Yashas Reise zu den Liaweps wurde zu einem salzigen und sehr nassen Erlebnis. Der leichte Wind, der ihn auf Cabeluda wie eine Feder hochgehoben hatte, traf mitten über dem Pazifischen Ozean auf einen tropischen Wirbelsturm, einen Zyklon. Gierig riss der starke Zyklon das leichte Lüftchen, auf dem Yasha herangeschwebt kam, mit sich.

Dicke, feuchte

Wolkenmassen wirbelten

um Yasha herum und große, warme Regentropfen prasselten auf ihn ein. Furchtsam drückte Yasha den Talisman an sich. Er durfte ihn auf keinen Fall verlieren! Endlich sah er Land, dichten Urwald und schroffe Berge, die von zerklüfteten Tälern durchzogen wurden. Der heftige Sturm drückte die Bäume und Sträucher flach auf den Boden.

Während Yasha noch rätselte, über welchem Land er sich befand, wurde der Talisman sehr warm. Irritiert sah der Junge auf ihn herab, da war es auch schon passiert. Unsanft schlug Yasha mitten in die nassen Büsche. Fluchend befreite er sich aus den Schlingpflanzen und wischte mechanisch die schmutzigen Hände an seiner Hose ab. Um ihn herum ragte eine dichte Wand aus grünen Blättern auf. Verärgert sah der Junge auf den Talisman herunter und murmelte: »Super, da hast du mir wieder etwas eingebrockt. Ich sehe nirgendwo einen Weg. In welche Richtung soll ich gehen?« Aber der Talisman leuchtete Yasha nur aufmunternd zu und überließ es dem Jungen, den Weg zu finden. Der Regen hörte auf. Kaum hatte sich die dichte Wolkendecke verzogen, begann die Sonne jeden Regentropfen aus dem Dschungel herauszubrennen. Nebel stieg vom Boden auf und die feuchte Hitze wurde unerträglich. Seit Stunden kämpfte sich Yasha schon durch den Dschungel. »Eine winzige Pause, nur eine ganz kurze!«, dachte er und setzte sich erschöpft auf den Boden.

Yasha erwachte mit einem komischen Gefühl im Bauch. Als er vorsichtig die Augen öffnete, sah er vier dicke, schwarze Männer, die sich über ihn beugten und ihn mit gierigen Blicken musterten! Er hatte die Liaweps gefunden oder besser sie ihn. Sofort schoss ihm die Nachricht durch den Kopf, die seine Mutter in den Diamanten geritzt hatte: »Sie trinken aus Menschenschädeln.« »Welch ein Glück, dass mein Vater noch ein Stein ist! Das wäre ich jetzt auch gern!«, dachte Yasha.

In Abenteuerbüchern hatte er Geschichten über Menschenfresser gelesen, die auch »Kannibalen« genannt werden. Kannibalismus gibt es bei sehr primitiven Volksstämmen. Sie glauben, dass sie, wenn sie einen Menschen aufessen, genauso klug, groß und schön wie ihre Opfer werden. Dass Yasha jemals echten Kannibalen begegnen würde, hätte er niemals für möglich gehalten. Die vier Eingeborenen sahen furchteinflößend aus. Sie trugen seltsame Ketten und hatten sich Narben ins Gesicht geritzt, die wie Katzenschnurrbärte aussahen. Ihre fleischigen Nasen waren durchbohrt und mit farbigen Steinstiften geschmückt, die wippten, wenn sie redeten. Ihre bunt bemalten Gesichter und Körper sahen eindrucksvoll aus und sie kleideten sich nur mit einem Bananenblatt, ansonsten waren sie splitterfasernackt. Kein Wunder bei dieser unerträglichen Hitze! Das also waren die Liaweps!

Die vier Liaweps

starrten auf

Yasha herunter. Der Junge wurde immer unsicherer und ihm schossen allerhand unerfreuliche Gedanken durch den Kopf. Hoffentlich hielten diese Männer ihn nicht für ein Geschenk, das extra für ihren Kochtopf vom Himmel gefallen war. »Hallo, ich bin Yasha!«, stammelte er, in der Hoffnung, sein Talisman würde dafür sorgen, dass er die Sprache dieses Naturvolkes sprechen konnte. Aber das schien nicht der Fall zu sein, denn die vier Liaweps fingen zu kichern an. Was sie dann sagten, klang ungefähr so: »Bilo sibi. Ha! Bilo-li-hayo-samo bi! Mo mo milo!«

Nachdem die vier kurz miteinander geflüstert hatten, packten sie Yasha an Armen und Beinen. Der Junge wehrte sich verzweifelt, doch das beeindruckte die Männer nicht. Sie trugen Yasha mühelos durch den dichten Dschungel. Es dauerte nicht lange, bis sie ein kleines Urwalddorf erreichten.

