Schuss. Er sah nach unten, um

herauszufinden, worüber er gestolpert war ...

Er stöhnte und ihm wurde speiübel.

Es war Connies Kopf, der ihn um ein Haar zu Fall gebracht

hätte. Als er den Blick mühsam auf die erste herabhängende

Leiche richtete, bestand kein Zweifel mehr. Es handelte sich

um Connies dünnen und sehr blassen Körper, der ihm an einem

Haken entgegenpendelte.

Ein Schwenk mit der Taschenlampe offenbarte weitere

Köpfe auf dem Boden: Nyvysk, Willis, Adrianne Saundlund.

Ihre nackten Leichname hingen in der Nähe. Totaler Wahnsinn,

erkannte Clements. Hildreth lebt noch. Er muss das getan ha-

ben.

Zumindest eine kleine Erleichterung blieb ihm vergönnt: Bei

keiner der Toten handelte es sich um Debbie.

Die hintere Wand schien scharlachrot zu schimmern. Auf

dem Boden standen Eimer herum und es war nicht zu überse-

hen, was hier vorgefallen war. Er hat alles Blut aus ihnen ge-

leert ... in diese Eimer. Und dann hat er das Blut an die Wand

geschüttet.

Plötzlich ertönte ein Klicken gefolgt von einem ohrenbetäu-

benden Knall.

Clements fiel zu Boden. Schmerzen tosten durch seinen

Kopf. Die Kugel hatte ihn an der Schläfe gestreift.

Aber er hatte keine Angst.

Vielmehr verspürte er freudige Erregung.

»Also gut, Hildreth!«, brüllte er. »Gehen wir’s an!«

Damit eröffnete er das Feuer.

XIV

Westmores Bewusstsein tauchte durch einen pulsierenden

schwarzen Nebel wieder an die Oberfläche. Ein kontinuierli-

cher Schmerz pochte in seinem Schädel – mit einem Geräusch.

Eine Glocke.

Nein, ein Läuten.

Er stemmte sich auf den Stufen hoch, als ihm dämmerte,

woher es stammte.

Die Uhr! Die Pendeluhr im Foyer. Sie schlug sechs Uhr.

Mühsam rappelte er sich auf, kämpfte gegen eine seltsame

Schwerkraft an, dann rannte er die Treppen hinauf, überquerte

konzentriert einen Absatz nach dem anderen. Seine Schuhe

fühlten sich wie Ziegelsteine an, als er den Flur hinabstapfte

und die Tür zum Scharlachroten Zimmer aufriss.

Eine Sekunde lang zögerte er, dann stürzte er hinein.

Lediglich durch die Fenster einfallendes Mondlicht erhellte

die unmittelbare Umgebung. Völlig verwaist, völlig normal.

Niemand hielt sich hier auf.

Karen, Mack und Cathleen waren verschwunden. Noch vor

einer Stunde hatten sie hier geschlafen.

Und rein gar nichts war im Scharlachroten Zimmer vorge-

fallen.

Ruckartig drehte er sich um.

Von der Uhr war nichts mehr zu hören. Es war schon nach

sechs Uhr. Eine Reihe entfernter Geräusche schien vom ande-

ren Ende des Hauses heranzudringen.

Schüsse. Irgendwo unten.

Und wo steckten die anderen?

Ich glaube nicht, dass ich einem Feuergefecht gewachsen

bin, dachte er, als weitere Schüsse ertönten. Es musste Cle-

ments sein. Westmore hatte eine Pistole – die Waffe, die Mack

ihm gegeben hatte. Er verstand zwar nicht viel von Handfeu-

erwaffen, aber immerhin gelang es ihm, das Magazin heraus-

zuholen, um die Munition zu überprüfen.

Dieses Arschloch!

Das Magazin war leer.

Allmählich begann er zu begreifen. Westmore rannte nach

unten, während weitere Schüsse durch die Villa peitschten.

Unterwegs machte er im Büro halt, weil ihm die Pistole einfiel,

die er am ersten Tag im Schreibtisch entdeckt hatte. Als er die

Schublade aufzog ...

VERDAMMT NOCH MAL!

Die andere Pistole war verschwunden.

Was soll ich jetzt machen? Den Gegner zu Tode spucken?

Aber Clements besaß mehrere Waffen, und es stand fest,

dass er derjenige war, der irgendwo da unten schoss. Dann

nahm Westmore aus dem Augenwinkel ein Flackern wahr. Er

drehte sich um und stellte fest, dass die DVD dank

Repeat-Taste immer noch lief.

Auf dem Schirm sah er Debbie Rodenbaugh. Zuvor hatte er

nur gesehen, wie eine junge Frau ein Genitalpiercing der ex-

tremsten Art verpasst bekam. Nun schwenkte die Kamera auf

das Gesicht der schönen Unbekannten und er beobachtete, wie

sie sich am Ende der grausamen Tortur mühsam in eine auf-

rechte Position stemmte.

Deborah ...

Das Gesicht der Person, die ihr das Piercing verpasst hatte,

wurde nie gezeigt, aber es handelte sich eindeutig um einen

Mann. Das konnte Westmore mühelos an den Armen und an

der Größe der Hände erkennen.

Grundgütiger. Was haben sie nur mit ihr angestellt? Und

warum?

Kranke Spielchen in einem Haus, das sich an kranken Spiel-

chen ergötzte ...

Von unten ertönten immer noch Schüsse. Westmore wollte

sich gerade auf den Weg machen, um nach dem Rechten zu

sehen, dann hätte er vor Schreck beinahe laut aufgeschrien, als

plötzlich sein Mobiltelefon vibrierte.

Sofort hob er ab, weil er mit Clements rechnete.

Allerdings war es nicht Clements, der sprach.

»Haben Sie es schon durchschaut?«, fragte eine tiefe weib-

liche Stimme.

»Wer ist da? Vivica?«

»Es geschieht gerade. Der Spalt öffnet sich. Können Sie es

sehen? Im Scharlachroten Zimmer?«

»Von dort komme ich gerade!«, brüllte er. »Und dort ge-

schieht ein Scheißdreck! All das Gerede davon, dass Hildreth

einen Spalt öffnet – das ist BLÖDSINN! Und wer sind SIE

überhaupt?«

»Man hat Sie zum Narren gehalten. Man hat Sie glauben

lassen, das Scharlachrote Zimmer befinde sich im fünften

Stock. Aber so ist es nicht. Es ist unten. Der Salon im fünften

Stock war früher grün. Der Raum wurde bloß mit roten Teppi-

chen ausgelegt und rot tapeziert.«

»Was?«

»Das Scharlachrote Zimmer ist unten und die Türen zum

Chirice Flaesc öffnen sich gerade. Sie sollten dabei sein ...«

»WO? Wo unten?«, schrie Westmore.

»Das Südatrium ist das wahre Scharlachrote Zimmer.«

Westmore stockte der Atem in der Brust.

»Hildreth hat es in einen Dolmen verwandet – mit Sex, Blut

und Bösem«, fuhr die Anruferin fort. »Das ist das Einzige, was

Sie nicht durchschaut haben. Dafür haben Sie durch den Zettel

aus dem Tresor die genau Zeit herausgefunden. Sie haben sich

die Kombination zusammengereimt. Das ist das Einzige, was

die nicht wussten.«

»Wer sind ›die‹?« Dann tauchte eine weitere Frage in seinem

Kopf auf. »Und woher haben Sie meine Handynummer?«

»Gehen Sie runter«, drängte ihn die Stimme. »Wenn der

Tempel in unsere Welt eindringt ... etwas Spektakuläreres gibt

es nicht.«

Westmore brüllte so laut, dass seine Kehle schmerzte. »Wer

SIND Sie?«

»Faye Mullins.«

Die Überlebende ... Die junge Frau aus der Psychiatrie ...

»Sagen Sie mir alles, was Sie wissen!«, bat Westmore. »Ich

muss es SOFORT erfahren!«

Die Leitung war tot.

