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Hunt drückte ein paar Tasten auf seinem Laptop, dann drehte er den Monitor so, dass Taylor ihn sehen konnte. »Sicher können Sie einen Anwalt haben. Kein Problem«, versicherte er ihr. »Wir werden ihm eine Kopie von dem hier schicken, damit er anfangen kann, an Ihrer Verteidigung zu arbeiten.«

Nach einem kurzen Zögern warf sie einen Blick auf den Monitor. Ihr Passbild stand oben auf der Seite, gefolgt von kleineren Bildern von all ihren falschen Pässen. Der Text verschwamm vor ihrem Blick, und ihre Finger zitterten, als sie die Seite weiter hinunterscrollte, während sie nach einem ganz besonderen Namen suchte.

»Sie sind alle da«, informierte Hunt sie. »Von Reno, wo Sie geboren wurden bis zu dem Raubüberfall am heutigen Abend im Museum von Houston. Und alles dazwischen auch.«

Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit von einem unscharfen Bild des Mehrfamilienhauses, in dem sie als Kind gelebt hatte, zu Hunts Gesicht. »Wie haben Sie das herausgefunden?«

»Sie haben in dem Haus in San Cristóbal nicht an Ihre Fingerabdrücke gedacht.«

Taylors Herz setzte einen Schlag lang aus. Oh Gott. Sie trug immer dünne Latexhandschuhe, wenn sie arbeitete. Und immer wechselte sie diese, wenn sie den Ort des Raubes verließ, ein drittes Paar lag ständig an dem Ort, an dem sie sich zum ersten Mal umzog, ein viertes Paar auf dem Weg zurück zu dem Ort, an dem sie übernachtete. Auch im Augenblick trug sie dünne Latexhandschuhe unter den schwarzen Spitzenhandschuhen. Ihr wurde ganz übel.

In dieser Nacht, als er sie aus dem Gefängnis befreit hatte, hatte sie an keine ihrer üblichen Vorsichtsmaßnahmen gedacht.

Angst stieg in ihr auf. Sie legte eine Hand an die Stirn und stellte entsetzt fest, dass ihre Finger zitterten. Denk nach. Konzentrier dich, und denk nach. Männer reagierten besser darauf, wenn eine Frau in Ohnmacht fiel als wenn sie sich auf ihre Schuhe übergab. Und obwohl sie auch das schon einmal getan hatte, um aus einer gefährlichen Situation zu entkommen, war es wirklich schwer, sich auf Kommando zu übergeben. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie es nicht tun würde, wenn es nötig wäre.

»Ich… mir ist nicht gut«, meinte sie schwach. Sie brauchte nicht mehr zu sehen. Es war alles da. »Kann ich mich ein paar Minuten hinlegen?«

Hunt schloss den Computer mit einem lauten Klicken. »Nein.« Mit seinen grauen Augen betrachtete er Taylor eindringlich. Es fiel ihr schwer, Luft zu holen, doch als sie in Hunts Gesicht sah, stockte ihr der Atem vollkommen.

»Jetzt, wo Sie wissen, dass wir wissen, dass sie nicht wirklich Ginger Grant sind, die das Zimmer 902 angemietet hat und auch nicht Mary Ann Wells - das ist der Name, unter dem Sie dieses Zimmer hier gemietet haben -, werden Sie vielleicht klug und hören auf, uns Unsinn zu erzählen.«

»Ich gebe Ihnen, was Sie wollen, und ich behalte die Juwelen. So war es abgemacht.« Sie sprach zu Huntington St. John. So weit Taylor das sah, war sonst sowieso niemand im Zimmer.

Diese Frau hat wirklich cajones, dachte Hunt voll ärgerlicher Bewunderung, selbst als er die Augenbrauen wegen ihrer Unverfrorenheit hochzog. »Sie sind gar nicht in der Lage zu verhandeln, meine Süße.«

»Eigentlich«, gab sie zurück, »bin ich sogar in einer großartigen Lage. Sie wollen etwas, was ich habe. Wer glauben Sie wohl hat hier die Macht?«

»Auf keinen Fall derjenige, der in der Falle steckt.«

»Das kommt alles darauf an, wie man die Dinge sieht«, gab sie zurück. »Was ist denn so falsch daran, wenn Sie mir einen Anreiz geben, indem Sie mit mir teilen?«

