Yasha vertäute sein Boot im Hafen von Komodo, dabei gähnte er herzhaft. Jetzt, nachdem er das Abenteuer mit den Padar-Drachen glücklich überstanden hatte, merkte er erst, wie müde er war. Der Deckel von Junu Zolis Seekiste knarrte, als Yasha sie öffnete und eine Schlafmatte daraus hervorzog. Mit wenigen Handgriffen richtete er seinen Schlafplatz ein. Dann nahm er aus der Kiste einen Notizblock heraus und schrieb: »Lieber Junu Zoli, liebe Frau Zoli, liebe Bewohner von Padar! Es hat prima geklappt, die Drachen hier auf die Komodo-Insel zu locken. Glaube, es gefällt ihnen hier. Wenn ich meine Eltern gefunden habe, besuchen wir euch bestimmt einmal. Bis dahin! Alles Liebe! Euer Yasha.« Der Junge legte den Block zurück in die Seekiste.

Morgen würden Junu Zoli und ein paar seiner Fischer nach Komodo rudern, um das Segelboot wieder abzuholen. Dann würden sie seinen Brief finden. Zufrieden kuschelte sich Yasha auf die Schlafmatte.

Der steinerne Schmetterling begann zu leuchten. Yasha drückte ihn wie ein Kuscheltier an seine Brust. Er träumte von seinen Eltern. Sie umarmten ihn und sein Vater sagte: »Yasha, du meisterst deine Aufgaben sehr gut. Deine Mutter und ich glauben, dass du jetzt alt genug bist, um uns zu helfen. Wir wollen uns nicht mehr verstecken und sind jetzt in Ungarn, um Olav Zürban zu suchen. Komm nach Budapest und geh zu Panna in die Praxis! Sie wird dich in ein sicheres Versteck bringen. Dort warte auf unsere Nachricht! Wir brauchen dich und den Talisman, um den Fluch zu brechen!« Yasha erwachte. Sein Kopfkissen war ganz nass. Er hatte im Traum geweint und noch immer liefen ihm die Tränen über die Wangen. Angst und Glück erfüllten gleichzeitig sein Herz. Sollte die Zeit der Suche wirklich bald zu Ende sein?

Vom Meer her

erklang ein dumpfes

Dröhnen, das schnell lauter wurde. Yashas kleines Segelboot begann heftig zu schaukeln. Ein großer Dampfer glitt in den Hafen von Komodo. Im hellen Licht der Bordbeleuchtung flatterte die chinesische Flagge. Obwohl es mitten in der Nacht war, herrschte auf dem Dampfer hektische Betriebsamkeit. Scheppernd wurde die Gangway heruntergelassen. Eine Reihe weiß uniformierter Männer eilte die Gangway herab. Im Laufschritt verschwanden sie zwischen den Lagerhallen. Noch eine ganze Weile hörte man ihre schweren Schritte. Dann wurde es ruhig. Nur das Brummen des Schiffsmotors und das leise Plätschern der Wellen waren zu hören.

Da bemerkte Yasha einen kleinen Schatten, der über den dunklen Pier schlich und direkt auf ihn zukam. Gehetzt sah sich die kleine Gestalt um, als an Bord des Dampfers laute Rufe erklangen. Sie duckte sich und begann zu rennen. Dabei stolperte sie fast über ihr langes Gewand. Sekunden später hatte sie Yasha erreicht, setzte sich auf die Kaimauer und ließ sich neben ihm ins Boot plumpsen. Ihr weiter Umhang wehte dabei über ihrem Kopf. Verdattert starrte Yasha auf das strampelnde Stoffbündel herunter.

Polternd

hasteten chinesische

Marinesoldaten vom Schiff und begannen aufgeregt das Hafengelände zu durchsuchen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie den Flüchtigen entdecken würden. Yasha lief eine Gänsehaut über den Rücken. In was für einen Schlamassel war er jetzt wieder geraten? »Warum verfolgen dich die Männer?«, fragte er und half dem Bündel auf die Beine.

