Nur für geladene Gäste
An diesem Herbstabend schien der Witwenpalast einen Zeitsprung von rund dreihundert Jahren in die Vergangenheit gemacht zu haben.
Der Anblick war erstaunlich. Ölfackeln warfen ihr flackerndes Licht über den Vorplatz. Dienstboten liefen in Kostümen aus dem achtzehnten Jahrhundert umher: Perücken, lange Westen, Kniestrümpfe und spitze Schuhe. Ein Streichquartett spielte draußen auf einer Bühne, bei deren Bau Alex am Nachmittag zugesehen hatte. An dem mit Sternen übersäten Nachthimmel leuchtete der Vollmond. Man konnte fast meinen, dass der Organisator der Party auch für das Wetter gesorgt hatte.
Die Gäste kamen mit Booten oder zu Fuß. Auch sie waren kostümiert mit kunstvollen Hüten und bunten Samtmänteln, die über den Boden fegten. Einige schwenkten Spazierstöcke aus Ebenholz, andere hatten Degen oder Dolche umgeschnallt. Und keiner von den vielen Menschen, die der Eingangstür zustrebten, zeigte sein Gesicht. Sie alle trugen Masken– weiße, goldene oder solche, die mit Diamanten oder Federbüschen verziert waren. Wer zu MrsRothmans Party eingeladen war, war also nicht zu erkennen. Aber natürlich konnte nicht jeder einfach so in das stattliche Anwesen hineinspazieren. Der Palasteingang am Canal Grande war geschlossen, und alle mussten durch das Hauptportal gehen. Vier Wachmänner in den knallroten Jacken venezianischer Hofleute standen davor und prüften genau jede Einladung.
Alex beobachtete das bunte Treiben von der anderen Seite des Platzes aus. Er hockte zusammen mit Tom hinter einem der kleinen Bäume, außerhalb des Lichtscheins der Fackeln. Es war nicht leicht gewesen, Tom zum Mitkommen zu überreden. Alex’ Verschwinden vor dem Mittagessen war bald bemerkt worden, und Tom hatte dem aufgebrachten MrGrey wenig überzeugend weismachen wollen, Alex habe plötzlich Bauchschmerzen bekommen. Als Alex dann endlich zu den anderen ins Hotel zurückkehrte, hätte MrGrey ihm für den Abend wahrscheinlich Ausgehverbot erteilt, wenn ihm Miss Bedfordshire, die ihm immer noch für die waghalsige Rettung ihrer Handtasche dankbar war, nicht zu Hilfe gekommen wäre.
Es war der letzte Abend der Reise, und die Lehrer hatten der Gruppe zwei Stunden zur freien Verfügung gegeben, die sie in San Lorenzo, in den Cafés oder auf dem Marktplatz verbringen sollten.
Alex jedoch hatte andere Pläne. Bevor er am Nachmittag ins Hotel zurückfuhr, hatte er in Venedig alles gefunden, was er brauchte. Und es war klar, dass er abends nicht allein gehen konnte. Tom musste ihn begleiten.
»Alex, ich kapier nicht, was du hier willst«, flüsterte Tom jetzt. »Was ist denn so wichtig an dieser Party?«
»Kann ich nicht erklären.«
»Warum denn nicht? Manchmal verstehe ich dich einfach nicht. Ich denke, wir sind Freunde, aber du erzählst mir nie etwas.«
Alex stöhnte. Das kannte er schon. Wenn er an all die Sachen dachte, die ihm in den letzten sechs Monaten passiert waren– wie er in die Welt der Spionage hineingezogen worden war, in dieses Gewirr aus Heimlichtuerei und Lügen–, war das hier das Schlimmste. MI6 hatte ihn zu einem Spion ausgebildet. Und damit hatten sie es ihm unmöglich gemacht, das zu sein, was er sein wollte: ein ganz normaler Schuljunge. Und jetzt hatte er zwei Leben auf einmal zu bewältigen, musste an einem Tag die Welt vor der atomaren Vernichtung retten und am nächsten seine Hausaufgaben in Chemie machen. Zwei Leben, die gegensätzlicher kaum sein konnten. Alex wusste nicht mehr, wohin er gehörte. Da waren Tom, Jack und Sabina Pleasure– auch wenn sie jetzt nach Amerika gezogen war. Aber abgesehen von diesen drei Menschen hatte er keine wirklichen Freunde. Er war einfach gegen seinen Willen in diese andere Welt, die Welt der Spionage und des Verbrechens, hineingezogen worden. Und der Preis, den er dafür zahlen musste, war hoch.