Hunt nahm an, dass sie Zeit schinden wollte. Wahrscheinlich war es keine gute Idee, wenn er ihr erlaubte, ihren unglaublichen Verstand zu lange arbeiten zu lassen. »Wie wäre es denn damit, nicht für den Rest Ihres Lebens im Gefängnis zu sitzen? Ist das kein guter Anreiz?«

»Bitte. Wenn ich Angst vor dem Gefängnis hätte, wäre ich dann eine Juwelendiebin?« Sie zuckte mit den Schultern, doch dann fügte sie schnell hinzu: »Eine angebliche Juwelendiebin.«

»Oh, um Himmels willen…«, fuhr Bishop auf.

Hunt hob die Hand, um Neal zum Schweigen zu bringen, doch er richtete seine Aufmerksamkeit auf Taylor. »Jetzt, wo Sie wissen, dass Morales ein Terrorist ist«, meinte er, »glauben Sie da auch nur einen Augenblick, dass er nicht auch das zurückhaben will, was Sie ihm gestohlen haben?«

»Er kann auf keinen Fall wissen, wer ich bin.«

»Warum denn nicht? Wir wissen es doch auch. Und was ist mit dieser Frau, die vor dem Raub in San Cristóbal zu Ihnen gekommen ist?«, drängte Hunt sie noch mehr in die Ecke. »Die Frau, die wollte, dass Sie den Inhalt des Safes für sie stehlen sollten? Was glauben Sie wohl, wer diese Frau war? Eine Nonne vielleicht, die für ihre Kirche eine Spende haben wollte? Wir glauben, dass sie ein Mitglied der Schwarzen Rose war.«

»Der Schwarzen Rose?«

»Eine weitere tödliche Terroristengruppe, die für ihre sinnlose Folter von Informanten, Feinden - zum Teufel, praktisch von jedem bekannt ist. Absichtlich oder durch Zufall - uns ist ganz gleich, was von beidem - haben Sie nicht nur die nationale Sicherheit in Gefahr gebracht, Sie haben sich auch mächtige und tödliche Feinde gemacht.«

Als würde es nicht reichen, sich nur mit einer Terroristengruppe abzugeben. Gütiger Himmel.

Hunt sprach weiter. »Sie sind zwischen Scylla und Charybdis gefangen.«

»Sie aber auch.«

»Ich auch«, stimmte Hunt ihr zu. »Wir haben Sie gefunden. Die Schwarze Rose hat Sie in San Cristóbal gefunden. Wie lange glauben Sie wohl wird Morales’ Mano del Dios brauchen, um Sie zu finden?«

Sie biss sich auf die Lippe, das einzige Zeichen, dass das, was er sagte, sie auch erreichte. Als sie merkte, was sie tat, hörte sie sofort damit auf. Sie hob das Kinn.

»Es ist sehr unangenehm, wenn so viele Menschen hinter dir her sind, auch wenn man gut darin ist, sich nicht erwischen zu lassen, nicht wahr?«

Teufel, ja, dachte Taylor, es war mehr als nur unangenehm, dass so viele Menschen herausgefunden hatten, wer sie war. Einschließlich ihres wirklichen Namens.

Aus den Augenwinkeln konnte sie den aalglatten Mr Huntington St. John erkennen. Er bewegte sich wie eine große Katze. Er machte keine plötzlichen Bewegungen, keine unnötigen Bewegungen. Es war entmutigend, als würde er darauf warten, dass seine Beute aus dem hohen Gras hervorbrach und floh, damit er hinter ihr herkonnte, voller Entschlossenheit, mit gefletschten Zähnen.

Ihre wilde Phantasie wäre noch ihr Ruin, wenn sie nicht sehr vorsichtig war. Reiß dich zusammen, riet sich Taylor. Bewahr deine Haltung. Ganz gleich, wer er auch war oder mit was er ihr drohte. Er war nur ein Mann. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie täglich mit reichen, gebildeten Männern umging.

