4. Kapitel

 

Danach kümmerte Helen sich nicht mehr um ihren verwitweten Schwager. Sie war von seinem Treuebruch immer noch tief verletzt. Sie hatte ihm geholfen, als er sie dringend gebraucht hatte. Das war sie ihrer Schwester schuldig gewesen, mit der sie sich zuletzt versöhnte. Mit Allan hatte sie sich in ihrem Herzen nicht versöhnt.

Allan widmete sich seinen Geschäften. Die Reederei und seine Großhandelsfirma beanspruchten ihn sehr. Privat lebte er zurückgezogen. Wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte, wirkte er ernst und in sich gekehrt. Er trauerte um seine über alles geliebte Frau. Monatelang nach ihrem Tod trug er ein schwarzes Bändchen als Zeichen der Trauer am Revers. Auf seinem Schreibtisch im Kontor stand Blanches mit einem Trauerflor versehenes Bild.

Manchmal trafen seine Mitarbeiter ihn an, wie er in tiefe Gedanken versunken traurig das Bild anschaute oder den Rahmen streichelte. In der Villa durfte nach Blanches Tod nichts verändert werden. Die Dienstboten gingen auf Zehenspitzen, wenn Allan im Haus war. Nur zu Mammy Allie hatte er nach wie vor ein herzliches Verhältnis.

Nachts verließ er oft stundenlang das Haus. Wo er sich dann aufhielt, wusste niemand. Etwa ein halbes Jahr nach Blanches Tod änderte sich Allans Benehmen. Er schien wieder neuen Lebensmut zu schöpfen, den Schicksalsschlag zu verwinden. Ein neuer Aspekt war in sein Leben getreten, den er freilich geheim hielt. Die Dienstboten munkelten, dass er eine Geliebte hätte. Der Trauerflor verschwand von seinem Anzug, und er wirkte wieder freundlicher, dem Leben zugewandter und umgänglicher.

Helen sah Allan nicht. Sie widmete sich mit aller Hingabe ihrer Praxis und ihren Patienten. Eine Weile nach dem Tod ihrer Schwester war zu ihrer Familie ins Haus zurückgekehrt. Allan unterstützte die Farrars nach wie vor finanziell. Blanche hatte kein Testament hinterlassen. Doch Allan fühlte sich den Farrars nach wie vor eng verbunden. Er betrachtete es als seine Pflicht, in standesgemäßem Rahmen für sie zu sorgen.

Major John Farrar war dazu nicht mehr in der Lage. Seit dem Verlust seiner Baumwollplantage war er gescheitert und eine verkrachte Existenz. Helens Einkommen aus ihrer Arme-Leute-Praxis reichte nicht, um ihre Familie standesgemäß zu unterhalten. Von Allan nahm sie nichts mehr an, seit sie sich getrennt hatten. Sie zahlte ihm sogar zurück, was er ihr zur Übernahme und der Einrichtung ihrer Praxis gegeben hatte. Helen hatte sie von einem älteren Arzt übernommen, der in Pension ging.

John Farrar übte keinen Beruf aus und ging auch keinen Geschäften nach. Er war mit Leib und Seele Baumwollpflanzer gewesen, für etwas anderes taugte er nicht. In New Orleans gab er sich nobel, traf sich mit alten Freunden und gehörte dem Veteranenbund der Konföderierten-Offiziere an. Er vertrieb sich die Zeit, wusste jedoch nichts so recht damit anzufangen. Er war kein Geschäftsmann wie Allan Dubois. Er trauerte dem Glanz und der Herrlichkeit des Alten Südens nach, die auch die seinen gewesen waren.

Mit den neuen Verhältnissen, wie sie jetzt waren, fand er sich nicht zurecht, und er mochte sie nicht. Morgens ging er meist aus dem Haus, erledigte irgendwelche Besorgungen, spielte im Park Freiluftschach und saß mit alten Freunden in Kaffeehäusern herum. John Farrar war 58, ein stattlicher Mann, für den die Zeit jedoch stehengeblieben war.

Ein paar Mal hatte er Helens Praxis aufgesucht. Bis Helen ihm höflich, doch deutlich erklärte, dass sie keine Zeit hatte, dort mit ihm zu plaudern. Und Äußerungen wie »Meine Tochter, der Knochenflicker«, »Jetzt haben wir einen Arzt in der Familie« und »Nur der ist ein guter Arzt, der mindestens einen Friedhof gefüllt hat« in ihrem Wartezimmer nicht schätzte.

John Farrar sagte auch nicht mehr am Frühstückstisch der Familie »One apple a day keeps the doctor away« - Ein Apfel am Tag hält den Doktor fern - wenn er in die Obstschale griff.

Helens Mutter führte den Haushalt. Ab und zu gab sie eine kleine Teegesellschaft und dachte dann wehmütig an die Zeiten, als sie die Herrin der Großplantage Heaven’s Gate mit Hunderten von Menschen, einschließlich der Sklaven, gewesen war. Tante Pitty war seit jeher unpraktisch veranlagt gewesen. Eine unverheiratete ältere Verwandte wie sie hatte es in ziemlich allen großen Südstaatenfamilien gegeben.

Helens Mutter und ihre Tante hätten sie gern verheiratet. Sie konnten sich nur schwer damit abfinden, dass Helen studiert hatte und zudem noch als praktische Ärztin in eine männliche Domäne eingebrochen war. Sie hätten lieber ein sanftes, stilles Wesen gehabt, das ihnen nie widersprach und sich lenken ließ. Die rothaarige temperamentvolle Helen mit den üppigen, festen Brüsten, den meergrünen Augen und der kurvenreichen, dennoch schlanken Figur entsprach diesem ihrem Idealbild in keiner Weise.

Mutter und Tante beklagten sich oft, sie wäre ein Kreuz für die Familie. Helens Tüchtigkeit in ihrem Beruf konnte sie nicht davon abbringen. Für Helen war es bequemer, zu Hause zu leben. Ihr ärztlicher Beruf erforderte ihre ganze Kraft. Zudem hing sie an ihrer Familie. So zogen die Tage dahin, und so sah es aus, als Helen beim Mardi Gras 1872 unverhofft ihre vor einem Jahr verstorbene Schwester als Vampir wiedersah.

*

New Orleans, 1872

Robert Dubois öffnete Helen die schmiedeeiserne Pforte zum Grundstück, auf dem das einstöckige, gepflegte Haus stand. Helen erschien es durchaus groß genug. Doch ihre Mutter und ihre Tante beklagten sich jeweils bitter. Dieses Haus konnte nun einmal mit Heaven’s Gate, diesem schlossähnlichen Baumwollpflanzerpalast, nicht konkurrieren.

