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Aus: »Abschlussbericht der Urquardt-Kommission«, Anlage F, Aussage von Professor Dr. Jörn Forkenbeck, S. 108 ff.

 

»Vorsitzender: Sie waren als Student, das haben Sie mehrfach bestätigt, mit Leonard Habich und Christian Borchert befreundet –

Forkenbeck: Aber das waren Rabinowitz und Bachmann auch, Habich und Borchert waren ein faszinierendes Gespann.

Vorsitzender: Das glaube ich gern, Herr Forkenbeck, das glaube ich gern. Was wir jedoch nicht nur glauben, sondern wissen müssen, ist, inwieweit Ihnen bekannt war, was Habich und Borchert senior Ende der achtziger Jahre –

Forkenbeck: Da waren wir schon längst keine Studenten mehr.

Vorsitzender: Was Habich und Borchert zu diesem Zeitpunkt für eine Theorie entwickelt –

Forkenbeck: Hören Sie, ich habe keine Ahnung, was die beiden damals vorhatten. Müssen Sie das auf Video aufnehmen?

Vorsitzender: Ja, das müssen wir.

Forkenbeck: Können Sie nicht – oh, gut, machen Sie doch, was Sie für richtig halten. Ich kann Ihnen nur so viel sagen: Dass Borchert seinem Sohn das Implantat eingesetzt hat, ist etwas, was ich niemals begreifen werde. Aber es passt zu der Stimmung, in der sich Habich und Borchert immer befunden haben. Das war ja auch das Faszinierende an ihnen. Sie waren nicht nur selbst davon überzeugt, an etwas Großem dran zu sein – sie strahlten das auch aus. Man nahm es ihnen ab. Ohne dass sie viel darüber hätten reden müssen. Ich weiß nicht, woran es lag, vielleicht an Christian, er war ja später auch ein Arzt, dem man sich bedingungslos anvertraute.

Vorsitzender: Sie wussten also nicht, was die beiden vorhatten?

Forkenbeck: Nein, herrje! Die Theorie vom Sprachwesen? Gestern Nacht, als ich die Papiere durchgesehen habe, die Sie, Herr Vorsitzender, mir nach unserem ersten Gespräch überlassen haben, habe ich zum ersten Mal davon erfahren. Aber es ergibt Sinn! Vieles von dem, was mir bisher unklar war – Habichs Verhalten, Andeutungen, die er gemacht hat –, wird dadurch verständlich. Ich bin sicher, dass er derjenige war, der die Theorie entwickelt hat. Habich. Aber er wollte ihr auch auf den Grund gehen – und dafür brauchte er Christian, den Arzt. Uns anderen hat er nie etwas davon erzählt. Wozu auch – er brauchte uns ja nicht dafür!

Vorsitzender: Andeutungen, was für Andeutungen?

Forkenbeck: Wovon Habich sprach, war das, was er den Durchbruch nannte – und damit kann er nur den Moment gemeint haben, an dem es ihm gelingen würde, diese Theorie zu belegen. Genau deshalb kam Borchert ins Spiel, also Christian, der alte Borchert. Er war als Arzt dazu in der Lage, dorthin vorzustoßen, wo sich das Wesen ja aufhalten musste, im Kopf. Das stand ja von Anfang an fest: Wenn es wirklich ein Sprachwesen gab, konnte es nur – auf welche Weise auch immer – im Gehirn lokalisiert sein. Um also die Existenz des Parasiten nachzuweisen, musste er im Gehirn aufgespürt werden.

Vorsitzender: Aber was hatte das mit Borchert junior, mit Karl zu tun?

Forkenbeck: Nun, liegt das nicht auf der Hand? Natürlich konnten Leo und Christian nicht einfach einen Kopf aufbohren und das Sprachwesen herausholen. Die Verschränkung des Parasiten mit seinem Wirt musste grundlegender sein. Sie konnten auch keinen Toten sezieren, denn das war schon oft geschehen, ohne dass jemals ein Sprachwesen dabei herauspräpariert worden wäre. Nein, es gab keinen anderen Weg, als dort anzugreifen, wo sich psychologisches Erleben und physikalisches Geschehen berühren. Dass sie das dann über den Einsatz einer Elektrode versucht haben, verwundert mich nicht, denn zu diesem Zeitpunkt, Ende der Achtziger, war man, soviel ich weiß, durchaus schon dabei, erste Erfahrungen mit Implantaten zu sammeln.