Unter den neugierigen Blicken der Dorfbevölkerung wurde der Junge in eine Hütte getragen. Dort legten die Männer Yasha unerwartet sanft in eine Hängematte und verschwanden. Eine Weile beobachtete der Junge zwei schwarze Schmetterlinge, die unter dem Dach der Hütte herumflatterten, dann fielen ihm trotz seiner Angst die Augen zu.

Schrilles Kreischen und dumpfe Trommelschläge weckten Yasha. Es war stickig und heiß in der kleinen Hütte. Aus dem Halbdunkel starrten ihn schwarze Gesichter mit kugelrunden Augen und weiß leuchtenden Zähnen an. »Samo sibi! Mo mo milo!«, sangen die Liaweps und wogen sich im Takt der Trommeln. »Samo sibi! Mo mo milo!« Plötzlich verstummten die Trommeln und die Eingeborenen wichen hastig zur Seite. Yasha spürte einen leichten Lufthauch. Der Häuptling erschien. In der Hand trug er ein Zepter, auf dessen Spitze ein ausgeblichener Schädel steckte. Begleitet wurde er von vier Jünglingen, die ihm mit ihren riesigen Fächern aus schillernd bunten Federn Luft zufächelten.

Neugierig beugte sich der Häuptling über Yasha und rieb seine knollige Nase heftig an dessen Nase. Yasha erstickte fast, diese Begrüßung war sehr eklig. Dann begann der Häuptling, Yasha sorgfältig abzutasten. Seine Arme, seinen Bauch, seine Beine, seine Füße. Es kitzelte furchtbar und Yasha musste gegen seinen Willen lachen. Da lachten alle Umstehenden mit und drängelten sich näher um die Hängematte. Unzählige Hände griffen nun nach Yasha, während der Gesang »Mo mo milo …« wieder einsetzte. »Das heißt wohl gut genährt?«, dachte Yasha ängstlich und versuchte sich gegen die vielen Hände zu wehren. Der Häuptling knurrte böse und schlug mit seinem Zepter auf die vorwitzigen Hände seiner Leute. Augenblicklich zogen sie sich zurück.

Plötzlich griff der

Häuptling

nach Yashas Talisman. Sorgsam verglich er ihn mit den vielen Glücksbringern, die er selber trug. Yasha war unendlich erleichtert, als der Häuptling den Talisman uninteressiert losließ, um laut zu verkünden: »Mo mo milo!« Damit schien das Ritual abgeschlossen zu sein, denn alle verließen singend die Hütte. Alle bis auf die vier Jünglinge mit ihren Fächern. Sie nahmen rund um Yashas Hängematte Aufstellung und fächelten ihm Luft zu. Das war bei der Hitze, die hier herrschte, so angenehm, dass Yasha nach einer Weile einschlief.

Von nun an wurde Yasha jeden Tag in einer Sänfte im Dorf herumgetragen. Seine Versuche aus der Sänfte zu steigen, verhinderten die Fächerjünglinge. Er durfte nicht selber laufen. Ständig fütterte ihn jemand mit Obst und unbekanntem Gemüse, das die Dorfbewohner extra für ihn zubereiteten. »Das soll mich wohl zart machen?«, dachte er und sagte laut: »Ja, zart und dick soll ich für euren Kochtopf werden. Mo mo milo!« Die Fächerjünglinge nickten eifrig. Yasha schauderte es. Kurz bevor die Sonne unterging, brachten ihn seine Bewacher zurück in die Hütte. Eines Abends wartete dort ein fremder Junge. Ängstlich schaute er auf. Einer der Fächerjünglinge erteilte dem Jungen ein paar Befehle. Dann verließen die Eingeborenen eilig die Hütte.