»Sagen Sie meinen Angehörigen nichts von Blanche, Kapitän«, bat die junge Ärztin.

Robert Dubois nickte. Er führte Helen ins Haus. Ihre Eltern und Tante Pitty erwarteten sie. Der alte Moses schaute um die Ecke. Der grauköpfige Neger atmete erleichtert auf, als er sah, dass Helen unbeschadet nach Hause gekommen war. In welcher Gefahr sie sich befunden hatte, sagte sie ihrer Familie nicht.

Sonst hätte es ein Drama gegeben. Der Schreck war ihr jedoch in die Glieder gefahren, und sie beschloss, demnächst vorsichtiger zu sein.

»Endlich bist du da«, sagte Tante Pitty. »Es ist ein Skandal, eine junge Frau wie du beim Mardi Gras in diesen unsicheren Zeiten ganz allein auf der Straße. Zum Glück ist Kapitän Dubois gekommen und dir entgegen gegangen.«

Robert Dubois tippte an seine speckige, verschwitzte Kapitänsmütze. Den Grund seines Kommens hatte er Helens Angehörigen nicht genannt, sondern nur gesagt, dass er sie dringend in einer vertraulichen Angelegenheit sprechen müsste. Danach hatte er eine Weile auf sie gewartet und war losgegangen.

»Blanche war viel vernünftiger als du«, klagte Helens Mutter. »Sie ist immer so sanft gewesen. Es war eine Freude, sie als Tochter zu haben.«

»Ach«, sagte die rundliche Tante Pitty. »Wenn sie doch nur noch lebte.«

Sie tupfte sich mit dem Spitzentüchelchen ihre Kinderaugen. Helen zwang sich, eine unbefangene Miene zu zeigen. Robert Dubois behielt sein Pokerface bei, was ihm nicht schwerfiel. Helen dachte an ihre Schwester, wie sie an dem Abend erblickte: Als eine Vampirin, wie sie mit blutbeschmiertem Mund und langen, spitzen Eckzähnen an dem pockennarbigen Matrosen gehangen hatte. Und später, als sie auf dem Trümmergrundstück den herkulischen Neger Big Sam und die anderen Tunichtgute fauchend wie eine Bestie erschreckte.

Wenn ihre Familie davon erfuhr, konnte es Nervenzusammenbrüche geben. Helens Angehörige sollten nichts davon wissen, bevor eine Lösung sich abzeichnete. Oder es nie erfahren.

Helen küsste ihren Vater auf die Wange. Major Farrar hielt ein Buch mit Goldauflage an den Seitenkanten in der Hand. Es handelte sich um ein Werk über den Bürgerkrieg.

»Ein Glück, dass du unversehrt heimgekommen bist, Rotkopf«, sagte John Farrar. »Es treibt sich allerhand Gesindel herum in den Straßen. All die freigelassenen Sklaven, die herumlungern und nicht wissen, was sie treiben sollen. Früher hat es das nicht gegeben. Da waren sie unter und mussten arbeiten.«

»Und wurden mitunter gepeitscht«, bemerkte Robert Dubois zynisch. »Mit Bluthunden gehetzt, wenn sie flohen, ausgebeutet. Waren Eigentum ihrer Herrschaft und konnten ge-und verkauft werden.«

Major Farrar regte sich auf.

»Was Sie da sagen, sind krasse Ausnahmen gewesen, Kapitän Dubois. Die paar Male, die auf Heaven’s Gate ein Schwarzer ausgepeitscht wurde, kann ich an meinen Fingern abzählen. Und wenn, hatte er oder sie es verdient. - Wir haben für unsere Neger gesorgt. Ich war wie Gottvater für sie.«

Robert Dubois grinste unter seinem Stoppelbart.

»Und jetzt sind Sie aus dem Himmel gefallen, Sir.«

John Farrar lief rot an im Gesicht. Dann winkte er heftig ab.

»Ach, Sie wollen mich ja nur provozieren. Aber das gelingt Ihnen nicht. Auch Sie waren von der Sache des Südens überzeugt. Als Blockadebrecher haben Sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt.«

»Das war einmal«, antwortete Robert Dubois. »Die alten Zeiten sind vorbei. Sie kehren nicht zurück. Der Bürgerkrieg ist zu Ende.«

John Farrar schaute ihn an. Er war in manchen Dingen ein scharfsinniger Mann.

»Ist er das für Sie?«, fragte er. »Haben Sie Andersonville vergessen?«

Robert Dubois zuckte zusammen. Er hustete und hielt sich das Taschentuch vor den Mund. Margaret und Pitty Farrar baten um ein anderes Gesprächsthema.

»Helen, du wirst dich frisch machen wollen«, sagte Margaret Farrar entschieden.

»Ich bin frisch genug, Mutter.«

»Du wirst dich frisch machen, Helen. Wir haben einen Imbiss für dich vorbereitet, wie jeden Abend, ganz gleich, wie spät es bei dir wird. Danach kannst du mit Kapitän Dubois sprechen, falls du es nicht schon getan hast?«

»Wir möchten noch gerne reden«, sagte Robert Dubois.

Er hatte seinen Hustenanfall überwunden.

»John, du leistest Kapitän Dubois im Rauchsalon Gesellschaft, bis Helen gegessen hat.«

Das Herrenzimmer war klein, aber vorhanden. John Farrars Laune besserte sich bei der Aussicht auf einen guten Brandy und eine Zigarre zur Abendstunde. Er klopfte Robert Dubois auf die Schulter und verschwand mit ihm in dem Salon im Erdgeschoß. Helen suchte ihr Zimmer im ersten Stock auf. Sie wusch sich mit freiem Oberkörper, zog frische Wäsche sowie ein anderes Kleid an. Im Spiegel der Waschkommode mit der eingelassenen Schüssel sah sie, dass ihre grünen Augen weit aufgerissen waren.

Ihre Pupillen erschienen ihr übergroß. Sie war ziemlich blass. Der Schock, ihre vor einem Jahr verstorbene Schwester Blanche als einen Vampir zu sehen, wirkte in ihr nach. Sie legte Rouge auf und frisierte sich. Obwohl Helen keinen Hunger hatte, aß sie im Speisezimmer im Erdgeschoß von dem kalten Imbiss.