XV

Clements konnte sich zur Zielerfassung nur an den Mündungs-

blitzen orientieren. Jemand feuerte einen Kugelhagel auf ihn

ab. Aber es war zu dunkel – und er war zu sehr damit beschäf-

tigt, sich zu verteidigen –, um zu bemerken, dass sich Teile des

Raums veränderten.

Als er das nächste Magazin seines halbautomatischen Kali-

bers 44 in einer Abfolge lauter, widerhallender Salven leerte,

hörte sein unsichtbarer Angreifer zu feuern auf. Clements

nutzte die kurze Unterbrechung, um die abgesägte Reming-

ton-Pumpgun aus seinem Rucksack zu holen. Er zielte, so gut

er konnte, behielt die Umgebung im Auge und wartete.

»Nicht schießen«, ertönte eine Stimme. »Hören Sie zu.«

»Ich höre zu, Hildreth.«

»Ich bin nicht Hildreth. Er ist da drin.«

Wo drin? , dachte Clements.

»Sie können nicht verhindern, was hier passiert. Gehen Sie

einfach. Verlassen Sie das Haus, verschwinden Sie. Sie sind

nicht würdig hineinzugehen. Ich hingegen schon.«

» Wo hineinzugehen? Hören Sie auf, mich zu verarschen,

oder ich komme und hole Sie.«

»Wenn Sie schwören, nicht zu schießen, verrate ich Ihnen

mehr.«

Clements grinste grimmig und drückte die Wange an den

Waffenschaft. »Also schön.«

Schritte polterten. Clements wollte seine Position nicht ver-

raten, indem er die Taschenlampe einschaltete. Das Mondlicht

langte ihm fürs Erste.

Es war Mack, der vortrat.

Du schmieriges, verlogenes Arschloch ...

»Diese Sache ist etliche Nummern zu groß für Sie. Ich da-

gegen gehöre schon dazu, seit Hildreth damit begonnen hat,

seinen Plan auszutüfteln. Es fing am 3. April an und es endet

jetzt. Sehen Sie denn nicht, was hier gerade passiert?«

Einen Moment lang geriet Clements in Versuchung, sich

umzusehen, um herauszufinden, wovon Mack redete, dann

jedoch warnte er sich: Fall bloß nicht drauf rein! Behalt ihn

unbedingt weiter im Auge!

»Reden Sie weiter, Kumpel.«

»Was hier passiert, ist nicht für Sie gedacht«, erklärte Mack.

Seine Pistole hatte er in den Bund seiner Hose gestopft. »Ich

bin derjenige, der durch den Spalt gehen sollte. Sie würden gar

nicht wissen, was Sie tun. Verschwinden Sie einfach. Sie wür-

den es niemals schaffen, lebend zu entkommen.«

»Wovon zum Geier reden Sie, Sie bescheuertes Arschloch?«

»Gehen Sie einfach.«

Mack trat in einen breiteren Strahl des Mondlichts, und da

sah Clements ...

Macks Arme waren bis zu den Ellenbogen mit Blut bedeckt.

Er ist der Drecksack, der Connie umgebracht hat ...

Clements hielt sich grundsätzlich für jemanden, der zu sei-

nem Wort stand, aber in diesem Augenblick war seine Wut

größer als seine ethischen Prinzipien.

»Ich habe zwar versprochen, dass ich nicht schießen würde«,

rief er. »Aber wissen Sie was? Scheiß drauf!« Damit feuerte er

ein 12er-Kaliber ab. Die abgesägte Schrotflinte zuckte in sei-

nen Händen.

Macks linker Arm wurde zerfetzt. Der Mann wirbelte herum,

wodurch eine Blutfontäne in weitem Bogen durch die Luft

spritzte, dann jagte Clements die nächste Ladung in Macks

Schädel.

Der Sicherheitschef sackte zusammen.

Leck mich am Arsch, du Stück Scheiße. Aber was hatte er da

gefaselt? Hildreth war dort drin? Wo war dort? Und was, ver-

flucht noch mal, hat er damit gemeint, dass sich der RAUM

verändert?

Clements griff nach der Taschenlampe, was allerdings mitt-

lerweile nicht mehr notwendig schien. Ein feuriger Schein

säumte die Umgebung. Eine Säule aus Licht loderte am Ende

des Raums.

Doch das war noch nicht alles ...

Heilige Maria, Mutter Gottes.

Der Raum hatte sich irgendwie in Fleisch verwandelt. Ge-

flechte von etwas, das Haut zu sein schien, breiteten sich von

der hinteren Wand aus, die noch vor Minuten völlig normal

wirkte. Nun jedoch pulsierte sie, als wäre sie lebendig, und in

ihrer Mitte leuchtete eine Naht.

Clements starrte einige weitere Augenblicke hin, bevor er

auch nur einen winzigen Bruchteil dessen begriff, was sich da

gerade vor ihm abspielte.

Das sind Türen, erkannte er. Die leuchtende Naht war ein

Spalt zwischen zwei hohen, rechteckigen Pforten, die aus der-

selben hautartigen Substanz bestanden, die sich langsam im

Rest des Raums ausbreitete. Glänzender Schweiß trat aus

Poren, dicke blaue Venen pulsierten lebhaft. Während Cle-

ments angestrengt hinsah, wurde ihm allmählich klar, in was

sich der hintere Bereich des Zimmers da verwandelte.

Das ist ein gottverdammter Tempel ...

Mittlerweile schälten sich Säulen aus dem Fleisch heraus.

Und jener heiße, leuchtende Spalt verbreiterte sich.

Die Türen gehen auf.

Eine große Gestalt tauchte inmitten des hochofengleichen

Leuchtens auf.

Hildreth, ahnte Clements.

Eine widerhallende Stimme erscholl. Clements war nicht

sicher, ob sie durch seine Ohren oder in seinem Kopf dröhnte.

»Was Sie suchen, ist hier. Kommen Sie herein ... und holen

Sie es sich.«

Clements stand wie vor den Kopf gestoßen da. An der Tür

lag auf einem Boden aus pulsierender Haut eine nackte Frau:

Deborah Rodenbaugh.

»Nur sehr wenigen in der Geschichte ist diese Ehre jemals

zuteilgeworden. Ergreifen Sie die Gelegenheit und betreten Sie

unser Reich. Holen Sie Debbie hinaus, zurück in die Welt, aus

der sie kam – die Welt, die sie erwartet.«

Der Gedanke, mit der Schrotflinte das Feuer zu eröffnen,

kam Clements nicht. Stattdessen legte er die Waffe auf den

Boden und setzte sich in Bewegung.

Bei jedem Schritt, den er nach vorne tat, schien Hildreth zu-

rückzuweichen, obwohl sich seine Füße nicht bewegten, bis er

schließlich in dem höllengleichen Licht aufging.

Tiefer im Tempelinneren nahm etwas Gestalt an. Ein Ge-

sicht, eine so abscheuliche Fratze, dass sie sich in keiner

menschlichen Sprache beschreiben ließ.

Dann betrat Clements den Tempel des Fleisches, den Sitz

des Sexus Cyning, des Herrn der Lust – des Belarius.

XVI

Als Westmore das Südatrium betrat, blieb ihm gerade noch

genug Zeit, um zu sehen, wie sich die Türen des Chirice Flaesc

vollständig schlossen. Enthauptete Leichen hingen von den

Deckenbalken wie makabres Dekor. In einigen Bereichen war

die grüne Velourstapete abgeblättert und gab wieder den Blick

auf die ursprünglichen, mit Blut bemalten Wände frei.

Dies war das echte Scharlachrote Zimmer und Westmore

wusste, dass sich der Spalt während seiner Abwesenheit geöff-

net und wieder geschlossen hatte.

