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Nervös wie sie war, hatte Taylor es nicht geschafft, still stehen zu bleiben, sie hatte sich stattdessen damit beschäftigt, eine frische Kanne Kaffee zu kochen und die Überreste der Pizza wegzuräumen.
Er war schrecklich wütend gewesen, dass sie die Disketten geklaut hatte, und sie verstand, warum er sich so sehr ärgerte. Aber sie war nicht verpflichtet, ihm zu verraten, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst hatte, ob sie ihm vertrauen konnte. Und wenn er zuvor schon verärgert gewesen war, so war er während des Telefongesprächs erst richtig wütend geworden. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
Neal Bishop stellte sie den anderen vor. Offensichtlich hatte keiner von ihnen einen Vornamen. Taylor verschaffte sich einen schnellen Eindruck von Hunts Gruppe. Dies waren die Menschen, die mit Hunt zusammen waren, wann immer er das tat, was er tun musste.
Instinktiv wusste sie, dass Hunt sein Leben für diese Männer aufs Spiel setzen würde. Würden sie das Gleiche auch für ihn tun?
Sie betrachtete jeden einzelnen von ihnen sorgfältig, als sie einander vorgestellt wurden.
Austin: Ein Surfer-Typ, sonnengebleichtes Haar, gefährliche Augen, lässiges Lächeln. Escobar: kalte schwarze Augen, unruhig, voller nervöser Energie, während sie warteten, lief er unruhig hin und her. Savage: die einzige Frau, bemerkenswert hübsch, grüne Augen, rote Haare, beherrscht. Fisk: ein dunkelhäutiger Mann, beinahe dreißig Zentimeter kleiner als alle anderen, schlank, gute Hände, freundliches Lächeln.
Wenn sie ihre ganze Vorstellungskraft einsetzte, könnte sie glauben, dass alle hier zu einer Party waren. Als Freunde. Äh, nein. Sie war nicht sehr gut, wenn sie versuchte, sich selbst etwas vorzumachen.
Als Hunt gefolgt von Max endlich in die Küche kam, hatte sie schon damit begonnen, noch eine Kanne Kaffee zu kochen. Hunts Gesicht war grimmig verzogen, um seine Hand hatte er ein blutverschmiertes Handtuch gewickelt. Sie fragte sich, was wohl passiert war.
»Das ist es, was wir bis jetzt wissen«, meinte er und blieb an der Tür stehen. Jetzt war er wieder der eiskalte Mann aus Houston und der Gegner aus San Cristóbal. Er war ganz auf das Geschäft konzentriert.
Er machte ein paar Schritte in das Zimmer und blieb dann neben der auffallenden Rothaarigen stehen. »Das Hauptquartier hat die Verschlüsselung geknackt«, erklärte er ihnen. »Wie es scheint, hat Morales Dantes sieben Ebenen der Hölle in der verlassenen Mine nachgebildet. Die Langstreckenrakete befindet sich nach Auskunft von Satcom und nach den Infrarotfotos am Grund der Mine.«
Niemand sagte ein Wort, niemand bewegte sich.
»Und Taylors geschickten Fingern verdanken wir es«, sprach er weiter und sah sie an, während er sprach, »dass wir jetzt im Besitz der Zugangscodes für die Ebenen drei und fünf sind. Aber selbst mit diesen Codes - und vergesst nicht, es sind nur zwei von sieben Ebenen - wird es nicht einfach sein, in die Mine einzudringen. Morales hat Jahre damit verbracht, sich das alles auszudenken. Und er hat die besten und kreativsten Köpfe des Landes, die ihm dabei geholfen haben.«
»Unsere Abteilung für Analysen und unsere Expertenkommission werden die verschiedenen und möglichen Szenarien erarbeiten, während wir auf dem Weg sind. Bis jetzt wissen wir nur, dass Wissenschaftler, Maschinenbauingenieure und - Gott allein weiß, was zum Teufel das zu bedeuten hat - auch die Filmindustrie an den mehr als zehn Jahre dauernden Entwicklungen beteiligt waren, diesen Ort zu schaffen.«
Hunt sah von einem Mitglied seiner Mannschaft zum anderen, sein Blick glitt auch über Taylor, ohne innezuhalten. »Wenn ich unserem Nachrichtendienst glauben kann, haben sechzehnhundert Menschen für dieses Projekt ihr Leben gelassen. Ich glaube, dass alles, wofür José Morales seit Beginn von Mano del Dios gearbeitet und gekämpft hat, in dieser Mine versteckt ist. Wenn wir das zerstören, was er versteckt, dann haben wir auch Mano del Dios zerstört.«
»Du meinst, bevor oder nachdem wir das aktiviert haben, was sehr wahrscheinlich ein nuklearer Sprengkopf ist?«, fragte Daklin, er griff nach seiner Jacke und rutschte von dem Barhocker.