Ihre Mutter und Tante Pitty leisteten ihr dabei Gesellschaft. Die Tante mütterlicherseits hieß eigentlich Penelope Heather Henderson. Ihren Spitznamen verdankte einmal der Zusammenziehung und Verballhornung ihrer beiden Vornamen - Penny und Hattie. Außerdem dem Umstand, dass sie seit jeher gern und oft »Oh, what a pity« - »Oh, was für ein Pech« - klagte.

Sie trug sie genauso wie Helens Mutter ein Jahr nach dem Tod Blanches immer noch schwarz.

»Was hast du denn heute getan?«, fragte sie Helen neugierig.

Obwohl der jungen Ärztin nach dem Schock wegen ihrer zum Vampir gewordenen Schwester nicht sonderlich nach einem Gespräch zumute war, erzählte sie.

»Wir ihr wisst, habe ich im Krankenhaus Belegbetten. Heute habe ich dort eine Blinddarmoperation vorgenommen. Dabei handelt es sich um eine neue Operationsmethode, die in Europa entwickelt wurde. Der Patient wurde chloroformiert. Ich habe ihm dann den Bauch aufgeschnitten und den Blinddarm entfernt. Die Operation hat keine zehn Minuten gedauert. Es war das erste Mal, dass ich sie ausführte. Es hat sein müssen, es war kein Chirurg erreichbar. Der Blinddarm musste sofort entfernt werden, sonst wäre er durchgebrochen, es hätte eine Sepsis in der Bauchhöhle gegeben, der Patient wäre gestorben.«

»Du hast also einen chirurgischen Eingriff vorgenommen«, sagte die stickende Margaret. »Wie ist das Befinden des Patienten?«

»Gut. Es gab keine Komplikationen.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch«, sagte Helens Mutter anerkennend. »Wer war der Patient?«

»Ein Farbiger, vierzig Jahre alt, Hafenarbeiter. Das war mein erster Blinddarm«, sagte Helen im ärztlichen Fachjargon. «Ich werde noch andere Operationen dieser Art vornehmen. Der Chefarzt des Heiligen-Geist-Krankenhauses hält große Stücke auf mich. Vielleicht sollte ich mich auf die Chirurgie spezialisieren.«

»Dein Großvater war Chirurg«, sagte Margaret Farrar und nähte weiter.

»Hah!«,, Tante Pitty stieß einen spitzen Schrei aus. »Sie hat einem Neger den Bauch aufgeschnitten. Oh mein Gott! - Helen, war dieser Mann etwa entblößt?«

»Durch die Hose konnte ich ihn schlecht operieren«, antwortete Helen und trank ihren Mokka zum Nachtisch. »Meine Güte, jetzt stelle dich nicht an. Ich bin Ärztin, da gehört es dazu, Patienten unbekleidet zu sehen. Ich habe schon einfachere Eingriffe vorgenommen. Doch auf den Blinddarm heute bin ich sehr stolz.«

Tante Pitty verdrehte die Augen.

»Oh, what a pity!«, rief sie. »Gebt mir mein Riechsalz. Ich glaube, ich werde ohnmächtig. - Helen, es graust mich, was hast du dir nur für einen Beruf ausgewählt? Und in dem Hospital, hat man denn überhaupt kein Schamgefühl, dass man dich eine solche Operation ausführen lässt? - Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Mir ist das unbegreiflich.«

Helen erhob sich und stellte die Tasse weg. Es reichte ihr nun. Blanche war zum Vampir geworden, flatterte als Blutsaugerin durch die Nacht. Und ihre altjüngferliche Tante regte sich wegen Lappalien auf.

»Tante Pitty«, sagte Helen mit gefährlicher Ruhe, »schweig bitte. Deine bigotten Ansichten interessieren mich nicht. - Ich bin Ärztin und übe meinen Beruf aus. - Das will ich auch weiterhin tun. Du kannst gern zu Hause sitzen, dich langweilen und Patiencen legen.«

»Margaret«, rief die Tante, »erlaubst du, dass Helen so mit mir spricht?«

»Sie ist erwachsen«, antwortete Helens Mutter. »Du hast dein Riechsalz in deiner Handtasche, Pitty, falls du es nicht wieder irgendwohin verlegt hast. Sollte das doch der Fall sein, fall besser nicht in Ohnmacht, oder erst, wenn du dein Zimmer erreicht hast. Ich werde dich nämlich nicht aufheben.«

Sie schaute Helen an.

»Helen«, sprach sie, »wir sind nicht immer einer Meinung gewesen. »Du weißt, wie ich über deine Berufswahl gedacht habe. Vielleicht habe ich mich geirrt, und es ist eine neue Zeit angebrochen, in der die Frauen zu einer neuen Selbstbestimmung gehen und andere Wege gehen als früher. - Ich bin sehr stolz auf dich, Helen.«

»Danke, Mutter.«

Helen dachte an Blanche. Sie bat, Kapitän Dubois aufsuchen zu dürfen und ging.

 

*

 

Tante Pitty fand ihr Riechsalz. Sie öffnete den Flakon und nahm einen tiefen Atemzug. Dann nieste sie kräftig. Ihre Augen tränten. Helen betrat gerade den Rauchsalon. Ihr Vater entfernte sich. Kapitän Dubois hatte ihn um eine vertrauliche Unterredung mit Helen gebeten, deren Zweck er nicht erklärte.

Helen öffnete das Fenster, um den Zigarrenqualm hinauszulassen. Der Pegel der Brandyflasche war deutlich gesenkt. Robert Dubois’ Augen leuchteten auf. Er machte Helen ein Kompliment.

»Sie sehen blendend aus. Ihr Kleid ist meergrün wie Ihre Augen.«

»Und ihre sind verschwollen vom Brandy, Kapitän Dubois. Sie werden sich umbringen, wenn Sie den Alkohol und die Zigarren nicht sein lassen. Ihre Lunge ist krank.«

»Es ist meine Lunge. Ich bin nicht als Ihr Patient hier. Lassen Sie uns über Blanche sprechen - und die weiße Frau in Allans Villa.«

»Besteht denn da ein Zusammenhang?«

»Das könnte schon sein.« Kapitän Dubois antwortete gallig. »So viele Gespenster gibt es in New Orleans nicht, und es würde zusammenpassen. Zunächst müssen wir feststellen, ob Blanche in ihrem Sarg in der Familiengruft liegt oder nicht, Helen.

