Der Witwenpalast

Dieses Gebäude hier ist der Palazzo Contarini del Bovolo«, erklärte MrGrey. »Bovolo nennt man in Venedig ein Schneckenhaus, und wie ihr seht, erinnert die Form dieser wunderbaren Treppe tatsächlich ein wenig daran.«

Tom unterdrückte ein Gähnen. »Noch ein einziges Museum, noch ein einziger Palast oder Kanal«, knurrte er, »und ich werfe mich unter den nächsten Bus.«

»In Venedig gibt es keine Busse«, erinnerte ihn Alex.

»Dann eben vor einen Wasserbus. Wenn er mich nicht überfährt, hab ich ja vielleicht Glück und ertrinke.« Tom stöhnte. »Weißt du, was das Blöde ist an dieser Stadt? Die ist wie ein Museum. Ein einziges riesiges Museum. Kommt mir vor, als wäre ich schon mein halbes Leben lang hier.«

»Morgen geht’s ja wieder nach Hause.«

»Keinen Tag zu früh, Alex.«

Alex sah das anders. An einem Ort wie Venedig war er vorher noch nie gewesen, und es gab nichts auf der Welt, was sich mit dieser Stadt vergleichen lassen konnte: dieses komplizierte Gewirr aus engen Gassen und Kanälen, diese unzähligen prachtvollen Gebäude, eines spektakulärer als das andere. Ein kleiner Spaziergang führte einen durch vier Jahrhunderte, hinter jeder Ecke wartete eine Überraschung: ein Markt am Rand eines Kanals, auf den Verkaufstischen große Fleischstücke und Fische, deren Blut auf die Pflastersteine tropfte; oder eine Kirche, die wie ein Schiff mitten im Wasser stand; ein vornehmes Hotel oder ein winziges Restaurant. Sogar die Geschäfte waren kleine Kunstwerke– in den Schaufenstern exotische Masken, grellbunte Glasvasen, köstliche Pasta und Antiquitäten. Die Stadt mochte tatsächlich ein Museum sein, aber ein sehr lebendiges.

Trotzdem konnte Alex Tom verstehen. Nach vier Tagen hatte auch er das Gefühl, genug gesehen zu haben. Genug Statuen, genug Kirchen, genug Mosaiken. Und genug Touristen, die sich unter der sengenden Septembersonne durch die Stadt schoben. Wie Tom fühlte er sich allmählich etwas übersättigt.

Und was war mit Scorpia?

Das Ärgerliche war, dass er absolut keine Ahnung hatte, was Yassen Gregorovich mit seinen letzten ominösen Worten gemeint haben konnte. War Scorpia vielleicht eine bestimmte Person? Alex hatte im Telefonbuch nachgesehen und nicht weniger als vierzehn Leute mit diesem Namen gefunden, die in und um Venedig lebten. Es könnte aber auch der Name einer Firma sein. Oder der eines Gebäudes. Scuole waren Häuser, in denen Arme wohnten. La Scala war ein Opernhaus in Mailand. Aber Scorpia konnte alles Mögliche sein. Keine Schilder wiesen darauf hin; keine Straßen waren danach benannt.

Erst jetzt, fast schon am Ende der Reise, sah Alex ein, dass es von Anfang an hoffnungslos gewesen war. Wenn Yassen ihm die Wahrheit gesagt hatte, waren die beiden Männer– er selbst und John Rider– bezahlte Killer gewesen. Hatten sie für Scorpia gearbeitet? Falls ja, musste Scorpia sich irgendwo im Verborgenen aufhalten… vielleicht in einem dieser alten Paläste. Alex betrachtete noch einmal die Treppe, die MrGrey ihnen erklärte. Wie konnte er wissen, ob diese Treppe nicht direkt zu Scorpia führte? Scorpia konnte überall sein. Buchstäblich überall. Und Alex war nach vier Tagen in Venedig immer noch nirgendwo.

»Wir gehen jetzt die Frezzeria hinunter zum Markusplatz«, verkündete MrGrey. »Dort können wir unsere Sandwiches essen, und anschließend besichtigen wir die Basilika St.Markus.«

»Toll!«, rief Tom. »Noch eine Kirche!«

Sie brachen auf, ein Dutzend englische Schulkinder, angeführt von MrGrey und Miss Bedfordshire, die sich angeregt miteinander unterhielten. Alex und Tom trödelten hinterher, beide schlecht gelaunt. Nur noch ein Tag war übrig, und das war, wie Tom gesagt hatte, ein Tag zu viel. Tom hatte von Kultur die Nase voll, aber er würde nicht mit den anderen nach London zurückfahren. Sein älterer Bruder lebte in Neapel, und er würde die letzten Tage der Sommerferien bei ihm verbringen. Für Alex bedeutete die Abreise morgen, dass er versagt hatte. Er würde nach Hause fahren, dann würde das neue Schuljahr beginnen, und