Neugierig musterte Yasha seinen neuen Gefährten. Er sah nicht wie ein Eingeborener aus, seine Haut war sehr viel heller und sein Körper war nicht bemalt. Über dem linken Auge war eine weiße Muschel mit einer Schnur befestigt. Seine Haare hatte der weiße Junge oben auf dem Kopf zu einem Zopf gebunden. Als die Schritte der Fächerjünglinge verklungen waren, schien die Angst des Jungen wie weggeblasen und er sprach Yasha an: »Ich bin Valo. Wie heißt du?«

Yasha konnte es kaum fassen, dass er endlich jemanden hatte, mit dem er reden konnte. Der weiße Junge erzählte ihm, dass er und seine Eltern, die den Dschungel von Papua-Neuguinea erforschen wollten, von den Liaweps überfallen worden waren. Seine Eltern wurden vor seinen Augen getötet und verspeist. Ihn hatten die Liaweps mit in ihr Dorf verschleppt. Verschwörerisch deutete Valo auf die weiße Muschel: »Nur das Auge haben sie …« Yasha war entsetzt, trotz der Hitze lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Eine Weile sagte keiner der beiden ein Wort, denn als hätte er Yashas Gedanken gelesen, berichtete Valo von den geheimnisvollen Ritualen, die jeden Abend im Dorf abgehalten wurden: »Sie haben einen neuen Gott, den sie anflehen, ihnen zu helfen. Bei der Ernte, wenn jemand krank ist und zum Schutz gegen die schlimmen Stürme! Ihr Gott ist eine große steinerne Statue, die wie ein Mensch aussieht.«

Der Talisman

begann

zu glühen, während Valo weitersprach: »Vor einiger Zeit kam ein Pirat ins Dorf, er war riesig groß. Der Pirat war ein starker Krieger. Niemand hätte ihn besiegen und aufessen können. Darum wurde er als Gast im Baumhaus des Häuptlings aufgenommen. Der Pirat prahlte mit der magischen Steinstatue auf seiner Insel und versuchte, sie den Liaweps zu verkaufen.« »Ja, das ist typisch für den Riesen!«, dachte Yasha, während Valo seine Erzählung fortsetzte: »Als der Pirat wieder fortsegelte, folgten die Liaweps ihm heimlich in das andere Meer und stahlen seinen Steingott. Der neue Gott ist den Liaweps sicher sehr dankbar dafür, denn auf der Insel des Piraten hat ihn nur eine einzige Frau angebetet. Aber jetzt lass uns schlafen, ich bin müde!« Und wenige Augenblicke später verrieten Valos tiefe Atemzüge, dass er eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen wurde Yasha wach, weil ihn etwas am Hals kitzelte. Valo stand neben ihm und hielt einen dünnen Stock in der Hand, der sich im Stoffband des Talismans verfangen hatte. »Lass das!«, zischte Yasha und befreite seine Kette. Dabei ärgerte er sich über Valos arroganten Gesichtsausdruck. In diesem Moment kamen die vier Fächerträger, um Yasha zu holen. Während er in der Sänfte herumgetragen wurde, damit die Dorfbewohner ihn füttern konnten, dachte Yasha darüber nach, wie er es schaffen könnte, an seinen Vater heranzukommen, um ihn mit dem Talisman zu berühren.

Plötzlich fesselte

etwas Yashas Aufmerksamkeit. Interessiert beobachtete er, wie am anderen Ende des Dorfes Unruhe entstand. Der Häuptling und der Medizinmann stritten sich. Wie überall, wenn es etwas zu sehen gibt, eilten die Menschen neugierig zusammen. Bald hatte sich ein dichter Kreis um die beiden Streithähne gebildet. Auch die Sänftenjünglinge waren stehen geblieben. Plötzlich öffnete sich der Kreis der Menschen und angeführt von ihrem Häuptling und dem Medizinmann lief die Menge schreiend und johlend auf die Sänfte zu. Yasha bekam einen riesigen Schreck, als er Valo erkannte. Der Junge fiel vor Yasha auf die Knie und zeigte auf den rechten Arm des Häuptlings. Dort war ein sehr hässliches, eiterndes Geschwür zu sehen. Der Häuptling verzog schmerzhaft das Gesicht und packte Valo mit seinem gesunden Arm am Genick und schüttelte ihn. »Bitte, Yasha, heile ihn mit dem Talisman, sonst bekomme ich große Schwierigkeiten!«, wimmerte Valo. Dabei wand er sich wie ein Aal aus dem festen Griff des Häuptlings und rannte davon.