«Das wäre am besten. Wir müssen so schnell wie möglich Gewissheit haben. Morgen um die Mittagszeit können wir uns auf dem Alten Friedhof treffen. - Haben Sie sonst noch Neuigkeiten, Kapitän Dubois?«

»Nennen Sie mich Robert. Ich weiß selbst, dass ich Käpten bin, und ich sage auch Helen zu Ihnen. Es wird allerhand erzählt. Seit einigen Monaten geht ein Gespenst in New Orleans um, eine Weiße Frau, die ihren Opfern Blut aussaugt. Ein Vampir ist in der Stadt.«

»Wo haben Sie das gehört?«, fragte Helen.

»Ich habe verschiedene Informationsquellen. Bisher hat die Vampirin nur wenig vom Blut ihrer Opfer getrunken, und immer von anderen. Bis heute ist noch kein Vampiropfer gestorben. Es entstand kein neuer Vampir.«

Helen erschauerte. Es grauste sie darüber nachzudenken, dass ihre Schwester zu einem Geschöpf der Nacht gewesen war. Zu einer Untoten.«

»Was mag sie aus dem Grab zurückgeholt haben?«, fragte die Ärztin.

»Ich denke, das werden wir erfahren«, antwortete Kapitän Dubois. »Es sollte mich nicht wundern, wenn Allan die Hände dabei im Spiel hätte. Es spricht manches dafür. Seien Sie vorsichtig, Helen. Blanche ist in Ihrer Nähe gewesen. Sie könnte Sie wieder besuchen.«

»Als ein Vampir, meinen Sie? Aber Sie hat mir gegen die neun Halunken geholfen. Seien lieber Sie vorsichtig, Robert. Vielleicht mag Blanche es nicht, dass Sie über Sie Bescheid wissen.«

Der Flusskapitän grinste schief.

»Bei mir beißt schon lange keine Frau mehr an«, sagte er. »Nicht mal eine vampirische. Ich bin eine verkrachte Existenz und ein Strolch, lungenkrank und bankrott. Übel beleumundet.«

Einem Impuls folgend ging Helen zu ihm und küsste ihn auf die stopplige Wange. Robert Dubois roch nach Brandy, Tabak und Schweiß, jedoch nicht so stark, wie Helen erwartete.

»Ich mag Sie, Robert«, sagte Helen. »Sie haben Ihr Leben eingesetzt, um mich gegen die Strolche vorhin zu verteidigen. Und Sie treten für Ihren Bruder ein, obwohl Sie mit ihm verfeindet sind. Sie sind ein guter Mensch und sehr tapfer.«

»Sie können mich ja zum Ehrenbürger von New Orleans vorschlagen«, brummte Dubois, der eingefleischte Zyniker. »Da ist noch eine Frage offen. Wenn Blanche ein Vampir ist, ist Allan vielleicht ebenfalls einer?«

»Soweit ich mit damit auskenne, vertragen Vampire kein Tageslicht«, sagte Helen. »Ich weiß aber sicher, dass Allan jeden Tag in sein Kontor geht und seine Geschäfte führt.«

»Das stimmt auch wieder. Allan ist ein Narr gewesen, dass er Sie verließ und Blanche heiratete, Helen. Sie war oberflächlich, eitel und egoistisch. Jetzt ist sie ein Geschöpf der Nacht, ein gieriger Blutsauger. Wenn wir ihrem Treiben nicht bald ein Ende bereiten, erleben wir in New Orleans eine Vampirseuche, gegen die Ihre ärztliche Kunst machtlos ist.«

Helens Augen weiteten sich. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.

»Man weiß nicht, wie sie zur Vampirin geworden ist«, antwortete sie dann. »Wir müssen sie von diesem Fluch erlösen und ihre unsterbliche Seele retten. Vor allem anderen ist sie meine Schwester.«

»Aber sie hat Ihnen Allan weggenommen.«

»Wir versöhnten uns, als sie auf dem Sterbebett lag. Heute Abend hat sie mir in großer Gefahr geholfen. Sie soll in Frieden ruhen.«

Robert Dubois stand auf und nahm seine Kapitänsmütze vom Kaminsims.

»Das soll sie, dazu wollen wir ihr verhelfen. Es könnte ein hartes Stück Arbeit werden.«

Damit verabschiedete er sich. Er verließ das Haus, ohne sich nochmals bei Helens Angehörigen gezeigt zu haben. Tante Pitty bemäkelte das als schlechte Manieren. Helen gähnte verhalten. Sie suchte ihr Zimmer auf und begab sich todmüde ins Bett. Trotz ihrer Müdigkeit konnte sie jedoch eine ganze Weile nicht einschlafen.

Zuviel ging ihr im Kopf herum. Sie dachte nach, was sie über Vampire wusste. Tagsüber schliefen sie in Särgen. In der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang waren sie aktiv. Sie ernährten sich von Menschenblut, und sie konnten viele Jahrhunderte alt werden. Sie hatten kein Spiegelbild und zerfielen zu Staub, wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt waren.

Fließendes Wasser vermochten sie nur unter Schwierigkeiten zu überqueren. Kreuze erschreckten sie, Knoblauch schreckte sie ab. Weihwasser fügte ihnen Verätzungen zu. Feuer vermochte sie zu vernichten. Wenn man ihnen einen Pflock durch die Brust trieb und ihr Herz durchbohrte, starben sie und wurden zu Staub. Sie vermochten sich in riesige Fledermäuse zu verwandeln und geboten den Wölfen und wilden Tieren.

Hunde heulten und verkrochen sich winselnd, wenn sie sie witterten. Ein Vampir besaß übermenschliche Kräfte. Er konnte selbst durch schmalste Ritzen dringen, indem er sich in einen Goldstaub verwandelte. Ob geweihte Silberkugeln und ein ins Herz getriebenes Messer einen Vampir töten konnten, darüber widersprachen sich die Geschichten, die Helen im Lauf der Jahre gehört oder gelesen hatte. Die einen behaupteten, dass es so sei, die anderen nicht.

Ein Vampir konnte ein fremdes Haus nur betreten, wenn man ihn hereinbat. Er vermochte eine andere Gestalt anzunehmen, menschliche oder tierische, und konnte Säuglingsweinen und andere Laute täuschend echt nachahmen. Seine Opfer wurden ebenfalls zu Vampiren, wenn er ihnen fast alles Blut aussaugte und sie daran starben.

