IN LUFT AUFGELÖST
Der nächste verfügbare Flug von Lima würde erst abends um neun in Cuzco landen, und Mr Fabian hatte mit Matt abgesprochen, dass er ihn und Pedro eine Stünde später vor der Kathedrale auf dem großen Platz treffen würde. Das bedeutete, dass die beiden noch den halben Tag lang die Zeit totschlagen mussten, bis er kam.
Sie schlenderten durch Cuzco und versuchten, sich möglichst unsichtbar zu machen. Für Matt war das eine komische Erfahrung. Normalerweise würde jemand wie er als Tourist herkommen, und wenn er anders gekleidet gewesen wäre, hätte man ihn zweifellos für einen gehalten. Er konnte sich gut vorstellen, wie er die langen Gänge mit den steinernen Bögen und den gut besuchten Läden dahinter fotografierte.
Doch in seiner Tarnung war er zu einem Teil der Stadt geworden. Einmal, als er und Pedro auf den Stufen zum Museum saßen, wollten zwei Amerikaner sie sogar fotografieren. Matt hätte es nicht erklären können, aber irgendwie ärgerte es ihn, wie sich das teure Teleobjektiv auf ihn richtete. Noch bevor die Kamera klickte, sprang er auf.
»Warum fotografieren Sie nicht jemand anders?«, fuhr er das erschrockene Ehepaar an. Natürlich wusste er, wie unfair das war, aber trotzdem verspürte er ein Gefühl des Triumphs, als die beiden verstört zurückwichen.
Später am Nachmittag kamen er und Pedro zum Tempel von Coricancha. Ihn zu verpassen war auch fast unmöglich. Er lag im Süden der Stadt und war die größte Touristenattraktion der Gegend. Auf dem Parkplatz reihten sich die Busse aneinander, und Touristenströme strebten auf den Eingang zu. Auch hier gab es Inka-Mauern und hoch oben eine Terrasse, von der aus man auf Cuzco hinuntersehen konnte. Warum hatte Micos sie hergeschickt? Es schien keinen Grund zu geben, und Matt würde ganz sicher nicht ihr restliches Geld für den Eintritt verschwenden.
Trotzdem drückte er sich am Eingang herum und hörte zu, was die Reiseleiter den immer wechselnden Touristengruppen erzählten. Coricancha war ein sehr altes Wort, das Goldener Hof bedeutete. Einst hatte es hier einen großen Tempel gegeben, in dem viertausend Priester lebten. Jede Mauer war mit massivem Gold beschichtet gewesen, und in den Räumen hatten Statuen und Altäre gestanden, die ebenfalls aus Gold waren. Der Tempel war das religiöse Zentrum der Inka gewesen, und sie hatten ihn zu bestimmten Anlässen auch als Sternwarte genutzt. Aber dann kamen die Eroberer und nahmen sich alles. Sie schmolzen das Gold ein, rissen die Altäre heraus und bauten ein Kloster auf den Ruinen.
Matt fragte sich, ob Mr Fabian sie am Freitagabend herbringen würde. Ob Richard dann auftauchte? Ein Wachmann kam heraus und scheuchte Matt und Pedro weg. Pedro murmelte etwas Finsteres auf Spanisch und zupfte an Matts Ärmel. Der Wachmann dachte, sie würden die Touristen anbetteln. Sie waren hier unerwünscht. Arme Leute waren überall in Cuzco unerwünscht.
Gegen Abend gingen sie zurück zum Marktplatz und setzten sich auf die lange Stufe zwischen der Kathedrale und dem Springbrunnen. Matt hätte gerne gewusst, woran Pedro wohl dachte. Er hatte versucht, ihm zu erklären, dass ein Mann vom Nexus kam, aber er war nicht sicher, wie viel Pedro davon verstanden hatte.
Endlich wurde es dunkel, und nach dem Sonnenuntergang verwandelte sich Cuzco in eine fast magische Stadt. Matt war schon tagsüber das merkwürdige Licht aufgefallen. Aber jetzt leuchtete der Himmel dunkelblau, und unter ihm erstreckten sich die schwarzen Berge. Tausende von orangefarbenen Lichtern funkelten in den Vororten, und Straßenlampen erstrahlten rund um den Marktplatz. Nach der Hitze des Tages war der Abend angenehm kühl. Die Restaurants füllten sich, und die Fußwege waren voller Leute, die gemütlich dahinschlenderten wie Statisten auf einer riesigen Freilichtbühne.
Der Polizeiwagen fuhr kurz nach neun auf den Platz. Matt entdeckte ihn zuerst. Es war ein weißes Auto mit einem gelben und einem blauen Streifen und einem Blaulicht auf dem Dach. In ihm saßen zwei Männer. Matt beobachtete, wie das Auto langsam auf die andere Seite des Platzes rollte und vor einer der Wechselstuben hielt. Die beiden Männer blieben im Wagen sitzen.
