26
Borchert, was ist? Träumen Sie?«
Überrascht sah Karl auf, geradewegs in das Gesicht Habichs, der ihn quer über die Tafel hinweg aufmunternd anschaute. »Was sagen Sie dazu?«
Karl hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
»Haben wir nicht gerade neulich darüber geredet?«, fuhr Habich fort. »Und siehe da, wen auch immer ich danach befrage – alle sind Ihrer Meinung!«
»Das geht mir leider nicht immer so«, konterte Karl, bemüht, sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen.
»Nein, wirklich, Leo«, wandte sich Bachmann, ein korpulenter Mann mit Glatze, der an der Querseite des Tisches saß, an Habich. »Ich habe allen Respekt vor deinen Aufsätzen aus den sechziger Jahren. Du hast damals eine Menge Luft aus vielen überflüssigen Diskussionen gelassen. Aber überleg doch mal: Was genau hat das gebracht? Letzten Endes hast du damit doch nur denen Auftrieb gegeben, die der Meinung sind, dass es höchste Zeit ist, sich von der Philosophie als ernstzunehmender Disziplin zu verabschieden.«
»Jetzt geht das schon wieder los«, lachte Habich. »Du willst mir doch nur aus der Nase ziehen, wovon ich aber nicht sprechen will, bevor mir nicht einige letzte Ergebnisse vorliegen!«
»Was denn für Ergebnisse?«, mischte sich nun auch Rabinowitz ein. »Nils hat doch recht, Leo. Was hast du uns vor deiner Reise nicht alles vorgeschwärmt! Du wolltest zurückgehen auf die historischen Umstände, unter denen sich gewisse entscheidende Fortschritte in der Ideengeschichte ereignet hätten. Descartes, war er nicht dabei? Wittgenstein, natürlich. Und wer war der Dritte?«
»Platon«, sekundierte ihr Forkenbeck.
»Platon. Und?«, nahm die hagere Frau den Faden wieder auf. »Was jetzt? Was hast du rausgefunden? Ich will dir ja nicht zu nahe treten. Und schon gar nicht vor all den Leuten hier.« Sie lächelte. »Aber wenn du noch nicht mal in unserem Kreis andeuten kannst, ob dir deine Reisen auch nur annähernd das gebracht haben, was du dir davon versprochen hast – nun, dann macht einen das irgendwie, wie soll ich sagen … misstrauisch.«
Habich antwortete nicht sogleich. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Nur das Klappern des Bestecks war zu hören, mit dem sich Frau Bachmann von der Muschelpasta nahm.
»Die Philosophie kann nichts erreichen, weil sie sozusagen geradezu dadurch definiert ist, dass sie die Sphäre der Gedanken nicht verlässt, richtig?« Habich hatte sich aufgerichtet, ließ den Blick über die Teilnehmer an seiner Tafel streifen. Das Schmunzeln, das sonst immer darin stand, hatte sein Gesicht verlassen. »Das ist es, was ihr wieder und wieder betont«, er blickte zu Karl, »und was so ein vielversprechender junger Mann wie Karl Borchert hier natürlich auch behauptet.« Er machte eine Pause. »Aber das ist ein Irrtum!« Seine Stimme schnitt durch den Saal. »Ich habe es schon oft behauptet – und ich werde nicht müde, es auch heute wieder festzustellen. Die Begriffe, mit denen wir uns die Welt erschließen, sind geistige Werkzeuge – Werkzeuge, auf die wir Zugriff haben und die wir verändern können. Das ist eine Binsenweisheit – aber sie hat heute so viel Gültigkeit wie vor zweihundert Jahren. Wir können reflektieren, uns auf die Begriffe besinnen, sie ändern und anpassen. Anpassen an die Wirklichkeit, von der ihr so hartnäckig behauptet, dass sie mit den Mitteln der Philosophie nicht erreichbar ist. Ich sage euch: Keine andere Disziplin als die Philosophie wird es uns gestatten, die Scheuklappen abzuwerfen, die uns nach wie vor den Blick einschränken. Oder vielleicht werden wir sie nicht wirklich abwerfen können – aber doch zumindest verkleinern. Gerade so, wie es in der Vergangenheit immer wieder Momente gegeben hat, in denen unser Verständnis der Welt und unseres Platzes darin einen entscheidenden Sprung nach vorn gemacht hat. Gerade dank der Philosophie und ihrer Reflexionsfähigkeit wird es den nächsten großen Durchbruch geben. Einen Durchbruch, der so etwas wie eine neue Ära einleiten wird.«
»Scheuklappen? Durchbruch? Ära?« Es war Rabinowitz, die das Wort hatte. »Mein lieber Leo – das ist ja alles schön und gut. Und tatsächlich hast du bereits öfters so oder ähnlich gesprochen. Und ich wäre auch die Erste, die dir recht geben würde, wenn ich nur könnte. Aber das sind doch alles bloß leere Behauptungen!«
Karl bemerkte, wie Habich seiner Frau Lara einen Blick zuwarf, die neben Forkenbeck saß. Er schien nicht damit gerechnet zu haben, dass die Diskussion ihm derartig auf den Leib rücken würde.