Vorsichtig zog Yasha der kleinen Gestalt den Umhang vom Kopf. Vor ihm stand ein kleiner Junge und lächelte ihn an. Erstaunt musterte Yasha sein Gegenüber. Der Knirps war so gekleidet wie die tibetischen Mönche, die Yasha auf dem Mount Everest getroffen hatte. So etwas wie ein inneres Leuchten ging von dem Jungen aus. Yasha spürte, wie der kleine Mönch eine angenehme Ruhe auf ihn übertrug. Es war ein ähnliches Gefühl, wie er es vorhin in seinem Traum spürte, als seine Eltern ihn umarmten. »Geborgenheit und Zuversicht!«, schoss es Yasha durch den Kopf. In diesem Moment sagte der kleine Mönch erfreut: »Oh, ich kenne dich doch! Du bist Yasha! Erinnerst du dich, ich hatte das Wort Kapilavastu in den Sand geschrieben!« Plötzlich leuchtete ein starker Scheinwerfer auf. Suchend huschte der Lichtkegel über die Kaimauer und blieb am Segelboot hängen. Geblendet schloss Yasha die Augen. Der kleine Tibeter neben ihm stöhnte leise auf.

Es schwankte heftig, als die Uniformierten ins Boot sprangen. Yasha wurde zur Seite gedrängt. Der Spuk dauerte nur wenige Minuten. Fassungslos sah Yasha zu, wie die Chinesen den kleinen Tibeter zurück auf den Dampfer eskortierten. Der letzte Satz des kleinen Mönches »… Kapilavastu in den Sand geschrieben!«, löste bei Yasha eine Erinnerungsflut an Gedanken aus. Er wusste genau, wer der kleine Junge war. Die kleine Reinkarnation aus Tibet! Damals war der Junge höchstens zwei Jahre alt gewesen, dann war er jetzt sieben, schätzte Yasha rasch. Für einen kurzen Moment fühlte er sich hin- und hergerissen. Einerseits musste er nach Budapest zu seinen Eltern, andererseits wollte er die kleine Reinkarnation nicht im Stich lassen. Schließlich siegte der Wunsch, dem kleinen Mönch zu helfen. In diesem Moment leuchtete der Talisman auf. Erleichtert strich Yasha über den steinernen Schmetterling: »Danke, dass du mir zustimmst, Talisman! Ich werde deine Hilfe brauchen!« Vor der Gangway des Dampfers hatten zwei Männer Position bezogen. Kerzengerade marschierten sie hin und her. Wie sollte Yasha bloß ungesehen an ihnen vorbeikommen? In der Ferne hinter den Lagerhäusern erklangen schwere Schritte. Yasha lächelte erleichtert, denn nun hatte er eine gute Idee. Hastig verließ Yasha sein Boot und flitzte zu den Lagerhäusern. Es dauerte eine Weile, bis er in der Dunkelheit gefunden hatte, was er suchte. Grinsend hob er einen Stock auf. Dann drückte er sich flach an die Ecke eines Schuppens und wartete.

Zwischen den Lagerhäusern erschienen Männer. Ihre weißen Uniformen leuchteten in der Dunkelheit. Sie schleppten eine lange, schwere Kiste. Als die chinesischen Matrosen ganz dicht an ihm vorbeizogen, sah Yasha Schweißperlen auf ihren angespannten Gesichtern glänzen. Erstaunt bemerkte er, dass alle Männer einen Mundschutz trugen. »Jetzt, Yasha!«, feuerte er sich an und ließ den Stock dreist nach vorne schnellen. Der letzte Mann kam ins Stolpern und ließ die Kiste fallen. Das brachte die ganze Kolonne aus dem Gleichgewicht. Das Durcheinander nutzend schlüpfte Yasha zwischen die Träger. Die Männer schimpften verärgert mit dem armen Pechvogel, den er zu Fall gebracht hatte. Der Arme tat Yasha richtig leid. Erst als der Offizier mit scharfer Stimme »Vorwärts, Genossen!« bellte, setzten sich die Träger wieder in Bewegung. Yasha hielt den Kopf tief gesenkt, als er mit den chinesischen Matrosen die schwere Kiste über den nächtlichen Pier schleppte. Die Wachen vor dem Schiff grüßten zackig und ließen den Trupp passieren. Yasha atmete erleichtert auf. Bis jetzt war alles gut gegangen, aber der schwierigste Teil lag noch vor ihm.