Matt dachte sich nichts dabei. Überall in Cuzco waren Polizisten, genau wie in Lima. Wahrscheinlich sollten sie die Touristen beschützen. Der Tourismus war ein Millionengeschäft, und es war wichtig, dass sich die Gäste sicher fühlten.
Aber dann tauchte ein zweiter Polizeiwagen auf, und Matt wurde nervös. Die suchten doch wohl nicht nach ihm? Außer Mr Fabian wusste niemand, dass sie hier waren. Pedro stieß ihn an und sah in Richtung des zweiten Polizeiwagens. Sein Gesichtsausdruck verriet alles. In diesem Land ging man der Polizei lieber aus dem Weg. Wie spät war es eigentlich? Sicher schon fast zehn. Matt wünschte, Pedro hätte ihm die Uhr gelassen.
Zwei Polizeiwagen. Noch mehr Polizisten zu Fuß. Sie kamen von allen Seiten auf den Platz, sehr langsam, wie zufällig. Was ging hier vor? Pedro wurde immer hektischer. Er hatte jetzt etwas von einem Tier an sich, das man in die Enge treibt. Seine Augen waren weit aufgerissen. Jeder Muskel seines Köpers war angespannt. Er spürte die Gefahr.
»Ich denke, wir sollten verschwinden«, meinte Matt.
Er wollte nicht gehen. Mr Fabian musste jeden Moment auftauchen. Und wenn er jetzt aufstand und weglief, würde er ganz bestimmt die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Jede Faser seines Körpers schrie ihm zu, zu bleiben, wo er war. Solange er unbemerkt dasaß, war er sicher. Aber inzwischen war rund ein Dutzend Polizisten auf dem Platz. Sie schwärmten aus – und sie waren alle bewaffnet. Waren sie zufällig gekommen, oder wussten sie, dass Matt hier war? Diese Frage wurde beantwortet, als die Beifahrertür eines Polizeiwagens aufging und ein Mann ausstieg. Es war Captain Rodriguez. Er stand direkt unter einer Straßenlaterne, die sein grobes, pockennarbiges Gesicht beleuchtete. Er sah aus wie ein Boxer, der den Ring betrat, und als seine Augen suchend über den Platz fuhren, war Matt sicher, dass sein Telefonat mit Mr Fabian abgehört worden und er blindlings in die nächste Falle getappt war.
Er stand auf und zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Captain Rodriguez hatte ihn zuletzt im Hotel Europa gesehen und wusste nicht, wie er jetzt aussah. Es waren noch genug Leute unterwegs. Sie konnten einfach aufstehen und sich unters Volk mischen.
Pedro griff in seine Hosentasche. Als er sie wieder herauszog, hatte er seine Steinschleuder in der Hand. Matt schüttelte den Kopf.
»Lass das lieber«, sagte er. »Es sind zu viele.«
Pedro runzelte die Stirn, schien ihn aber verstanden zu haben. Er steckte die Schleuder wieder ein.
Das Schrillen einer Pfeife durchschnitt die Luft.
Plötzlich rannten alle Polizisten auf die beiden zu, als hätten sie die ganze Zeit gewusst, wo sie waren und nur ein Spiel mit ihnen gespielt. Ein weiteres Auto kam von hinten. Captain Rodriguez zeigte direkt auf sie und brüllte Befehle. Die Touristen sahen mit offenem Mund zu. Sie fürchteten, etwas mitzuerleben, was sie eigentlich nicht sehen wollten. Die freundliche Maske des Landes, das sie besuchten, war verrutscht und die darunter liegende Brutalität zum Vorschein gekommen. Überall waren bewaffnete Polizisten.
Matt sah sofort, dass alle vier Ecken des Platzes abgesperrt waren. Die Falle war zugeschnappt. Zwei Polizeiwagen rasten auf ihn zu… in wenigen Sekunden würden sie bei Matt und Pedro sein. Damit blieb ihnen nur noch ein Fluchtweg – nach oben. Er sah sich um und stellte fest, dass auch Pedro zu diesem Schluss gekommen war. Er rannte bereits die Stufen hinauf und hielt auf eine Gruppe Europäer zu, die oben auf der Plattform stand. Sie hatten sich gerade gegenseitig vor der Kathedrale fotografieren wollen, als die Polizei aufgetaucht war. Und jetzt schauten sie fassungslos zu. Matt sah, wie Pedro sich zwischen sie drängte. Was sollte das? Er warf einen Blick nach hinten und begriff Pedros Plan. Sein Freund hatte die Gefahr erkannt, aber er wusste auch, dass die Polizisten nicht schießen würden, solange Touristen in der Nähe waren. Das war ein kluger Schachzug. Pedro benutzte die Touristen als menschlichen Schutzschild.