Woher wusste Valo, dass der Talisman magische Kräfte hatte? Yasha wollte kein Heiler werden, er wollte zur Steinstatue und seinen Vater in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln und zusammen mit ihm fliehen. Und jetzt war Valo ausgebüxt, bevor er übersetzt hatte, was Yasha dem Häuptling hätte sagen wollen. Fieberhaft dachte Yasha nach. Die Liaweps wurden schon ungeduldig.

»So könnte ich es versuchen«, überlegte Yasha und zeichnete mit einem Stock Bilder auf die Erde. Zuerst malte er die Steinstatue, davor den Häuptling mit seinem kranken Arm. An die Stelle, wo das Geschwür war, legte Yasha einen schwarzen Stein hin. Dann ritzte Yasha ein zweites Bild in die Erde. Diesmal malte er den Häuptling mit einem lachenden Gesicht, und den schwarzen Stein vom Arm der Zeichnung warf Yasha weit weg. Der Häuptling schaute sich das alles sehr genau an, nickte Yasha zu und ging. Am nächsten Tag merkte Yasha, dass etwas in der Luft lag. Der tägliche Spaziergang fiel aus. Einer der Fächerträger brachte ihm Wasser und etwas zu essen. Die Liaweps ließen Yasha buchstäblich in seiner heißen, stickigen Hütte schmoren.

Auch Valo

ließ sich

nicht blicken, aber das bedauerte Yasha nicht besonders. Er misstraute Valo. Woher wusste der einäugige Junge von den magischen Kräften des Talismans und warum hatte er dem Häuptling erzählt, dass Yasha ihn heilen könnte?

Damit sein Talisman nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken konnte, hatte Yasha gestern von der Sänfte aus einige Blätter abgerissen. Er würde den Liaweps eine perfekte Vorstellung als Medizinmann liefern.

Bei Sonnenuntergang wurde Yasha von den vier Fächerjünglingen abgeholt. Es ging ein Stück in den Dschungel hinein, dann erreichten sie die Lichtung, auf der die Steinstatue aufgestellt war. Als Yasha die Statue erblickte, wusste er gleich, dass das sein Vater war. Yasha war seinem Ziel ein ganzes Stück näher gekommen, aber das Schwierigste lag noch vor ihm. »Vater, hilf mir!«, flüsterte er leise und griff nach dem Talisman.

Das ganze Dorf hatte sich um die Steinstatue versammelt. Die Liaweps sangen und trommelten. Yashas Sänfte wurde heruntergelassen. Er nahm seine Blätter aus der Sänfte und hielt sie hoch. Um sich Mut zu machen, sang er sehr laut ein Lied und näherte sich langsam dem Häuptling. Dabei setzte Yasha eine, wie er hoffte, möglichst düstere Miene auf. Das hatte er beim Medizinmann gesehen. Schlagartig wurde es still. Yasha kam sich wie ein Hohepriester vor. Und wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Yasha sein eigenes Schauspiel sicher sehr genossen.

Yasha erhob seine Hände und drückte die Blätter fest auf den kranken Arm des Häuptlings und flüsterte: »So wahr mir Gott helfe! Ich will, ich will, ich will, dass das Geschwür verschwindet!« Minuten vergingen, Schweiß rann Yasha die Stirn herunter. Er wagte nicht, seine Hände zu heben. Aber da erlöste ihn der Talisman und wurde ganz warm. Mit einem Schrei hob Yasha seine Hände hoch und siehe da: Das Geschwür war weg. Der Häuptling zeigte siegreich seinen Arm. Alle staunten und fingen wie von Sinnen an zu tanzen und zu singen. Es gab viele Nasenreibereien! Yasha war furchtbar enttäuscht, als er sofort in seine Sänfte gesetzt und in die stickige Hütte zurückgetragen wurde. Dort fächelten ihm die Fächerjünglinge so lange kühlende Luft zu, bis Yasha erschöpft einschlief. Er konnte nicht ahnen, dass ihn diese Heilung in heftige Schwierigkeiten bringen würde. Denn während Yasha friedlich in seiner Hängematte schlief, hockte eine hagere, dunkle Gestalt auf dem Platz vor dem Steingott und schwor dem Jungen bittere Rache.