Kaum war

die Kiste

an Bord, begannen die Matrosen mit dem Ablegemanöver. Befehle wurden gebrüllt, Menschen eilten hin und her, die Ankerkette rasselte laut, dann ein heftiger Ruck und schon legte der Dampfer ab. Das Deck vor ihnen war in grelles Licht getaucht. Es wurde höchste Zeit für Yasha, sich aus dem Staub zu machen, bevor man ihn entdeckte. Noch befanden sie sich im Schatten der Deckaufbauten. Links über der Reling hing eine Reihe Rettungsboote. Eine Tür öffnete sich und einige Offiziere traten an Deck. Die Trägerkolonne blieb stehen, stellte die Kiste ab, nahm Haltung an und salutierte, während die Offiziere vorbei eilten. Vorsichtig trat Yasha einen Schritt zurück, dann noch einen. Nun hatte er die Reling im Rücken. Niemand schien etwas gemerkt zu haben. Es kostete Yasha große Überwindung, sich umzudrehen. Wie ein Matrose, der gerade Freizeit hat, lehnte er nun an der Reling und schaute aufs Meer. Um seine Rolle perfekt zu spielen, hätte er jetzt eigentlich lässig ins Wasser spucken müssen, aber das ging nicht, sein Mund war ganz trocken. Angespannt wartete Yasha auf den Moment, an dem die Träger die Kiste wieder aufnehmen würden. In seiner Phantasie spürte er den Griff kräftiger Hände in seinem Genick, falls die Chinesen sein Täuschungsmanöver bemerken würden.

Endlich hörte Yasha

den Stoff der

Uniformen rascheln, die Männer schnauften leise, als sie die schwere Kiste wieder aufnahmen. Dann marschierte der Trupp weiter. Seine Hände hatten Schweißspuren auf der Reling hinterlassen. Vorsichtig vergewisserte sich Yasha, dass ihn niemand beobachtete. Dann schwang er sich mit weichen Knien auf die Reling, um sich in einem der Rettungsboote zu verstecken.

Unter der Plane des Rettungsbootes war es stockdunkel. Leise tastete Yasha herum. Unter einer Bank fühlte er etwas Kantiges – eine Kiste vielleicht. Neugierig zog er sie hervor. Die Kiste war vollgepackt bis unter den Rand. Seine Finger spürten ein Seil, ein paar Konservendosen, dann knisterte es verheißungsvoll. Eine Tüte, darin ertastete Yasha kleine runde Dinger. Er riss die Tüte auf und lächelte erfreut, es roch nach gerösteten Erdnüssen. Kauend überlegte Yasha, wie es wohl der kleinen Heiligkeit gerade erging.

Als Yasha erwachte, wehte eine angenehme Brise. Vorsichtig hob er die Plane des Rettungsbootes und späte nach draußen. In der Ferne sah er eine weiß schimmernde Küste. Im Hintergrund erhob sich eine dunkle Kette aus unendlich hohen Bergen. Leise rutschte Yasha auf die andere Seite des Rettungsbootes. Von hier aus konnte er das Deck des Dampfers beobachten.