Matt hetzte hinter ihm her, die letzten fünf Stufen hoch und dann auf die Plattform mit der Kathedrale. Die Touristen sprangen erschrocken zur Seite. Jemand schrie auf. Pedro bewegte sich wie der Wind, und Matt war nicht sicher, ob er bei diesem Tempo mithalten konnte. Für ihn war es fast unmöglich, in Cuzco zu rennen. Dafür war die Luft einfach zu dünn. Er war vor höchstens dreißig Sekunden aufgesprungen, doch schon jetzt dröhnte ihm der Kopf, sein Hals schmerzte, und er hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Er zwang sich trotzdem weiterzulaufen, denn er wollte nicht zurückbleiben. Pedro war einer der Fünf. Er durfte ihn nicht verlieren.
Aber Pedro passte auf Matt auf. Als ein Polizist um die Ecke kam, schrie er dem Freund eine Warnung zu. Matt duckte sich tief. Es gab einen Knall, und eine Staubwolke stieg von einer der steinernen Stufen auf. Die schossen auf ihn! Matt konnte es nicht fassen. Captain Rodriguez musste befohlen haben, ihn tot oder lebendig zu fangen.
Der Schuss war ein Fehler gewesen. Auf dem Platz brach Panik aus, und die Menschen liefen hektisch in alle Richtungen. Einen Moment lang war die Polizei machtlos. Die Jungen waren außer Sicht. Dann passierte etwas Merkwürdiges. Der Polizist, der geschossen hatte, fiel plötzlich um und blieb liegen. Matt wirbelte herum und entdeckte die Steinschleuder in Pedros Hand. Er wusste wirklich, wie man damit umging. Der Polizist hatte am Zugang zu einer Straße gestanden, der nun unbewacht war. Matt atmete noch mal tief ein und rannte wieder los.
Sie mussten ein Versteck finden. Das war jetzt das Wichtigste. Pedro rannte durch ein offenes Tor, das von der Straße abzweigte, und gab Matt ein Zeichen, ihm zu folgen. Matt hastete ihm nach, und sie landeten auf einem weiteren Platz, auf dem Grasbüschel zwischen den Steinen wucherten. Rundherum standen mit Öllampen erleuchtete Verkaufsstände. Sie hatten noch geöffnet, und ein paar Rucksacktouristen schlenderten zwischen ihnen herum und betrachteten die Hüte und Ponchos, Decken, Ketten und Taschen, die dort angeboten wurden. Hinter ihnen ragte die Kathedrale auf.
Die beiden Jungen hielten nicht an. Sie stürmten durch einen weiteren Bogen und landeten in einer anderen Straße. Doch diesmal waren sie nicht allein.
Eine uralte Indiofrau hockte mit einer Decke voller selbst gemachtem Schmuck auf dem Fußweg. Ihr Haar war zu zwei langen Zöpfen geflochten, und sie hatte ein Baby in einem gestreiften Tragetuch dabei. Sie sah den beiden Jungen direkt in die Augen, als sie nach Luft japsend stehen blieben und sich fragten, in welche Richtung sie weiterlaufen sollten. Plötzlich lächelte die Alte und zeigte dabei ihre Zähne, die kaum mehr als Stummel waren. Gleichzeitig deutete sie auf eine Gasse, die hinter ihr lag.
Matt wusste nicht, was er tun sollte. Die alte Frau verhielt sich so, als würde sie Matt und Pedro kennen. Es war fast, als säße sie schon den ganzen Abend da und wartete auf sie, nur damit sie ihnen den besten Fluchtweg zeigen konnte. Matt rang nach Luft und kämpfte gegen seine Übelkeit an.
»Wohin?«, fragte er Pedro atemlos.
Die alte Frau hob einen Finger an die Lippen. Jetzt war keine Zeit für eine Diskussion. Wieder zeigte sie in die Gasse. Hinter den Jungen war Geschrei zu hören. Die Polizisten hatten den zweiten Platz erreicht.
»Gracias, señora«, murmelte Pedro. Er hatte entschieden, ihr zu vertrauen.
Die beiden rannten die Gasse hinauf und verschwanden in den Schatten der Häuser. Zerfetzte Plakate hingen an den Wänden, und über ihren Köpfen waren hölzerne Balkone. Das Kopfsteinpflaster riss Matt fast die Gummisandalen von den Füßen.