Mack lag mit ausgestreckten Gliedmaßen reglos in der Ecke

neben der Küchentür. Ihm fehlte ein Arm und seine Kleider

waren von einer riesigen Blutlache durchtränkt, die sich um

seinen Körper bildete. Westmore konnte die abgetrennten

Köpfe von Nyvysk, Willis, Adrianne und Connie ausmachen,

die zweifellos als letzte Opfer das Öffnen des Spalts ausgelöst

hatten. Ihr Blut war an die Wände gespritzt worden, um die

Ladung des Hauses zu verstärken.

Auf dem Boden lag eine nackte, bewusstlose Frau.

Debbie Rodenbaugh ...

Sie schien unversehrt zu sein. Westmore konnte sehen, wie

sich ihre Brust hob und senkte. Sie lebt noch, erkannte er.

Clements war es dagegen nicht so gut bekommen, Debbie

über die Schwelle zwischen den beiden Welten zu tragen. Die

schließenden Türen hatten seinen Körper in der Höhe des

Brustbeins in zwei Hälften geteilt. Mausetot.

Aber er hat es immerhin geschafft, sie dort rauszuholen.

Westmore verstaute die Schrotflinte in Clements’ Rucksack,

schlang ihn sich über den Rücken und wuchtete Debbie Ro-

denbaughs Körper vom Boden hoch.

Obwohl sich der Spalt wieder geschlossen hatte und die In-

karnation des Chirice Flaesc gekommen und gegangen war,

verfügte die Villa nach wie vor über einen Teil ihrer Ladung.

Westmore spürte, dass sich die Härchen an seinen Armen und

in seinem Nacken immer noch aufrichteten. Er verließ das

Haus auf direktem Weg und begab sich zum vorderen Innen-

hof, auf dem die Autos parkten. Gott sei Dank habe ich noch

Karens Schlüssel, dachte er.

Als er gerade vorsichtig die Steinstufen vor dem Eingang

hinunterstieg, hielt er jäh inne.

Wo IST Karen?

Er glaubte nicht, sie unter den Leichen im Scharlachroten

Zimmer gesehen zu haben.

Ich kann sie nicht einfach hier zurücklassen...

Dann bemerkte er noch etwas anderes.

Scheiße!

Sämtliche Autos im Hof, darunter auch Karens schwarzes

Cadillac-Cabrio, waren ...

Ruiniert ...

Jemand hatte die Reifen zerstochen, die Motorhauben stan-

den offen und ließen erkennen, dass sämtliche Zündkabel fehl-

ten.

Ich werde zu Fuß von hier verschwinden müssen.

Keine besonders erfreulichen Aussichten. Sollte er etwa eine

60 Kilo schwere junge Frau meilenweit die Hauptstraße ent-

langtragen?

Als Westmore noch einmal genauer hinsah, dachte er: Nein,

nein, nein ...

Behutsam bettete er Debbie auf den geschlossenen Koffer-

raum des Wagens, denn im Inneren lag auf dem Rücksitz Ka-

ren.

Bitte sei nicht tot ...

Er öffnete die Tür, legte eine Hand auf ihre Schulter und hob

sie an. Ihr Kopf rollte zurück.

Nein! Bitte!

Dann durchströmte ihn grenzenlose Erleichterung, als sie

wieder zu Bewusstsein kam. Als Erkenntnis einsetzte, umarmte

ihn Karen.

»Mein Gott. Es war alles wahr. Das Haus ... hat sich verän-

dert.«

»Ja«, bestätigte Westmore.

Karen unterdrückte ein Schluchzen. »Ich hatte solche Angst,

dass ich ins Freie gerannt bin, um abzuhauen, aber die Autos

waren alle lahmgelegt.«

»Ich glaube, das war Mack. Er ist tot und die anderen sind es

auch. Ich vermute, Mack hat sie für so etwas wie einen letzten

Opferungsritus benutzt. Aber ich habe Debbie Rodenbaugh

gefunden. Wir müssen sie von hier wegschaffen.«

Westmore half Karen aus dem Auto. Sie betrachtete erstaunt

Debbies reglosen Körper. Westmore holte aus einem der ande-

ren Wagen eine leichte Jacke und wickelte sie um den Körper

der jungen Frau.

»Wir werden laufen müssen«, stellte Karen fest. »Und sie ist

völlig weggetreten. Warte, ich helfe dir.«

»Du hast recht, es ist alles wahr gewesen«, sagte Westmore,

als sie sich beide je einen von Debbies Armen um die Schulter

schlangen und sie vom Haus wegschleiften. »Und der Spalt,

von dem Nyvysk gesprochen hat – er hat sich geöffnet. Und

Debbie zurück in unsere Welt geschickt.«

»Du meinst, sie ... ist da drin gewesen ... seit dem 3. April?«

»Ja.«

Langsam näherten sie sich der Grundstücksgrenze. Westmo-

re wusste, dass sich der Spalt inzwischen wieder geschlossen

hatte, aber die Villa war ihm nach wie vor nicht geheuer. Der

Vergleich mit einer noch nicht ganz geleerten Batterie, die

nach wie vor über eine gewisse Restenergie verfügte, schien

ihm treffend zu sein.

»Ich habe da drinnen Dinge gesehen«, verriet Karen. »Wei-

tere Wiedergänger. Und ich glaube, ich habe sogar Hildreths

Geist zu Gesicht bekommen.«

»Ich auch. Auf der Treppe. Dann hat mich jemand von hin-

ten niedergeschlagen. Mack, davon bin ich mittlerweile über-

zeugt.« Als sie sich der Dunkelheit des Waldes näherten, fiel

ihm etwas ein ...

»Moment mal! Clements’ Auto!«, stieß er geradezu jubelnd

hervor.

»Wer?«

»Egal. Da drüben ist eine Zufahrtsstraße ...«

»Bist du sicher?«, fragte Karen.

»Ganz sicher. Und dort parkt ein Auto. Wenn die Schlüssel

stecken sollten, können wir damit wegfahren.«

»Dann los!«

Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften Debbie den

Weg entlang. Als sie die schmale Öffnung zwischen den Bäu-

men erreichten, tauchte im Mondlicht Clements’ verbeultes

Oldsmobile auf. Ein 1998er Baujahr, das schon so einiges mit-

gemacht hatte. Westmore reichte Karen aus dem Rucksack eine

Taschenlampe. Bitte, lieber Gott, bitte ... »Sieh nach, ob ...«

Karen leuchtete mit der Lampe in das Fahrzeug. Sie kreisch-

te beinahe vor Freude. »Der Schlüssel steckt tatsächlich!«

Ich schätze, früher habe ich nie wirklich an Gott geglaubt.

Aber jetzt tue ich es, dachte Westmore. Debbie war immer

noch bewusstlos. Sie legten sie auf den Rücksitz, dann kletterte

Westmore hastig hinter das Lenkrad. Karen setzte sich hinten

neben Debbie und zog die Tür zu.

»Was ...«, setzte Karen an. »Was ist mit ihr passiert? Zwi-

schen ihren Beinen?«

»Die haben irgendeine kranke Sadomaso-Scheiße mit ihr

angestellt – Hildreth und seine Leute«, erwiderte Westmore.

»Sie haben Chromringe in ihre ...«

»Da sind keine Ringe ...«

Westmore drehte sich um. Karen hatte die Taschenlampe

eingeschaltet und leuchtete damit auf Debbies Schambereich.

Die Chromringe, die Westmore gesehen hatte und mit denen

auf der DVD ihre Schamlippen versiegelt worden waren, fehl-

ten jetzt. Man hatte sie entfernt. Von jedem war ein ausgefran-

stes Loch zurückgeblieben. Westmore schluckte Übelkeit hin-

unter. »Rausgerissen«, stieß er erstickt hervor. »Es muss pas-

siert sein, als ...«

»Als sie auf der anderen Seite des Spalts war ...«

Denk nicht darüber nach, befahl er sich.