Und dann sah er es. Einen Sonnenreflex, der silberhell am Rand seines Blickfeldes aufblitzte. Er drehte sich um, aber nichts. Nur ein Kanal. Und ein zweiter Kanal, der den ersten kreuzte. Ein Motorboot, das unter einer Brücke hindurchfuhr. Die üblichen alten Fassaden, braune Mauern mit Fensterläden. Die Kuppel einer Kirche über den roten Dächern. Wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet.

Aber dann wendete das Motorboot, und jetzt sah er es wieder und wusste, dass es wirklich da war: ein silberner Skorpion an der Seite des Boots, vorn am Bug. Das Boot bog gerade in den anderen Kanal ein, und Alex starrte ihm nach. Es war keine Gondel oder ein tuckernder Wasserbus, sondern ein elegantes Sportboot. Glänzendes Teakholz, Vorhänge an den Fenstern, Ledersitze. Zwei Mann Besatzung in tadellosen weißen Jacken und Shorts. Einer stand am Steuer, der andere servierte dem Passagier an Bord gerade einen Drink.

Der Passagier war eine Frau. Sie saß kerzengerade und blickte starr nach vorn. Alex konnte gerade noch ihre schwarzen Haare, eine Stupsnase und ein ausdrucksloses Gesicht erkennen. Und dann war das Boot auch schon außer Sicht.

Ein Skorpion am Bug eines Motorboots.

Scorpia.

Der Zusammenhang war äußerst dürftig, aber plötzlich war Alex entschlossen, herauszufinden, wohin dieses Boot fuhr. Fast kam es ihm so vor, als habe man den silbernen Skorpion geschickt, um ihn zu irgendeinem bestimmten Ort zu führen.

Und da war noch etwas. Wie unbewegt diese Frau dagesessen hatte. Wie konnte man sich durch diese unglaubliche Stadt kutschieren lassen, ohne in irgendeiner Weise darauf zu reagieren, ohne auch nur wenigstens einmal den Kopf nach links oder rechts zu drehen? Alex musste unwillkürlich an Yassen Gregorovich denken. Der hätte sich genauso verhalten. Er und diese Frau waren dieselbe Sorte Mensch.

Alex wandte sich an Tom. »Du musst mir helfen!«

»Was ist denn?«, fragte Tom.

»Sag ihnen, ich hab mich nicht gut gefühlt. Sag, ich bin schon ins Hotel gegangen.«

»Wo willst du denn hin?«

»Erzähl ich dir später.«

Und damit verschwand Alex in einer schmalen Gasse und lief in die Richtung, in die das Boot gefahren war.

Aber dann erkannte er, dass er ein Problem hatte. Venedig war auf über hundert Inseln gebaut. Das hatte ihnen MrGrey gleich am ersten Tag erzählt. Im Mittelalter war das ganze Gebiet praktisch nur ein Sumpf gewesen. Deswegen gab es hier keine festen Straßen– nur Wasserstraßen und seltsam geformte Stückchen Land, die durch Brücken miteinander verbunden waren. Die Frau fuhr auf dem Wasser; Alex lief auf festem Boden. Ihr nachzulaufen war ungefähr so unmöglich, als befänden sie sich beide in einem Labyrinth, dessen Gänge sich an keiner Stelle kreuzten.

Schon hatte er sie aus den Augen verloren. Die Gasse, in die er gelaufen war, hätte geradeaus weiterführen müssen, schwenkte aber plötzlich in weitem Bogen um einen Häuserblock. Er lief um die Ecke, beobachtet von zwei Italienerinnen in schwarzen Kleidern, die vor einer Haustür auf Schemeln saßen. Dann stand er wieder vor einem Kanal, aber da war niemand. Eine Steintreppe führte ins trübe Wasser hinab, doch dort ging es nicht weiter… es sei denn, er wollte schwimmen.

Als er allerdings nach links blickte, erspähte er gerade noch das schäumende Kielwasser des Motorboots, das an einigen Gondeln vorbeiraste, die an einem modrigen Steg festgemacht waren. Die Frau saß immer noch bewegungslos am Heck, jetzt mit einem Glas Wein in der Hand. Das Boot schoss haarscharf unter einer niedrigen Brücke hindurch.