Die geheimnisvolle Kiste stand,

von sechs chinesischen

Soldaten bewacht, an Deck. Man hatte sie mit Stroh gepolstert und mit schweren Drahtseilen befestigt. »Was ist bloß so Wertvolles darin? Ob der Inhalt etwas mit der kleinen Heiligkeit zu tun hat?«, rätselte Yasha. Ein schrilles Pfeifen riss ihn aus seinen Beobachtungen. Die Wachsoldaten nahmen Haltung an und salutierten. Der Kapitän beugte sich vor und klopfte vorsichtig gegen die Kiste. Dann prüfte er die Drahtseile. Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff. Der Dampfer hatte das Land erreicht und legte an. Yasha klammerte sich erschrocken am Rand des Rettungsbootes fest. Als er wieder aufschaute, sah er, dass sich die Marinesoldaten bereits in ordentlichen Reihen am Deck aufstellten. Die kleine Heiligkeit stand verloren neben dem Kapitän. Der Kleine sah so traurig aus, dass es Yasha weh tat, ihn anzusehen.

»Sie werden ihn gleich wegbringen!«, dachte er und fühlte einen dicken Kloß im Hals. »Schnell, Talisman! Bitte! Bitte! Bitte verkleide mich so wie die Soldaten!« Der Talisman glühte vor Aufregung, als er das Wunder vollbrachte. Im Nu stand Yasha in der Reihe der Soldaten an Deck. Der Talisman hatte ihn auf einen Platz ganz vorne in der Reihe geschummelt. Yasha trug eine weiße Uniform, einen weißen Mundschutz, schwarze Lederstiefel und einen Säbel. Der Soldat neben ihm kniff die Augen zusammen und warf Yasha einen bitterbösen Blick zu. »Du hast dich vorgedrängelt! Ich stand als Erster in der Reihe. Trau dich bloß nicht, meinen Platz vorne rechts an der Kiste zu nehmen!«, zischte er Yasha giftig zu. Yasha war es herzlich egal, ob er die Kiste vorne rechts oder hinten links schleppen würde. Hauptsache, er konnte sich unauffällig in der Nähe der kleinen Heiligkeit aufhalten. Also beeilte er sich, den verärgerten Soldaten mit einem unauffälligen Nicken zu beruhigen. Da wurde auch schon die Gangway heruntergelassen.

Zusammen mit dem

Verärgerten und

zwei weiteren Soldaten hob Yasha die Kiste auf ein Gestell aus Bambusstäben. Dann marschierten sie langsam von Bord. Vorne, stolz wie ein Pfau, der Kapitän, der die widerstrebende kleine Heiligkeit hinter sich her zog, gefolgt von seinen beiden Adjutanten, die mit zwei Lanzen den Takt angaben. Dahinter marschierte die Mannschaft. 1, 2, 1, 2 … immer im Takt am Kai entlang. Hier hatte sich ein Spalier von schaulustigen Chinesen versammelt, um die Militärparade und den kleinen Gefangenen zu bestaunen. Weiter im Takt ging es die Hauptstraße hoch.

Der Zug stoppte vor einem prächtigen alten chinesischen Haus. Sein hölzernes Pagodendach war mit geschnitzten Drachen und Dämonen verziert. Auf der Treppe vor dem Eingang warteten ein paar Männer in grauen Arbeiteranzügen. Auf dem Kopf trugen sie riesige Schirmmützen mit einem roten Stern. Hinter ihnen stand eine zierliche alte Frau. Der Kapitän und seine Offiziere brachten die kleine Heiligkeit zum Haus. Yasha beobachtete erstaunt, wie sich die Frau vor dem kleinen Jungen verneigte und er sie mit ernstem Gesicht segnete.

Erleichtert stellten Yasha und die drei Soldaten die schwere Kiste ab. Auf einmal hatte Yasha einen Geruch in der Nase, der ihm unangenehm bekannt vorkam, süßsauer und vor allem ekelhaft faulig. Dem Jungen stockte der Atem. Drachen! Es roch nach Drachen! Entsetzt drückte Yasha seine Nase so fest er konnte an die Kiste und schnupperte erneut. Es war ein ganz unglücklicher Moment, das zu tun, denn in diesem Augenblick wurde die Kiste hochgehoben, das raue Holz zerriss seinen Mundschutz und ratschte über seine arme Nase. »Aah! Aua!«, zerriss es ihn innerlich. Yasha wurde ganz schlecht vor Schmerz und vor Angst. Er versuchte, sein Gesicht im Schatten der Kiste zu verstecken. Blut tropfte auf seine weiße Uniform. Der Soldat, den Yasha verärgert hatte, schrie auf und deutete anklagend auf ihn. Das ist das Ende, dachte Yasha, als die Soldaten ihn ins Haus schleppten.