»Leo, du weißt, dass ich immer auf deiner Seite war«, ließ sich jetzt Nils Bachmann wieder vernehmen. »Auch damals – wann war das? Kurz nach dem Mauerfall? Dein Kratylos-Projekt – hab ich voll unterstützt, oder? Das hat schon Geld gekostet, aber ich hab an dich geglaubt und mitgemacht. Wie viele Studenten hatten wir damals dabei? Zwanzig? Dreißig?«
»Achtundvierzig«, präzisierte Habich, »und jeder einzelne von ihnen hat sich früher oder später über die Ausstattung der Räume beschwert, die du zur Verfügung gestellt hattest.«
»Unsinn!«, polterte Bachmann gutgelaunt dazwischen. »Diese Weicheier sollten sich mal nicht so haben. Sie brauchten nichts zu tun! Den ganzen Tag lang! Rumsitzen, sonnenbaden, essen, schlafen. Es waren sogar Frauen und Männer gemischt, und keiner älter als dreißig. So ein Leben möchte ich haben!«
Karl warf Rabinowitz einen Blick zu. »Wovon spricht er?«
Seine Nachbarin machte ihm ein Zeichen, dass sie ihn gleich aufklären würde, Bachmann aber erst ausreden lassen wollte.
»Okay, sie konnten nicht raus«, ereiferte sich Bachmann unterdessen weiter. »Aber es war auf …«, er blickte zu Rabinowitz, »wie viele Monate beschränkt?«
»Erst wollten wir vier Monate machen, am Ende sind acht daraus geworden – genutzt hat das aber auch nicht viel mehr«, antwortete sie.
»Genau«, fuhr Bachmann, jetzt wieder an Habich gerichtet, fort. »Acht Monate in dem Gehege. Voll verpflegt. Sie konnten tun und lassen, was sie wollten. Nur eines eben nicht.« Er lächelte.
»Das musste damals eher unauffällig gemacht werden«, erläuterte Rabinowitz Karl leise. »Man hätte uns wegen Menschenversuchen drankriegen können. Habich hatte die Idee gehabt, ein paar Dutzend Studenten in ein Gehege zu sperren, sie voll zu verpflegen, es ihnen aber zu verbieten, sich in einer existierenden Sprache zu verständigen. Denn das war es, was sie entwickeln sollten: eine neue Sprache.«
Unwillkürlich musste Karl an sein eigenes Projekt denken, das ihm die Forschungsgemeinschaft nicht hatte bezahlen wollen. Eine ganz ähnliche Versuchsanordnung. Nur wäre er niemals auf die Idee gekommen, für so etwas lebendige Menschen zu … ja, zu »verwenden«, musste man wohl sagen. Er sah zu Habich. Der hatte da offenbar weniger Skrupel gehabt.