Die anderen Männer störten sie überhaupt nicht. »Ich möchte ein Telefongespräch führen.«

»Nein.«

Ganz gleich, wer diese Männer hier zu sein behaupteten, gute oder böse Menschen, sie würde lieber sterben, ehe sie diese hier oder auch sonst jemanden in die Schweiz zu ihrer Schwester führte. Sie hatte Amandas Namen in ihren Nachforschungen nicht entdeckt. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nichts von ihr wussten. Wussten sie etwas? Sie hatte keinen Grund zu glauben, dass ihnen Mandy entgangen war, weil sie so gründlich gewesen waren. Sie konnte nur beten, dass sie zufällig nichts davon erfahren hatten.

Wenn sie ins Gefängnis musste, wenn sie starb, dann wäre Mandy für den Rest ihres Lebens gut versorgt. Taylor hatte sich selbst das Versprechen gegeben, dass sie alles tun würde, um ihre Schwester zu beschützen, ganz gleich, wie schrecklich die Dinge für sie selbst ausgehen würden. Alles würde sie tun.

Alle Blicke richteten sich jetzt auf sie, doch Hunts Blicke waren die einzigen, die sie beunruhigten. Sie wartete einen Augenblick, während sie ihre Möglichkeiten überdachte. »Also gut«, erklärte sie ihm dann mit ausdrucksloser Stimme. »Geben Sie mir achtundvierzig Stunden, dann werde ich Ihnen holen, was Sie haben wollen.« Sie würde in die Schweiz fliegen, nachsehen, was sie dort fand und sich dann entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollte. Wenn sie überzeugt war, dass das, was sie gestohlen hatte, wirklich für die nationale Sicherheit wichtig war, dann würde sie es ihnen bringen. Wenn nicht, dann würde sie es ihnen verkaufen, da es ja offensichtlich so wichtig für die Männer war. Sie würde für ihre Mühen eine hübsche Summe verlangen.

»Sie glauben, ich lasse Sie aus den Augen?«, fragte Hunt. »Das werde ich ganz sicher nicht tun.«

Wie viel soll ich ihnen bieten, damit sie mich in Ruhe lassen? Alles, begriff sie. Mit weniger würde Hunt sich nicht zufriedengeben. »Es ist alles in einem Safe in der Schweiz. Ich kann es schicken lassen, wohin Sie wollen.«

»Setzt euch mit dem Flughafen in Verbindung«, wandte sich Hunt an den Mann, der zusammen mit ihr im Aufzug gefahren war. Dann wandte er sich wieder an Sie. »Ich soll Sie jetzt sicher wieder nach dem Ort und nach dem Passwort fragen.«

»Das Passwort ist nicht das Problem.« Oh Gott. Sie hasste das alles. Sie hasste es, so viel von sich zu verraten. Sie hasste, hasste, hasste es, jemanden so nahe an Amanda herankommen zu lassen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Wenigstens nicht im Augenblick. »Dazu braucht man einen Scan der Retina.«

»Sehen Sie sich um, Süße. Sehen wir in Ihren Augen aus wie Amateure?«

Sie schluckte und schüttelte dann den Kopf.

»Hochwertige Plasmalaser sind ein Problem. Ein Scan einer Retina ist ein Kinderspiel.«

»Also gebe ich Ihnen das Passwort und Sie erledigen dann alles andere?«, fragte sie und fühlte sich erleichtert, dass bald alles vorüber wäre. »Großartig. Ich bin froh, dass wir uns einigen konnten. Ich werde Ihnen das Passwort aufschreiben und dann verschwinden.«

Der Ausdruck seines Gesichts lag irgendwo zwischen einem bösen Blick und dem, was für ihn wohl ein Lächeln bedeutete. Das bewirkte, dass sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten.

»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte er ihr zu.

Zu einfach, dachte Taylor.

»Aber das würde bedeuten, dass Sie eines Ihrer Augen rausnehmen müssten, damit wir den Scanner überwinden können.«

Sie hätte es wissen müssen. Taylor verspürte großen Widerwillen und verzog das Gesicht.

»Ich dachte mir schon, dass Ihnen diese Möglichkeit nicht gefallen würde.« Er streckte die Hand aus und fuhr mit einer Fingerspitze sanft über ihr Gesicht. »Ich habe auch nicht den Wunsch, Sie für den Rest Ihres Lebens zu entstellen. Also werden wir uns eine weniger… einfallsreiche Lösung überlegen.«

»Und die wäre?«

»Wir reisen alle in die Schweiz.«