Durch die Fenster

fielen Sonnenstrahlen

in den dunkel getäfelten Raum. Die kleine Heiligkeit saß im Schneidersitz auf einem schweren geschnitzten Thron. Neben dem Kind standen die grau gekleideten Herren. Vor dem Thron stand der Kapitän mit seinen beiden Adjutanten. Gerade sagte er: »Die Führung in Peking legt größten Wert darauf, dass der kleine Lama endlich spricht!« Darauf erwiderte einer der grau Gekleideten: »Ja, ich weiß, ich weiß! Wir haben einen Arzt gefunden, der noch die alte chinesische Heilkunde praktiziert. Er wird die Medizin aus den …«.

Schlagartig verstummte das Gespräch, als Yasha in den Raum gestoßen wurde. Verärgert über die Störung fuhr der Kapitän herum. Bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, machte die kleine Heiligkeit eine Handbewegung. Es war ein Befehl – und einer der grauen Herren brachte Yasha zum Thron. Gegen das Licht konnte Yasha nur den Schatten des kleinen Lamas erkennen. Als sich die kleine Heiligkeit zu ihm herunterbeugte, sah Yasha, dass der kleine Junge besorgt aussah. Es wurde totenstill im Raum, nur das Gewand des kleinen Lamas raschelte leise, als er die Hände auf Yashas Gesicht legte. Yasha wurde angenehm warm und er spürte etwas Heilendes, die Verletzung an seiner Nase hörte auf zu bluten. Zu Yashas Erstaunen verschwand auch der Schmerz, als wenn der kleine Lama ihn mit seinen Händen aufgesaugt hätte. Der kleine Lama zog seine Hände zurück und richtete sich auf. »Yasha soll bei mir bleiben!«, forderte die kleine Heiligkeit mit klarer Stimme.

Der Kapitän, seine Adjutanten und die grauen Männer starrten den kleinen Lama erstaunt an. »Er hat gesprochen! Das erste Mal seit drei Jahren hat der Lama gesprochen!« Aufgeregt blickten sie zwischen der kleinen Heiligkeit und Yasha hin und her. Wie ein Pendel bewegten sich ihre Köpfe – von rechts nach links, von links nach rechts. »Bringt den Lama in sein Zimmer! Sie, Dr. Feng, dürfen auch gehen! Kümmern Sie sich um die Medizin aus den Dracheneiern! Und beeilen Sie sich, die Leute in Peking sind bereits ungeduldig!«, befahl einer der grauen Herren barsch. Der Kapitän deutete widerwillig eine Verbeugung an, bevor er die kleine Heiligkeit von ihrem Thron hob und sie aus dem Raum trug. »Und nun zu dir, Langnase!«, sagte der graue Mann und kam auf Yasha zu.

Zur gleichen Zeit

braute sich in Ungarn weiteres Ungemach zusammen. Der Wind fuhr durch die Baumkronen des Halbdunkelwaldes. Das Wasser der kalten Quelle der Zeit rann unablässig aus seinem steinernen Becken, um sich dann als kleines Bächlein durch das leuchtend grüne Moos davonzumachen.