Sein Biss lähmte das Opfer. Das Bluttrinken erzeugte bei dem Vampir eine unglaubliche, animalische Lust, für die er letztendlich lebte. Auch das Opfer empfand Lust, und es konnte dem Vampir völlig verfallen und hörig sein. Helen wunderte sich, wie viel sie über Vampire wusste, hatte sie dieses Fach doch niemals bewusst studiert.

Jetzt brauchte sie all ihr Wissen, Mut und ein starkes Herz, damit sie ihre Schwester vom Vampirismus erlösen konnte. Ehe sie einschlief, überlegte sich Helen abermals, ob sie ihre Familie nicht doch informieren sollte. Sie entschied sich dagegen. Ihre eigenen Angehörigen würde Blanche nicht als Opfer nehmen, sonst hätte sie es schon längst getan. So dachte jedenfalls Helen.

 

*

 

In dieser Nacht geschah nichts Besonderes mehr. Aus Übermut abgegebene Schüsse und Johlen vom Mardi Gras waren manchmal zu hören und drangen bis zu Helen in ihre Kammer. Wegen der Belästigungen durch die Unions-Soldaten, die fast mit einer Vergewaltigung geendet hätten, wollte sie keine Anzeige erstatten. Das wäre sinnlos gewesen. Die Täter würden weder aufzutreiben noch zu überführen und zu belangen sein.

Helen träumte wirr. Als sie am Morgen erwachte, war ihr Kopfkissen feucht. Sie hatte im Schlaf geweint. Undeutlich entsann sie sich, dass sie auch von Allan geträumt hatte. So sehr sie sich dagegen sträubte, er war ihr noch immer nicht gleichgültig. Tief in ihrem Herzen liebte sie diesen Mann immer noch, dem sie schon lange Zeit aus dem Weg ging.

Sonnenlicht fiel ins Zimmer und vertrieb Helens trübe Gedanken. Sie stand auf, erledigte ihre Morgengymnastik, wusch sich und zog sich an. Nur ihr Vater frühstückte mit ihr. Eine Droschke wartete draußen, um Helen zu ihrer Praxis zu fahren.

Am Vorabend hatte sie wegen des Mardi Gras keine erhalten können. Auf den Straßen waren die Überbleibsel des bunten und ausgelassenen Karnevalstreibens deutlich zu erkennen. Da lagen Girlanden, Blumensträuße, leere Flaschen und sonstige Abfälle. Einmal sah Helen einen Betrunkenen, der von der Nacht übriggeblieben war, aus einem Gebüsch schleichen. Er hielt sich den brummenden Schädel.

Helen bezahlte die Droschke, als sie die Praxis erreichte. Obwohl es noch früh war, saßen bereits etliche Patienten auf den Treppenstufen vor ihrer Praxistür. Eine ältere Negerin fiel Helen auf. Diese hängte sich an sie, als sie die Praxistür in einem älteren Steinhaus aufschloss.

»Frau Doktor, ich bitte Sie sehr. Sie müssen zu meinem Sohn Ben kommen. Er leidet an einer geheimnisvollen Krankheit, einer Blutarmut und Auszehrung. Wenn nicht ein Wunder geschieht, stirbt er.«

»Sie müssen den jungen Mann schon zu mir bringen«, antwortete Helen, die ein einfaches, dennoch elegantes Leinenkleid trug. »Oder ist er nicht transportfähig?«

Die grauhaarige Negerin mit dem verwitterten, tiefzerfurchten Gesicht antwortete: »Tagsüber nicht. Er verträgt kein Sonnenlicht mehr. Sowie es an ihn gelangt, schreit er, als ob er in kochendes Wasser getaucht würde.«

»Das muss eine seltene Allergie sein«, erwiderte Helen. »Überempfindlichkeit gegen Sonnen-und Tageslicht. Oder leidet Ihr Sohn an einer Phobie? Das ist eine krankhafte, übersteigerte Furcht. Es gibt Menschen, die Platzangst bekommen, wenn sie in einem engen Raum sind.«

Eine andere Frau, die ein rachitisches Kleinkind in ihren Armen wiegte, bekreuzigte sich sagte zu der ersten: »Bei der Krankheit, die dein Sohn hat, Betsy Stone, ist die Voodoo-Priesterin zuständig. Du musst zu ihr gehen und ihr Opfergaben und Geld bringen.«

»Den Preis einer Voodoo-Priesterin will ich nicht bezahlen«, antwortete die Schwarze mit dem zerfurchten Gesicht. »Der Voodoo-Zauber verstrickt diejenigen, die ihn anwenden, nur noch mehr in die Fänge der finsteren Mächte. Ich will nicht als Dienerin von Baron Samedi enden.«

Das war ein hoher Voodoo-Götze, der unheimliche Herr der Unterwelt, Gott des Todes, Herr der Gräber. Helen hatte Mitleid mit Betsy Stone und ließ sie sofort in ihre Praxis, während die anderen warten mussten. Am Vorabend hätte die Putzfrau kommen sollen, was wegen des Mardi Gras jedoch nicht geschehen war.

Seufzend sah Helen den Dreck und das Durcheinander. Betsy Stone erkannte, was die Ärztin für Sorgen hatte. Rasch holte sie Putzeimer, Lappen und Kittel und legte Hand an. Sie war flink und hatte Übung als Reinigungskraft.

Während sie arbeitete, erzählte sie Helen weiter von den Krankheitssymptomen ihres 18jährigen Sohnes und schilderte ihr ihre Verhältnisse. Betsy Stone hatte fünf Kinder, von denen der jetzt erkrankte Ben das Älteste war. Die Kinder durchzubringen tat sie sich schwer. Sie hatte keinen Mann, der für die Familie sorgte. Sie wohnte in einer Mietskaserne im Armenviertel am Mississippi und verdiente sich ihren kargen Lebensunterhalt mit Putzen, Nähen und Waschen für fremde Leute.

Hätte Helen Leute wie sie nicht für umsonst oder für sehr wenig Geld behandelt, hätte sie sich nie einen Arzt leisten können. Helen beschloss, sie fest als Putzhilfe einzustellen. Der anderen würde sie kündigen. Sie war nicht zum ersten Mal unzuverlässig gewesen.

Betsy Stone berichtete: »Ben kann keine normale Nahrung mehr zu sich nehmen. Er hat zwei Bißmale am Hals, die ich mir nicht erklären kann. Sie sind wie von einem großen Tier mit spitzen und langen Zähnen.«

In Helens Kopf schlugen Alarmglocken an.