Alex blieb nur eines. Er rannte, so schnell er konnte, den Weg zurück, den er gekommen war. Vorbei an den zwei Frauen, die missbilligend den Kopf schüttelten. Erst jetzt merkte er, wie warm es war. Die engen Straßen waren von der Sonne aufgeheizt, und selbst im Schatten war es brütend heiß.

Schweißgebadet kam er wieder an der Straße an, von der er losgelaufen war. MrGrey und die anderen waren zum Glück schon weitergezogen.

Wohin jetzt?

Plötzlich sahen alle Straßen und Gassen gleich aus. Alex verließ sich auf seinen Orientierungssinn und wandte sich nach links, rannte an einem Obstladen vorbei, einem Kerzengeschäft und einem Restaurant, vor dem die Kellner draußen schon die Tische fürs Mittagessen deckten. Er bog um eine Ecke und gelangte auf eine Brücke– so klein, dass er mit fünf Schritten auf der anderen Seite gewesen wäre. Er blieb jedoch in der Mitte stehen und spähte den schmalen Kanal entlang. Der Gestank von abgestandenem Wasser stach ihm in die Nase. Nichts zu sehen. Das Boot war weg.

Aber Alex wusste, in welche Richtung es sich bewegte. Noch war es nicht zu spät, falls ihm nichts in den Weg kam. Er rannte weiter. Ein japanischer Tourist fotografierte gerade seine Frau und seine Tochter. Alex hörte noch das Klicken der Kamera, als er zwischen ihnen hindurchlief. Zu Hause in Tokio würden sie sich das Foto eines schlanken, sportlichen Jungen mit blonden Haaren anschauen können, bekleidet mit Kakishorts und Billabong-T-Shirt, das Gesicht schweißnass, die Augen wild entschlossen. Nettes Urlaubsandenken.

Ein Haufen Touristen. Ein Straßenmusikant mit Gitarre. Noch ein Café. Kellner mit silbernen Tabletts. Alex arbeitete sich durch das Gewühl, ohne auf die wütenden Rufe der Leute zu achten. Die Straße schien kein Ende zu nehmen. Aber weiter vorne musste doch endlich wieder ein Kanal kommen

Und da war er auch schon. Die Straße senkte sich und graues Wasser schwappte an die Kante. Alex hatte den Canal Grande erreicht, die größte Wasserstraße Venedigs. Und dort entdeckte er auch wieder das Motorboot mit dem silbernen Skorpion am Bug. Es war ungefähr dreißig Meter entfernt und bewegte sich mit jeder Sekunde weiter von ihm weg.

Alex wusste, wenn er es jetzt verlor, würde er es niemals wieder finden. Links und rechts gab es einfach zu viele Seitenkanäle, in die es verschwinden konnte. Es konnte am privaten Liegeplatz eines Palasts festmachen oder vor einem der eleganten Hotels anlegen.

Dann entdeckte Alex weiter vorne einen Landesteg, eine der vielen Haltestellen der Wasserbusse. Davor der Fahrkartenschalter und jede Menge Leute. Auf einem gelben Schild prangte der Name der Haltestelle: SANTA MARIA DEL GIGLIO. Ein großes Boot mit vielen Leuten an Bord legte gerade ab. Ein Wasserbus der Linie1. In genau so ein Boot waren sie am Tag ihrer Ankunft am Hauptbahnhof eingestiegen, und daher wusste Alex, dass es den Kanal in seiner gesamten Länge befuhr.

Alex sah sich um. Keine Chance, das Motorboot durch dieses Straßenlabyrinth zu verfolgen. Der Wasserbus war seine einzige Hoffnung. Doch er war bereits zwei Meter vom Landesteg entfernt. Alex musste schnell reagieren!

In diesem Moment fuhr eine Gondel mit einer ausländischen Touristenfamilie langsam an ihm vorbei, und der Gondoliere sang für seine grinsenden Passagiere ein italienisches Lied. Alex überlegte, ob er die Gondel kapern sollte, aber dann hatte er eine bessere Idee.

Er beugte sich vor, packte das Ruder und riss es dem Gondoliere aus den Händen. Der stieß einen überraschten Schrei aus, fuhr herum und verlor das Gleichgewicht. Die Touristen mussten entsetzt mit ansehen, wie er rücklings ins Wasser stürzte. Unterdessen hatte Alex das Ruder getestet. Es war ungefähr fünf Meter lang und ziemlich schwer. Der Gondoliere hatte es senkrecht gehalten und sein Fahrzeug mit dem breiten Paddelende durchs Wasser gesteuert. Alex nahm Anlauf, stach die Ruderstange in den Canal Grande und konnte nur hoffen, dass das Wasser nicht allzu tief war.