»Das ist lange her, Nils«, hörte er ihn zu Bachmann sagen, während Habich etwas missmutig auf seinem Teller herumstocherte. »Zwanzig Jahre, um genau zu sein.«
»Aber das war eine gute Idee«, hielt Bachmann dagegen. »Darum geht es mir. Und deshalb hab ich dich damals auch unterstützt. Genauso wie heute. Der Unterschied ist nur, dass ich damals sehr genau wusste, was du mit dem Geld anfängst. Heute hab ich keine Ahnung davon.«
Habich sah ihn ruhig an. »Soll ich mich jetzt vor dir rechtfertigen und einen Bericht schreiben? Monatlich? Wie hättest du’s gern? Täglich, stündlich?«
Bachmann breitete die Arme aus. »Leo, du weißt genau, was ich meine. Deine Berichte kannst du dir sparen. Ich will dich nicht kontrollieren oder sonst was. Ich will teilhaben, verstehst du? Ich will verstehen, worin ich investiere!«
»Das wirst du auch«, entgegnete Habich, den Blick weiterhin ruhig auf Bachmann gerichtet. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der Punkt ist nur«, er strich sich kurz über die Augenbrauen, »dass ich einfach noch nicht sehr viel erzählen kann.«
»Das macht doch nichts –«
»Nein, pass auf«, unterbrach Habich ihn, »am ehesten verstehst du vielleicht, was ich meine, wenn du dich fragst, was uns das Kratylos-Projekt damals eigentlich gebracht hat.«
»Das finde ich nicht, dass man das fragen muss«, ereiferte sich Bachmann lautstark. »Ist doch klar, dass nicht jedes Projekt erfolgreich sein kann. Wichtig scheint mir vielmehr, dass man überhaupt erst mal ein Forschungsprojekt konzeptioniert, das sinnvoll ist, vielversprechend und spannend. Der Kratylos war es. Deswegen haben wir ihn realisiert. Dass am Ende nicht viel daraus geworden ist, dass die Sprache, die unsere Studenten entwickelt haben, nicht viel getaugt hat – gut. Für mich steht das auf einem anderen Blatt.«
»Vielleicht stimmt das ja«, ging Habich auf ihn ein. »Immerhin gibt es ein paar Videoaufzeichnungen von dem Projekt, die ich Ihnen übrigens«, und damit sah er zu Karl, »bei Gelegenheit unbedingt einmal vorspielen muss, Borchert. Darauf können Sie sehen, wie unsere Versuchspersonen sich darum bemühen, über die allerrudimentärsten Kommunikationsformen hinauszukommen. Möglicherweise war ja wirklich die kurze Laufzeit daran schuld, dass nicht mehr daraus geworden ist.« Er griff nach seinem Glas und hob es in Bachmanns Richtung. »Dank dir noch mal dafür, dass wir das damals realisieren konnten.« Habich nahm einen Schluck und stellte das Glas wieder hin, bevor er fortfuhr: »Aber wie man es auch dreht und wendet, Nils, letztlich ist wirklich nicht viel bei dem Projekt herausgekommen. Und das ist etwas, was ich mir nicht noch einmal leisten kann.«
»Dass nichts bei rauskommt.« Bachmann starrte ihn an.
»Dass nichts bei rauskommt, ja. Bei dem, was ich diesmal mache, muss es gelingen, verstehst du.« Habich sah den anderen ruhig an.
»Na klar versteh ich das.« Bachmann hielt beide Hände offen vor sich hin. »Natürlich soll es gelingen, aber deswegen musst du dich doch nicht komplett in Schweigen hüllen.«
»Was, wenn doch?«, versetzte Habich. »Was, wenn genau das der Unterschied ist zwischen dem, was ich jetzt mache, und dem, was wir damals mit dem Kratylos gemacht haben. Dass ich heute absolutes Stillschweigen bewahren muss, während wir damals zwar unauffällig gearbeitet haben, gleichzeitig aber sehr viele Leute an dem Projekt beteiligt waren und im Grunde genommen auch die Behörden Bescheid wussten. Allen war klar, dass jeder der Beteiligten jederzeit gehen konnte, deshalb war das alles kein Problem. Das ist diesmal anders. Diesmal kann ich nicht nur nicht damit an die Presse gehen. Diesmal kann ich selbst euch nicht – im Moment jedenfalls nicht – ins Vertrauen ziehen.«
Hatte es vorher zwischendurch immer wieder Essensgeräusche oder halblaut geführte Einzelgespräche unter den Gästen gegeben, die für einen gleichbleibenden Geräuschpegel gesorgt hatten, war es jetzt für einen Moment vollkommen still. Alle sahen ihn an.
»Du kannst deine Arbeit nicht mehr zur Diskussion stellen?«, durchbrach Rabinowitz das Schweigen.
»Ich fürchte, das wäre nicht ratsam«, entgegnete Habich und sah in die Runde.
Was ist das, was er macht?, musste Karl denken – und zugleich spürte er, wie aufgeregt er wurde, wenn er sich klarmachte, dass er hier war, in Urquardt, wo Habich arbeitete.