»Befinden Sie sich genau an der Halsschlagader?«

»Sie haben es erraten, Frau Doktor.«

»Seit wann befindet Ihr Sohn sich in diesem Zustand?«

»Seit einer Woche wird es immer schlimmer. Ich habe Hausmittel versucht, Tee, Schwitzkuren und Umschläge. Aber das half nichts. Ben hat ein Verhältnis. Damit muss sein Zustand zusammenhängen.«

»Mit wem?«, fragte Helen.

»Wenn ich das wüsste. Ich habe die Frau nie gesehen. Ben ist ihr völlig verfallen. Sogar jetzt, in seinem todkranken Zustand, schleppt er sich jede Nacht aus der Wohnung und ist zwei, drei Stunden weg. Ich kann ihn nicht abhalten, ich müsste ihn festbinden. Ich glaube sogar, dass sie ihn bei uns besucht.«

»In Ihrer engen und kleinen Wohnung, wo Sie und die vier jüngeren Geschwister sich aufhalten? Da müsste sie doch jemand gesehen haben?«

»Das ist ja das Seltsame«, erwiderte Betsy Stone. Sie stand auf den Schrubber mit dem Putzlumpen gestützt da. Um den Kopf hatte sie sich ein Tuch gewunden. »Ich weiß auch nicht, wie das möglich ist. Neulich habe ich bis spät in der Nacht bei den Vorbereitungen für eine Hochzeit von reichen Leuten geholfen. Als ich zurückkehrte, stand das Fenster der Kammer offen, in der Ben und seine zwei kleinen Brüder schlafen. Der Vorhang wehte ihm Nachtwind. Ein eigenartiger Geruch hing in dem Zimmer, wie eine Mischung von Parfüm und von Friedhofsblumen. - Ben lag mit einem beseligten Lächeln auf seinem Strohsack. Der Verband von seinem Hals war entfernt. Die Wunden bluteten schwach und waren frisch.«

Helen grauste es. Ihr Verdacht, den sie seit einigen Minuten hatte, verstärkte sich.

»Hast du ihn gefragt, Betsy, hat er etwas gesagt?«

»Ich verband ihn sofort wieder. Dann habe ich Ben geschüttelt, um ihn wieder zu sich bringen. Seine Brüder schlummerten wie betäubt und waren nicht zu sich zu bringen. Ben schlug die Augen auf, doch er erkannte mich nicht. Er sank gleich wieder zurück. Bis zum Morgen fieberte und phantasierte er. Blanche, stammelte er manchmal in seinen wirren Träumen.«

Helen erschrak. Eine eisige Hand fasste ihr an das Herz. Blanche bedeutete m Französischen weiß oder auch rein. Zugleich war es ein weiblicher Vorname. Viele französische Worte waren in New Orleans in den Dialekt und den Sprachgebrauch eingegangen.

»Blanche«, sagte Helen. »Betsy, hast du schon einmal daran gedacht, dass einen Vampir oder eine Vampirin der Verursacher von Bens Krankheit sein könnte?«

Betsy Stone bekreuzigte sich und flüsterte augenrollend, als ob sie sich fürchtete, dass die Wände Ohren hätten: »Ich habe Gerüchte von einer Weißen Frau gehört, die durch die Nacht fliegt und als Gespenst durch die Mauern geht. Der Name Blanche würde dazu passen. Glauben Sie wirklich, dass mein armer Sohn ihr Opfer sein könnte? Dass sie jene ist, die er trifft, seine - Geliebte?«

»Eine Geliebte im üblichen Sinn nicht«, antwortete Helen.

»Wer mag dieses schaudervolle Ungeheuer aus dem tiefsten Höllenschlund sein?«, fragte Betsy Stone in ihrem einfachen geflickten Kattunkleid. »Dieser Dämon, der Nachtmahr, die Bestie.« Helen blieb ihr die Antwort schuldig. »Ich verfluche sie aus tiefstem Herzen«, fuhr ihre Putzfrau fort. »Ben ist mir immer ein guter Sohn gewesen. Er hat mir nie Sorgen bereitet. Und jetzt das. - Wie mag sie sich ihm bloß genähert haben?«

»Das spielt jetzt keine Rolle«, antwortete Helen. »Beeil dich, damit du mit Putzen fertig wirst, Betsy. Dann gehst du nach Hause. Sei getrost, tagsüber droht Ben keine Gefahr. Bei Sonnenuntergang suche ich dich mit einem Freund zusammen auf. Wir werden einen Weg finden, um deinem Sohn zu helfen und diesen Vampirschrecken zu bannen.«

Betsy Stone küsste Helen ergriffen die Hände.

»Dank, tausend Dank. Das hätte ich nie zu hoffen gewagt, Frau Doktor. Sie sind ein guter Mensch eine Heilige, der Engel der Armen. Der Himmel möge Sie segnen.«

»Ich bin bestimmt keine Heilige, Betsy. Ich muss jetzt Verschiedenes vorbereiten und meine Praxis öffnen. Wo wohnst du?« Helen erhielt die Adresse. »Wir können uns nicht mehr länger unterhalten. Die anderen Patienten warten.«

Ehe sie den ersten Patienten empfing, überlegte Helen eine kurze Weile. Sie war sicher, dass Blanche der Vampir war, der Ben Stone heimsuchte und sein Blut trank. Ein Ungeheuer aus dem tiefsten Höllenschlund noch anderes hatte Betsy Stone Blanche genannt. Helen überlegte, wie sie wohl reagiert haben würde, hätte sie ihr gesagt, dass die Vampirin ihre Schwester war. Vielleicht wäre sie schreiend weggelaufen.

Dann hatte Helen keine Zeit mehr zum Nachdenken. Ihr Patienten beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit.

 

*

 

Der Strom des Elends wollte nicht aufhören. Immer mehr Kranke suchten die Praxis auf. Das Wartezimmer wurde und wurde nicht leer. Helen brachte es nicht fertig, den Müttern mit den rachitischen Kindern, kranken Menschen mit allen möglichen Gebresten, Geschwüren und sonstigem die Tür zu weisen. Sie hatte einen Assistenten und eine Assistentin. Der Assistent war ein Kreole, der bei der Armee als Sanitäter gedient hatte, die Assistentin eine weiße OP-und Krankenschwester.