Von nun an durfte sich Yasha frei im Dorf der Liaweps bewegen. Er konnte Kräuter und Pflanzen sammeln. Jeden Abend heilte Yasha nun vor der Steinstatue Kranke. Dabei dachte er ständig daran, dass er mit seinem Talisman versuchen musste, die Statue zu berühren. Aber die Liaweps bewachten den steinernen Gott gut. In ihren Augen war es ein großer Frevel, die Statue anzufassen. Yasha versuchte es mit verschiedenen Tricks. So zögerte er seine Heilarbeiten heraus und verlangte, dass sich der Kranke näher an die Statue stellen solle. Aber seine kleinen Tricks blieben erfolglos. »Geduld!«, dachte Yasha. »Irgendwann ergibt sich eine günstige Gelegenheit.«

Doch eine andere Person hatte keine Geduld. Der alte Medizinmann duldete nicht, dass Yasha ihm seine »Show« stahl. Mit Sorge sah Yasha den Hass in seinen Augen Und ihm war klar, dass er sich einen mächtigen Feind geschaffen hatte.

Es begann

mit einem Jungen,

den Yasha von einer schlimmen Entzündung im Bein geheilt hatte. Am nächsten Tag war er tot. Eine Frau, die nach der Geburt ihres Kindes an Fieber erkrankt war, hatte Yasha auch geheilt – sie starb am gleichen Tag wie der Junge. Tief erschüttert folgte Yasha dem Trauerzug. Er sah mit Erstaunen, dass die Liaweps ihre Verstorbenen nicht begruben. Man legt sie auf hohe Bäume in der Nähe des Dorfes. Valo, der Yasha in der letzten Zeit aus dem Weg gegangen war, erzählte: »Sobald ein Fest gefeiert wird, werden die Toten von den Bäumen geholt, um daran teilzunehmen. Die Angehörigen bitten sie auch regelmäßig um Vergebung für Dinge, die sie den Toten zu Lebzeiten angetan haben.« Es starben noch mehr von Yashas Patienten. Wenige Tage später schlich der Junge sich heimlich zu den Totenbäumen. Dort untersuchte er diejenigen, die nach seiner Behandlung gestorben waren. Dabei fiel ihm auf, dass alle Toten drei kleine rote Pünktchen am linken Handgelenk hatten. Yasha betastete die Verletzungen, dabei trat ein wenig transparente Flüssigkeit aus den Wunden. Das könnte Schlangengift sein, erkannte er entsetzt. Yasha war so sehr damit beschäftigt, auf dem hohen Baum die Balance zu halten und von einem Toten zum anderen zu klettern, dass er nicht bemerkte, wie der Medizinmann am Rand der kleinen Lichtung erschien.

Sein Körper war über und über mit grauer und brauner Farbe bedeckt. Der hagere Mann mit dem zotteligen Haarschmuck aus Pflanzenfasern hatte eine unheimliche Bemalung: Sie stellte ein Skelett dar.

Dass Yasha oben in einem der Totenbäume saß, bemerkte er nicht. Das dichte, grüne Laub verbarg den Jungen. Der Medizinmann setzte sich ins Gras und begann leise Beschwörungsformeln zu murmeln. Sorgsam breitete er die Opfergaben, die er mitgebracht hatte, vor sich auf den Boden aus. Es waren kostbare Geschenke, seinen schlechten Taten angemessen. Denn der Medizinmann musste die Vergebung seiner Opfer erflehen, damit sie ihn nicht verfolgten. Vor allem die fünf toten Giftschlangen, die er sorgfältig nebeneinander aufreihte, würden ihn fürs Erste vor der Rache der Toten schützen.

Aber es fiel dem Medizinmann heute schwer, sich auf die notwendigen Rituale zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Seit dieser kleine weiße Teufel, so nannte er Yasha insgeheim, den Häuptling geheilt hatte, war er selbst als Medizinmann abgeschrieben. Wie lange musste er sich noch gedulden, bis den Dorfbewohnern auffiel, dass ungewöhnlich viele Menschen starben, nachdem der weiße Teufel sie behandelte? Die Vorfreude, dass er Yasha bald aufessen und sich so seine Heilkräfte einverleiben könnte, gab ihm Trost. Dann wäre er der mächtigste Medizinmann der Liaweps, nein, der mächtigste von ganz Papua-Neuguinea!