Stöhnend erhob sich die dunkle Seherin und rieb sich die schmerzenden Knie. Die beiden letzten Gesichter, die sie in der Quelle gesehen hatte, schienen unter einem magischen Schutz zu stehen. Das Wasser hatte zwar den Namen Gössler gemurmelt, aber es war ihr nicht möglich, herauszubekommen, wo die beiden Gösslers sich gerade befanden und in welcher Beziehung sie zu Yasha standen. Nachdenklich betrachtete die dunkle Seherin die lange Liste mit Namen und Adressen. Schließlich zuckte sie mit den Achseln. Das waren genug Menschen, die von Yasha geliebt wurden. Sogar wo seine Eltern sich aufhielten, hatte ihr die kalte Quelle der Zeit verraten. Unter die Zeile »Panna und Androsh sind in Budapest«, krakelte sie den Namen Gössler und malte ein Fragezeichen daneben. Dann machte sich die dunkle Seherin eilig auf den Weg zur Baumruine, wo Olav Zürban schon ungeduldig auf sie wartete.

Die grauen Männer hatten sich in einer Ecke des Raumes an einen Tisch gesetzt und diskutierten miteinander. Schließlich standen sie auf und ihr Wortführer sagte zu Yasha: »Du bleibst hier und arbeitest für uns, Langnase! Denke immer daran, dass der Lama ein gefährlicher Unruhestifter ist. Interessiere dich für sein Wissen! Die Regierung in Peking hat viele Fragen. Fang mit Fragen zur tibetischen Heilkunde an! Wie hat es der kleine Teufel geschafft, dass sich deine Wunde an der Nase so schnell schließen konnte? Man wird dich jetzt in deine Unterkunft bringen und später abholen, damit du dem Lama Gesellschaft leistest!« Yasha war schockiert: Er sollte die kleine Heiligkeit ausspionieren.

Ein chinesischer

Soldat eskortierte

Yasha zu seiner Unterkunft. Auf dem Innenhof trafen sie auf die Männer mit der Kiste. Zwei der Dracheneier lagen zerbrochen am Boden. Nervös hüpfte Dr. Feng herum und regte sich furchtbar auf. Mit dünner, hoher Stimme nörgelte er: »Aufpassen, ihr unwürdigen Söhne einer hundertjährigen Kanalratte! Seid doch vorsichtig mit den kostbaren Dracheneiern! He, du da! Drück es nicht so doll!« Yasha war stehen geblieben und registrierte missmutig, dass die Soldaten die Eier in Dr. Fengs Labor trugen. Dort wurden sie nach Größe sortiert in Körbe gelegt und in ein Regal gestellt. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Drachen schlüpften.

Yasha

saß vor dem

Thron und bewegte sich unbehaglich. Der einfache Arbeitsanzug, den man ihm gegeben hatte, kratzte ekelhaft. »Ich darf ihre Fragen nicht beantworten, Yasha. Diese Männer von der Regierung respektieren weder die Menschen in Tibet noch unseren Glauben. Darum habe ich kein Wort gesprochen, seit sie mich gefangengenommen haben. Sie tun zwar so, als wenn sie von mir lernen möchten, aber nur, um dieses Wissen gegen mein Land zu verwenden«, erklärte die kleine Heiligkeit gerade, während sie einen Kopfstand auf dem Thron probierte. Da öffnete sich die Tür. Sofort setzte sich der kleine Lama ordentlich hin und machte ein ausdrucksloses Gesicht. Unter Verbeugungen betrat eine Frau den Raum. Die Miene des kleinen Lamas hellte sich auf. »Danke für den Tee, ältere Schwester!«, krähte er und rannte der Frau entgegen, um ihr die Kanne abzunehmen. »Buttertee, Yasha! Den bekomme ich hier nur ganz selten.« Mit leuchtenden Augen setzte sich der kleine Lama neben Yasha und füllte zwei Tassen. Frau Wu strich dem Kind liebevoll über den Kopf und verließ leise den Raum. Yasha war fasziniert. Der kleine Lama konnte verspielt sein wie ein ganz normaler siebenjähriger Junge und im nächsten Moment redete er ernsthaft und klug über die schwierigsten Themen, die man sich nur vorstellen konnte. Für den kleinen Lama war das gar nichts Besonderes. Schließlich war er die Wiedergeburt eines sehr heiligen Lamas und seine Weisheit stammte aus den Erkenntnissen der vielen Leben, die er bereits auf dieser Welt verbracht hatte.

