Richmond Bridge
Schwäne haben kein bestimmtes Ziel. Glücklich und zufrieden ziehen sie auf dem Wasser in der warmen Sonne ihre Kreise und tauchen nur ab und zu ihre Köpfe ins Wasser, um nach Insekten, Algen oder was auch immer zu suchen. Alex schaute ihnen schon seit mindestens einer halben Stunde zu, ließ sich von ihren trägen Bewegungen fast hypnotisieren. Wie fühlte sich so ein Schwan? Es musste jedenfalls ziemlich schwierig sein, in diesem schmutzigen Fluss die Federn so blütenweiß sauber zu halten.
Er saß auf einer Bank am Ufer der Themse, ganz in der Nähe von Richmond. Nicht weit entfernt, auf der anderen Seite der Richmond Bridge, verabschiedete sich der Fluss von der Riesenstadt London. Wenn Alex flussaufwärts blickte, sah er nur noch Felder und Wälder, die trotz der Hitze dieses Sommers von einem fast übertriebenen Grün waren.
Auf dem alten Treidelpfad schob ein Aupairmädchen einen Kinderwagen vorbei. Als sie Alex sah, klammerten sich ihre Hände fester um den Griff des Wagens und sie ging fast unmerklich schneller, obwohl sie sich nichts anmerken ließ. Alex konnte sich denken warum. Er sah furchtbar aus, so ähnlich wie die Jugendlichen auf den Fotos, die in der Gemeinde überall aushingen: Alex Rider, 14Jahre, sucht Pflegeeltern. Sein letzter Kampf mit Damian Cray hatte tiefe Spuren hinterlassen. Doch dieses Mal waren es nicht nur die Schnitte und Wunden in der Haut und die Blutergüsse– sie würden heilen, wie alle anderen Wunden, die man ihm schon zugefügt hatte. Dieses Mal war sein ganzes Leben aus den Gleisen geworfen worden.
Yassen Gregorovich und das, was er erzählt hatte, gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Es war jetzt schon zwei Wochen her, aber immer noch wachte er mitten in der Nacht schweißgebadet auf und durchlebte die furchtbaren letzten Minuten in Air Force One noch einmal. Sein eigener Vater– ein Profikiller, getötet von denselben Leuten, die jetzt auch Alex’ Leben an sich gerissen hatten? Es konnte einfach nicht wahr sein. Yassen musste gelogen haben, wahrscheinlich hatte er versucht, sich an Alex für das zu rächen, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Das hätte Alex nur zu gern geglaubt. Aber im Blick des sterbenden Russen hatte keineswegs ein verschlagener Ausdruck gelegen, sondern eine eigenartige Zuneigung– und das Verlangen, dass Alex die Wahrheit erfahren müsse.
Geh nach Venedig. Suche nach Scorpia. Dort findest du dein Schicksal…
Alex glaubte zu wissen, was sein Schicksal war– ständig belogen und manipuliert zu werden von Erwachsenen, denen er völlig gleichgültig war. Sollte er wirklich nach Venedig reisen? Wie sollte er Scorpia finden? Und überhaupt: War Scorpia eine Person oder ein Ort? Alex starrte die Schwäne an, als könnten sie ihm die Frage irgendwie beantworten. Aber sie schwammen einfach weiter und beachteten ihn nicht.
Ein Schatten fiel auf die Bank. Alex blickte auf; wieder einmal verkrampfte sich sein Magen. Vor ihm stand MrsJones. Heute trug sie eine graue Seidenhose und ein dazu passendes Jackett, das ihr bis zu den Knien reichte und fast wie ein Mantel aussah. Im Aufschlag steckte eine silberne Nadel, sonst trug sie keinen Schmuck. Hier, im Freien und in der Sonne, wirkte sie völlig fehl am Platz. Jedenfalls war er nicht im Geringsten erfreut, sie hier zu sehen. Sie und Alan Blunt waren überhaupt so ziemlich die letzten Personen, die er jemals wieder treffen wollte.
Sie setzte sich neben ihn. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie.
»Sie sitzen ja schon.«
Wie hatte sie gewusst, wo sie ihn finden konnte? »Werde ich etwa von Ihnen beschattet?«, fragte er misstrauisch. Es war gut möglich, dass sie ihn in den beiden letzten Wochen Tag und Nacht überwacht hatten. Das würde ihn jedenfalls nicht sonderlich überraschen.
»Aber nein. Ich habe einfach deine Freundin Jack Starbright gefragt, wo ich dich finden kann.«
»Ich bin mit jemandem verabredet.«
»Ich weiß, aber erst um zwölf. Jack hat mich besucht, Alex. Du hättest dich längst in Liverpool Street melden sollen, wir wollen deinen Bericht hören.«
»Warum sollte ich mich in Liverpool Street melden?«, fragte Alex verbittert. »Da ist doch nichts– nur eine Bank.«
MrsJones verstand sofort, was er meinte. »Das… das war ein Fehler«, gab sie zu.
Alex wandte sich ab.
