Drei Jahre in Island

 

September, vor vier Jahren

 

Nachdem Richard sich von Gabis Freundinnen, die schnatterten wie ein ganzer Bauernhof voller Gänse, hatte nackt zeichnen lassen (ein Abend, den Richard nie wieder erleben wollte), hatte er Gabi endlich dazu überreden können, mit ihm ins Kino zu gehen. Fast ein halbes Jahr hatte er bitten und betteln müssen, damit sie endlich etwas taten, was auch ihm Spaß machte.

Er hätte sich die Filme allein auch ansehen können, aber Richard wollte, dass Gabi auch an seinem Leben teilnahm. Und ein- oder zweimal im Monat ins Kino zu gehen und die Welt des Films zu genießen, das konnte doch nicht falsch sein. Richard war schon ganz wirr. Wollte er Gabi genügen? Oder ganz Richard sein?

Auf diesen großen Tag hatte er sich nun gewissenhaft vorbereitet. Nachdem Gabi ihm im August gesagt hatte, dass sie mit ihm Mitte September ins Kino gehen würde, war Richard sofort auf die Filmsuche gegangen. Was lief schon, was würde anlaufen. Zwei Filme unterschiedlichen Genres wollte er suchen, damit Gabi endlich erkannte, wie vielseitig interessiert er war. Bisher gab es nur Gabi hier und Gabi da. Kein Richard jetzt und Richard morgen.

Film eins auf seiner Liste für Gabi war 27 Dresses. Eine Liebesromanze mit Grey-Anatomy-Star Katherine Heigl. Der ideale Film für Verliebte. Das war seine erste Wahl.

Der zweite Film war 96 Stunden. Liam Neeson jagt durch Paris die Entführer seiner Tochter. Es soll reichlich Action und Spannung geben, sagten die Filmbesprechungen. Nachdem Gabi nicht zimperlich war, wäre sie vielleicht von diesem Film auch nicht abgeneigt.

Richard würde 27 Dresses wählen, aber er würde die Entscheidung Gabi überlassen, damit es nicht ihr letzter Kinoabend sein würde. Sie war schnell eingeschnappt, wenn man eine Entscheidung traf, die sich nicht zu einhundert Prozent mit der ihren deckte.

Samstagabend. Kinopalast. Die Entscheidung würde fallen.

»Warum sind denn hier so viele Leute?«, fragte Gabi.

»Samstag ist Kinotag. Da gehen viele Menschen ins Kino.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so viele sind.«

Richard dachte, dass es so viele Menschen eigentlich gar nicht wären. 

»Wann warst du denn das letzte Mal im Kino?«, fragte Richard. Er hatte darüber mit Gabi bisher noch nicht gesprochen.

»Ich glaube, zweitausendzwei war das.«

Richard riss die Augen auf. »Das ist ja sechs Jahre her.«

»Ja, stimmt. Und jetzt gehe ich schon wieder ins Kino. Weil du mich so nett gebeten hast, Richard.«

Ja, dreihunderttausendachthundertfünfundneunzig Mal, dachte er.

»Schön«, sagte Richard gedehnt.

»Das war’s dann aber auch wieder für die nächsten Jahre.«

Für Richard brach eine kleine Welt zusammen. Warum war Gabi nur so böse? Sie wusste doch ganz genau, dass er es liebte, ins Kino zu gehen. Und das mit ihr teilen wollte. Wenn man seine Vorlieben nicht teilt, für was braucht man dann eine Beziehung?

Richard war aber großer Hoffnung, dass 27 Dresses Gabis Meinung ganz und gar ändern würde. Ein Film für Verliebte. Richard war überzeugt, dass der Film Gabis Meinung ändern würde. Sie würde erkennen, dass gemeinsam im Kino einen Film zu erleben eine ganz große Sache war.

Im Foyer sahen sie auf die Tafel mit den Filmen, die an diesem Abend alle liefen.

»Was möchtest du denn sehen, Gabi?«

Sie las die Filmtitel auf der Tafel.