Als die Wachen Yasha wieder abholten, waren viele Stunden verstrichen. Auf dem Flur wartete der grau gekleidete Chinese auf ihn: »Und, Langnase? Wie hat der kleine Teufel deine Nase so schnell geheilt?«, fragte er ohne Umschweife und fixierte Yasha mit schmalen Augen. Yasha biss sich auf die Lippen. Mit einer so prompten Befragung hatte er nicht gerechnet. »Ähm, na ja, also …«, stotterte er und kratzte sich dabei verlegen im Nacken. Ungeduldig schnipste der Graugekleidete mit den Fingern. Aber Yasha hatte sich schon gefasst und log dreist drauf los. Er band dem Graugekeideten einen Bären nach dem anderen auf. Der kleine Lama habe über das Wetter und Essen geredet, er wünsche sich die Dracheneier gebraten. Das Gelbe sollte auf keinen Fall flüssig sein, sondern durchgebraten. Nachdem Yasha so gut in Schwung war, hätte er aus dem Stegreif noch unendlich viele Schwindeleien erfinden können. Aber der grau gekleidete Chinese winkte ungeduldig einen der Wächter heran und wedelte mit der Hand. Ohne Umwege brachte der Soldat Yasha in seine Unterkunft.

Die Tür fiel

mit einem lauten

Krachen ins Schloss und Yasha war allein. Von seinem Fenster aus blickte er über den schwach beleuchteten Hof. Im Hausflügel gegenüber öffnete sich die Tür von Dr. Fengs Labor. Der alte Meister der chinesischen Medizin fuhrwerkte mit einem riesigen Besen im Labor herum. Patsch … schlug der Besen zu. Amüsiert beobachtete Yasha, wie etwas Kleines, vielleicht ein Rattenkind, aus der Tür huschte und blitzschnell in einem Blumenbeet verschwand. Aber Dr. Fengs Jagd schien noch lange nicht beendet zu sein. Er legte sich flach auf den Boden und spähte suchend unter einen Schrank. Mit dem Besenstiel stocherte er in den dunklen Ecken herum. Plötzlich witschte etwas an ihm vorbei. Mit einer Geschwindigkeit, die Yasha dem alten Herrn nicht zugetraut hätte, sprang er auf. Yasha kicherte entzückt, als Dr. Feng sein Opfer fegend und schlagend durchs Labor jagte. Schließlich entwischte auch das zweite Tierchen durch die offene Tür aus dem Labor. Doch Yasha verging das Lachen. Das kleine Tier lief über den Hof und kam ganz dicht an Yashas Fenster vorbei. Es war ein kleiner Drache.

In dieser Nacht

träumte Yasha von

der Kiste mit den Dracheneiern. Sie schwamm im Meer und um sie herum waren ganz viele kleine Wellen. Aber auf einmal wurden die Wellen zu kleinen Babydrachen.

Dr. Feng stand mit einem der grauen Anzugträger vor dem Labor. Der heilkundige Chinese verbeugte sich gerade und klagte mit weinerlicher Stimme: »Es tut mir sehr leid, ehrenwerter Genosse! Einige Drachen sind gestern ausgeschlüpft und haben sich heimlich auf die »Werde ganz groß«-Kräutermischung gestürzt. Sie haben alles bis auf den letzten Krümel aufgefressen. Danach sind sie einfach weggelaufen.«

