DIE HEILIGE STADT
Wieder einmal standen sie auf dem Marktplatz von Ica, doch diesmal waren Matt und Pedro noch nervöser als beim ersten Mal. Es war kurz nach halb fünf am Morgen, dennoch waren schon viele Leute unterwegs. Offenbar begannen die Tage in Peru sehr früh. Trotzdem war es noch ziemlich ruhig. Die Touristen waren noch nicht wach, und auch die Geldwechsler waren noch nicht draußen. Wenn jemand nach Matt und Pedro suchte, würde es ihm leicht fallen, sie zu finden.
Matt war ziemlich sicher, dass Diego Salamanda nicht hier nach ihnen Ausschau hielt. Bestimmt nahm er an, dass sie schon ein paar hundert Kilometer auf der Panamericana zurückgelegt hatten – der Straße, die durch das ganze Land führte. Aber Matt wollte kein Risiko eingehen. Er hatte Pedro die Fahrkarten für den nächsten Teil ihrer Reise kaufen lassen und sich währenddessen unauffällig verhalten. Er hockte auf dem Bordstein, hatte die Arme um sich gelegt und tat so, als ob er schliefe. Das war nicht schwer, denn er war vollkommen erschöpft.
Pedro kam und setzte sich neben ihn.
»Cuzco«, sagte Matt.
»Cuzco«, bestätigte Pedro und zeigte ihm die beiden Papierstreifen.
Matt war nicht sicher gewesen, ob sein Freund sie tatsächlich kaufen würde. Er wusste, dass Pedro lieber weiter nach Süden gefahren wäre, nach Ayacucho, wo Sebastian und dessen Freunde auf ihn warteten. Als er seine Fahrkarte an sich nahm, warf Matt ihm einen Blick zu. Pedro schien nicht glücklich darüber zu sein, aber er hatte offensichtlich die Entscheidung getroffen, bei Matt zu bleiben.
An einer Bude kauften sie sich Brötchen und Kaffee und stiegen erst in letzter Minute in ihren Bus. Fast alle Plätze waren besetzt, sodass sie nicht nebeneinander sitzen konnten. Es machte Matt nichts aus. Wenn sie wach waren, konnten sie sich ohnehin nicht unterhalten.
Cuzco.
Das sagte ihm nichts. Wahrscheinlich war es ein Dorf oder eine Stadt… irgendwo in Peru. Er nahm an, dass Cuzco ziemlich weit weg war, denn die Fahrkarten hatten sie die Hälfte ihres Geldes gekostet. Als sie losfuhren und über den halb leeren Marktplatz rumpelten, sah Matt zu Pedro hinüber, der neben einem dicken, schwitzenden Mann auf seinem Fensterplatz eingezwängt war. Was dachte er wohl? Seit er Matt getroffen hatte, war sein Leben vollständig aus den Fugen geraten. Matt machte sich Sorgen um ihn. Pedro hatte nichts mehr gesagt, seit dieser Micos gestorben war. Als Peruaner war er sicherlich an Gewalt und plötzliche Todesfälle gewöhnt, aber in den letzten Tagen hatte er einfach zu viel Schlimmes erlebt.
Die Panamericana war unendlich lang und schnurgerade, sie teilte die Landschaft wie ein Messerschnitt. Während der ersten paar Stunden änderte sich die Aussicht kaum. Die Straßenränder waren mit Müll übersät – alte Reifen, Plastikfolien, Drahtknäuel und anderes Gerümpel, das anscheinend fest entschlossen war, sie jeden Meter des Weges zu begleiten. So etwas hatte Matt noch nie gesehen. Er kannte Müllkippen in England. Und in Ipswich hatte es einige heruntergekommene Gegenden gegeben. Aber die Armut in diesem Land schien kein Ende zu nehmen. Sie hatte sich ausgebreitet wie eine ansteckende Krankheit.
Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, und es war heiß im Bus. Matt sah sich die anderen Passagiere an: eine Mischung aus Stadtleuten, Bauern, Indios und Tieren. Die Frau neben ihm war in leuchtenden Farben gekleidet. Sie hatte einen knallroten Schal um den Hals und trug einen Schlapphut. Ihre Haut sah aus wie gegerbtes Leder. Sie konnte locker hundert Jahre alt sein. Sie musterte Matt neugierig, und er fragte sich, ob sie seine getönte Haut, die abgetragene Kleidung und den Haarschnitt durchschaut und den englischen Jungen darunter erkannt hatte. Hastig wendete er sich ab, weil er Angst hatte, dass sie ihn ansprechen würde.
Stunde um Stunde verging. Es war unmöglich zu sagen, wie lange sie schon unterwegs waren. Matt hatte Durst. Es kam ihm vor, als hätte er nur Staub und Dieselabgase im Mund. Er schloss die Augen und schlief sofort ein.
Wieder waren sie auf der Insel.
»Wir hätten nach Ayacucho fahren sollen«, sagte Pedro. »Ich weiß. Es tut mir Leid. Warum hast du dich für Cuzco entschieden?«
»Wegen dem Mann, der gestorben ist. Micos. Er hat sein Leben riskiert, weil er uns helfen wollte. Und als er in seinen letzten Atemzügen lag, hat er uns gesagt, dass wir nach Cuzco fahren sollen. So wichtig war das für ihn. Wenn wir nicht tun, was er gesagt hat, dann wird uns sein Geist das nie verzeihen.«
»Weißt du irgendwas über Cuzco?«, fragte Matt.
»Nicht viel. Sebastian war mal da, und es hat ihm nicht gefallen. Es ist weit weg… hoch oben in den Bergen. Sebastian hat mir erzählt, dass man da nicht richtig atmen kann, weil die Luft dort zu dünn ist. Es ist eine Touristengegend.« Pedro überlegte einen Moment. »Cuzco ist nicht weit entfernt von einem Ort, der Machu Picchu heißt. Da haben früher die Inka gelebt.«
»Und was ist mit dem Tempel von Coricancha?«
»Über den habe ich noch nie etwas gehört.«
Die beiden schwiegen eine Minute, aber in dieser merkwürdigen Welt konnte eine Minute auch eine Stunde oder ein Tag sein.
»Was glaubst du, wer er war?«, fragte Pedro. »Er hat uns nur gesagt, dass er Micos heißt. Und dieser Mann mit dem großen Kopf – war das wirklich Diego Salamanda?«
»Ja.« Matt schauderte.
»Jemand wie ihn habe ich noch nie gesehen. In Lima gibt es Leute ohne Arme oder Beine. So was sieht man dauernd. Aber er war ein echtes Monster. Und er ist böse. Das habe ich sofort gespürt. Als ich ihn gesehen habe, hätte ich mich am liebsten übergeben.«
»Das ging mir genauso.«
Matt warf einen Blick auf das Binsenboot mit dem Katzenkopf am Bug. Bald würden sie die Trauminsel verlassen müssen. Vor ihnen lag eine ganze Traumwelt, die es zu erforschen galt.
»Hör mal, Pedro«, begann er. »Ich habe über alles nachgedacht, was passiert ist. Es ging so schnell – der Überfall am Flughafen, dich zu treffen und alles andere –, dass ich noch keine Zeit hatte, mir einen Reim darauf zu machen. Aber inzwischen glaube ich, dass ich möglicherweise einen Fehler gemacht und voreilige Schlüsse gezogen habe.«
Er verstummte kurz.
»Lass uns mit Diego Salamanda anfangen. Er ist unser Feind. Sein Hauptziel ist es, das zu Tor öffnen. Er muss jemanden dafür bezahlt haben, William Morton zu töten und das Tagebuch zu stehlen. Aber dieses Monster hat Richard nicht entführt. Das hat er mir gestern mehr oder weniger selbst gesagt. Er wusste nicht einmal, dass Richard entführt wurde.«
»Aber wer –?«
»Darüber habe ich nachgedacht. Als Richard und ich in Lima ankamen, hat uns ein Fahrer abgeholt, der behauptet hat, dass er für Mr Fabian arbeitet. Er hat sich als Alberto vorgestellt, aber er könnte irgendwer gewesen sein. Und er wollte uns zu einem Hotel fahren, wo Captain Rodriguez und seine Männer schon auf uns gewartet haben. Wir wären direkt in die Falle gegangen.