Er hatte Glück. Es war gerade Ebbe, und der Boden des Kanals war mit allen möglichen Sachen vollgemüllt– mit alten Waschmaschinen, Fahrrädern und Schubkarren, die die Venezianer unbekümmert und ohne Gedanken an Umweltverschmutzung einfach so da reingeworfen hatten. Das Ende der Ruderstange traf auf etwas Festes, und Alex stieß sich ab, riss die Beine in die Luft und flog in hohem Bogen nach vorn. Er benutzte dieselbe Technik wie beim Stabhochsprung in der Schule, und nachdem er so ein paar Meter über den Canal Grande gesegelt war, schoss er durch den offenen Eingang des Wasserbusses und landete mit beiden Füßen auf dem Deck. Er ließ die Ruderstange fallen und sah sich um. Die anderen Passagiere starrten ihn fassungslos an. Aber er war an Bord.

Auf den Wasserbussen wurden nur sehr selten die Fahrkarten kontrolliert, und auch jetzt war niemand da, der Alex wegen seines ungewöhnlichen Einstiegs zur Rede stellte oder gar verlangte, dass er bezahlen sollte. Er beugte sich über die Reling und genoss die kühle Brise, die ihm vom Wasser ins Gesicht wehte. Das Motorboot fuhr jetzt in Richtung Stadtzentrum.

Vor dem Schiff schwang sich eine schlanke Holzbrücke über den Kanal, die Alex sofort als die Akademie-Brücke erkannte, über die man in die größte Kunstgalerie Venedigs gelangte. Er hatte einen ganzen Vormittag dort verbracht und sich die Werke von Tintoretto, Lorenzo Lotto und zahllosen anderen Künstlern angesehen, deren Namen alle auf o zu enden schienen. Kurz fragte er sich, was er hier eigentlich machte. Er hatte die anderen allein weitergehen lassen. MrGrey und Miss Bedfordshire telefonierten wahrscheinlich schon mit dem Hotel, wenn nicht gar mit der Polizei. Und wozu das alles? Was hatte er denn schon in der Hand? Einen silbernen Skorpion an einer kleinen Motorjacht. Er musste den Verstand verloren haben.

Der Wasserbus wurde langsamer und näherte sich dem nächsten Landesteg. Alex spannte sich an. Wenn er jetzt abwartete, bis die einen Passagiere aus- und die anderen eingestiegen wären, würde er das Motorboot nie wieder sehen. Er befand sich jetzt auf der anderen weniger stark bevölkerten Seite des Kanals. Alex holte tief Luft und fragte sich, ob er wohl besser wieder rennen sollte.

Und dann sah er zu seiner unendlichen Erleichterung, dass das Boot jetzt auch sein Ziel erreicht hatte. Nicht sehr weit von ihm entfernt steuerte es einen Palast an und hielt schließlich hinter einer Reihe Holzpfähle, die schräg aus dem Wasser ragten wie Speere, die man dort wahllos hineingeworfen hatte. Alex sah zwei uniformierte Dienstboten aus dem Palast kommen. Einer vertäute das Boot, der andere streckte einladend eine Hand in einem weißen Handschuh aus. Die Frau griff danach und stieg an Land. Sie trug ein enges cremefarbenes Kleid und eine Jacke, die in Höhe des Bauchnabels endete. An einem Arm baumelte eine Handtasche. Sie sah aus wie ein Model vom Cover eines Hochglanzmagazins. Während die Diener ihre Koffer vom Boot holten, schritt sie bereits die Eingangstreppe hoch und verschwand hinter einer Säule.

In diesem Moment legte der Wasserbus wieder ab und Alex sprang gerade noch rechtzeitig auf den Landesteg. Wieder musste er umständlich um die Gebäude herumlaufen, die dicht an dicht stehend das Ufer des berühmten Canal Grande säumten. Aber diesmal wusste er, wonach er suchte. Und wenige Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Ein typischer venezianischer Palast, rosa und weiß gestrichen, die schmalen Fenster umrahmt von kleinen Säulen, Bögen und Balustraden– wie ein Haus aus Romeo und Julia. Besonders imposant aber war seine Lage. Es stand nicht bloß am Canal Grande, sondern wuchs förmlich daraus empor. Die Frau aus dem Boot war durch eine Art Fallgatter geschritten, wie man sie von Schlössern kennt. Das hier aber war ein schwimmendes Schloss. Oder ein versinkendes. Unmöglich zu sagen, wo das Wasser aufhörte und der Palast anfing.