Hatte es überhaupt Sinn, dass sie weiterrannten? Matt hörte Sirenen und Pfiffe durch die ganze Stadt hallen, und insgeheim war ihm klar, dass er und Pedro es nie schaffen würden, egal, wie schnell sie rannten. Sie waren wie zwei Ratten in einem Irrgarten. Sie konnten durch die Straßen und Gassen von Cuzco hasten, bis sie vollkommen erledigt waren, oder sie fanden ein Gebäude, in dem sie sich verstecken konnten – aber etwas ändern würde das nicht. Vielleicht würde die Polizei die ganze Nacht brauchen, um sie zu finden, aber sie würde sie finden. Cuzco war von Bergen umgeben. Es gab keinen Ausweg.
Irgendwo in der Nähe bremste ein Auto. Stiefel stampften über Beton. Eine Pfeife schrillte. Sogar Pedro wurde jetzt langsamer. Schweiß tropfte von seinem Gesicht. Bald würde alles vorbei sein.
Die Gasse mündete in eine weitere schmale Straße mit einer T-Kreuzung. Pedro hielt darauf zu, doch genau in diesem Augenblick tauchte an der Kreuzung ein blauer Kleinbus auf, und drei Polizisten sprangen heraus. Einer von ihnen schrie aufgeregt in sein Funkgerät, während die anderen ihre Waffen zogen und auf die Jungen zugingen. Matt hatte keine Kraft mehr, sich zu bewegen. Seine Lunge war kurz vorm Platzen. Er konnte nur zusehen, wie die Männer ihm entgegeneilten.
Und dann passierte es wieder.
Ein weiterer Indio tauchte auf. Er kam aus einem Torbogen und schob einen schweren Karren vor sich her, der mit Essen und Getränken beladen war. Er trug eine weiße Hose und ein dunkles Jackett, aber kein Hemd und auch keine Schuhe. Das lange Haar hing so weit herunter, dass man sein Gesicht nicht sehen konnte. Er schob seinen Karren so weit auf die Straße, dass sie vollkommen blockiert war, und Matt hatte den Eindruck, dass er das mit Absicht getan hatte. Er schien gewusst zu haben, dass sie kommen würden, und verschaffte ihnen ein bisschen Zeit. Die Polizisten begannen zu brüllen. Einer von ihnen versuchte, sich vorbeizudrängen. Der Indio nickte und lächelte den beiden Jungen zu. Mit neuer Kraft machten sie kehrt und rannten wieder los.
Irgendetwas passierte in Cuzco. Einheimische versuchten, ihnen zu helfen. Erst die alte Frau und jetzt der Straßenhändler. Wer waren diese Leute? Woher wussten sie überhaupt, dass er und Pedro hier waren? Matt fragte sich, ob seine Fantasie mit ihm durchging. Aber wie viele Leute ihnen auch halfen – einen Ausweg gab es trotzdem nicht.
Sie kamen um eine weitere Ecke, und plötzlich wusste Matt, wo sie waren. Dies war eine der berühmtesten Straßen der Stadt. Noch vor ein paar Stunden war sie voller Touristengruppen und Fremdenführer gewesen, doch jetzt war sie menschenleer und wurde nur durch das matte Strahlen des Himmels erhellt. Eine Seite der Straße war von den alten Inka-Mauern gesäumt, die an dieser Stelle zehn Meter hoch waren. Pedro lehnte sich gegen die Mauer und rang nach Atem.
»Wohin jetzt?«, fragte Matt.
Pedro zuckte die Achseln. Entweder war er zu erschöpft zum Reden, oder er war zu demselben Schluss gekommen wie Matt: Es gab keinen Ausweg, also spielte es auch keine Rolle, wohin sie liefen.
Sie gingen wieder los, die verlassene Straße hinunter. Rund um sie herum hallten Stimmen durch die Nacht. Eines war sicher – ihre Verfolger kamen immer näher.
Und die Straße erwies sich als Sackgasse. Sie war durch ein hohes Metalltor blockiert, das offenbar abends geschlossen wurde.
Sie konnten nicht zurück. Matt hörte eilige Schritte hinter sich und wusste, dass die Polizisten in wenigen Sekunden auftauchen würden. Er hatte keine Kraft mehr, zu fliehen oder sich zu verstecken. Er rüttelte am Tor, doch es war verschlossen und zu hoch, um drüberzuklettern. Auch Pedro hatte aufgegeben. Er sah wütend und erschöpft aus, und die Bitterkeit der Niederlage war ihm von den Augen abzulesen.
»Amigos!«
Die Stimme ertönte direkt hinter ihnen. Matt fuhr herum. Er konnte es kaum fassen – nur ein paar Meter entfernt stand ein junger Mann. Er trug einen rot-lila gestreiften Poncho, Jeans und eine gewebte Mütze mit Ohrenklappen, die beiderseits des Kopfes herunterhingen. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein.
Und Matt war überzeugt, dass er ihn kannte. Einen kurzen, unheimlichen Moment lang glaubte er sogar, dass es Micos war. Aber Micos war tot. Also wer –?