»Ich weiß, dass du nicht mit mir reden willst, Alex«, fuhr MrsJones fort. »Und das musst du auch nicht. Aber kannst du mir wenigstens zuhören?«
Sie schaute ihn besorgt an, aber er gab keine Antwort, also redete sie einfach weiter.
»Es stimmt, dass wir kein Wort von dem glaubten, was du uns damals erzählt hast– und natürlich lagen wir damit völlig falsch. Wir haben uns wie Amateure verhalten. Aber uns erschien die ganze Geschichte einfach zu unglaublich– dass ein Mann wie Damian Cray die Welt bedrohen könnte! Der Mann war zwar reich und exzentrisch, aber im Grunde doch weiter nichts als ein eitler Popstar. Jedenfalls dachten wir das damals.
Falls du aber glauben solltest, dass wir alles beiseitefegten, was du uns erzählt hast, liegst du völlig falsch. Was dich angeht, sind Alan und ich nämlich völlig verschiedener Meinung. Um ehrlich zu sein: Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir dich erst gar nicht in diese Dinge hineingezogen, nicht einmal in die Geschichte mit den Stormbreaker-Computern. Aber darum geht es jetzt gar nicht.« Sie holte tief Luft. »Nachdem du weg warst, beschloss ich, mich doch noch einmal mit Damian Cray zu befassen. Dazu war ich nicht ermächtigt, also konnte ich nicht sehr viel tun, aber immerhin ließ ich ihn beschatten. Alles, was er machte, wurde mir gemeldet.«
Alex verdrehte nur wortlos die Augen.
»Ich erfuhr, dass du in den Hydepark gegangen warst, um an der Präsentation des Gameslayer-Spiels im Game Dome teilzunehmen. Später erhielt ich einen Polizeibericht über die Frau, diese Journalistin, die ums Leben gekommen war. Es kam mir zuerst nur wie ein unglücklicher Zufall vor. Dann erfuhr ich von dem Zwischenfall in Paris, bei dem ein Fotograf und sein Assistent ums Leben kamen. Inzwischen war Damian Cray nach Holland gereist, und schon hörte ich, dass sich die niederländische Polizei fürchterlich über eine wilde Verfolgungsjagd durch ganz Amsterdam aufregte– angeblich jagten Autos und Motorräder hinter einem Jungen auf einem Fahrrad her. Natürlich war mir sofort klar, dass du das warst. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, was wirklich los war.
Als Nächstes verschwand deine Freundin Sabina aus dem Krankenhaus von Whitchurch. Jetzt endlich schrillten bei uns sämtliche Alarmglocken los. Ich weiß, ich weiß! Du denkst, dass wir eine furchtbar lange Leitung hatten, und natürlich hast du Recht. Aber so ist es in jedem Geheimdienst dieser Welt. Wenn so ein Apparat reagiert, dann funktioniert er meistens sehr effizient. Aber oft reagiert er eben viel zu spät.
Und das war auch jetzt der Fall. Als wir dich endlich holen wollten, hatte dich Damian Cray in Wiltshire bereits erwischt. Wir befragten Jack Starbright, deine Haushälterin. Dann rasten wir sofort zu Crays Haus. Wir verpassten dich wieder um Haaresbreite, aber dieses Mal hatten wir absolut keine Ahnung, wohin man dich bringen wollte. Das erfuhren wir erst später. Air Force One! Die CIA ist fast durchgedreht. Letzte Woche hat der Premierminister Alan Blunt zu sich zitiert. Es kann gut sein, dass Alan zurücktreten muss.«
»Mir blutet das Herz«, murmelte Alex gleichgültig.
MrsJones überhörte die Bemerkung. »Alex, was du durchgemacht hast… Ich weiß, dass das alles sehr schwierig für dich war. Dieses Mal warst du ganz allein, und das hätte niemals passieren dürfen. Aber es ist eine Tatsache: Du hast Millionen Menschen das Leben gerettet. Daran solltest du immer denken, egal, wie schlecht du dich im Augenblick auch fühlst. Man könnte sogar sagen, du hast die Welt gerettet. Nur der Himmel weiß, was passiert wäre, wenn Cray seinen Plan hätte ausführen können. Jedenfalls möchte dich der Präsident der Vereinigten Staaten gerne kennenlernen. Der britische Premierminister übrigens auch. Und was immer das auch heißen mag– du hast sogar eine Einladung in den Buckingham-Palast bekommen, wenn du gehen willst. Sonst weiß natürlich niemand über dich Bescheid. Du wirst immer noch streng geheim gehalten. Aber du solltest sehr stolz auf dich sein. Was du getan hast, war… absolut erstaunlich.«
»Was ist eigentlich mit Henryk, dem Piloten, passiert?«, wollte Alex wissen.
Die Frage überraschte MrsJones, aber es war das Einzige, was Alex nicht wusste.