»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Wenn du mir hilfst, erzähle ich dir alles. Aber jetzt noch nicht.«
»Wann?«
»Morgen.«
»Morgen fahre ich zu meinem Bruder nach Neapel.«
»Bevor du abfährst.«
Tom dachte nach. »Ich helfe dir auch so, Alex, denn dafür sind Freunde da. Und wenn du mir wirklich alles erzählen willst, spar es dir auf, bis wir wieder in der Schule sind, okay?«
Alex nickte lächelnd. »Danke.«
Er griff hinter sich nach der Sporttasche, die er aus dem Hotel mitgenommen hatte. Darin waren die Sachen, die er am Nachmittag gekauft hatte. Schnell zog er Shorts und T-Shirt aus, stieg in eine weite Seidenhose und warf sich eine Samtweste über den nackten Oberkörper. Dann nahm er eine Dose mit einem Zeug, das wie Gelee aussah: goldene Körperfarbe. Er verteilte etwas davon auf seinen Handflächen, schmierte sich Arme, Hals und Gesicht damit ein und gab Tom ein Zeichen, dass er ihm auch noch die Schultern einreiben sollte. Tom gehorchte widerwillig, und als er fertig war, sah Alex aus wie eine goldene Statue.
Als Letztes packte er goldene Sandalen aus, einen weißen Turban, der mit einer Elsterfeder geschmückt war, und eine einfache Halbmaske, die er sich über die Augen zog. Er hatte sich in dem Kostümladen alles geben lassen, was man brauchte, um sich in einen türkischen Sklaven zu verwandeln. Jetzt blieb ihm nur noch zu hoffen, dass er nicht ganz so lächerlich aussah, wie er sich fühlte.
»Bist du so weit?«, fragte er.
Tom nickte und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Du siehst ziemlich erbärmlich aus«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
»Ist mir egal… Hauptsache, es funktioniert.«
»Ich finde, du bist total verrückt.«
Alex beobachtete die Leute, die vor dem Palast eintrafen. Wenn sein Plan aufgehen sollte, musste er auf den richtigen Augenblick warten. Das heißt, er musste genau die richtigen Gäste abpassen.
Es kamen immer noch Scharen von Leuten, die sich vor dem Hauptportal drängten, während die Wachposten ihre Einladungen überprüften. Alex sah zum Canal Grande hinüber. Eben hatte ein Wassertaxi angelegt, aus dem jetzt zwei Leute stiegen, ein Mann im Gehrock und eine Frau in einem langen schwarzen Umhang, der hinter ihr auf dem Boden schleifte. Beide trugen Masken. Perfekt.
Er nickte Tom zu. »Jetzt.«
»Viel Glück, Alex.« Tom nahm etwas aus der Sporttasche und rannte los; er gab sich keine Mühe, unbemerkt zu bleiben. Sekunden später brach Alex auf und schlich durch die Schatten um den Rand des Platzes herum.
Am Eingang herrschte Gedränge. Ein Wachmann kontrollierte gerade einen Gast, mit dessen Einladung etwas nicht zu stimmen schien. Sehr gut. Alex brauchte so viel Unruhe wie möglich. Auch Tom musste bemerkt haben, dass die Gelegenheit günstig war, denn plötzlich gab es einen lauten Knall, und alle Köpfe drehten sich nach dem Jungen um, der auf einmal lachend und schreiend über den Platz hüpfte. Er hatte einen Feuerwerkskörper krachen lassen, und jetzt, als ihn alle anstarrten, zündete er den nächsten an.
»Come stai?«, rief er. Wie geht es Ihnen? »Quanto tempo ci vuole per andare a Roma?« Wie lange braucht man, um nach Rom zu kommen? Alex hatte ihm diese Sätze aus einem Reiseführer herausgesucht. Mehr Italienisch konnte Tom nicht.