Vorsitzender: Sie meinen also, dass Christian Borchert seinem Sohn Karl das Implantat eingesetzt hat, weil er und Habich hofften, auf diese Weise, dem … nun ja, dem Sprachwesen näher kommen zu können.

Forkenbeck: Sie wollten seiner habhaft werden – und es letztlich auch besiegen, das ist doch sonnenklar! Typisch Habich, würde ich sagen. Da kannte er nichts. Wie genau sie sich das vorgestellt haben, lässt sich auf die Schnelle nicht so ohne weiteres aus ihren Aufzeichnungen herauslesen. Aber es ging ihnen um die Korrelation von Gehirnzustand und subjektivem Eindruck. Sie mussten einerseits von außen mit der Elektrode dem Sprachwesen sozusagen auf den Pelz rücken – und andererseits von innen, durch die korrelierte subjektive Wahrnehmung des Probanden, dessen Wesen sie attackierten, gesagt bekommen, was sich dabei änderte – also ob es ihnen gelang, die Sprache zu beeinträchtigen, der Sprache beizukommen, mit einem Wort: die Herrschaft des Wesens über den Wirt einzuschränken.

Vorsitzender: Die physische Manipulation des Probanden sollte diesen in die Lage versetzen, etwas zu erkennen, das selbst wiederum kein rein psychisches, sondern ein physisches Phänomen ist – verstehe ich Sie da richtig?

Forkenbeck: Dadurch ergeben sich ja all die terminologischen Schwierigkeiten, denen man begegnet, wenn man Habichs Aufzeichnungen durchsieht, und mit denen er zu kämpfen hatte! Er vermutete, dass der Sprachparasit ein eigenständiges Wesen ist. Dass jeder von uns seinen eigenen Parasiten im Kopf hat. Diese Hypothese hat Habich dann zu einer regelrechten Theorie ausgebaut, sich das Sprachwesen als Heuschreckenschwarm vorgestellt und so weiter. Die begriffliche Schwierigkeit, mit der er zu kämpfen hatte, bestand aber darin, dass diese Tatsache – der Sprachparasit beherrscht uns – nur subjektiv entdeckt werden kann. Nur intern, verstehen Sie?

Vorsitzender: Nein, das verstehe ich nicht. Wenn es eine Tatsache ist, muss sie doch empirisch wahrgenommen werden können.

Forkenbeck: Irgendwann mal, ja. Aber zunächst wird das deshalb nicht gehen, weil wir viel zu lange schon von dem Parasiten sprachlich geprägt worden sind. Von außen betrachtet sieht für uns ein menschliches Gehirn wie eine Einheit aus, wir können darin keinen Sprachparasiten erkennen. Erst wenn wir durch eine entsprechende Stimulation des Gehirns eines Probanden die Herrschaft des Sprachparasiten über diesen Probanden einschränken, befreien wir sein Denken so, dass er den Parasiten intern erkennen kann. Würden wir das Gehirn des Probanden dabei von außen, empirisch beobachten, würden wir nichts Besonderes bemerken. Der Proband aber kann jetzt, bei entsprechender Stimulation, intern das Sprachwesen erkennen – weil die Stimulation die Macht des Sprachwesens einschränkt. Diesen Moment hat Habich als ›Durchbruch‹ bezeichnet. Der Moment, in dem es gelingen würde, den Willen des Sprachparasiten zu besiegen. Und dieser Durchbruch sollte dann die visuelle Entdeckung der Tatsache, dass der Sprachparasit ein wirklich existierendes Wesen ist, ermöglichen. Er sollte den Probanden, kurz gesagt, dazu bringen, seinen Parasiten intern zu sehen.

Vorsitzender: Das Sprachwesen außen, sozusagen im Hirn des Probanden sitzen zu sehen, würde also niemals möglich sein?