»Amigos«, wiederholte der Mann. »Kommt schnell!«
Amigos. Das war eines der wenigen spanischen Worte, die Matt kannte.
Freunde.
Der Mann zeigte hinter sich. Matt sah an ihm vorbei und entdeckte etwas Unglaubliches. Ein Teil der Mauer hatte sich geöffnet, und es war eine Art Tür mit mindestens sieben Seiten erschienen. Es war unmöglich, sich vorzustellen, was für ein Scharnier sie wohl bewegte, aber in geschlossenem Zustand war sie absolut unsichtbar. Matt und Pedro waren daran vorbeigelaufen, ohne zu ahnen, dass sie existierte. Dasselbe galt zweifellos für Millionen von Touristen. Matt ging einen Schritt vor. Hinter der Mauer war ein Gang. Er war sehr schmal, doch viel war von ihm nicht zu sehen, denn er mündete nach wenigen Metern in absoluter Dunkelheit.
»No.« Pedro schüttelte den Kopf. Er hatte Angst.
Der Mann sprach ruhig, aber schnell auf ihn ein und sah dann wieder Matt an. »Die Polizei wird gleich hier sein«, fügte er in Englisch hinzu. »Wenn ihr leben wollt, müsst ihr mir vertrauen. Kommt jetzt!«
»Wer sind Sie?«, fragte Matt.
Der Mann antwortete nicht, was Matt verstehen konnte. Er wollte jetzt nicht reden. Er hatte ihnen ein unglaubliches Geheimnis gezeigt – die verborgene Tür. Und sie musste wieder geschlossen sein, bevor die Polizei oder jemand anders sie sah.
Pedro blickte ihn an und wartete darauf, dass er eine Entscheidung traf. Matt nickte. Die beiden betraten den Gang. Der Mann folgte ihnen, und die Tür schwang hinter ihnen zu.
Schwärze.
Außer seinem eigenen Atmen konnte Matt nichts hören. Er stand in absoluter Dunkelheit und dachte, dass er genauso gut tot sein konnte. Bestimmt war der Tod auch nicht anders. Er war von Cuzco in dem Moment abgeschnitten worden, als sich die Mauer hinter ihm schloss. In der Luft lag eine gewisse Feuchtigkeit, die er auf der Haut spürte, doch davon abgesehen fühlte er nichts. Er musste seine Panik bekämpfen – und den Gedanken, dass man ihn lebendig begraben hatte.
Doch dann schaltete der Mann mit dem Poncho eine Taschenlampe ein, und der Lichtkegel beleuchtete einen schmalen Gang mit einer Treppe, die abwärts führte. Sie waren im Innern der Mauer. Auf beiden Seiten umgeben von riesigen Steinen. Wohin führten die Stufen? Matt hatte nicht die geringste Ahnung.
Im Schein der Taschenlampe konnte Matt auch das Gesicht des Mannes sehen, der sie gerettet hatte. Auf der Straße hatte er nur einen kurzen Blick darauf erhaschen können, und da hatten die Ohrenklappen seiner Mütze einen Teil verdeckt. Bei genauer Betrachtung stellte Matt fest, dass der Mann Micos zwar sehr ähnlich sah, aber keine Narbe hatte. Er war außerdem etwas dünner, hatte ein schmales Kinn und einen spärlichen Bartwuchs. Er konnte höchstens Anfang zwanzig sein.
»Wer sind Sie?«, fragte Matt ihn wieder. Er befürchtete, dass man seine Stimme draußen auf der Straße hören konnte. Aber das war sicher unmöglich. Die Mauer war mindestens einen Meter dick.
»Mein Name ist Atoc«, antwortete der Mann. Er hatte einen merkwürdigen Akzent. Er war spanisch, aber es schwang auch noch etwas anderes darin mit, eine Art Indiosprache.
Atoc war der Name, den Micos kurz vor seinem Tod genannt hatte. Er wollte ihnen eine Botschaft für diesen Mann mitgeben. Seinen Bruder? Matt hoffte es nicht, aber es würde erklären, warum die beiden sich so ähnlich sahen.
»Wo genau sind wir hier?«, fragte er.
»In einem sehr alten Geheimgang der Inka. Nur wenige kennen ihn.«
»Wo führt er hin?«
»Ich bringe euch an einen sicheren Ort, an dem Diego Salamanda euch nicht kriegen kann. Dort warten Freunde, aber es ist weit, und ihr seid immer noch in Gefahr, denn die Polizei ist überall. Wir können jetzt nicht reden.«
Atoc sah Pedro an und sprach kurz auf Spanisch mit ihm. Auch dabei hörte Matt den ungewohnten Akzent heraus. Wahrscheinlich übersetzte er, was er gerade zu Matt gesagt hatte. Pedro nickte.