»Er ist tot«, sagte MrsJones. »Brach sich das Genick, als das Flugzeug umkippte.«
»Also, das war’s dann ja wohl«, sagte Alex und drehte sich zu ihr. »Würden Sie jetzt bitte gehen?«
»Jack macht sich Sorgen um dich, Alex. Ich übrigens auch. Es könnte sein, dass du Hilfe brauchst, um mit diesen Dingen fertig zu werden. Vielleicht eine Art Therapie.«
»Ich brauch keine Therapie. Ich will nur, dass man mich in Ruhe lässt.«
»In Ordnung.«
MrsJones stand auf. Noch ein letztes Mal versuchte sie, mehr von ihm zu erfahren. Das war jetzt schon das vierte Mal gewesen, dass sie nach einem Einsatz mit Alex hatte sprechen wollen; jedes Mal hatte sie gespürt, dass er irgendwie einen inneren Schaden erlitten hatte. Aber dieses Mal musste noch etwas Schlimmeres passiert sein. Sie wusste absolut sicher, dass Alex ihr etwas verschwieg.
Einem plötzlichen Einfall folgend fragte sie: »Du warst mit Yassen im Flugzeug, als er erschossen wurde. Hat er noch etwas gesagt, bevor er starb?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hat er noch mit dir reden können?«
Alex blickte ihr direkt in die Augen. »Nein. Er hat kein Wort mehr gesagt.«
Alex schaute ihr nach, als sie davonging. Es stimmte also, was Yassen gesagt hatte. Ihre letzte Frage war der klare Beweis dafür. Alex wusste jetzt, wer er war.
Der Sohn eines Profikillers.
Sabina wartete unter der Brücke auf ihn. Er wusste, dass dieses Treffen sehr kurz sein würde. Eigentlich gab es nicht mehr viel zu sagen.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie leise.
»Mir geht’s gut. Und deinem Vater?«
»Es geht ihm schon viel besser.« Sie hob die Schultern. »Ich glaube, dass er bald wieder ganz gesund sein wird.«
»Aber er hat es sich nicht anders überlegt?«
»Nein, Alex. Wir gehen weg von hier.«
Sabina hatte ihn am Abend zuvor angerufen und ihm erzählt, dass sie und ihre Eltern das Land verlassen wollten. Sie wollten ganz allein sein, damit sich ihr Vater gut erholen konnte. Und das würde ihm viel leichter fallen, wenn er ein neues Leben begann. Sie hatten sich für San Francisco entschieden. Edward hatte dort eine Stelle bei einer großen Zeitung angeboten bekommen. Und es gab noch bessere Nachrichten: Er schrieb an einem Buch: Die Wahrheit über Damian Cray. Das Buch würde ihm ein Vermögen einbringen.
»Wann reist ihr ab?«, fragte Alex.
»Am Dienstag.« Sabina wischte sich etwas aus dem Auge und Alex überlegte, ob es wohl eine Träne gewesen war. Aber als sie ihn wieder anblickte, lächelte sie. »Natürlich bleiben wir miteinander in Kontakt«, versprach sie. »Per E-Mail. Und du weißt, dass du immer herzlich willkommen bist, wenn du bei uns Ferien machen möchtest.«
»Solange sie nicht so ausgehen wie die letzten Ferien«, sagte Alex.
»Es wird ein ziemlich komisches Gefühl sein, in eine amerikanische Schule gehen zu müssen…« Sabina brach ab. »Du warst einfach fantastisch im Flugzeug, Alex«, sagte sie plötzlich. »Ich kann einfach immer noch nicht glauben, wie mutig du warst. Du hast offenbar nicht mal Angst vor Cray gehabt, als er dir all das wirre Zeug erzählte!« Sie schaute ihn an. »Willst du wirklich wieder für MI6 arbeiten?«
»Nein.«
»Glaubst du denn, dass sie dich jetzt in Ruhe lassen?«
»Weiß ich nicht, Sabina. Eigentlich ist mein Onkel daran schuld. Er hat vor vielen Jahren damit angefangen und jetzt bleibt es an mir hängen.«
»Ich schäme mich immer noch, dass ich dir nicht geglaubt habe«, gestand sie seufzend. »Und ich verstehe jetzt auch viel besser, was du damals durchgemacht hast. Ich musste irgendein Formular unterschreiben, Staatsgeheimnis oder so was. Jedenfalls darf ich niemandem von dir erzählen.«
Eine kleine Pause entstand. »Du wirst mir fehlen«, sagte sie leise.
»Du mir auch, Sabina.«
»Aber bestimmt sehen wir uns wieder. Du kannst doch mal nach Kalifornien kommen! Und ich schreib dir, wenn ich jemals wieder in London bin…«
»Prima.«
Aber es war gelogen. Irgendwie wusste Alex, dass es mehr war als ein Abschied für eine gewisse Zeit. Sie würden sich nie wieder sehen. Es gab keinen Grund dafür. Es war gekommen, wie es kommen musste.
Sie legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn.
»Mach’s gut, Alex.«
Er schaute ihr nach, als sie davonging und aus seinem Leben verschwand. Dann wandte er sich um und ging am Fluss entlang, an den Schwänen vorbei, ging immer weiter hinaus in die grüne Landschaft. Nicht ein einziges Mal blieb er stehen. Nicht ein einziges Mal blickte er zurück.