Aber auf dem Weg dorthin werden wir von Männern aufgehalten. Sie schießen auf den Fahrer und versuchen, uns zu schnappen. Richard haben sie gekriegt, aber ich bin entkommen.«
»Sie haben versucht, dich aufzuhalten! Sie wollten nicht, dass du im Hotel ankommst, weil sie wussten, dass die Polizei dort war!«
Matt nickte. »Stimmt. Und Micos war einer von ihnen. Ich habe ihn in dem Wagen sofort erkannt. Er war einer von denen, die in Lima geschossen haben. Und letzte Nacht muss er uns irgendwie zur hacienda gefolgt sein. Vielleicht war er auch schon dort und hat darauf gewartet, dass wir auftauchen.«
»Vielleicht hätte er dir verraten können, wo dein Freund ist.«
»Ich wünschte, er hätte uns mehr gesagt. Wer er war. Für wen er arbeitet.«
»Er wusste nicht, dass er sterben würde.« Pedro dachte kurz nach. »Dieser Tempel…«
»Coricancha. Wenn wir ihn finden, finden wir vielleicht auch Richard.« Matt hob einen Stein auf und warf ihn ins Wasser. Geräuschlos fiel er ins Meer. »Wie lange dauert die Fahrt nach Cuzco?«
»Als ich die Tickets gekauft habe, hieß es zwanzig Stunden.«
»Wenn wir die meiste Zeit schlafen, können wir wenigstens miteinander reden.«
»Ja.« Pedro runzelte die Stirn. »Was ist mit diesem Ort, Matteo? Wo sind wir? Wie ist es möglich, dass wir einander verstehen und auch nach dem Aufwachen noch wissen, worüber wir geredet haben?«
»Keine Ahnung«, sagte Matt. »Als du auf diese Insel kamst, hatte ich gehofft, dass du es mir erklären kannst.«
»Nein, ich weiß von nichts. Ich bin nur ich. Ich jongliere, und ich bestehle Touristen. Ich kapiere nicht, was vor sich geht – vor allem nicht, wie ich in diese ganze Sache mit dir reingeraten bin.«
»Dann lass uns gehen«, sagte Matt und stand auf. »Ich denke, wir sollten diese Insel verlassen. Wir haben ein Boot.«
»Wo wollen wir hin?«
»Es gibt fünf von uns, Pedro. Wir müssen unbedingt die anderen drei finden.«
Sie gingen zum Boot und schoben es ins Wasser. Matt stieg ein, und Pedro stieß das Boot vom Strand ab. Plötzlich sah es so aus, als wäre das Festland unendlich weit entfernt. Matt schaute nach oben. Am immer noch schwarzen Himmel regte sich nichts. Der riesige Schwan war nicht zurückgekommen.
Der Schwan. Diego Salamanda hatte in seinem Esszimmer auch von einem Schwan gesprochen.
Der Silberschwan muss in fünf Tagen in Position sein.
Was meinte er bloß damit? Hatte er die Fähigkeit, in diese Traumwelt einzudringen? War er es, der diesen riesigen Schwan kontrollierte?
Matt schauderte. Pedro sprang ebenfalls ins Boot. Seine Füße und Knöchel waren nass. Das Boot schien ein Eigenleben zu haben, denn es fuhr von selbst los und steuerte mit ihnen aufs Meer hinaus.
Matt schreckte hoch.
Der Bus hatte an einer Kreuzung gehalten, an der ein paar schäbige Gebäude standen und einige Essensbuden. Die alte Frau, die neben ihm gesessen hatte, stieg aus, und Pedro, der zwei Flaschen Wasser und Brötchen besorgt hatte, konnte sich neben ihn setzen. Als die Türen zugingen und der Bus erneut losfuhr, fiel Matt das Blatt Papier wieder ein, das sie aus Salamandas Büro mitgenommen hatten. Er holte es aus der Tasche.