»Hier entlang.« Atoc schwenkte die Taschenlampe in Richtung Stufen. »Wir gehen nach unten.«
Sie begannen mit dem Abstieg. Matt versuchte, die Stufen zu zählen, doch bei fünfundzwanzig gab er es auf. Die Wände standen sehr dicht und schienen ihn von beiden Seiten zu erdrücken, und er spürte auch das Gewicht der Erde, das von oben auf ihm lastete. Er hatte Druck auf den Ohren, und es wurde immer kälter. Sie konnten meist nur ein paar Stufen sehen, weil die Taschenlampe nicht stark genug war, um mehr zu beleuchten. Doch als sie die Stufen hinter sich hatten und in einen zweiten Gang einbogen, fiel ihm ein merkwürdiges gelbes Leuchten auf, das ihnen entgegenstrahlte. Sie gingen darauf zu, und schon bald schaltete Atoc die Taschenlampe aus. Der Gang vor ihnen war beleuchtet, aber nicht durch elektrisches Licht. Matt kam um die Kurve, und traute seinen Augen nicht. Der Gang schien unendlich lang zu sein, und in einem Abstand von zwanzig Metern hingen kleine Silberschalen an der Wand, in denen Flammen flackerten. Sie mussten an eine unsichtbare Ölversorgung angeschlossen sein. Doch es waren die Wände, die das Licht auffingen, es zurückwarfen und vervielfachten. Die Wände waren mit etwas bedeckt, was wie Messing aussah. Aber Matt wusste instinktiv, dass es in Wirklichkeit massives Gold war.
Wie viel Gold gab es auf der Welt? Matt hatte immer gedacht, dass es selten und deshalb so wertvoll war, und er erinnerte sich daran, was er vor dem Tempel von Coricancha gehört hatte. Die spanischen Eroberer waren besessen nach Gold gewesen. Sie hatten alles gestohlen. Zumindest hatten sie das gedacht. Aber jetzt erkannte Matt, dass sie nur einen Bruchteil vom Gold der Inka mitgenommen hatten. In diesem Geheimgang unter der Stadt waren unzählige Tonnen von diesem Edelmetall verbaut worden. Das Gold erstreckte sich in die Unendlichkeit, reflektierte das Licht der Lampen und machte die Nacht zum Tag.
Es wurde nicht erwartet, dass sie diese lange Strecke zu Fuß gingen. Ein weiterer Indio, ähnlich gekleidet wie Atoc, erwartete sie mit vier Maultieren. Matt fragte sich, wie die Tiere es ertragen konnten, so tief unter der Erde zu sein, aber er nahm an, dass sie daran gewöhnt waren. Der Indio verbeugte sich, als sie bei ihm ankamen. Matt lächelte ihn verlegen an.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Atoc.
Matt und Pedro kletterten auf die ersten beiden Maultiere, Atoc und der andere Indio nahmen die hinteren. Es gab keine Sättel, nur mit einem Gurt festgeschnallte bunte Decken. Matt war noch nie geritten, und er fragte sich, wie er sein Reittier in Bewegung setzen sollte. Aber das Maultier schien zu wissen, was von ihm erwartet wurde und lief los. Seine Hufe klapperten rhythmisch auf dem festgestampften Erdboden.
Die flackernden Öllampen beleuchteten ihren Weg. Niemand sprach. Matt bemerkte, dass in einige der goldenen Wandabschnitte Muster eingraviert waren: Gesichter und Kriegerfiguren mit Waffen. Nach einer Weile wurde der Gang breiter, und sie kamen an unzähligen Schätzen vorbei, die entlang der Wände aufgetürmt waren: Töpfe und Krüge, Becher und Tabletts, Götter und Begräbnismasken – vieles davon aus Gold oder Silber. Er fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie am Ziel waren. Die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wohin sie ritten, ließ die Reise umso länger erscheinen. Er stellte fest, dass es bergauf ging. Der Gang hatte fast von Anfang an hinauf geführt, aber Matt hatte nicht das Gefühl gehabt, der Oberfläche näher zu kommen. Wahrscheinlich verließen sie Cuzco und waren auf dem Weg in die Berge. Das war die einzig mögliche Erklärung.
Nach mindestens einer Stunde – vielleicht waren auch schon zwei vergangen – hielten sie plötzlich an. Matt war durch den gleichmäßigen Schritt seines Maultieres leicht in den Schlaf gewiegt worden und flog jetzt fast über den Kopf seines Reittieres. Seine Beine waren wund von der ständigen Reibung auf dem harten Fell.
»Von hier aus gehen wir zu Fuß«, sagte Atoc.