»Sieh nur, sie atmet noch. Ihr Puls ist kräftig und sie blutet

nicht. Schaffen wir sie einfach von hier weg«, schlug Karen

vor.

»Ja.« Westmore berührte den Zündschlüssel. »Weißt du, bei

unserem Glück springt der Wagen wahrscheinlich gar nicht

an.«

Karen erwiderte nichts.

Westmore drehte den Schlüssel und der Motor startete beim

ersten Versuch. Es war das wohl erfreulichste Geräusch, das er

seit Langem hörte. »Na, dann wollen wir mal nach Hause fah-

ren!«

»Ja. Aber ... irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass

das alles zu einfach ist.«

Westmore legte den Gang ein. »Mag daran liegen, dass es

stimmt.« Dann ließen die Hinterreifen des Oldsmobile Erde

und Schotter aufspritzen und der Wagen setzte sich schlingernd

in Bewegung.

Nach Hause, dachte Westmore, während er das Auto durch

die schmale Passage zwischen den Bäumen navigierte.

Louisianamoos baumelte von den niedrigen Ästen herab. Grü-

ne Echsen huschten die Stämme hinauf, als das große Auto mit

brüllendem Motor an ihnen vorbeirollte. Aber nach der näch-

sten Kurve ...

»Verdammt noch mal!«

»Oh Scheiße!«

Westmore trat heftig auf die Bremse.

Ein Baum lag quer auf der Straße.

»Du hattest recht«, sagte Westmore. »Es war zu einfach.«

»Fahr einfach drüber.«

Westmore betrachtete sich den nur etwa 30 Zentimeter brei-

ten Stamm, der allerdings über ein weitläufig verzweigtes

Astwerk verfügte. »Ich könnte es versuchen, aber vielleicht

schaffen wir es nicht. Dann stecken wir hier fest. Der Wagen

könnte aufsetzen oder die Ölwanne verlieren.«

»Scheiße«, stieß Karen erneut hervor. »Ich sage, wir versu-

chen es trotzdem und gehen das Risiko ein.«

Westmore sah auch keine bessere Alternative. Aber als er

gerade mit einem Schulterblick zurücksetzen wollte, um

Schwung zu holen, schrie Karen unvermittelt auf.

Unmittelbar hinter dem Baum war im Strahl der Scheinwer-

fer etwas auf die Straße getreten. Westmores Blick heftete sich

daran.

Es handelte sich nicht um einen Menschen, allerdings um

etwas, das er schon einmal gesehen hatte.

»Das ist eine dieser Kreaturen«, murmelte er leise.

Ein Adiposianer.

Groß, schlank und doch irgendwie kugelförmig durch das in

der Hölle geformte Fett, aus dem ihr abscheulicher Körper ge-

formt war, ragte die Gestalt empor. Sie besaß kein Gesicht und

schien Westmore und Karen trotzdem direkt anzustarren. Die

umrandete Naht, die den Mund bildete, stand offen und ließ

einen großen dicken Zungenlappen erkennen. Zwischen den

Beinen baumelten mächtige, grauenhafte Genitalien.

»Einer der in der Erde vergrabenen Adiposianer!«, kreischte

Karen. »Er wurde wiedererweckt, als sich der Spalt auftat, und

er wird am Leben bleiben, bis die Ladung des Hauses vollstän-

dig aufgebraucht ist!«

Eine der Kreaturen, die Clements und ich vergangene Nacht

ausgebuddelt haben, erkannte Westmore.

»Tu doch was!«, schrie Karen.

Westmore legte den Rückwärtsgang ein, trat das Gaspedal

durch und schaute zurück, was ihn dazu veranlasste, seinen

Fuß voll auf die Bremse zu stellen.

»Scheiße!«

Beide blickten durch das Heckfenster. Im Schein des Rück-

lichts sahen sie, dass ein weiterer Baum gefällt worden war.

»Wir stecken hier fest!«, brüllte Karen. »Und ...«

Ein weiterer Adiposianer näherte sich langsam von hinten.

Dann können wir nur noch eins versuchen, dachte Westmore

und griff sich entschlossen die Schrotflinte aus dem Fonds. Er

sprang aus dem Auto, lief einige Schritte und blieb stehen. Die

gesichtslose Kreatur bewegte sich weiter auf ihn zu. Westmore

bemerkte, dass es sich um ein weibliches Exemplar der Spezies

handeln musste. Brüste wie Knollen aus Fett mit rotzfarbigen

Nippeln, die aufgrund irgendeiner abartigen Erregung aufge-

richtet waren. Die Zunge leckte über geifernde Lippen und die

gespreizte Hand des Ungetüms streichelte hingebungsvoll die

fettige Spalte ihrer Schamlippen.

Dieses Ding hat etwas mit mir vor, befürchtete Westmore. Er

hatte keinen blassen Schimmer, wie man mit einer Schusswaffe

umging, also setzte er die Schrotflinte einfach an der Schulter

an, zielte und betätigte den Abzug.

»Beeil dich und schieß einfach!«, erklang gehetzt Karens

Stimme.

Als er abdrückte, passierte nichts. Vielleicht war Gott doch

nicht auf seiner Seite. Ein Instinkt drängte ihn, den Griff um

die Schrotflinte zu verlagern. Er zog den Schlitten zurück und

schob ihn wieder vor, wie er es mal in einem Western gesehen

hatte, dann zielte er erneut und ...

BUMM!

»Meine Fresse!«

Das Kaliber-12-Magnumgeschoss der Waffe fetzte den blei-

chen Kopf der Adiposianerin vollständig weg und spritzte hei-

ßes Fett in einem Schwall über die Straße. Als das Biest re-

gungslos dalag, schien es zu schrumpfen. Die Masse, die seine

Haut füllte, floss ab. Der Rückstoß rammte den Kolben der

Schrotflinte gegen Westmores Schulter. Er schrie vor Schmerz

auf und wurde gegen den Kofferraum des Oldsmobile ge-

schleudert.

»Der andere!«, warnte ihn Karen.

Mittlerweile hatte der erste Adiposianer den Großteil der

Distanz zwischen ihnen überwunden. Westmore war nicht län-

ger ängstlich, sondern ungemein selbstsicher, als er um den

Wagen herumging, durchlud und ...

BUMM!

... eine weitere Patrone in das strukturlose Fleisch des Ge-

sichts der Kreatur jagte. Unter einem Aufspritzen von Flüssig-

keit brach der Adiposianer zusammen. Der widerlichste Ge-

stank, den Westmore je in die Nase bekommen hatte, erfüllte

die schwüle Luft.

Er stieg zurück ins Auto. »Das hat beinahe Spaß gemacht«,

gab er zu.

»Was jetzt? Der Weg ist immer noch in beiden Richtungen

blockiert.«

Karen hatte recht. Die umgestürzten Bäume bildeten un-

überwindliche Barrikaden, weil sie dem Wagen nicht genügend

Bewegungsspielraum ließen, um Schwung zu holen.

»Ich schätze, wir müssen zu Fuß weiter. Aber ...«

»Da draußen sind mehr als zwei von diesen Ungeheuern«,

gab Karen zu bedenken.

Im behelfsmäßigen Grab hatten drei oder vier gelegen. »Ich

weiß. Ich ...« Dann schoss Westmore ein grausiges Gefühl in

die Magengrube. Er drehte sich um und sah Karen an.

»Nur Clements und ich haben diese Kreaturen ausgegraben.

Wir haben niemandem davon erzählt.«

»Was?«

Sein Blick durchbohrte sie im Licht der Armaturen förmlich.

»Woher weißt du, dass es mehr als zwei von den Ungeheuern

gibt?«

»Scheiße«, flüsterte Karen.

Westmore griff nach der Schrotflinte neben ihm, doch Karen

war schneller und richtete eine Pistole auf seinen Kopf.

»Versuch’s erst gar nicht«, warnte sie ihn. »Ich schwöre bei

Gott, ich bring dich um. Es darf keine Störungen geben.