Es war eindeutig eine Fotokopie aus dem Tagebuch. Die ganze Seite war voll geschrieben, und einige Zeilen bildeten Muster. Matt erkannte eine Art Rechteck, das an einer Seite schmaler wurde. Ein anderes Muster sah aus wie eine Spinne. Die Schrift bedeckte fast das gesamte Blatt, und sie führte in alle Richtungen. Zum Teil waren die Buchstaben so winzig, dass man sie mit bloßem Auge nicht entziffern konnte. In der Mitte des Blattes standen vier Zeilen, die aussahen wie eine Strophe aus einem Gedicht. Und in der unteren rechten Ecke war eine strahlende Sonne aufgemalt, und daneben standen zwei Worte in Großbuchstaben:
Ob das Spanisch war? Irgendwie sah es anders aus. Was bedeutete diese Seite, und warum hatte ihr Feind sie fotokopiert? Matt steckte das Papier wieder ein. Mit diesem Rätsel konnte er sich befassen, wenn er Richard gefunden hatte.
Sie fuhren immer weiter.
Die Landschaft veränderte sich. Sie wurde bergiger und üppig grün. Die Straße, die bisher schnurgerade verlaufen war, führte jetzt in haarsträubenden Serpentinen bergauf. Matt musste wieder daran denken, was Pedro gesagt hatte, und er atmete prüfend ein. Die Luft wurde tatsächlich dünner. Sogar die Farbe des Himmels hatte sich verändert – es war jetzt ein härteres, strahlenderes Blau. An den Hängen standen Bauernhäuser und merkwürdige runde Festungen aus massivem Stein. Hier kann man doch nichts anbauen, dachte Matt. Nach einer weiteren Kurve stellte er fest, dass jemand – vielleicht die Indios oder eine noch frühere Kultur – Terrassen in den gesamten Berg gebaut hatte. Sie waren mit Felsbrocken eingefasst und bepflanzt.
Pedro und Matt kamen durch Dörfer und dann durch größere Orte. Hier sah alles ganz anders aus als in dem Teil von Peru, aus dem sie kamen – irgendwie älter und spektakulärer. Die Berge waren einfach gewaltig und überragten alles. Als der Bus schließlich in ein Tal fuhr, konnte Matt den ersten Blick auf die Stadt Cuzco werfen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Das soll eine Stadt sein?, war sein erster Gedanke. Es gab keine Hochhäuser, keine Bürogebäude, keine breiten Straßen, keine Verkehrsampeln und nicht einmal viele Fahrzeuge. Cuzco sah aus wie eine Märchenstadt. Vom Busfenster aus bemerkte Matt einen Marktplatz, auf dem zwei spanische Kirchen standen, und rundherum erstreckten sich hübsche weiße Häuser mit Dächern aus Terrakotta – und das etliche Kilometer weit bis zu den Hängen an der anderen Seite.
Doch erst, als sie ausgestiegen waren und zu Fuß in Richtung Zentrum gingen, bekam Matt ein Gefühl für die Stadt. Cuzco war wunderschön – Bogengänge und Veranden, schmiedeeiserne Lampen, gepflasterte Straßen und auf Hochglanz polierte Fußwege, die ebenso gut in ein Museum oder einen Palast gepasst hätten. Alle Gebäude schienen entweder Restaurants oder Läden zu sein, die Kleidung, Schmuck oder Andenken verkauften. Aber es gab auch hier Armut. Matt sah einen kleinen Jungen, barfuß und schmutzig, der vor einer Eingangstür lag und schlief. Auf der Straße saßen alte Frauen und blinzelten in die Sonne. Schuhputzjungen warteten vor den Kirchen auf Kunden. Doch selbst die Armut wirkte hier malerisch, als wäre sie nur ein Motiv für die Fotos der Touristen.