»Ist das gut genug für euch?«, sagte Habich in die Pause hinein, die entstanden war. »Über den Kratylos konnten wir von Anfang an reden, aber er hat nicht wirklich zu etwas geführt. Daraus müssen wir etwas lernen! Wir müssen tiefer bohren – und zwar so tief, dass man fragen könnte, ob das noch zulässig ist.«
Seine Augen glühten in ihren Höhlen.
Da war wieder Rabinowitz zu hören. »Fragen könnte, Leo? Fragen könnte, oder fragen wird?«
Doch diesmal reagierte Habich nicht ganz so souverän wie sonst auf ihre Sticheleien. »Was willst du denn von mir hören, Ursula – dass ich eigentlich aufhören müsste?« Seine Stimme durchschnitt den Raum, und Karl spürte, wie die zierliche Frau neben ihm erbebte, ganz offensichtlich überrascht von der Heftigkeit, mit der Habich ihr erwidert hatte.
Aber sie ließ sich nicht unterkriegen. »Was ist denn los, Leo? Ich hab ja Verständnis dafür, dass du nicht alles vor uns ausbreiten kannst. Aber ganz so geheimnisvoll musst du es doch auch nicht machen, oder? Ein Ansatz, eine Richtung, ein Hinweis? Komm schon, wir arbeiten seit vierzig Jahren zusammen, so einfach kannst du uns nicht abwimmeln.«
Habich fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Wie immer unbestechlich, meine liebe Ursula.« Er hatte sich wieder unter Kontrolle, aber seine Stimme verriet, wie angespannt er noch immer war.
»Ich habe ja erst zwei Tage Zeit gehabt, mich in Ihrem Archiv umzusehen«, ergriff Karl das Wort, von dem diffusen Gefühl geleitet, dass er seinem Gast- und Arbeitgeber womöglich ein wenig zur Seite springen sollte. »Und ich habe keine Ahnung von dem, was Sie gegenwärtig umtreibt. Aber die älteren Sachen, auf die ich gestoßen bin, haben mich schwer beeindruckt.«
Neugierig wandten sich ihm die Blicke zu.
»Sie helfen Leo zurzeit ein wenig?« Fragend sah Bachmann ihn an, und Karl spürte, dass er nun – nachdem er unvorsichtigerweise so vorschnell das Wort ergriffen hatte – der Runde auch etwas zu erzählen haben musste. Aber was? Er hatte doch bisher nichts als ein paar ebenso diffuse wie abstruse Ideensplitter zu fassen bekommen. Und was Lara ihm anvertraut hatte, Habichs Idee von einem tödlichen Geheimwissen? Konnte er hier unmöglich preisgeben.
»Professor Forkenbeck hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, Habich bei der Sichtung seines Archivs zu helfen«, stieß Karl hervor und warf seinem alten Professor einen Blick zu, von der vagen Hoffnung getragen, dass es ihm vielleicht gelingen würde, die Aufmerksamkeit von sich auf Forkenbeck zu lenken. Aber wie immer, wenn man ihn mal wirklich brauchte, war Forkenbeck auch diesmal wieder zu nicht viel nutze. Er saß lächelnd auf seinem Stuhl und sah mit seltsam erloschenem Blick in Karls Richtung, als wollte er sagen: Da musst du dich jetzt schon selbst rauswinden.
»Was machen Sie denn sonst so, wenn Sie nicht gerade Leo zur Hand gehen«, kam prompt Bachmanns Nachfrage.
»Bis zum Semesterende habe ich noch eine Assistentenstelle am philosophischen Institut in Berlin«, entgegnete Karl und ärgerte sich im selben Moment, dass es klang, als würde er sich verteidigen. So hat das doch keinen Sinn, sagte er sich und ging entschlossen zum Angriff über. »Im Moment allerdings sieht es ein wenig düster aus, denn ein Forschungsprojekt, auf das ich seit einigen Jahren hingearbeitet habe, ist vor ein paar Tagen abgesagt worden.«
Bachmann sah ihn schweigend an.
Sollte er ihn um Geld fragen?, schoss es Karl durch den Kopf. Bachmann schien ja Projekte zu unterstützen. »Und Sie?«, fragte er stattdessen.