Während der

Medizinmann über diesen

Gedanken brütete, sah er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung – der kleine weiße Teufel. Er hatte ihm nachspioniert! Zischend zog der Medizinmann die Luft ein und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Er wartete, bis Yasha außer Sichtweite war, und eilte ebenfalls ins Dorf. Es war Nacht geworden, ein heftiger Monsunregen prasselte auf das Dorf nieder. Aber weil es immer warm war, störte der Regen nicht besonders. Yasha saß im Schneidersitz unter dem Dach seiner Hütte und dachte über die merkwürdigen Todesfälle nach. Da kam Valo ganz aufgeregt angerannt. Schluchzend rief er Yasha schon von weitem zu: »Du musst sofort fliehen! Der Medizinmann, der böse Medizinmann! Er hat dem Häuptling gesagt, dass du schuld am Tod der Dorfbewohner bist. Der Medizinmann will deine Heilkräfte haben! Und wenn er dich nicht ganz für sich bekommt, werden alle im Dorf von ›Taila-Taila‹ befallen. Das ist ein böser, starker Zauber. Der Häuptling hat aus Angst vor dem Taila-Taila-Zauber zugestimmt … Oh! Schnell! Sie sind schon unterwegs, um dich zu holen!« Yasha hatte die Situation sofort verstanden. Doch für eine Flucht war es bereits zu spät, denn die vier Fächerjünglinge schnitten ihm den Weg ab. »Oh Talisman, so hilf doch!«, rief Yasha verzweifelt. Doch der Talisman reagierte nicht. Die Fächerträger warfen Yasha grob auf die Sänfte. Dann trugen sie Yasha im strömenden Regen durchs Dorf. Trommeln ertönten und die Menschen liefen zum Platz, an dem sie ihrem steinernen Gott huldigten. Hier brannte ein großes Feuer. In dem riesigen Kessel, der darüber hing, brodelte es schon höllisch. »Oh Gott!«, schrie Yasha entsetzt. Sie wollten ihn lebendig kochen.

Plötzlich

bemerkte Yasha

in der Menge den Riesen, der aufgeregt mit dem Häuptling verhandelte. Doch bevor er Hoffnung schöpfen konnte, stand der Medizinmann vor ihm. Mit eiskaltem Blick hob er eine Schale, nahm einen Schluck und spuckte Yasha eine scharfe Flüssigkeit ins Gesicht. Tränen schossen ihm in die Augen. Es brannte wie die Hölle. Verschwommen registrierte er, dass die Schale ein menschlicher Schädel war. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Yasha wurde zu Boden gestoßen. Wie aus dem Nichts war Valo aufgetaucht und stand nun dicht vor dem Medizinmann. Beide musterten sich mit zornigen Blicken. Mit dunkler Stimme donnerte Valo: »Medizinmann, nimm ihm den Talisman ab! Wirf ihn ins Feuer. Ich befehle es!« Die Liaweps starrten erschrocken auf den Medizinmann und den völlig veränderten weißen Sklavenjungen, um den ein Schwarm schwarzer Schmetterlinge schwirrte. Niemand achtete mehr auf Yasha. Halbblind kroch er auf die Steinskulptur zu. Hinter sich hörte er die entsetzten Schreie der Liaweps. Als er die Steinskulptur mit dem Talisman berührte, erhellte ein Blitz den Opferplatz. Für einen kurzen Moment sah Yasha, wie sich das steinerne Gesicht seines Vaters langsam zurückverwandelte. »Wir werden immer über dich wachen!«, hatte sein Vater gesagt. Und jetzt war er so nah. »Vater!«, schrie Yasha, da packten ihn zwei riesige Hände und hoben ihn hoch. Mit Yasha auf dem Arm rannte der Riese über den Opferplatz. Der Medizinmann und Valo standen sich noch immer gegenüber. Aus Valos Händen schossen Blitze, noch einer und noch einer. Sie trafen den Medizinmann und er begann wie eine Fackel zu brennen und beleuchtete Valo, der hasserfüllt auf die Steinskulptur starrte, die allmählich wieder ihre menschliche Gestalt annahm.

Der widerliche Geruch

nach verbranntem

Fleisch verfolgte Yasha und den Riesen bis hinunter zum Strand. Unsanft landete Yasha im Boot. Der Sand knirschte unter dem Kiel, als der Riese das Boot ins Wasser schob und eilig die Segel hisste.

Das Letzte, was Yasha hörte, war der gewaltige Schrei seines Vaters: »Neiiin – Zürban! Flieh, Yasha!« Der Talisman pochte an Yashas Hals, als wäre er ein lebendiges Herz, dann fiel der Junge in Ohnmacht.

Der Talisman
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