»Ich würde folgende Filme aussuchen. Ganz unterschiedliche Genres. Da wäre einmal 96 Stunden. Ein spannender Action-Thriller, der in Amerika schon super gelaufen ist. Oder 27 Dresses. Eine romantische Komödie …«

Richard wurde von Gabi unterbrochen.

»Also, ich möchte Drei Jahre in Island sehen«, sagte Gabi.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte Richard.

»Nee, warum. Hast du irgendwas gesagt?«

 »Ja. Ich würde mit dir gerne 27 Dresses ansehen. Ein Film, der zeigt, wie viel Spaß Liebe machen kann.«

»Diesen Romanzenquatsch schau ich mir auf keinen Fall an.«

Richard atmete tief durch. Und noch einmal.

»Romanzenquatsch? Du weißt doch gar nicht, um was es geht.«

»Brauch ich auch nicht. So Liebeszeug kannst du dir alleine ansehen.«

»Das ist kein Liebeszeug, sondern eine leichte Komödie über die Liebe.«

»Du glaubst auch an Liebe bis in den Tod und so? Vergiss es, so ein Zeug sehe ich mir nicht an«, sagte Gabi mit erhobener Stimme.

Dieser Abend hätte so schön beginnen können, dachte Richard.

»Was willst du dir ansehen?«, fragte er bemüht freundlich.

»Drei Jahre in Island

»Um was geht es in dem Film?«

»Du bist doch bei uns der, der sich mit Filmen auskennt. Du betest mir immer so viel von Filmen vor, Dinge, von denen ich mir nichts merken kann, weil es mich überhaupt nicht interessiert. Nun gehe ich endlich mit dir ins Kino und du kennst den Film nicht, den wir uns ansehen werden«, sagte Gabi laut.

Richard musste sich beherrschen, um jetzt nicht auch laut zu werden. Aber das war nicht sein Stil, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Er hätte Gabi nun viel über seine explizite Vorbereitung auf diesen Abend erzählen können, aber er ersparte sich diese sinnfreie Diskussion.

»Ich wusste ja nicht, dass du dir diesen Film aussuchst. Also, um was geht es in dem Film?«

»Ich habe diese Woche in der Tageszeitung davon gelesen. Eine tschechisch-polnisch-deutsche Produktion. Darin fliegt ein vierzigjähriger Sparkassenfilialleiter nach Island und lernt dort drei Jahre die Leute und das Land kennen.«

»Genau das richtige Thema für einen großen Kinoabend«, sagte Richard mit triefend viel Sarkasmus in der Stimme.

»Dachte ich auch«, sagte Gabi mit ernstem Ton.

Gabi hatte ihn, den Sarkasmus, wieder einmal nicht wahrgenommen.

Eine Studentin mit massivem Überbiss und fettigen Haaren an der Kasse lächelte Richard an. Gabi hatte sich abgeseilt und stand nicht in der drängelnden Menge, die Kinokarten kaufen wollte. Sie wartete hinter der Menge und musste sich nicht anrempeln lassen.

»Ähm, Kino drei«, sagte Richard. »Drei Jahre in Island. Zwei Karten.«

Die Studentin, Heidi stand auf ihrem Namensschildchen, lächelte unverdrossen weiter.

Richard dachte, nachdem er ihr den Titel des Filmes gesagt hatte, würde ihr das Lächeln wohl für immer einfrieren.

»Kino drei, der Herr. Parkett oder Loge?«

»Solch eine Großproduktion muss man schon aus der Loge verfolgen«, sagte Richard.

Heidi wirkte verwirrt. »Großproduktion? Sie haben doch Kino drei gesagt, oder?«

»Sie haben leider richtig verstanden.«

»Der Film hat Überlänge, daher kostet er leider einen Zuschlag von zwei Euro pro Karte. Ist das okay?«

»Überlänge?«

»Ja«, sagte Heidi. »Wussten sie das nicht?«

»Das war zum Glück bisher an mir vorbeigegangen.«

»Wollen Sie die Karten trotzdem?«

»Ja«, antwortete Richard.

Heidi lächelte ohne Unterlass und druckte die Karten aus.