Wenn’s sein muss, bringe ich Debbie höchstpersönlich zu Vi-

vica.«

Karen griff über den Sitz hinweg und nahm die Schrotflinte

an sich.

»Du Miststück«, spie Westmore ihr entgegen.

»Tut mir leid. Du verstehst das nicht. Ich habe nicht mal

geglaubt, dass irgendetwas davon echt ist«, erklärte sie. »Bis zu

dem Tag nach dem ersten Ritual. Ich habe nur mitgemacht,

weil ich musste.«

»Warum? Warum musstest du?«

»Hildreth und Vivica haben mir mehr Geld geboten, als ich

in meinem gesamten bisherigen Leben verdient habe. Und ich

musste doch meine Tochter beschützen. Verdammt, anfangs

ging ich davon aus, bloß die Spinnereien und Hirngespinste

eines durchgeknallten alten Kerls und seiner Frau zu unterstüt-

zen. Aber ich merkte relativ schnell, dass sie es todernst mein-

ten. Sie haben jeden getötet oder in den Ruin getrieben, der

Hildreths Pläne in die Quere kam. Die haben Debbies Eltern

umbringen lassen und den Obdachlosen getötet, den sie als

Hildreths Leiche ausgaben. Sie haben Leute dafür bezahlt, Ge-

richtsunterlagen zu fälschen, die Polizei und die Zeitungen

geschmiert. Und Clements’ Karriere zerstört. Auch eine Menge

anderer Leute wurden gnadenlos fertiggemacht. Sie brauchten

es mir nicht ins Gesicht zu sagen, Westmore – es war klar wie

Kloßbrühe. Mein Leben stand ebenfalls auf dem Spiel. Hätte

ich mich nicht ans Programm gehalten, wäre ich selbst unter

der Erde gelandet. Ich musste meine Tochter beschützen.«

»Deine Tochter? Die in Princeton? Was hat sie damit zu

tun?«

»Sie ist nicht in Princeton ... ich habe gelogen«, gestand Ka-

ren. »Sie ist in Oxford unter einem falschen Namen einge-

schrieben.«

»Debbie Rodenbaugh«, reimte sich Westmore zusammen.

»Genau. Und ich bin mir sicher, falls ich auch nur daran

denke, die Hildreths zu verraten oder nicht mehr nach ihrer

Pfeife tanze, wäre meine Tochter innerhalb von zwei Minuten

tot.«

»Also waren Mack und du in Wirklichkeit Vivicas Hand-

langer im Haus.«

»Das stimmt. Wir beide haben auch die vier Adiposianer in

der Nacht des 4. April verscharrt. Sie kamen durch, als sich der

Spalt öffnete, und blieben nach dem ersten Ritus mehrere

Stunden lang am Leben, bis die Ladung des Hauses völlig er-

schöpft war.«

»Dann haben Mack und du sicher auch die Frau vom

Schlüsseldienst auf dem Gewissen, was? Und Willis, Adrianne,

Nyvysk und ...«

»Mack vielleicht. Ich habe niemanden umgebracht«, beteu-

erte Karen.

»Du hast bloß weggeschaut.«

Sie schwieg.

»Und was ist mit Cathleen?«, fiel ihm ein. Ihre Leiche hatte

er im Scharlachroten Zimmer schließlich nicht gesehen. »Sie

müsste doch eigentlich auch tot sein.«

»Sie ist bei uns«, sagte Karen.

»Was soll das heißen?«

»Spielt keine Rolle, Westmore. Sie kann Vivica in gewisser

Weise nützlich sein. Vergiss es einfach. Fahr mich mit dem

Mädchen einfach zu ihr. Dann kannst du gehen. Von Hildreths

Frau hast du nichts zu befürchten – sie scheint dich irgendwie

zu mögen ...«

»Wie schön.«

»Und solltest du Ärger machen wollen oder jemandem da-

von erzählen, was heute Nacht hier passiert ist, lässt sie dich

einfach töten. Also vergiss es besser. Das einzige Puzzlestück,

das ihr noch fehlte, waren das genaue Datum und die genaue

Uhrzeit.« Karen kicherte freudlos. »Aber dieses Rätsel hast du

ja für sie gelöst. Mack informierte Vivica, sobald du den Zettel

aus dem Tresor entschlüsselt hattest. Auf eine merkwürdige

Weise warst du der wichtigste Helfer überhaupt, um Hildreths

Plan in die Tat umzusetzen.«

Diese Feststellung gefiel Westmore überhaupt nicht. »Und

was passiert jetzt noch? So ganz durchschaue ich die Sache

noch nicht.«

»Sie«, antwortete Karen und deutete auf Debbies nach wie

vor bewusstlose Gestalt. »Hildreth hat sie herangezüchtet,

wenn du so willst. Er hatte seinen Pakt bereits geschlossen.

Seine Anweisungen waren unmissverständlich. Debbie Ro-

denbaugh verkörpert genau das, was er braucht. Eine naive,

unschuldige Jungfrau. Der erste Ritus am 3. April hat den Spalt

zu Belarius’ Tempel geöffnet und Debbie zu ihm geschickt.

Seither ist sie dort gewesen. Und heute Nacht sind seit dem

ersten Ritual exakt 666 Stunden vergangen. Der Spalt hat sich

erneut aufgetan und ...«

»Und Debbie kehrte zurück«, dämmerte es Westmore all-

mählich. Endlich verstand er den Zweck der mittlerweile feh-

lenden Chromringe. Belarius hatte sie herausgerissen ... »Und

jetzt ist sie schwanger.«

»Richtig. Also fahr mich mit ihr zu Vivica und setz dich

dann ab. Du kannst ohnehin nichts dagegen tun.« Karen drück-

te die Pistole gegen seinen Hinterkopf. »Sonst müsste ich dich

abknallen, und das will ich nicht, weil ich dich auch immer

gemocht habe.«

Westmore erkannte, dass es sich bei ihrer Waffe um die Pi-

stole aus der Schreibtischschublade im Büro handelte. Hätte sie

vorne neben ihm gesessen, wäre er vielleicht das Risiko einge-

gangen, sie ihr wegzureißen, aber auf dem Rücksitz ...

Ich wäre im Bruchteil einer Sekunde tot.

»Fahr los. Gib Gas und fahr über den vorderen Baumstamm

drüber.« Sie lächelte strahlend. »Du schaffst das. Du bringst

uns Glück.«

Westmore sah zunächst keine andere Möglichkeit, aber kurz

darauf kam ihm das Schicksal zur Hilfe.

Die Seitenscheibe der Hecktür zersplitterte nach innen. Ka-

ren schrie unter einem Regen aus Glasscherben auf, mehrere

ohrenbetäubende Schüsse wurden in die Luft abgefeuert. Pul-

verqualm füllte das Innere des Wagens aus. Als sich Westmore

in dem Chaos umsah, stellte er fest, dass die beiden anderen

Adiposianer tatsächlich noch lebten.

Sie hatten das Fenster eingeschlagen und griffen nach Karen.

Ihre Pistole fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. »Hilf

mir!«, kreischte sie schrill. »Westmore, hilf mir!«

»Nicht heute Nacht«, gab er zurück und trat das Gaspedal

voll durch.

Als sich der Wagen in Bewegung setzte, wurde Karen nach

draußen gezogen. Westmore ersparte sich den Blick in den

Rückspiegel – er wollte nicht sehen, was mit ihr passierte. Das

große Fahrzeug raste die Straße entlang und holperte mit einem

gewaltigen Ruck über den umgestürzten Baum. Westmores

Schädel schlug wuchtig gegen das Autodach, aber dann hatte er

es geschafft: Das letzte Hindernis war überwunden.

Westmore fuhr davon, während Deborah Rodenbaugh nach

wie vor bewusstlos, aber lebend auf dem Rücksitz lag.