Sie saßen ab und ließen die Maultiere bei dem anderen Indio, der kein Wort gesprochen hatte, nicht einmal, um ihnen seinen Namen zu sagen. Matt vermutete, dass es einen anderen Ausgang aus dem Tunnel geben musste, durch den die Tiere an die frische Luft gebracht werden konnten. Vor ihnen lag eine weitere schmale Treppe, und ein Hebel ragte aus der Wand. Atoc hielt warnend einen Finger an die Lippen und zog den Hebel herunter. Matt hörte ein leises Quietschen und das Drehen eines Rades.
Atoc wartete einen Moment und lauschte. Jemand pfiff zwei Töne, die sich anhörten wie der Ruf eines Vogels. Sofort entspannte sich Atoc. »Wir können raufgehen«, sagte er.
Sie stiegen die Stufen hinauf. Matt sah vor sich einen Kreis, der durch ein weit entferntes weißes Licht erhellt wurde. Eine Art zerlumpter Vorhang bedeckte den Kreis. Erst als er hindurchging, begriff er, dass das Loch die Öffnung einer Höhle war und der Vorhang in Wirklichkeit aus Blättern bestand. Das weiße Licht hingegen war der Schein des Mondes. Und dann war er wieder im Freien, auf einem Berg hoch über Cuzco. Zwei weitere Indios verbeugten sich vor ihm, wie es der Mann im Tunnel getan hatte.
Pedro kam aus der Tunnelöffnung, und sie verbeugten sich auch vor ihm. Dann tauchte Atoc auf. Matt sah zurück. Im Boden war ein rundes Loch – der Höhleneingang. Aber er war nur ein paar Meter tief. Danach folgte massiver Fels, die Stufen waren verschwunden. Matt begriff, dass Atoc den Hebel ein zweites Mal bewegt hatte und dass dadurch ein riesiger Felsen vor den Eingang gerollt war. Der Ausgang des Tunnels war genauso gut getarnt wie sein Eingang.
Und was jetzt?
Die beiden Indios winkten ihn heran, und er folgte ihnen zu einem Platz, der aussah wie ein sehr altes Fußballstadion, ein Theater, eine Festung… oder vielleicht eine Mischung aus alldem. In der Mitte war eine annähernd runde, mit Gras bewachsene Fläche, umgeben von riesigen Felsen, die im Zickzack angeordnet waren. Was auch immer in dieser Arena stattgefunden hatte, konnte von tausenden von Leuten gesehen werden, die oberhalb davon standen oder saßen. Die ganze Gegend war von Flutlichtern erleuchtet, und es wanderten immer noch rund zwanzig Touristen zwischen den Ruinen herum. Niemand nahm Notiz von Matt und seinen Begleitern. Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht, und Atoc hatte dafür gesorgt, dass niemand ihre Ankunft beobachtet hatte.
»Das hier ist Sacsayhuamán«, erklärte er Matt. »Sacsayhuamán war einst eine große Festung – bis die Spanier kamen. Dort war der Thron des Herrschers!« Er zeigte auf eine Art Sitz, der grob aus den Felsen gehauen worden war. Im Moment saß dort ein Mädchen in einem Fleecepulli und ließ sich fotografieren. Atoc runzelte angewidert die Stirn. »Wir müssen gehen«, sagte er.
Auf dem Parkplatz an den Ruinen standen einige Taxis und ein einzelner Bus. Matt sah eine Straße, die bergab nach Cuzco führte. Aber das war nicht ihre Richtung. Zum wiederholten Mal in dieser Nacht blieb Matt verblüfft stehen. Direkt vor ihm, durch den Inka-Thron vor neugierigen Blicken geschützt, stand ein Hubschrauber. Er wurde von zwei weiteren Indios bewacht, die besorgt nach der Polizei Ausschau hielten. Matt erkannte, wie perfekt die Suche nach ihm und Pedro organisiert worden war. Von dem Moment an, als sie vom Marktplatz weggerannt waren, hatte sich ein unsichtbares Netz um ihn gelegt, und er war eingeholt worden wie ein Fisch.
»Soll das ein Witz sein?«, murmelte Matt.
»Wir haben einen weiten Weg vor uns«, sagte Atoc.
»Wo ist der Pilot?«
»Ich bin der Pilot. Ich fliege euch.«
Es gab nur vier Sitzplätze in dem Hubschrauber, zwei vorn und zwei hinten. Die Kabine war kaum mehr als eine Glaskugel in einem Metallrahmen, über der die Rotorblätter angebracht waren. Einer der Indios öffnete die Tür. Matt zögerte. Aber wohin sie auch gingen, jeder Ort schien sicherer als Cuzco zu sein, denn da war Captain Rodriguez und suchte nach ihnen. Der Hubschrauber würde die Jungen aus der Stadt bringen. Vielleicht flog er sie sogar aus Peru heraus.