Tom warf den zweiten Böller. Wieder gab es einen lauten Knall, und im selben Augenblick rannte Alex zum Kanal und kam gerade an, als die beiden Gäste die Stufen zum Platz hinaufstiegen. Seine Sandalen klapperten auf den Pflastersteinen, aber niemand bemerkte ihn. Sie alle hatten nur Augen für Tom, der jetzt aus vollem Hals You’ll never walk alone grölte. Alex bückte sich und hob die Schleppe der Frau vom Boden auf. Und als sie auf das Hauptportal zuging, schritt er wie ein Diener hinter ihr her.
Es lief genau, wie er gehofft hatte. Die Leute hatten bald genug von dem verrückten englischen Jungen, der sich da vor ihnen zum Narren machte. Schon hatte man einen Wachmann losgeschickt, der ihn verjagen sollte. Alex sah aus den Augenwinkeln, wie Tom sich umdrehte und wegrannte. Das Paar erreichte den Eingang, und der Mann im Gehrock zeigte die Einladung vor. Ein Wachmann warf einen kurzen Blick auf die Neuankömmlinge und winkte sie durch. Er nahm an, dass Alex zu den beiden gehörte und sie den Türkenjungen als Teil ihrer Maskerade mitgebracht hatten. Und die beiden nahmen an, Alex sei ein Angestellter des Palasts und habe die Aufgabe, sie hineinzubegleiten. Warum sonst hätte er plötzlich bei ihnen auftauchen sollen?
Die drei gelangten durch den Eingang in einen prächtigen Empfangssaal mit Marmorfußboden, weißen Säulen und Mosaiken an der gewölbten Decke. Zwei riesige Glastüren führten auf einen Innenhof, in dem ein mit Ziersträuchern und Blumen umpflanzter Springbrunnen stand. Mindestens hundert Gäste plauderten, lachten und tranken Champagner aus Kristallgläsern. Keine Frage, dass sie sich alle hier wohlfühlten. Diener boten auf silbernen Tabletts Häppchen an, ein Mann spielte auf einem Cembalo Mozart und Vivaldi. Passend zur Atmosphäre gab es kein elektrisches Licht, sondern nur Fackeln und Öllampen, deren Flammen im Abendwind tanzten und schwankende Schatten auf die Wände warfen.
Alex war seinen Herrschaften auf den Innenhof gefolgt, aber nun ließ er die Schleppe los und huschte zur Seite. Er blickte nach oben. Der Palast erhob sich drei Stockwerke hoch. Um die erste Etage lief eine offene Galerie, auf der einige Gäste langsam umherschlenderten und das Gewühl im Hof von oben betrachteten.
Während Alex sich umsah, konnte er kaum glauben, dass er sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befand. Die Illusion vergangener Zeiten innerhalb der Palastmauern war perfekt.
Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Hatte Alex Scorpia wirklich gefunden? Falls Yassen Gregorovich die Wahrheit gesagt und sein Vater tatsächlich einmal für diese Leute gearbeitet hatte, würden sie ihn vielleicht gern kennenlernen. Er könnte sie fragen, was passiert war, wie sein Vater gestorben war, und sie würden es ihm erzählen. Er hatte es gar nicht nötig, hier in dieser Verkleidung herumzuschleichen.
Aber angenommen, er irrte sich. Er dachte an die verängstigte Reaktion der alten Frau, als er den Namen Scorpia erwähnt hatte. Und die finsteren Blicke der Männer, die vor dem Palast arbeiteten. Sie sprachen kein Englisch, und Alex bezweifelte, dass er ihnen erklären konnte, was er hier zu suchen hatte, falls sie ihn erwischten. Bis einer von ihnen ein Englisch-Wörterbuch gefunden hätte, würde er wahrscheinlich schon mit dem Gesicht nach unten im Kanal treiben.
Nein. Er musste erst noch mehr herausfinden, bevor er etwas unternehmen konnte. Wer war diese Frau– MrsRothman? Was machte sie hier? Es schien ihm unvorstellbar, dass ein Maskenball in einem venezianischen Palast irgendetwas mit einem Mord zu tun haben könnte, der vor vierzehn Jahren geschehen war.