Yasha war stehengeblieben und spitzte die Ohren. Wie würde die Kräutermischung von Dr. Feng auf die Drachen wirken? Der Soldat, der Yasha zum kleinen Lama bringen sollte, packte den Jungen ungeduldig am Arm und zog ihn weiter. Der kleine Lama saß wie jeden Morgen auf einem flachen Felsen am Strand und war völlig in seine Meditation versunken. Die Soldaten, die ihn bewachen sollten, hatten nicht viel zu tun. Der kleine Tibeter würde die nächsten zwei Stunden bewegungslos mit geschlossenen Augen auf seinem Stein sitzenbleiben. Plötzlich deutete einer der Männer auf den Boden. Was waren das für merkwürdige Spuren im feuchten Sand? In der Mitte eine lange, durchgehende Schleifspur und rechts und links davon die Abdrücke von Füßen. Man konnte leicht erkennen, dass das, was hier entlang geschlichen war, gefährliche Krallen besaß. Fragend sahen sich die chinesischen Soldaten an. In der Ferne tauchte die Langnase mit einem Wächter auf. Die Soldaten stießen sich gegenseitig an und lachten. Sie freuten sich schon darauf, den Neuankömmlingen die sonderbaren Spuren zu zeigen.

Yasha

sah den kleinen

Lama schon von weitem am Strand sitzen. Seine Bewacher standen in einiger Entfernung in den Dünen. Scheinbar hatten sie dort etwas Interessantes entdeckt. Plötzlich zuckte Yasha zusammen. Zwei riesige Drachen pirschten sich an den Felsen der kleinen Heiligkeit heran. Sein chinesischer Begleiter stieß einen lauten Warnschrei aus: »ACHTUNG! DRACHEN!« Nun hatten auch die Wächter des kleinen Lamas die Gefahr erkannt. Sie zückten ihre Pistolen und schossen auf die großen Echsen, aber das nützte nichts, denn Drachenpanzer sind stahlhart. »Halt!«, schrie Yasha entsetzt: »Halt, ihr trefft noch den Lama!« Die Drachen erreichten die kleine Heiligkeit und griffen an. Der kleine Junge wirbelte durch die Luft.

Sein Umhang bauschte sich auf und sah aus wie eine fliegende gelbrote Blume. »Mein Gott! Talisman! Zu Hilfe, Talisman!«, schrie Yasha verzweifelt und raste los. Und der steinerne Schmetterling half – und wie er half! Seit ihrem Aufenthalt auf Padar hasste er Drachen. Wütend begann er zu glühen und bündelte seine ganze Kraft. Auf dem ruhigen Meer entstand eine Welle, die sich höher und höher aufbäumte. Yasha erreichte den kleinen Jungen und packte ihn an seinem gelbroten Umhang. Gerade noch rechzeitig sprangen sie auf den Kamm der Welle, die sich wie eine Brücke in die Luft erhob. Yasha stemmte die Füße in das schäumende Wasser, wie Surfer glitten sie auf dem schäumenden Kamm hin und her. Der kleine Lama hielt Yashas Hand fest und lachte fröhlich.

Unter ihrer Wellenbrücke sahen sie China immer kleiner werden. Höher und höher spannte sich das Wasser über das Land. Unter ihnen griffen die Menschen zu ihren Regenschirmen. Der Talisman grinste verschmitzt, denn die Wasserbrücke verlor auf ihrem Weg viele Wassertropfen. Sicher wunderten sich die Menschen unten auf der Erde, dass es Salzwasser regnete! Ein letzter steiler Anstieg hinauf auf die Hochebene Tibets, dann hatte die Wasserbrücke ihr Ziel erreicht. Yasha und der kleine Lama landeten auf einem sandigen Feld. Die Wellenbrücke hörte auf zu schäumen und zog sich leise zischend zurück.

»Yasha, ich danke dir

von ganzem Herzen! Endlich

bin ich wieder in Tibet. Du musst jetzt dorthin gehen, wo der schwarze Punkt zwischen zwei weißen Riesen leuchtet. Dort erwartet dich jemand, den du gut kennst!«, sagte der kleine Lama. Er sprach oft so rätselhaft. Yasha fluchte innerlich und schaute in die Richtung, in die die kleine Heiligkeit mit dem Finger zeigte. Als er sich wieder umdrehte, war der Tibeter verschwunden.

Der Talisman
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