Oft waren Elend, schlechte Ernährung, mangelnde Ernährung oder ganz einfach Unwissenheit, wie man sich vor Ansteckungen stützte, die Ursachen der Krankheit. Helen tat, was sie konnte. Sie schonte sich nicht. Ihr Beruf, obwohl sehr anstrengend, bereitete ihr Freude. Im Nebenzimmer von ihrer Praxis stapelten sich Gaben wie Hähne und Hühner mit zusammengebundenen Füßen, frischgefangene Fische in zwei Bütten, Eier, Obst und Gemüse, allerlei Krimskrams, sogar ein paar alte Bilderrahmen, Perlstickereien und von einem Pflastermaler eine Bleistiftskizze der Ärztin, wie sie sich über ein Kind beugte.

Bargeld war knapp bei Helens Patienten. Sie zahlten mit dem, was sie hatten. Helen ließ das Allermeiste davon am Markt verkaufen oder gab es an einem Trödler in Kommission. Sonst wäre ihre Praxis völlig ohne Ertrag gewesen. Sie war eine Idealistin, doch ohne Geld ging es nicht. Medizin, Verbände, ihr Personal, Geld für die Droschke bei Krankenbesuchen und was sie sonst alles aufwendete wollte bezahlt sein.

An einen karitativen Verband wollte sich Helen bisher nicht wenden, um für ihre Arbeit eine Unterstützung zu erhalten. Dort wurde meist wenig gegeben und dafür viel vorgeschrieben und hineingeredet. Zu Allan Dubois, der leicht ein ganzes Krankenhaus hätte finanzieren können, wollte Helen schon gar nicht gehen. Helen hatte den Starrkopf ihres irischen Großvaters Dr. Jacob Farrar geerbt.

Ich werde mich durchbeißen, dachte sie. Irgendwie schaffe ich es. Ich kann doch meine Patienten nicht einfach im Stich lassen, nur die Reichen behandeln und ein Wohlleben führen. Charakterlich unterschied sich Helen von ihrer Schwester Blanche wie der Tag von der Nacht.

 

*

 

Es war zwei Uhr nachmittags, als Robert Dubois in Helens Praxis erschien.

»Haben Sie mich vergessen?«, fragte er. »Wir sind auf dem Alten Friedhof verabredet gewesen.«

»Ich habe die Zeit vergessen, sie ist mir davongelaufen«, antwortete Helen erschrocken. »Aber im Wartezimmer sitzen noch immer Patienten.«

»Ich habe sie weggeschickt«, sagte ihre Assistentin, eine resolute Frau Mitte Dreißig. »Sie müssen an sich denken, Dr. Farrar. Es nutzt nichts, wenn Sie sich aufreiben. Dann werden Sie bald selbst einen Arzt brauchen und niemand mehr helfen können. - Jetzt essen Sie erst einmal zu Mittag. Ich habe im Lokal um die Ecke eine Mahlzeit bestellt. - Keine Widerrede.«

Helen schaute sie an, schwieg dann und nickte dankbar. Das Essen wurde unter einer Silberglocke hereingebracht. Der Bote vom Restaurant hatte schon gewartet. Es handelte sich um Shrimps New Orleans und Krabbensalat. Dazu gab es Weißbrot.

Erst als sie zu essen anfing, merkte Helen, wie hungrig sie war. Sie futterte alles auf und wischte den Teller mit Weißbrot ab, was ihre Tante Pitty entsetzt hätte. Robert Dubois hatte nebenan gewartet. An dem Tag trug er sauber gewaschene und gebügelte Kleidung. Sogar seine Kapitänsmütze war fleckenlos sauber.

»Wollen Sie auf Brautschau gehen, Kapitän?«, neckte ihn Helen.

»Ich weiß schließlich, was sich gehört, wenn ich mit einer Dame zusammen bin«, antwortete Robert Dubois galant. »Ruhen Sie sich ein wenig aus, Helen, dann wollen wir zu dem Alten Friedhof fahren. Ein Einspänner wartet vor der Tür.«

Helen gehorchte. Kurz darauf stiegen sie auf den eleganten Einspänner. Ein Lederfaltdach spannte sich über ihnen. Ein goldfarbener Appaloosa zog das Gefährt. Robert Dubois ergriff die langen Zügel und knallte mit der Peitsche. Das Gefährt rollte los. Auch um die Mittagszeit herrschte während des Mardi Gras bereits Trubel auf den Straßen von New Orleans, wenn auch noch nicht soviel wie zu späteren Stunden.

Während des gesamten Mardi Gras kam die Stadt nicht zur Ruhe. Robert Dubois fuhr am Vieux Carré, dem alten französischen Viertel, vorbei. Hier befand sich einer der ältesten Teile der Stadt. Nach zwei verheerenden Großbränden, von denen der letzte erst ein Dutzend Jahre zurücklag, war von den alten Gebäuden kein einziges stehengeblieben.

Ursprünglich hatten hier einmal Zypressenhütten gestanden, die zudem mit Zypressenrinde gedeckt wurden. In den allerersten Jahren waren in New Orleans nur Klöster und Kirchen aus Ziegeln oder Steinen gebaut worden. Dafür wies fast jedes Haus eine breite Veranda oder Freitreppe auf. Auf dieser zu sitzen und mit den Nachbarn zu plaudern, war ein Teil des Lebensstils.

Erst das Eindringen der Nordstaatler seit dem Sezessionskrieg änderte das sprichwörtliche gastfreundliche und offene Verhältnis der Südstaatler zu ihrer Umwelt.

Mit Kapitän Dubois als Begleiter war Helen diesmal während des Mardi Gras nicht in Gefahr. Robert Dubois war ganz der Mann, selbst mit den übelsten Raufbolden und Rabauken fertig zu werden. Sein Bruder Allan stand ihm darin nicht nach. Helen hatte einmal erlebt, wie er drei berüchtigte Schläger auf offener Straße mit Faustschlägen niederstreckte, weil sie sie beleidigt hatten.

Dabei war er nicht einmal außer Atem geraten. Allan focht, schwamm und ritt wie der Teufel und war zudem ein ausgezeichneter Schütze. Auf fünfzig Schritte schoss er das Herzas aus der Karte. Zumindest im Schießen war Robert genauso gut wie er. Von klein auf hatte es zwischen Robert und seinem jüngeren Bruder eine starke Rivalität gegeben. Sie wirkte sich heute noch aus.

Es war warm, jedoch noch nicht heiß im Februar im Louisiana. Noch stiegen keine Dünste und schwüle, drückende Giftluft sowie Mückenschwärme aus den Bayous, den Wasserläufen an der Mündung des Mississippi.