Überrascht zogen sich die Augen des anderen zusammen, aber dann platzte es gutgelaunt aus Bachmann heraus. »Ich warte darauf, dass ich Leos neues Projekt vermarkten kann«, polterte er und fuhr fort: »Habe ich das eigentlich richtig verstanden? Ihr Name ist Borchert?«
Karl zuckte zusammen. Kannte Bachmann seinen Vater etwa auch? »Wie Christian Borchert, ja«, sagte er. »Das war mein Vater.« Er musste sich räuspern, so brüchig hatte seine Stimme geklungen. »Haben Sie etwa auch mit ihm studiert?«
Bachmann warf Habich einen irritierten Blick zu. »Hast du ihm das nicht erzählt?«
»Was erzählt?«, platzte Karl dazwischen.
»Dass Ihr Vater zu uns gehört hat«, nahm Habich jetzt das Gespräch an sich. »Nils hat recht, ich hätte es Ihnen gleich sagen sollen, Borchert, aber ich hatte gedacht, ich warte einen günstigen Zeitpunkt ab.«
Verwirrt sah Karl zu Rabinowitz. »Was denn, Sie haben ihn alle gekannt?«
Die zierliche Frau neben ihm lächelte beruhigend. »Ja, kann man so sagen. Bachmann, Habich, ich, Forkenbeck –«
Karls Kopf dröhnte. »Was?« Entgeistert sah er zu Forkenbeck. »Sie haben meinen Vater gekannt, Professor?«
Der griff unbeholfen nach seinem Glas und hob es, Habichs Geste von vorhin wiederholend, in Karls Richtung. »War ein prächtiger Bursche, Ihr Vater. Ich habe ihn wirklich sehr gerngehabt.« Er ließ den Blick in der Runde kreisen. Die anderen nickten.
»Auf Christian«, sagte Habich und lächelte Karl freundlich zu. »Ich bin sicher, er wäre stolz auf Sie.«
Aber da hatte sich Karl schon erhoben. Stolz? Wieso hatte ihm Forkenbeck das immer verschwiegen? Er arbeitete seit fast sieben Jahren mit ihm! Was hatten sie mit seinem Vater zu schaffen? Und wieso war er hier, ausgerechnet er?
Hilflos strich Karls Blick über die Gäste am Tisch, blieb an Lara haften, die ihn mitfühlend ansah. Ihm war klar, dass er so eigentlich nicht gehen konnte, aber er war zu verwirrt, als dass er gewusst hätte, was er hätte sagen sollen. »Sie entschuldigen mich einen Moment.« Er wandte sich abrupt ab und ging mit schnellen Schritten aus dem Raum.
Er würde ja mal aufs Klo gehen dürfen, dachte Karl, als er durch die Eingangshalle stolperte. Ihm war, als wäre sein Gesicht in heißes Wasser getaucht. Hatte ihn Forkenbeck als Studenten nur seines Vaters wegen angenommen? Nur seines Vaters wegen all die Jahre betreut? Hatte Forkenbeck ihm nur seines Vaters wegen den Job bei Habich vermittelt? Karl hatte geglaubt, es wäre wegen seiner Forschung gewesen – dabei hatte Forkenbeck nur aus Mitleid gehandelt? Aus Nettigkeit, einem alten Freund zuliebe?
Die Scham schien Karl wie heißer Schlamm unter sich zu begraben. Bachmann, Forkenbeck, Habich, Rabinowitz und wie sie alle hießen – das war sie doch, die verdammte Elite, zu der auch sein Vater gehört hatte, fuhr es ihm durch den Kopf. Zu der auch er immer zu gehören geglaubt hatte. Aber das war ein Irrtum gewesen! Er gehörte keinesfalls dazu – im Gegenteil, er war ein Versager, der auch noch Almosen brauchte. Nur dass ihm das erst jetzt langsam aufging.
Wie unter Strom stehend, schritt Karl die breite Treppe der Eingangshalle empor. Sein Blick fiel noch einmal in den Speisesaal, in den er von der Treppe aus gut hineinsehen konnte. Die anderen hatten sich von der Tür ab- und Habich zugewandt, der aufgestanden und hinter Laras Stuhl getreten war und ihr beide Hände auf die Schulter gelegt hatte. Er gab gerade eine Anekdote zum Besten, der seine Gäste mit angehaltenem Atem lauschten, und feuerte seine Pointe ab. Gelächter brandete auf.
Er war ein Versager, krochen Karl die Gedanken durch den Kopf, während er die Treppe hochtaumelte. Ein hilfloser, kraftloser, peinlicher Nichtskönner. Der sein Leben lang keine einzige tragfähige Idee entwickelt hatte. Es sei denn … es würde ihm gelingen, Habich sein Geheimnis zu entreißen.