Plötzlich hörte er das Geräusch, das er am meisten fürchtete: Sirenen. Die Polizei war unterwegs, um Nachforschungen anzustellen. Wahrscheinlich hatte jemand den Hubschrauber landen sehen. Und plötzlich kamen sie angerast, zwei Polizeiwagen, vom Berg aus betrachtet so klein wie Spielzeugautos. Noch waren sie weit weg, aber sie kamen näher. Atoc schob Matt vorwärts. Es wurde höchste Zeit.
Doch Pedro rührte sich nicht. Matt konnte sehen, wie angespannt er war. Er hatte die Fäuste geballt und bewegte sich nicht vom Fleck. Ängstlich schaute er Atoc an und ließ einen Schwall spanischer Worte los. Atoc versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Matt konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich beim Abflug in London-Heathrow gefühlt hatte. Er hatte die ganze Zeit geschwitzt. Pedro war sicher noch nie geflogen, und für ihn musste der Hubschrauber aussehen wie ein übergroßes Insekt, das direkt aus einem Albtraum stammte.
Die Polizeiwagen waren nicht mehr weit weg. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer schienen ihnen vorauszueilen, als wollten sie unbedingt als Erste ankommen. Pedro stand immer noch wie angewurzelt da. Er zeigte auf den Hubschrauber und schimpfte. Atoc hob die Hände, als wollte er aufgeben, doch gleichzeitig sprach er weiter auf Pedro ein. Trotz der Eile klangen seine Worte sehr sanft. Das erste Polizeiauto war nur noch rund fünfhundert Meter entfernt.
Schließlich sah Pedro Matt an. »Tú qué piensas?«, fragte er.
Matt hoffte, dass er ihn richtig verstanden hatte. »Das geht in Ordnung«, sagte er. »Lass uns einsteigen.«
Pedro atmete hörbar aus. Seine Fäuste lockerten sich, er rannte zum Hubschrauber und stieg ein. Matt konnte sehen, welche Überwindung ihn das kostete. Er folgte ihm. Atoc setzte sich auf den Vordersitz und begann, irgendwelche Knöpfe zu drücken. Die Rotoren fingen an, sich zu drehen.
Matt fürchtete bereits, dass sie zu lange gezögert hatten. Es würde noch etwas dauern, bis der Hubschrauber startbereit war. Im Moment drehten sich die Rotoren so langsam, dass er ihnen mit den Augen folgen konnte. Die Polizeiwagen waren jetzt erschreckend nahe herangekommen, Matt konnte sogar die Männer darin sehen. Pedro schaute nicht einmal hin. Als der Motor aufheulte, wurde er leichenblass, saß da wie eingefroren und starrte in den Himmel. Der erste Polizeiwagen erreichte den Parkplatz und raste über den Kies auf sie zu. Doch plötzlich zerplatzte seine Windschutzscheibe, und Matt sah, dass der Indio, der ihnen die Tür geöffnet hatte, eine Steinschleuder in der Hand hielt, die gleiche Art von Waffe, die auch Pedro benutzt hatte. Er hatte einen Stein auf das Auto geschleudert und einen Volltreffer gelandet. Der Fahrer trat erschrocken auf die Bremse. Damit hatte der Fahrer des Wagens hinter ihm nicht gerechnet, er rammte das andere Polizeiauto und wirbelte es herum. Beide Wagen kamen so zum Stillstand.
Dann wurden die Türen geöffnet, Uniformierte sprangen heraus und zogen ihre Waffen. Die beiden Indios neben dem Hubschrauber machten kehrt und rannten davon.
Matt fragte sich, was wohl als Nächstes passieren würde. Im Hubschrauber boten sie ein ideales Ziel. Die Rotoren drehten sich immer noch nicht schnell genug. Er sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die Touristen in Deckung gingen. Einer der Polizisten zielte in Richtung Hubschrauber.
Aber die Rotoren hatten endlich genug Schwung und wirbelten eine gewaltige Staubwolke auf. Die Polizisten waren nicht mehr zu sehen, und Matt vermutete, dass auch sie nichts mehr erkennen konnten. Pedro schrie auf. Die ganze Kabine bebte, als Atoc die Steuerhebel bediente. Doch dann schob er einen Hebel nach vorn, und der Hubschrauber hob ab. Er schwebte einen Moment in der Luft, drehte dann auf der Stelle und flog ins Mondlicht hinaus. Hinter ihnen wurden die riesigen Steine von Sacsayhuamán schnell kleiner.
Die Polizisten fluchten und rieben sich den Staub aus den Augen. Als sie wieder in der Lage waren, nach oben zu sehen, war der Hubschrauber längst verschwunden.