Und die Touristen waren überall. Als sie auf den Marktplatz kamen, hörte Matt englische Stimmen, und sein erster Impuls war, sich dem nächstbesten Engländer in die Arme zu werfen. Er brauchte Hilfe. Und ein reicher englischer Tourist wäre die perfekte Lösung. Er hätte ihm zumindest helfen können, die britische Botschaft zu erreichen, um von dort aus seinen Heimflug organisieren zu können.
Aber noch bevor er den ersten Schritt getan hatte, wurde ihm klar, dass er das nicht tun konnte. Er konnte Richard doch nicht im Stich lassen. Womöglich unterschrieb er Richards Todesurteil, wenn er das Land verließ – schließlich wollten sie Matt und nicht Richard.
Und es gab ja auch noch Pedro. Was immer Matt zugestoßen war und wie sehr er es auch hasste, in diesem Land zu sein – er hatte es jedoch geschafft, einen der Fünf zu finden. Sie mussten zusammenbleiben. Seine Flucht nach England würde niemandem helfen, und Matt wusste, dass er alles zu einem Ende führen musste.
Also blieb er stehen und beobachtete eine Gruppe, die an ihnen vorbeizog. Angeführt wurde sie von einer Frau, die mit einem Sonnenschirm winkte. Er folgte den Touristen. Irgendwie tröstete es ihn, seine eigene Sprache zu hören.
»Cuzco ist schon immer eine heilige Stadt gewesen«, erklärte die Frau. »Bereits für die Inka war sie heilig, denn hier war das Zentrum ihrer Macht. Doch 1533 fielen spanische Eroberer unter Francisco Pizarro ein. Die Spanier zerstörten einen Großteil der Stadt und bauten ihre eigenen Kirchen und Paläste, aber Sie können trotzdem noch viele Überreste der Inkakultur entdecken. Achten Sie besonders auf die Mauern, die ohne Zement errichtet wurden. Heute Nachmittag erhalten Sie die Gelegenheit, sich diese Bauweise genauer anzusehen, wenn wir den Tempel von Coricancha besichtigen…«
Coricancha. Das war der Ort, den Micos ihnen genannt hatte. Er war versucht, in der Nähe der Frau zu bleiben – aber das war sinnlos. Er hatte einen kleinen Tempel erwartet, der schwer zu finden war, aber offensichtlich war er eine bedeutende Sehenswürdigkeit. Außerdem sollte Matt erst am Freitag bei Sonnenuntergang dort sein. Welcher Tag war heute? Er hatte keine Ahnung. Matt hatte gerade eine ganze Nacht im Bus verbracht. Es musste also Mittwoch oder Donnerstag sein. Jetzt stand er in einer ihm unbekannten Stadt, ohne ein Dach über dem Kopf. In gewisser Hinsicht teilte er Pedros Schicksal: Sie waren beide desplazados – heimatlos.
Die Frau mit dem Sonnenschirm zog weiter, und die Touristen folgten ihr wie Schafe. Matt drehte sich zu Pedro um, der irgendwie verloren auf dem Marktplatz stand. Kein Wunder – sicher kam ihm Cuzco genauso fremd vor wie Matt.
»Wir müssen uns einen Schlafplatz suchen«, sagte er zu seinem Freund.
Pedro sah ihn verständnislos an.
»Ein Hotel«, fügte Matt hinzu. Er wusste, dass sie sich das nicht leisten konnten, aber es war eines der wenigen Worte, die Pedro verstand.
Pedro schüttelte zweifelnd den Kopf.
Matt machte die weltweit bekannte Geste für Geld, indem er Daumen und Zeigefinger aneinander rieb. »Irgendwas Billiges«, sagte er.
Sie verließen den Platz und gingen eine schmale Gasse hinunter, auf deren einer Seite eine etwa fünf Meter hohe Mauer verlief. Bestimmt hatte dieses Volk, von dem die Reiseführerin gesprochen hatte, sie errichtet – die Inka. Die Mauer sah aus, als wäre sie mindestens tausend Jahre alt. Die Steine waren riesig. Jeder einzelne wog bestimmt mehr als eine Tonne. Außerdem waren sie unregelmäßig geformt und sieben- oder achteckig. Und trotzdem hielten sie zusammen, sogar ohne Zement. Überall waren Touristen, die einander vor der Mauer fotografierten, und Straßenhändler verkauften Postkarten mit Ansichten der Mauer.