Der Mann am Cembalo spielte immer noch, das Stimmengewirr wurde allmählich lauter. Die meisten Gäste hatten inzwischen ihre Masken abgenommen, und Alex war erstaunt, wie viele Nationalitäten sich an diesem Ort versammelt hatten. Die Gäste sprachen zwar hauptsächlich Italienisch, aber es waren auch viele Schwarze und Asiaten unter ihnen. Alex beobachtete einen Chinesen, der sich mit einem Mann unterhielt, zwischen dessen Schneidezähnen ein Diamant funkelte. Vor ihm ging eine Frau über den Hof, die er zu kennen glaubte, und plötzlich begriff er, dass es sich um eine der berühmtesten Filmschauspielerinnen der Welt handelte. Als er sich weiter umsah, stellte er fest, dass unter den Gästen jede Menge Hollywoodstars waren. Wozu hatte man die alle eingeladen? Dann fiel es ihm ein: Es war Anfang September, und wie jedes Jahr um diese Zeit fanden in Venedig gerade die internationalen Filmfestspiele statt. Und das sagte ihm über MrsRothman immerhin so viel, dass sie eine sehr einflussreiche Frau sein musste, wenn sie solche Prominenten einladen konnte.
Alex durfte nicht mehr lange zögern. Er war der einzige Teenager im Palast, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er jemandem auffallen würde. Und natürlich war er vollkommen ungeschützt. Arme und Schultern waren nackt. Die Seidenhose so dünn, dass er sie kaum an seinen Beinen spürte. Die türkische Verkleidung mochte ihm geholfen haben, unbemerkt ins Haus zu gelangen, aber jetzt war sie nur noch hinderlich. Er fasste einen Plan. Hier unten war von MrsRothman nichts zu sehen. Und da sie es war, für die er sich vor allem interessierte, beschloss er, sie in den oberen Etagen zu suchen.
Alex schob sich aus dem Gewühl der Gäste heraus und über die Wendeltreppe nach oben. Auf der Galerie gab es mehrere Türen, die ins Innere des Palasts führten. Dort war weniger los; nur ein paar Leute sahen ihm neugierig nach. Er wusste, er durfte jetzt auf keinen Fall einen Fehler machen, denn sonst würde er bald wieder auf der Straße stehen. Er trat durch eine Tür und fand sich in einem Raum wieder, der entweder ein sehr breiter Korridor oder ein Zimmer war. An einer Wand hing ein in Gold gerahmter Spiegel über einem antiken Tisch mit einer großen Blumenvase. Gegenüber davon stand ein mächtiger Kleiderschrank. Ansonsten war der Raum leer.
Alex wollte schon auf die Tür an der anderen Seite zugehen, als er plötzlich gedämpfte Stimmen herankommen hörte. Er sah sich nach einem Versteck um– der Kleiderschrank! Er hatte keine Zeit mehr hineinzuschlüpfen, sondern konnte sich nur noch daneben an die Wand drücken. Wie der Innenhof war auch diese Etage nur mit Öllampen beleuchtet. So hoffte er, der große Schrank würde genug Schatten werfen, dass er darin nicht zu sehen war.
Die Tür öffnete sich und zwei Leute traten ein: ein Mann und eine Frau, die sich auf Englisch unterhielten.
»Wir haben vorhin die Papiere zur Freigabe bekommen. Übermorgen wird die Lieferung auf den Weg gebracht«, sagte der Mann. »Wie bereits gesagt, MrsRothman, es kommt alles auf die richtige Zeitplanung an.«
»Die Kühlkette.«
»Genau. Die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden. Die Kisten werden nach England geflogen. Und anschließend…«
»Ich danke Ihnen, Dr.Liebermann. Sie haben sehr gute Arbeit geleistet.«
Die beiden waren nicht weit von Alex’ Versteck stehen geblieben. Und wenn er sich ein Stück vorbeugte, konnte er sie im Spiegel beobachten.
MrsRothman sah überwältigend aus. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr in Wellen auf die Schultern fielen, und trug ihre Maske an einem Holzstab in der Hand, sodass Alex ihr Gesicht sehen konnte: die strahlenden dunklen Augen, die blutroten Lippen, die perfekten Zähne. Das eng anliegende Gewand war eine fantastische Kreation aus elfenbeinfarbener Spitze, und um ihren Hals hing eine goldene Kette mit dunkelblauen Saphiren.