Epilog

Seattle, neun Monate später

I

Westmores erster Kater seit fast vier Jahren erwies sich un-

zweifelhaft als der schlimmste seines ganzen Lebens. Warum

trinken die Menschen?, fragte er sich. Als er vom Bett auf-

schaute, saß Debbie auf der altersschwachen Couch, futterte

Kekse und sah fern. Sie trug einen Morgenmantel. Ihr schwan-

gerer Bauch ruhte wie ein mächtiger Beutel auf ihrem Schoß.

Noch im Halbschlaf streifte er sich ein T-Shirt über und angelte

nach seinen Zigaretten. »Guten Morgen ... äh, ich meine,

Mahlzeit.«

»Guten Abend wäre passender«, berichtigte sie ihn, ohne den

Blick vom Fernseher abzuwenden. Das kann nicht ihr Ernst

sein. Er öffnete die Tür und trat hinaus. Hinter der schmalen

Veranda ihres armseligen Zimmers prasselte der Regen von

Seattle in all seiner Pracht herab. In keinem anderen Zimmer

des Motels brannte Licht. Debbie und er schienen die einzigen

Gäste zu sein. Tatsächlich war bereits der Abend angebrochen.

Du meine Güte, habe ich echt 24 Stunden lang im Bett gele-

gen? Das nenne ich mal einen Rausch ausschlafen!

Westmore fühlte sich unverantwortlich und nutzlos. Er

musste Debbie doch beschützen. Und zwar so lange, bis ...

Er beobachtete, wie auf der regennassen Straße die Autos

vorbeizogen. Die Schnellstraße lag nur 20 Meter von dem

schäbigen Motel entfernt, in dem sie sich einquartiert hatten.

Das schnelle, kratzige Zischen der Reifen half ihm zwar, den

Kopf freizubekommen, Trost bot es jedoch wenig. Ich habe

lange genug den Kopf in den Sand gesteckt, dachte er. Späte-

stens morgen wird sie das Kind zur Welt bringen.

Und was dann?

Westmore kannte die Antwort auf diese Frage bereits.

Lautes Hupen ertönte, als sich wenige Meter entfernt beina-

he ein Unfall ereignete. Als ein Bus mit deutlich überhöhter

Geschwindigkeit vorbeirauschte, pflügten seine Reifen durch

eine Pfütze und wirbelten einen gewaltigen, schwarzen Was-

serschwall vom Asphalt auf.

Westmore ging wieder hinein und schloss die Tür hinter

sich.

Eine ausgiebige Dusche brachte ihn wieder unter die Leben-

den zurück. Trotzdem blickten ihm aus dem Spiegel blutunter-

laufene Augen entgegen. Scheiße ... Westmore spielte mit dem

Gedanken sich zu rasieren, verwarf die Idee jedoch, als er be-

merkte, wie heftig seine Hände zitterten.

Schwere, getragene Pianomusik drang aus einem kleinen

Uhrenradio auf der Fensterbank. Irgendwie fühlte er sich da-

durch weniger wie ein Versager. Eigentlich hatte er ja nicht

wirklich versagt, oder? Er war so weit gekommen und be-

schützte Debbie, so gut er konnte. Sein einziger Fehltritt war

ein Rückfall gewesen. Könnte schlimmer sein, befand er.

Westmore wusste, dass er auf keinen Fall die Nerven verlie-

ren durfte, wenn sie das Baby zur Welt brachte.

Seine frischen Klamotten hatte er mit ins Badezimmer ge-

nommen – er fühlte sich nach wie vor nicht wohl dabei, split-

terfasernackt vor ihr herumzulaufen. In seinem verkaterten

Zustand bedurfte es einiger Anstrengung, in die Hose zu

schlüpfen. In dem schmalen Spalt zwischen Dusche und

Waschbecken kippte er um ein Haar um. Seine Hose war noch

nicht vollständig trocken; er fühlte, dass die Pistole noch in der

feuchten Tasche steckte. Schließlich kämmte er sich die Haare,

putzte sich die Zähne und gurgelte. Der nächste Blick in den

Spiegel stimmte ihn deutlich optimistischer. Wenigstens sehe

ich nicht mehr wie ein Toter aus.

Als die letzten Töne des Klavierkonzerts verklangen, verließ

Westmore das Badezimmer ... und sah sich mit einer Pistole

vor dem Gesicht konfrontiert.

»Setzen Sie sich.«

Westmore gehorchte. In der rechten Hand hielt Mack eine

ziemlich große Knarre. In der Linken hielt er nichts ... denn er

hatte weder eine linke Hand noch einen linken Arm. Narben

von den Schrotkugeln eines Kaliber-12-Geschosses überzogen

eine Hälfte seines Gesichts.

»Offenbar hat Clements Sie nur knapp verfehlt«, konstatierte

Westmore.

»Belarius beschützt diejenigen, die sich vor ihm verneigen.«

Mack grinste. »Heute ist eine ganz besondere Nacht.«

Debbie hockte mit schreckgeweiteten Augen auf dem Bett.

Jemand leistete ihr auf der Matratze Gesellschaft.

»Denk gar nicht daran, abzuhauen, Herzchen«, sagte Vivica

Hildreth. »Dir werden wir nichts antun. Bei deinem Freund,

Mr. Westmore, sieht die Sache schon anders aus.«

Diamanten funkelten um den Hals der Millionärin, im

v-förmigen Ausschnitt ihres Burberry-Regenmantels. Außer-

dem trug sie die ausgefallenen, mit Edelsteinen besetzten Flip-

flops, die sie schon an dem Tag getragen hatte, als Westmore

sie in ihrem Penthouse kennenlernte. »Schön, Sie zu sehen, Mr.

Westmore. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet, unseren

kostbaren Schatz zu beschützen.«

»Debbie?« Dann sagte Westmore etwas zutiefst Albernes.

»Sie müssen mich schon umbringen, um sie mitzunehmen.«

Sowohl Mack als auch Vivica lachten.

»Alles hat perfekt funktioniert.« Vivicas Augen funkelten im

Einklang mit den Diamanten. »Und auf Ihre Weise haben Sie

erheblich dazu beigetragen.«

»Wir sind Ihnen etwas schuldig«, meinte Mack nach wie vor

grinsend.

»Und dasselbe gilt für unseren Herrn ...«

Westmore seufzte. »Wie haben Sie mich gefunden? Ich habe

immer nur bar bezahlt, nie eine Kreditkarte benutzt, und wir

haben nur in Absteigen übernachtet, in denen man beim Ein-

checken keinen Ausweis vorzeigen muss. Wir ziehen seit neun

Monaten durchs ganze Land, ohne Spuren zu hinterlassen.«

»Tja, wie haben wir Sie gefunden?«, wiederholte Vivica die

Frage gedehnt. Sie lächelte Mack an. »Zeig es ihm.«

Mack öffnete die Eingangstür und rief jemandem zu:

»Komm rein.« Eine zarte Gestalt in dunkler Regenjacke betrat

das Zimmer. Zuerst erkannte Westmore sie nicht.

»Cathleen?«

Ausdruckslose Augen musterten ihn. Sie wirkte abgemagert

und das einst hellblonde Haar war strähnig und von grauen

Schlieren durchzogen.

»Um Himmels willen, was ist mit Ihnen passiert?«

»Oh, wir haben sie mit Heroin für unsere Sache gewonnen«,

antwortete Mack. Er schob einen ihrer Jackenärmel hoch, wo-

durch hässliche Ansammlungen von Nadeleinstichen zum

Vorschein kamen. »Wir kontrollieren das kleine Miststück

nach Belieben.«

Bei dieser Bemerkung schaute Cathleen auf. Verachtung trat

in ihre stumpfen Augen.

»Weil wir gerade davon reden«, fuhr Mack fort. »Es ist fast

an der Zeit für sie, sich einen weiteren Schuss zu setzen. Sie

können gerne dabei zusehen, Westmore.«

»Sie ist von Natur aus eine suchtanfällige Persönlichkeit«,

meldete sich Vivica zu Wort. »Abhängigkeit liegt ihr im Blut.