Forkenbeck: Nun, das ist natürlich sehr spekulativ, aber Habich meinte schon, dass auch das einmal möglich sein könnte, allerdings erst in ferner Zukunft. Ist das Sprachwesen erst einmal intern erkannt – so stellte er sich das vor –, könnte sich durchaus nach und nach eine ideale Sprache herausbilden, in der wir nicht länger vom Parasiten beherrscht wären, sondern in der wir die Oberhand hätten. So hoffte er, dass es irgendwann möglich sein würde, den Parasiten nicht mehr nur subjektiv, sondern objektiv zu erkennen, also nicht als Teil unseres Empfindens und Denkens, sondern als Teil der physischen Welt, in der wir leben. Als Tier. Als Parasiten eben. Dazu müsste allerdings unsere uralte Prägung durch den Parasiten erst einmal zurückgebaut worden sein, und das – darüber machte sich Habich keinerlei Illusionen – würde einige Zeit dauern. Der erste Schritt auf dem Weg zum neuen Begriffsschema aber würde der gewesen sein, das Sprachwesen überhaupt erst einmal benannt und als eigenständiges Wesen begriffen zu haben. Langsam, aber sicher würden wir uns mit dieser Vorstellung vertraut machen, und je selbstverständlicher sie uns werden würde, desto mehr könnten wir dem Wesen beikommen. Diese Entwicklung war das, was Habich die Epoche des ›Vierten Paradigmas‹ genannt hat.

Vorsitzender: Noch mal zurück zu dem Probanden, von dem Sie vorhin sprachen. Das war Karl Borchert.

Forkenbeck: Ganz genau. Dass Habich den Ansatz, den Durchbruch mit Karl zu realisieren, auch dann nicht aufgeben wollte, nachdem Karls Vater Christian tödlich verunglückt war, passt ebenfalls ins Bild. Christian ist nach dem Eingriff an seinem Sohn wohl mit seinem Gewissen nicht fertig geworden. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass dieser Mann, den ich als absolut besonnen und ruhig kennengelernt habe, bei einem Autounfall zu Tode gekommen ist, in den kein anderes Fahrzeug verwickelt war. Er ist einfach in voller Fahrt gegen einen Brückenpfeiler gerast. Damals haben wir uns gewundert, wie das möglich war. Heute wundert mich das kein bisschen mehr.

Vorsitzender: Sie bleiben somit dabei, Professor Forkenbeck, dass Sie von der Operation Karl Borcherts nichts wussten?

Forkenbeck: Nein, natürlich nicht! Habich wusste davon, ich aber nicht. Habich wusste, dass Karl Borchert das Implantat in sich trug. Deshalb hat er sich ja auch Jahre später noch für ihn interessiert.

Vorsitzender: Hat Habich dafür gesorgt, dass Borcherts Antrag auf Förderung von der Forschungsgemeinschaft abgelehnt wurde, um ihn besser nach Urquardt holen zu können? Welche Rolle haben Sie dabei gespielt, Herr Forkenbeck, wenn Sie, wie Sie sagen, nichts von dem Implantat wussten.

Forkenbeck: Wenn er es gekonnt hätte, hätte er es wahrscheinlich getan. Aber soweit ich weiß, reichte Leos Einfluss dafür nicht aus. Nein, ich denke, die Ablehnung hatte andere Gründe. Karls Projekt war der Forschungsgemeinschaft zu aufwendig, zu unorthodox, zu abwegig. Seinem Projekt lag eine gute Idee zugrunde, Borchert hätte das sicher prima durchgezogen – doch sie wollten es nicht. Ich hatte Habich hin und wieder von Karl erzählt, er hatte mich auch mehrfach nach ihm, nach dem Sohn unseres alten gemeinsamen Freundes Christian, gefragt. Ich dachte, Leo würde sich einfach so dafür interessieren, was der junge Borchert macht, aber dann, als Leo hörte, dass sie Karls Antrag abgelehnt hatten, wurde er plötzlich hellhörig und meinte, dass ich unbedingt versuchen sollte, den Jungen dazu zu überreden, bei ihm zu arbeiten. Ich sollte es jedoch so aussehen lassen, als wäre das nicht seine, Habichs, sondern meine Idee gewesen. Warum ich das tun sollte und was er in Wahrheit mit Karl vorhatte, dass er in Wahrheit hoffte, dort weitermachen zu können, wo er nach Christians Tod hatte aufhören müssen – das hat Habich mir natürlich nicht anvertraut.