Ihr Begleiter war ebenfalls sehr elegant gekleidet; er trug einen langen, mit Pelz gefütterten Umhang, einen breiten Hut und Lederhandschuhe. Auch er hielt eine Maske in der Hand, ein hässliches Ding mit winzigen Augen und einem langen Schnabel. Er ging als Pestdoktor aus dem Mittelalter, und Alex fand, die Verkleidung hätte er eigentlich nicht nötig gehabt. Sein Gesicht war bleich und leblos, an seinen Lippen klebte Speichel. Er war sehr groß, viel größer als MrsRothman, und doch wirkte er neben ihr irgendwie wie ein Zwerg. Alex fragte sich, warum man ihn wohl eingeladen hatte.
»Versprechen Sie mir, MrsRothman«, sagte Dr.Liebermann, nahm seine dicke Brille ab und putzte sie nervös, »dass niemand zu Schaden kommen wird.«
»Ist das wirklich so wichtig?«, erwiderte sie. »Sie erhalten fünf Millionen Euro. Ein kleines Vermögen. Denken Sie darüber nach, Dr.Liebermann. Sie haben damit für den Rest Ihres Lebens ausgesorgt.«
Alex riskierte einen zweiten Blick und konnte MrsRothman nun von der Seite sehen. Sie wartete, dass der Mann mit dem bleichen Gesicht etwas sagte. Doch Dr.Liebermann stand wie erstarrt. Gefangen zwischen Angst und Gier.
»Ich weiß nicht«, sagte er heiser. »Vielleicht, wenn Sie mehr bezahlen würden…«
»Dann werden wir wohl noch einmal darüber nachdenken müssen!« MrsRothman klang vollkommen entspannt. »Aber wir sollten uns nicht mit geschäftlichen Dingen die Partystimmung verderben. Ich komme in zwei Tagen selbst nach Amalfi. Ich möchte dabei sein, wenn die Lieferung abgeht, und bei der Gelegenheit werden wir unser Gespräch fortsetzen.« Sie lächelte. »Und jetzt wollen wir ein Glas Champagner trinken. Ich würde Sie gern einigen meiner berühmten Freunde vorstellen.«
Sie gingen plaudernd weiter und kamen an Alex vorbei. Kurz war er versucht, sich ihnen zu zeigen. Immerhin war das die Frau, nach der er gesucht hatte. Eigentlich müsste er sie ansprechen, bevor sie in der Menge verschwand. Andererseits aber war er neugierig geworden. Freigabepapiere und Kühlketten. Wovon hatten die beiden geredet? Alex beschloss abzuwarten.
Er trat aus seinem Versteck und ging zu der Tür, durch die MrsRothman und ihr Begleiter gekommen waren. Er öffnete sie und gelangte in einen riesigen Saal, wie er wohl nur in Palästen zu finden ist. Mindestens dreißig Meter lang, auf einer Seite eine Reihe deckenhoher Fenster, die auf den Canal Grande hinausschauten. Abgesehen von dem Holzfußboden war fast alles andere in dem Saal weiß. Ein mächtiger Kamin aus weißem Marmor, davor ein gebleichtes Tigerfell. Bei diesem Anblick zuckte Alex zusammen: Er konnte sich kaum etwas Widerlicheres vorstellen. An der hinteren Wand weiße Regale voller in Leder gebundener Bücher und neben einer zweiten Tür ein alter weißer Tisch, auf dem etwas lag, das wie die Fernbedienung eines Fernsehers aussah. In der Mitte des Raums stand ein großer Schreibtisch aus Walnussholz. Ob der MrsRothman gehörte? Alex ging hinüber.
Eine Schreibunterlage aus weißem Leder und eine Schale mit zwei silbernen Kugelschreibern, sonst befand sich nichts auf dem Tisch, der Alex unwillkürlich an einen Richter oder einen Konzernchef denken ließ. Dies war kein Möbelstück, sondern ein Ausdruck von Macht.