Dennoch hatte der Palast mindestens eine Seite, die man trockenen Fußes erreichen konnte. Alex stand an einem weiten Platz mit Bäumen und Sträuchern in großen Töpfen. Dazwischen liefen Dienstboten umher, stellten Absperrseile und große Fackeln auf und entrollten einen roten Teppich. Zimmerleute montierten etwas, was wie eine kleine Bühne aussah. Andere Männer trugen Kisten und Schachteln in den Palast. Champagner, Feuerwerk, Fleisch, Gemüse. Offensichtlich wurde hier eine größere Party vorbereitet.

Alex sprach einen der Männer an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Können Sie mir sagen, wer hier wohnt?«

Der Mann sprach kein Englisch. Und er gab sich auch keine Mühe, freundlich zu sein. Alex fragte einen zweiten Mann, mit demselben Erfolg. Eine solche Reaktion war für ihn nichts Neues: Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas erlebte. Die Wächter in Point Blanc. Die Techniker bei Cray Software. Leute, die für jemanden arbeiteten, vor dem sie Angst hatten. Sie wurden dafür bezahlt, bestimmte Dinge zu tun, und tanzten niemals aus der Reihe. Hatten sie etwas zu verbergen? Wahrscheinlich.

Alex verließ den Platz und ging um die Ecke. An dieser Seite des Gebäudes lief ein zweiter Kanal entlang, und diesmal hatte er mehr Glück. Eine ältere Frau in einem schwarzen Kleid und mit weißer Schürze fegte den schmalen Pfad zwischen Mauer und Kanal. Er trat auf sie zu.

»Sprechen Sie Englisch?«, fragte er. »Können Sie mir helfen?«

»Si, con piacere, mio piccolo amico.« Die Frau nickte und stellte den Besen ab. »Ich habe viele Jahre in London gelebt. Ich spreche gut Englisch. Was kann ich tun?«

Alex zeigte auf den Palast. »Was ist das für ein Haus?«

»Das ist der Ca’ Vedova.« Sie versuchte zu erklären. »Ein Palast heißt in Venedig casa, oder ca’. Und vedova…«, sie suchte nach dem Wort, »vedova heißt Witwe. Das ist der Palast der Witwe. Ca’ Vedova.«

»Und was geschieht hier?«

»Heute Abend gibt es eine große Party. Eine Geburtstagsparty. Mit Masken und Kostümen. Da sind viele bedeutende Leute eingeladen.«

»Wer hat denn Geburtstag?«

Die Frau zögerte. Alex stellte offensichtlich zu viele Fragen, und er merkte, dass sie misstrauisch wurde. Aber dann wurde ihr Blick weich. Wieder einmal half ihm sein Alter. Er war ja erst vierzehn. Und mit vierzehn war es normal, dass man neugierig war! »Signora Rothman. Eine sehr reiche Dame. Ihr gehört das Haus.«

»Rothman? Wie die Zigarettenmarke?«

Aber die Frau antwortete nicht mehr, ihre Augen blickten ängstlich um sich. Alex sah auf und erkannte an der Ecke des Gebäudes einen der Dienstboten, die auf dem Vorplatz gearbeitet hatten. Der Mann beobachtete ihn aufmerksam. Alex lungerte offenbar schon zu lange hier herum.

Alex unternahm einen letzten Versuch. »Ich suche nach Scorpia«, sagte er.

Die alte Frau starrte ihn an, als habe er sie ins Gesicht geschlagen. Dann nahm sie den Besen und blickte verstohlen zu dem Mann, der sie beobachtete. Zum Glück hatte er von ihrem Gespräch nichts mitbekommen. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, blieb aber, wo er war. Doch auch so begriff Alex, dass er jetzt besser verschwinden sollte.

»Schon gut«, sagte er. »Danke für Ihre Hilfe.«

Er ging schnell an dem Kanal entlang, und bald tauchte wieder eine Brücke vor ihm auf. Er ging hinüber und war froh, den Witwenpalast hinter sich zu lassen, auch wenn er selbst nicht wusste, warum.

Sobald Alex außer Sichtweite war, blieb er stehen und dachte darüber nach, was er erfahren hatte. Ein Boot mit einem silbernen Skorpion hatte ihn zu einem Palast geführt, der einer schönen und reichen Frau gehörte, die nicht lächelte. Der Palast wurde von misstrauischen Männern bewacht, und kaum hatte er einer Putzfrau gegenüber den Namen Scorpia erwähnt, hatte man ihn plötzlich behandelt wie einen Aussätzigen.

Das war zwar nicht viel, aber es reichte. Heute Abend sollte ein Maskenball stattfinden, eine Geburtstagsparty. Dazu waren wichtige Leute eingeladen. Alex war keiner von ihnen, aber sein Plan stand bereits fest. Er würde trotzdem hingehen.