In das erste Hotel, das sie fanden, ließ man sie nicht hinein. Es war ein kleines, schäbig aussehendes Haus voller Studenten und Rucksacktouristen, die draußen saßen, rauchten und Bier tranken. Während Pedro mit der misstrauisch aussehenden Wirtin sprach, hockte Matt sich neben der Tür auf den Fußweg, um seine Größe zu verbergen. Pedro hatte kein Glück. Er hatte zwar Geld, aber die Frau wollte es nicht. Er konnte keinen Pass vorzeigen. Das Geld war zweifellos gestohlen. Warum wollten zwei peruanische Betteljungen in ein Touristenhotel? Doch sicher nur, um die Gäste auszurauben.
Im zweiten Hotel erging es ihnen nicht anders. Beim dritten versuchte Matt auf Englisch, ein Zimmer zu bekommen. Der Besitzer starrte ihn schockiert an, was Matt gut verstehen konnte. Die Sprache passte einfach nicht zu seinem Aussehen, und er verabschiedete sich hastig. Die Polizei war mit Sicherheit immer noch hinter ihm her. Er hatte keine Papiere, und damit war er ein Niemand. Wenn die Polizei ihn noch einmal in die Hände bekam, würde er garantiert auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Mittlerweile war es später Vormittag. Matt war durstig, hungrig und erschöpft. Er spürte, wie dünn die Luft war. Jedes Mal, wenn es bergauf ging, musste er hinterher kurz stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Wie hoch oben waren sie eigentlich?
Er sah Pedro an. »Hast du auch Hunger?«, fragte er und tat so, als würde er etwas in den Mund stecken.
Pedro nickte. »Estoy muerto de hambre.«
Sie wählten ein menschenleeres und heruntergekommenes Restaurant, doch sogar hier weigerte sich der Besitzer, sie zu bedienen, wenn sie nicht im Voraus zahlten. Aber als er dann ihr Geld hatte und wusste, dass sie nicht erst essen und dann wegrennen würden, hatte er Mitleid mit ihnen und brachte ihnen eine Riesenportion chicharrones – frittierte Schweinerippchen – und dazu einen Krug Wasser.
Matt und Pedro aßen schweigend. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Aber obwohl sie sich nicht unterhalten konnten, fühlte Matt sich dem Jungen immer enger verbunden. Es war so, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen und sich auch ohne Worte verstehen. Ein paar Touristen kamen herein, aber sie beachteten die beiden Jungen nicht. Matt konnte sich entspannen und seine Gedanken sammeln.
Einer der Gäste am Nebentisch las eine Zeitung. Er schlug eine Seite um, und in diesem Moment änderte sich alles. Pedro stieß Matt an und zeigte auf die Zeitung. Matt drehte sich um und sah ein Bild von sich – aufgenommen von Richard, mitten in York. Matt sah die helle Haut, die anständig geschnittenen Haare und das lächelnde Gesicht, und richtete sich erschrocken auf. Dieses Bild stammte aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt. Er konnte kaum glauben, dass er das war.
Und dann kam die Angst. Hatte die peruanische Polizei das Bild veröffentlicht, um ihn aufzuspüren? Woher hatten sie das Foto? Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen, aber er musste wissen, was über ihn in der Zeitung stand. Aber wie sollte er das herausfinden? Es war dasselbe Problem wie immer: Der Artikel würde auf Spanisch sein, und Pedro konnte nicht lesen. Aber dann nahm der Tourist seine Hand weg, und Matt sah englische Worte. Seinen eigenen Namen, in Großbuchstaben. Er beugte sich vor. Und da war sie, die Nachricht, die nur vom Nexus stammen konnte:
MATTHEW FREEMAN
MELDE DICH!
Darunter stand eine Telefonnummer.