Alex überzeugte sich mit raschen Blicken, ob irgendwo Überwachungskameras zu sehen waren, und zog dann an einer der Schubladen. Sie war nicht verschlossen, enthielt aber nur Briefpapier und einige weiße Umschläge. Auch die nächste Schublade ließ sich öffnen, und diesmal wurde Alex fündig: eine Broschüre mit gelbem Umschlag und dem schwarzen Aufdruck: ConsantoAG.
Er schlug das Heft auf. Auf der ersten Seite war ein Gebäude abgebildet: ein hochmoderner, lang gestreckter Kasten, der nur aus spiegelnden Glasflächen bestand. Darunter stand lediglich eine Adresse: Via Nuova, Amalfi.
Amalfi. Das war die Stadt, die MrsRothman eben erwähnt hatte.
Er blätterte weiter und sah Fotos von Männern und Frauen in Anzügen und weißen Kitteln. Die Belegschaft von Consanto vielleicht? Einer von ihnen war Harold Liebermann. Der Name stand unter dem Bild, aber der Text dazu war in Italienisch. Damit konnte Alex nichts anfangen. Er legte die Broschüre zurück und wandte sich der nächsten Schublade zu.
Doch plötzlich bewegte sich etwas.
Alex war sicher gewesen, dass er allein war. Es hatte ihn überrascht, dass der Saal offenbar nicht überwacht wurde, besonders, falls dies hier wirklich MrsRothmans Arbeitszimmer war. Aber jetzt spürte er, dass sich etwas verändert hatte.
Er brauchte ein paar Sekunden, bis er erkannte, was es war, und dann sträubten sich ihm die Nackenhaare.
Was er für ein Tigerfell gehalten hatte, war plötzlich aufgestanden.
Und Alex sah sich einem Tiger gegenüber. Einem lebendigen, wütenden, sibirischen Tiger, wie er an der Fellzeichnung und an der enormen Größe des Tieres erkannte.
Während die Bestie ihn anstarrte, versuchte Alex sich daran zu erinnern, was er über diese seltenen Tiere wusste. In freier Wildbahn lebten nur noch knapp fünfhundert von ihnen, in Gefangenschaft waren es ein paar mehr. Die größte Raubkatze der Welt. Und… ja! Der sibirische Tiger konnte seine Krallen einziehen. Aus dieser Information ließ sich vielleicht etwas machen, dachte Alex, während sich das Tier immer dichter an ihn heranpirschte.
Der Tiger schien aus dem Tiefschlaf erwacht, aber seine gelben Augen waren fest auf Alex gerichtet und übermittelten seinem Gehirn eine eindeutige Botschaft. Futter. Und Alex wusste, dass ein sibirischer Tiger bei einer einzigen Mahlzeit hundert Pfund Fleisch verschlingen konnte. Einen Zentner. Da würde nicht mehr viel von ihm übrig bleiben.
Alex’ Gedanken rasten. Worauf war er hier im Witwenpalast gestoßen? Was war das bloß für eine Frau, die auf Schlösser und Überwachungskameras verzichtete und stattdessen einen Tiger in ihrem Arbeitszimmer hielt? Das Tier streckte sich und Alex sah, wie sich die starken Muskeln unter dem dicken Fell wölbten. Er versuchte sich zu bewegen, doch vergeblich. Er war starr vor Angst. Nur wenige Schritte von einem Raubtier entfernt, das seit Jahrhunderten Furcht und Schrecken in der Welt verbreitet hatte. Kaum zu glauben, dass ein solches Wesen in einem venezianischen Palast gefangen gehalten wurde. Doch dem Tier war es letztendlich gleichgültig, in welcher Umgebung es ein Blutbad anrichtete.
Der Tiger knurrte. Dieses tiefe, grollende Geräusch war schrecklicher als alles, was Alex jemals gehört hatte. Er bot alle Kraft auf, sich irgendwie zu bewegen, etwas zwischen sich und den Tiger zu bringen. Aber es ging einfach nicht.
Der Tiger machte einen Schritt nach vorn und setzte zum Sprung an. Seine Augen waren dunkel geworden. Sein Maul stand offen, sodass die weißen, messerscharfen Zähne zu sehen waren. Er knurrte wieder, diesmal lauter und anhaltender… und sprang.