Vorsitzender: Und das haben Sie sich gefallen lassen?

Forkenbeck: Ja, Sie haben ja recht. Aber wissen Sie, Habich kann sehr charmant sein und auch überzeugend. Erst recht, wenn ihm etwas wichtig ist. Und das war Karl ihm – auch wenn ich erst heute weiß, warum: Er war seine letzte Hoffnung.

Vorsitzender: Inwiefern?

Forkenbeck: Das geht ja ganz klar aus den Aufzeichnungen hervor, die Sie mir zur Einsicht überlassen haben. Alle Bemühungen Habichs, dem Wesen in einer Reihe von Selbstversuchen auf eigene Faust auf die Spur zu kommen, waren fehlgeschlagen. Seine letzte Hoffnung war, dass er das Implantat, das Christian seinem Sohn eingepflanzt hatte, noch nutzen könnte, obwohl es nicht mehr, wie ursprünglich geplant, an die Geräte angeschlossen werden konnte, die Christian dafür vorgesehen hatte. Nach Christians Tod hatte sich Habich ja nicht um diese Geräte gekümmert, er wusste nicht, wo sie waren, hätte sie auch niemals bedienen können. Aber er wusste, dass das Implantat wie eine Antenne wirken musste, wenn der Junge einer magnetischen Stimulation ausgesetzt werden würde. Die Frage war: Konnte diese Eigenschaft der Elektrode genutzt werden, um dem Sprachwesen sozusagen gerade so zu Leibe zu rücken, wie er das gemeinsam mit Christian ursprünglich geplant hatte? Für Habich war das die letzte Hoffnung, den Durchbruch, von dem er seit Jahrzehnten träumte, doch noch zu realisieren, doch noch die Kontrolle über das Sprachwesen zu erlangen, von dem er sich ja zunehmend kontrolliert fühlte – auch wenn es erst mal das Sprachwesen Karls sein würde. Das war es, was er hoffte, mit Karl hinzubekommen.

Vorsitzender: So weit, dass er Karl Borchert gewaltsam einer Stimulation unterzogen hätte, ist er jedoch nicht gegangen.

Forkenbeck: Nein, das stimmt. Vielleicht hätte Leo das getan, wenn ihm mehr Zeit geblieben wäre. Ich nehme an, er spekulierte darauf, Karl langsam vorbereiten und zu einem freiwilligen Versuch überreden zu können. Zugleich aber war er so verängstigt von der Vorstellung, dass Borchert einfach gehen könnte, wenn er ihm reinen Wein einschenkte, dass er es nicht wagte, ihm zu sagen, was er eigentlich mit ihm vorhatte. Dabei muss Habich im Hinterkopf schon seit langem mit dem Gedanken gespielt haben, Karl einmal für seine Zwecke zu gebrauchen.

Vorsitzender: Ach ja?

Forkenbeck: Aber sicher. Als er erfuhr, dass Christians Sohn an meiner Universität studieren würde, überredete er mich, dem Jungen erst einmal nicht zu erzählen, dass ich mit seinem Vater befreundet war. Seine Begründung: Karl würde bestimmt lieber als er selbst geschätzt werden – nicht als Sohn Christians. Und ich hatte ihm auch noch recht gegeben!

Vorsitzender: Gut, kommen wir jetzt noch einmal auf Ihre Beziehung –

Forkenbeck: Nein, warten Sie, bei allem Respekt Herr Vorsitzender, aber wer in welcher Beziehung zu wem stand, ist doch – entschuldigen Sie meine Wortwahl – scheißegal, angesichts einer ganz anderen Frage.

Vorsitzender: Und welcher?

Forkenbeck: Der Frage, ob Leo nur einem Scheinwesen nachgejagt ist – oder ob wirklich etwas dran ist. Ob das Sprachwesen wirklich existiert. Das ist doch die entscheidende Frage!

Vorsitzender: Ja –

Forkenbeck: Die kann aber nicht ich Ihnen beantworten, die müssen Sie mir beantworten!«