»Bitte schön, der Herr.«

Richard nickte bedauernsvoll. Vor allem bedauerte er sich.

Er kaufte für sich noch eine Cola light und für Gabi, auf ihren Wunsch hin, eine Tüte Chips, einen Schokoriegel, eine normale Cola und im Kino selbst noch ein Eiskonfekt.

Während Gabi aß und trank, streichelte sie immer wieder über Richards Mittelzentrum.

»Der wird ja ganz groß«, sagte Gabi mit ihrer Zehnkampf-Schlafzimmerstimme.

»Du lässt ihm ja auch keine andere Wahl«, sagte er.

»Gefällt es dir etwa nicht?«

»Doch, wenn du dazu Lust hast, mach weiter.«

Ohne Gabis Dauerstreicheln wäre Richard genau sechzehn Mal eingeschlafen. So aber wurde er von Gabi immer wieder in die isländische Realität zurückgeholt. Der ausgesprochen unattraktive Sparkassenfilialleiter (gespielt von einem Polen, eine Mischung aus Bud Spencer und Terence Hill mit nur noch drei langen Haaren auf dem Kopf) kutschierte mit einem verbeulten Opel Astra, Baujahr 1992, durch Island und sagte hin und wieder einen Satz über das Land und die Leute. Dann fuhr er auch schon weiter, mit seinem Opel Astra. Das machte er einhundertsechzig Minuten lang.

Gabi aß und trank und streichelte Richards kleinen Freund über die komplette Filmdauer.

Richard hatte im Leben selten einen glücklicheren Moment erlebt als den, als der Film Drei Jahre in Island zu Ende ging.

»Und, wie fandest du ihn?«, fragte Gabi mit einem Strahlen.

»Tja, viel Island halt.«

»Du fandest ihn nicht gut?«, fragte sie erbost.

»Doch, du hast ein gutes Händchen für Filme, Gabi.«

»Wusste ich’s doch. Ich kenne doch deinen Geschmack. Als ich von dem Film las, wusste ich sofort, dass uns der beiden gefallen wird.«

»Wie du das nur immer machst«, sagte Richard. »Darum sind wir ja zusammen, weil einer den anderen so gut kennt und versteht.«

»Genau, du sprichst mir aus der Seele«, sagte sie.

Richard lächelte Gabi an. Heute war er nicht mal mehr fähig, im Bett Leistung zu bringen. Der Film und Gabis ewiges Streicheln hatten ihn ausgelaugt.

»Das wird erst der zweite Film sein, den ich mir auf DVD kaufe, sobald es ihn gibt«, sagte sie.

»Wirklich«, sagte Richard gedehnt. »Was ist denn der andere für ein Film?«

»Ein französischer. Den Titel weiß ich gar nicht mehr so genau. Aber es geht um ein Pärchen, das immer wieder Sex hat, obwohl einer von beiden oft überhaupt keine Lust hat. Der dauert, glaube ich, auch so was an die drei Stunden.«

»Wow, die Franzosen halt, die machen die echt starken, ambitionierten Streifen.« Richard hoffte, diese Folter nie wieder über sich ergehen lassen und diesen französischen Arthausfilm nie wieder mit ihr ansehen zu müssen.

»Den können wir uns ja nächste Woche mal an einem Abend bei dir angucken. Das wäre doch toll«, sagte Gabi.

»Ja, toll. Ich freue mich schon sehr.«

Welches Leid würde diese Frau ihm noch zufügen wollen?

»Ich fahre wieder mit zu dir, wenn das okay ist«, sagte Gabi.

»Klar, wir haben doch eine Beziehung, da musst du doch nicht immer fragen, ob du zu mir kommen kannst oder nicht.«

»Mir ist es lieber so.«

»Okay, deine Wahl. Und, was willst du machen?«

»Nach dem Film habe ich nun so richtig Lust, mit dir zu schlafen. Heute bin ich so heiß auf dich, Richard, heute will ich öfter kommen als sonst«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Richard fragte sich, was er nur verbrochen hatte, um so einen Samstagabend erleben zu müssen.