Jetzt ist es eben Heroin statt Sex. Seit sie unter unserer Kon-

trolle steht, hat sie sich als recht nützlich erwiesen.«

»Mein Gott, Cathleen«, stieß Westmore stöhnend hervor.

»Wie konnten Sie zulassen, dass die Ihnen das antun?«

»Es tut mir leid«, flüsterte Cathleen und senkte beschämt den

Kopf.

»Sie ist ziemlich schnell umgekippt«, sagte Mack. »War ein

Kinderspiel. Und außerdem hat sie einen tollen Knackarsch.

Sie hätten die Gelegenheit nützen sollen, als Sie in der Villa in

einem Raum übernachtet haben.«

Ein weiterer hasserfüllter Blick von Cathleen traf Mack.

»Sie haben immer noch nicht meine Frage beantwortet«,

erinnerte ihn Westmore. »Wie haben Sie Debbie und mich ge-

funden?«

»Cathleen ist zwar berühmt für ihre Tricks beim Verbiegen

von Löffeln, aber für uns waren ihre anderen Talente wesent-

lich praktischer«, erwiderte Vivica.

Westmore lächelte gequält. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Sie ist nicht nur ein Medium, Mr. Westmore. Das wissen

Sie. Und sie beherrscht auch nicht nur Telekinese und Wahr-

sagen.«

»Sie beherrscht Divination, Arschloch«, stellte Mack klar.

»Sie kann mit ihren Gedanken Dinge aufspüren.«

Vivica schlug anmutig die Beine übereinander und fügte

hinzu: »Das Heroin hat zerstört, was von ihren telekinetischen

und medialen Kräften noch übrig war. Aber Cathleen kann

immer noch in die Zukunft blicken. Wir haben sie einfach ge-

zwungen, uns zu verraten, wo Sie sich am heutigen Tag auf-

halten.« Die Frau streichelte Debbie auf eine Weise das Haar,

die beinahe mütterlich anmutete. »Und heute Nacht holen wir

unsere kostbare Debbie zurück – für das Wunder, dass Belarius

und sie uns bescheren werden.« Ihr aristokratisches Gesicht

richtete sich auf Westmore. »Zu schade, dass Sie nicht mehr

am Leben sein werden, um die Geburt des Sohnes unseres

Herrn mitzuerleben. Aber Sie werden in die Geschichte einge-

hen, Mr. Westmore – als Beschützer der ersten Mutter der

Hölle, als Akoluth des Belarius und als Wegbereiter des ersten

Kindes, das jemals in der Hölle gezeugt wurde.«

Westmore starrte sie nur an.

»Wir wussten schon vor einigen Tagen, dass Sie hier sein

würden«, fuhr Vivica fort. »Kam es Ihnen nicht seltsam vor,

dass niemand sonst in diesem Motel wohnt?«

»Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Wir haben hier jedes Zimmer außer Ihrem gebucht.«

»Warum?«

»Damit es niemand hört, wenn ich Ihnen das Gehirn wegpu-

ste, Sie Genie«, erklärte Mack kichernd.

Westmores Schultern sackten herab. Was soll ich jetzt bloß

tun? Das Einzige, was ihm blieb, war, Zeit zu schinden. »Kann

ich wenigstens noch eine Zigarette rauchen?«

»Der letzte Wunsch des Verurteilten«, scherzte Vivica.

»Selbstverständlich.«

»Aber erst«, schränkte Mack ein, » nachdem ich Ihnen Ihr

Schießeisen abgenommen habe.« Damit fasste er in Westmores

Tasche und holte den kleinen Revolver heraus. Er legte die

Waffe auf der schäbigen Kommode ab. »So. Damit Sie auf

keine dummen Gedanken kommen.«

Verdammt. Westmore zündete sich eine Zigarette an und

inhalierte tief.

Cathleen sah ihn unverwandt an.

Was hat sie denn?, fragte er sich.

Sie vollführte mit den Augen eine unmerkliche Geste.

Westmores Erregung brodelte in seinen Eingeweiden wie ein

Topf mit kochendem Wasser. Was wollte Cathleen ihm damit

sagen? Als er die Asche der Zigarette in den Glasaschenbecher

abklopfen wollte ...

Heilige Scheiße!

... schoss der Aschenbecher wie von einem Katapult abge-

feuert quer durch den Raum. Bevor Mack begriff, was passier-

te, krachte ihm der Aschenbecher mit voller Wucht ins Gesicht.

Eine abgerundete Glasecke traf ihn mitten ins Auge.

Macks Pistole fiel ihm aus der Hand. Westmore hechtete los.

»Du Miststück!«, brüllte Mack. Blut strömte aus einem Auge

über sein Gesicht.

Vivica war aufgesprungen. »Verräterische Hure!«

»Debbie!«, schrie Westmore, als er auf Macks Pistole auf

dem Boden zustürzte. »Hau sofort ab!«

Sie sprang wie befohlen vom Bett auf. Vivica kreischte und

wollte sie packen, aber im selben Augenblick fixierte der Blick

von Cathleen einen großen Spiegel über der Kommode. Er lö-

ste sich von der Wand und zerbarst über Vivicas Kopf. Die

Frau fiel zu Boden.

Als Westmore die Hand nach der Pistole auf dem Teppich

ausstreckte ...

»Auaaa!«

... stampfte ihm Mack heftig auf die Finger, bevor er die

Waffe wegtrat. Dann hechteten beide gleichzeitig der Pistole

hinterher.

Mack erreichte sie als Erster.

Er lag auf dem Bauch, hatte die Hand am Abzug.

»Cathleen!« Westmore deutete auf die andere Waffe, die auf

der Kommode lag.

Die Pistole flog in seine Richtung. Aha, ihre telekinetischen

Kräfte sind also zerstört, was?, dachte Westmore. Er fühlte

sich herrlich, als er die Pistole aus der Luft auffing und Mack

mit einem ohrenbetäubenden Knall ansatzlos in den Rücken

schoss.

Mack sackte zusammen. »Sie Stück Scheiße«, stieß er müh-

sam hervor. »Man schießt einem Mann nicht in den Rücken.«

Westmore schoss ihm erneut in den Rücken ...

PENG!

... und dann noch einmal.

PENG!

Ein letzter Schuss zertrümmerte Macks Hinterkopf.

Dann dachte Westmore: Debbie ...

Er reichte Cathleen die Waffe. »Bewachen Sie Vivica! Ich

hole Debbie.«

Das Weiß ihrer Augen war nach dem intensiven Einsatz der

telekinetischen Kräfte von blutroten Adern durchzogen. Mack

ergriff Westmores Handgelenk. »Sie ... werden es nicht schaf-

fen ...«

Westmore riss sich von ihm los und rannte aus dem Motel.

Regen prasselte auf ihn ein. Wo ist sie? Der Lärm des Ver-

kehrs auf der nassen Schnellstraße hörte sich für ihn ohrenbe-

täubend laut an. Dann entdeckte er sie, völlig durchnässt.

Sie stand unmittelbar am Rand der Schnellstraße.

»Debbie! Nicht!«

Sie drehte sich um und sah ihn an. Nackte Angst sprach aus

ihren Augen.

»Bitte! Tu’s nicht!«, brüllte Westmore erneut durch den Re-

gen.

Kraftlos stand sie da und hob unterbewusst eine Hand an

ihren Bauch. »Ich muss. So oder so könnte ich es nicht ertra-

gen, weiterzuleben.«

»Bring es zur Welt! Dann töte ich es!«

Der Regen hatte ihre Frisur in eine wirre Ansammlung

schwarzer Strähnen verwandelt. Sie schüttelte den Kopf. »Das

könnte ich mir niemals verzeihen.«

Die Wörter explodierten förmlich aus Westmores Kehle.