Robert fuhr mit dem Einspänner durchs breite Portal auf den Friedhof. Zwei riesige weiße Marmorengel flankierten rechts und links den Eingang. Zypressen und andere Bäume und Büsche wuchsen auf dem romantischen alten Friedhof. Viele Prominente und andere Größen hatten hier seit über 150 Jahren ihre letzte Ruhestätte gefunden. Stellenweise wucherte das Gestrüpp in den ältesten Teilen des Friedhofs, dass sie wie eine verzauberte Wunderlandschaft wirkten.

Manche der Mausoleen und Familiengräber waren völlig zugewuchert. Es war friedlich auf dem Alten Friedhof zwischen Navigation Canal und der Robertson Street. Bei vielen Gräbern brannten jedoch Kerzen und standen Grabgaben, Früchte, Fleisch, Blumen, Whisky-und Brandyflaschen und welche mit Wein. Die Toten sollten mit den Lebenden den Karneval feiern. Das war so ein alter Brauch.

Der Friedhof war was die Gräber der alten Familien und Reichen betraf eine Totenstadt. Manche Grabmale und Mausoleen waren zwei-und dreistöckig, kunstvolle Bauwerke, Totenwohnungen aus Tuffstein oder aus Marmor. Kunstvolle Skulpturen und Bildhauerarbeit schmückten sie.

Beim Familiengrab der Dubois’, einem zweistöckigen Marmormausoleum, hielt Robert an. Er band das Pferd an einem Strauch an und hängte ihm den Hafersack um. Er wollte Helen vom Wagen helfen. Doch sie sprang geschmeidig herunter.

»Danke, Kapitän, aber ich bin noch keine Matrone.«

Robert tippte an die Mütze.

»Zu meiner großen Freude. Allan war ein Narr, dass er Sie aufgab und Blanche heiratete. Er hat einen Goldklumpen gegen Katzengold vertauscht.«

Katzengold war falsches, unechtes Gold. Helen lächelte geschmeichelt, ging jedoch nicht auf das Kompliment ein. Aus dem Gepäckkasten von dem Einspänner holte Robert ein Stemmeisen. Er besaß einen Schlüssel für die schmiedeeiserne Tür in dem Eisenzaun, der das Dubois-Mausoleum umgab. Das Schloss war geölt, die Tür quietschte jedoch in den Angeln. Helen wunderte das.

Allan war sonst ein Mann, der auf die Kleinigkeiten genauso achtete wie auf die großen Dinge. Wenn er das Mausoleum öfter besuchte, und das würde er, wenn Blanche hier begraben lag, wäre das Quietschen ihm aufgefallen. Dann hätte er es abstellen lassen.

Drei Stufen führten zur Tür in das Mausoleum hinunter. Eine große Eidechse saß auf einem schmalen Absatz an der Wand des zweistöckigen weißen Grabmals und züngelte Helen entgegen. Stellenweise wies das Mausoleum dunkle Streifen vom Regenwasser sowie wenig Moos und Pilzbewuchs auf.

Helen war seit Blanches Beerdigung nicht mehr hier gewesen. Sie hatte es nicht fertig gebracht. Ein leiser Schauer überlief sie, als Robert abermals aufsperrte und sie die kühle, modrig riechende Gruft betraten. Die Gruft hatte eine hohe, mit Stuckarbeiten verzierte Kuppeldecke. Durch schmale Schlitze und Öffnungen fielen Bahnen von Sonnenlicht ein, in denen Staubkörnchen tanzten. Gaben und Geschenke für die Toten der Familie standen am Boden bei einer Gebetbank. Soweit achtete Allan die Tradition. Vermutlich hatte er jemand den Auftrag gegeben, oder die Opfergaben für die Toten waren einer früheren Anweisung folgend gebracht worden.

An drei Seiten sah man die übereinander angeordneten Sargfächer. Helen überflog die Inschriften an den Steinplatten, die jeweils die Sargfächer verschlossen. Erwachsene wie auch Kinder hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Dolores Anita Dubois, geborene de Santana, las Helen zum Beispiel auf einer Platte. 1778 bis 1803. Tochter des letzten spanischen Gouverneurs von Louisiana. Ruben Dubois, 1799 - 1803, Ines Dubois, 1801 - 1803, hingerafft von der Cholera. Unvergessen für immer. Das war damals nicht die einzige Epidemie gewesen, die New Orleans heimgesucht hatte.

Versonnnen betrachtete Helen einen Moment den Palmzweig auf der Steinplatte vor dem Grab der armen jungen Frau und ihrer beiden kleinen Kinder. Robert hatte sich bereits der Platte zugewendet, hinter der Blanches Sarg aus Edelholz stand.

Blanche Dubois, geborene Farrar, stand auf der Platte. 1848 - 1871. Geliebte und unersetzliche Gattin des Allan Dubois. Und darunter, unter einer eingemeißelten Taube: Die Liebe ist stärker als der Tod. Nachdenklich las Helen die Inschrift. Sie begriff. Allan hatte den Tod seiner Gattin nicht hinnehmen wollen. Er wehrte sich mit all seinen Kräften und Mitteln dagegen.

Robert schaute sie an. Helen nickte. Dumpf hallten die Schläge, als der immer noch starke Mann die Steinplatte mit dem Brecheisen zerschlug. Die Stücke fielen herunter. Schon sah man die Silbergriffe und -beschläge des Prunksargs schimmern. Helen half Robert, ihn aus der langen Nische zu ziehen.

Der Sarg rutschte ihnen aus der Hand und landete mit dem Fußende voran mit einem dumpfen Knall auf den Steinplatten des Fußbodens. Noch war er geschlossen, doch das Holz erhielt einen riß. Robert fackelte nicht. Er setzte das Brecheisen an und hebelte an ein paar Stellen kurz und kräftig.

Die Schrauben sprangen hervor. Jetzt konnte man den Sargdeckel, den Blanches silberne Totenmaske und betende Hände sowie ein Ölzweig zierten, wegziehen. Der Sargdeckel war schwer. Robert und Helen zogen ihn weg. Dann beugten sie sich über den offenen Sarg.

Der Kapitän und die junge Ärztin schauten sich an. Der Prunksarg war leer. Man sah nur das mit Seide ausgeschlagene Innere und ein paar völlig verwelkte Blumen. Zwei tote Käfer lagen auf der weißen Seide. Sonst nichts. Falls Blanche sich überhaupt je in diesem Sarg befunden hatte, war sie schon lange daraus weggeholt worden.