»Danach«, erklärte ihm Hunt und ignorierte Daklins Sarkasmus. »Das Flugzeug wartet mit laufenden Motoren. In zwanzig Minuten wollen wir abheben.«
Er hatte nicht ein einziges Mal zu ihr hingesehen, und Taylor begriff, dass er nicht die Absicht hatte, sie mitzunehmen. »Warum hast du Tausende von Arbeitsstunden eingesetzt, um mich in San Cristóbal zu finden, Hunt?«, wollte sie wissen, während die anderen damit beschäftigt waren aufzubrechen.
Sie blieben alle wie angewurzelt stehen. Wie ein Tuch senkte sich das Schweigen über den Raum.
»War der Grund dafür nicht der, dass ich in diese Einrichtung, für die diese Codes gedacht waren, einbrechen sollte?«, fragte sie ruhig. Ihr Herz allerdings raste, und ihre Handflächen waren vor Nervosität feucht.
Er sah sie mit einem Blick an, der ihr Blut zu Eis werden ließ. Jetzt war er nicht länger der Geliebte. Vor ihr stand der Agent von T-FLAC, der einen Auftrag auszufüllen hatte.
»Ich brauchte dich nur, um in diesen Safe einzubrechen«, erklärte er ihr abweisend. »Als ich dich in San Cristóbal erwischt habe, hattest du das bereits getan. Hättest du mir die Disketten damals gegeben, dann brauchten wir jetzt gar nicht mehr darüber zu reden.«
Leider war das die Wahrheit. Dennoch war der Gedanke, sich durch eine riesengroße Version von Dantes sieben Vorstufen der Hölle zu arbeiten, verlockend, und er versprach ihr all dieses herrliche Herzklopfen, das sie sonst immer verspürte, ehe sie einen ihrer Raubüberfälle beging. »Dein Boss wollte, dass ich mitkomme«, drängte Taylor. »Nicht wahr?«
»Michael Wright ist nicht mein Boss«, wehrte er ab.
Er hatte es aber nicht verneint. »Wollte er das?« Seit Monaten hatte sie keine wirklich aufregende Herausforderung mehr verspürt. Das wäre dort sicher der Fall. Ganz zu schweigen davon, dass sie dann einen triftigen Grund hätte, ein wenig mehr Zeit mit Hunt zu verbringen.
Hunt sah seine Mannschaft an, die Männer taten nicht einmal so, als wären sie nicht an der Unterhaltung zwischen ihnen beiden interessiert. »Seid ihr fertig?«, fragte er.
»Ich werde mitkommen. Unter einer Bedingung.«
»Falsche Antwort«, wandte sich Hunt an Taylor, und seine Augen waren ganz dunkel, als er ihr einen wütenden Blick zuwarf. »Für den Fall, dass du nicht so klug bist, wie du aussiehst, die Antwort lautet Nein. Hör dich doch nur an - es hat nicht einmal fünf Sekunden gedauert, und du stellst bereits eine verdammte Bedingung.«
»Das ist aber wichtig…«
Er kam zu ihr hinüber und packte sie am Oberarm. »Komm mit.«
»Was soll das? Du Tarzan, ich Jane?«, fragte Taylor, als er sie durch das Wohnzimmer zog, den Flur hinunter und dann die erste Tür öffnete, die er sah, die Tür zu ihrem Büro.
Er schob sie hinein und trat dann mit dem Fuß die Tür ins Schloss, noch immer hielt er ihren Arm gepackt. Er knipste das Licht an und drehte sie so, dass sie ihn ansehen musste. »Morales ist ein verrückter Hundesohn und ein gefährlicher Psychopath. Ich bin schlau. Ich bin hinterlistig, ich habe Erfahrung, ich bin entschlossen, und ich habe sechs Jahre gebraucht, um so nahe an ihn heranzukommen.