»ES IST KEIN BABY!«

Debbie lächelte matt, drehte sich um und trat auf die Fahr-

bahn. Sofort wurde sie von einem Sattelzug erfasst, der mit

fabrikneuen Luxuslimousinen beladen war. Dem Fahrer blieb

nicht einmal Zeit zu hupen.

Nach einem flüchtigen Blick auf Deborah Rodenbaughs

Körper, der von den mächtigen Rädern regelrecht zermatscht

wurde, wandte sich Westmore ab.

Ich vermute, das war es, was sie von Anfang an wollte,

dachte er, als er zurück ins Zimmer ging. Cathleen brauchte ihn

nicht zu fragen. Sie gab ihm die Pistole zurück. Vivica lag im-

mer noch ohnmächtig in der Ecke in einem Meer von Scher-

ben.

»Es ist vorbei«, verkündete er.

Cathleen zögerte. »Haben Sie ... es gesehen?«

»Nein.«

Westmore hob den blutverschmierten Aschenbecher auf und

zündete sich eine weitere Zigarette an. »Fahren wir nach Hau-

se«, schlug er erschöpft vor.

Cathleen standen die Tränen in den Augen. »Ich bin völlig

im Arsch, Westmore. Ich glaube nicht, dass ich es schaffe.«

»Blödsinn. Wenn Sie mit der Kraft Ihrer Gedanken Aschen-

becher durch einen Raum schleudern können, dann kommen

Sie auch von Drogen los. Ich kümmere mich um Sie.«

Cathleen schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns.

»Aber was machen wir mit ihr?«, fragte er.

Vivica kam in der Ecke gerade zu sich. Ihre Augen funkel-

ten, der Rest ihres Gesichts jedoch wirkte völlig gefasst. »Sie

glauben, Sie haben gewonnen – aber das haben Sie nicht.«

»Ich würde Sie echt liebend gern umbringen«, sagte West-

more. »Sie sind ein abgrundtief böser Mensch. Sie sind eine

Mörderin und eine kaltherzige, berechnende Schlampe.«

»So wie mein Ehemann bin ich eine unerschütterliche Die-

nerin des Belarius, Mr. Westmore. Und Sie haben diese

Schlacht nicht gewonnen. Mack und Karen waren nicht meine

einzigen Helfer. Es gibt noch viele weitere.«

Westmore fühlte sich unbeschreiblich müde. »Wovon reden

Sie?« Dann überlegte er es sich anders. »Nein, halten Sie ein-

fach die Klappe. Es interessiert mich einfach nicht.« Damit hob

er die Pistole an und jagte Vivica eine Kugel in den Bauch.

Sowohl Westmore selbst als auch Cathleen zuckten beim

Knall des Schusses zusammen.

Vivica krümmte sich kurz vornüber, dann gelang es ihr, sich

noch einmal aufzurichten und ihm ein unerklärliches Lächeln

zu schenken. Sie schüttelte den Kopf und presste erstickt her-

vor: »Ich werde im Tempel meines Herrn ewig leben.«

»Nein. Sie werden sterben, und zwar in einem lausigen klei-

nen Motel in Seattle ...« Westmore feuerte eine weitere Kugel

in ihren Bauch. »Du meine Güte! Hoffentlich alarmieren die

Nachbarn nicht die Polizei!«

Trotz allem gelang es Vivica noch immer, ihr Lächeln auf-

rechtzuerhalten, so blutig es auch sein mochte. »Belarius ...

bring mich nach Hause ...«

»Noch etwas«, fügte Westmore in anklagendem Tonfall

hinzu. Er starrte auf Vivicas Füße. »Diese Flipflops sehen ab-

solut idiotisch aus ... aber ich wette, einem Juwelier dürften die

Diamanten eine hübsche Stange Geld wert sein.«

Ein letzter Schuss schlug ein Loch in Vivicas Stirn.

Westmore zog ihr die Flipflops aus und löste die Edelsteine

von den Riemen. Danach nahm er Vivicas Halskette, Ringe

und Geldbörse sowie Macks Brieftasche an sich.

Cathleen wirkte schockiert. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie

zu so etwas fähig sind.«

»Bin ich im Grunde auch nicht. Ich habe diesen ganzen Mist

nur wirklich satt und will endlich nach Hause.« Er half ihr auf

die Beine. »Kommen Sie, gehen wir zur Bushaltestelle.«

Die Leichen einfach zurückzulassen, würde keine Probleme

verursachen. Er hatte beim Einchecken keinen Ausweis vorge-

zeigt. In Vivicas Geldbörse befand sich neben Kreditkarten

reichlich Bargeld, in ihrem Mietwagen entdeckten sie ein wei-

teres Bündel Scheine.

Minuten später brausten Cathleen und er durch den Regen

davon.

Die Scheibenwischer bewegten sich rhythmisch über die

Windschutzscheibe. Cathleen lehnte den Kopf an Westmores

Schulter.

»Mit einem hatte sie allerdings recht«, murmelte Cathleen.

»Womit?«

»Wir haben nicht wirklich gewonnen. Es gibt wirklich noch

weitere Helfer in ihrem Zirkel. So ist es bei reichen Leuten

immer. Sie befinden sich im Augenblick alle in der Villa.«

Westmore warf ihr im Licht des Armaturenbretts einen ver-

wirrten Blick zu. »Wie meinen Sie das?«

Sie stieß einen langen, frustrierten Atemzug aus. »Debbie

Rodenbaugh war ihre ideale Wahl – sie war diejenige, die

Hildreth für das Ritual vorbereitet hatte. Allerdings gab es eine

Art Plan B ...«

Lediglich das Flackern von Kerzen erleuchtete die Villa.

Debbie Rodenbaugh war nicht als einzige Jungfrau vor neun

Monaten, am 3. April, durch den Spalt getreten.

Die Hebammen und weiteren Helfer scharten sich um das

große Himmelbett, das nach unten ins Scharlachrote Zimmer

gebracht worden war. Darauf lag Faye Mullins und verkrampf-

te sich in den ersten Geburtswehen, um ihr Kind zur Welt zu

bringen.

Sofern man das, was aus ihr herauskrabbeln würde, über-

haupt als Kind bezeichnen konnte...

Edward Lee

www.edwardleeonline.com

Edward Lee (geboren 1957 in Washington, D. C.). Nach Sta-

tionen in der U.S. Army und als Polizist konzentrierte er sich

lange Jahre darauf, vom Schreiben leben zu können. Während

dieser Zeit arbeitete er als Nachtwächter im Sicherheitsdienst.

1997 konnte er seinen Traum endlich verwirklichen. Er lebt

heute in Florida.

Er hat mehr als 40 Romane geschrieben, darunter den Horror-

thriller Header, der 2009 verfilmt wurde. Er gilt als obszöner

Provokateur und führender Autor des Extreme Horror.

Bighead wurde das »most disturbing book« genannt, das je-

mals veröffentlicht wurde. Mancher Schriftsteller wäre über

solch eine Einordnung todunglücklich, doch nicht Edward Lee

– er ist stolz darauf.

Edward Lee bei FESTA:

Haus der bösen Lust – Bighead – Creekers – Flesh Gothic –

Der Besudler auf der SchwelleDas Schwein

Ein brutaler, obszöner Thriller

Nachdem sein Großvater gestorben ist, sitzt Bighead ganz al-

leine in der Hütte irgendwo im tiefen Wald von Virginia. Als

das letzte Fleisch verzehrt ist, treibt ihn der Hunger hinaus in

die »Welt da draußen«, von der er bisher nur von seinem Opa

gehört hat...

Wer oder was ist Bighead? Wieso hat er einen Kopf so groß

wie eine Wassermelone? Ist er ein mutierter Psychopath? Was

er auch immer ist, Bighead ist unterwegs und hinterlässt eine

Spur aus Blut und Grauen.

Info und Leseprobe: www.Festa-Verlag.de