Also hatte endlich jemand gemerkt, dass er verschwunden war. Der nächste versuchte, ihn zu finden! Das erste Mal seit Richards Entführung fühlte er wieder einen Funken Hoffnung.
Hastig prägte er sich die Nummer ein, bevor der Zeitungsleser die Seite umschlagen konnte. Auf dem Tisch lag eine Serviette. Mit Soße und einem Zahnstocher schrieb Matt die Nummer auf. Sie hatten kaum aufgegessen, als er auch schon aus dem Lokal stürmte.
»Wir müssen ein Telefon finden«, sagte er zu Pedro. »Sí… un teléfono.« Es war Pedro gewesen, der das Foto entdeckt hatte. Er wusste, worum es ging.
In fast jedem Hotel in Cuzco gab es Telefon und Internet. Matt ging in das erste, das er fand, warf etwas Geld auf den Tisch und sprach Englisch. Er machte sich jetzt keine Sorgen mehr um seine Sicherheit. In der knarrenden hölzernen Telefonkabine holte er den Papierfetzen heraus und wählte die Nummer. Erst war Stille, dann folgte der Wählton und dann eine bekannte Stimme.
»Matthew? Bist du das?« Es war Mr Fabian. Er hörte sich erschöpft, aber auch aufgeregt an, und Matt wurde klar, dass dies eine extra eingerichtete Telefonverbindung sein musste, und dass der Peruaner anscheinend neben dem Telefon gesessen und auf seinen Anruf gewartet hatte.
»Mr Fabian?«
»Wo bist du? Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?« »Ja, mir geht’s gut.«
»Ich kann es noch gar nicht fassen. Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht. Ich bin fast wahnsinnig geworden, als Richard und du nicht in Lima angekommen seid, und dann hat mir Alberto erzählt, was passiert ist. Ist Richard bei dir?«
»Nein, ist er nicht.« Matt war richtig erleichtert, Mr Fabians Stimme zu hören. »Mir geht es gut. Aber ich brauche Ihre Hilfe.«
»Natürlich. Wir haben nur darauf gewartet, dass du dich meldest. Jetzt brauchst du dir um nichts mehr Sorgen zu machen, Matt. Sag mir nur, wo du bist und wie ich dich erreichen kann.«
»Ich bin in Cuzco.«
»Cuzco!«, wiederholte Mr Fabian entgeistert. »Was machst du denn da?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Erzähl mir alles. Und sobald ich diesen Hörer auflege, bin ich auf dem Weg zu dir.«
Eine halbe Stunde später klingelte bei Susan Ashwood im Vorort von Manchester das Telefon. Es war Mr Fabian, der aus Lima anrief.
»Ich habe mit Matthew gesprochen«, berichtete er. »Sie werden nicht glauben, was ihm alles passiert ist, aber er ist gesund und munter. Er ist in Cuzco. Fragen Sie mich nicht, wie er dorthin gekommen ist, denn das würde zu lange dauern. Ich habe bereits einen Flug gebucht und werde heute Abend dort ankommen. Ich bringe ihn zurück. Außerdem gibt es wundervolle Nachrichten, Miss Ashwood: Matt hat mir erzählt, dass er einen zweiten Torwächter gefunden hat.«
Die beiden unterhielten sich eine Weile, und Mr Fabian berichtete alles, was Matt ihm erzählt hatte. Dann legte er auf, und Susan Ashwood rief sofort bei Nathalie Johnson an, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen.
»Matthew ist in Cuzco«, sagte sie. »Er hat die Anzeige gesehen und sich bei Mr Fabian gemeldet…«
Die beiden Frauen sprachen etwa zehn Minuten.
Und kurz danach bekam Diego Salamanda auf seiner hacienda in der Nähe von Ica einen Anruf. Er sagte kaum etwas und hielt sich nur den Hörer ans Ohr. Die Sprechmuschel war ohnehin nicht in der Nähe seines Mundes. Wenn er gehört werden wollte, musste er den Apparat deutlich tiefer halten.
Schließlich legte er auf und lächelte. Jetzt hatte er genau die Information, die er haben wollte.
Er wusste, wo Matt war.