Der Mann glaubt, dass der Antichrist lebt, dass es ihm gut geht und er in Las Vegas haust, um Himmels willen! Die Koordinaten auf einer der Disketten deuten an, dass seine Langstreckenrakete genau in diese Richtung zeigt. Er hat Gott weiß wie viel Sarangas und andere Biowaffen und Chemikalien da unten in seiner Mine. Er hat seit Jahren Waffen und Munition angesammelt, wie andere Menschen Baseballkarten. All das hat er für den dreizehnten Oktober aufgehoben, um drei Uhr dreiunddreißig. Genau. Bis dahin sind es nicht einmal mehr achtundvierzig Stunden.«
Sie erwiderte ruhig seinen Blick. »Aber ich kann dafür sorgen, dass du schneller hineinkommst.«
»Himmel, Taylor. Wie kannst du mich darum bitten, dich - einen Zivilisten - in eine solche Gefahr zu bringen?«
»Ich habe dich nicht darum gebeten. Ich biete es dir an.«
»Ich möchte dich nicht einmal in einem Umkreis von tausend Meilen in seiner Nähe haben. Du hast doch gehört, was wir da draußen besprochen haben. Er hat eine Langstreckenrakete in dieser Mine versteckt. Wahrscheinlich sogar mit einem Atomsprengkopf.«
»Ich weiß, ich…«
»Er hat vor, in zwei Tagen eine ganze Stadt in die Luft zu jagen, über eine Million Menschen. Glaubst du denn auch nur einen Augenblick lang, dass ein Mann, der sich eine solche Mühe gemacht hat, Dantes Vorstufen der Hölle nachzuahmen, um das zu schützen, was ihm gehört, nicht auch eine verdammte Armee zu seinem Schutz besitzt?«
»Nein, aber…«
»Hast du jemals eine Pistole abgefeuert?« Sie schüttelte den Kopf. »Hast du je eine verdammte Waffe in der Hand gehalten?« Wieder schüttelte Taylor den Kopf. »Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn man einen Schuss abbekommt? Es ist ein Gefühl, als würde einem ein Tier das Fleisch mit Zähnen und Klauen aufreißen, und dann schüttet jemand Säure in die offene Wunde. So fühlt sich das an! Du blutest. Wirkliches Blut. Du könntest sterben!«
Hunt schloss die Augen, als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht hart. »Gütiger Himmel, Taylor, bitte mich nicht, zu …«
Sie legte ihm zwei Finger auf den Mund. »Ich behaupte ja gar nicht, dass ich keine Angst habe. Ich wäre ein Dummkopf, wenn ich die nicht hätte. Diese ganze Situation ist schrecklich. Und um ehrlich zu sein, ich weiß, ich werde noch viel mehr Angst haben, wenn wir erst einmal dort sind. Aber ich muss mit dir kommen. Wenn es dort irgendetwas gibt, das einem Safe ähnlich ist, ein Kombinationsschloss oder ein Tastenfeld, irgendetwas - dann bin ich diejenige, die genügend Geschick und Erfahrung hat, dich durch diese Ebenen zu bringen. Und da wir nur zwei von fünf Disketten haben, nehme ich an, dass du meine Hilfe gut gebrauchen kannst.«
Er fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar. »Es wird nicht klappen.«
»Natürlich wird es das. Hör auf, so dumm und störrisch zu sein. Du weißt verdammt gut, dass ich die Beste bin, die es überhaupt gibt«, fuhr Taylor ihn an. Sie prahlte nicht einmal. Sie war wirklich die Beste. Das wussten sie beide. Die Leute von T-FLAC mit all ihren beträchtlichen Mitteln hatten rund um die Uhr arbeiten müssen, um sie in San Cristóbal zu finden. Und nur aus dem Grund, weil Hunt die Beste haben wollte.
»Du bist verdammt viel zu unabhängig.«
Sie lächelte ein wenig. »Du sagst das, als wäre es schlimm.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr, sein Gesicht war grimmig verzogen. »Wie gut kannst du Befehle entgegennehmen?«
»Normalerweise nicht sehr gut«, antwortete sie ehrlich. »Aber in diesem Fall werde ich tun, was du mir sagst.«
»Ohne zu zögern? Ohne jede Erklärung?«
»Jawohl.«
»Da solltest du dir besser ganz sicher sein, denn wenn du erst einmal dort bist, gibt es keine Zeit mehr, zu verhandeln oder großartige Erklärungen abzugeben. Ich werde dein Kommandeur sein, wie ich es für meine ganze Mannschaft bin. Ich gebe die Befehle. Und du führst sie aus. Sofort. Ohne jede Frage.«
»Damit kann ich leben.«
»Sorg dafür, dass es so ist. Deine vollständige Fügsamkeit könnte sehr wohl bedeuten, dass du - oder ein anderes Mitglied aus meiner Mannschaft - lebst oder stirbst. Also, was hattest du für eine Bedingung?«