Dreißig
Am nächsten Morgen hatte Erlendur in aller Frühe eine Besprechung mit seinen engsten Mitarbeitern. Diese hatten die Worte von Sigmar auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft, mit Angehörigen der Jungen aus der 6 L gesprochen und, wo es notwendig schien, die polizeilichen und medizinischen Berichte eingesehen. Rasch überflogen sie die Ergebnisse.
Sigmars Fall war eindeutig. Er war in Polizeigewahrsam gewesen und hatte sich erhängt. Ein Kleinkrimineller, der ständig mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Seine Eltern waren noch am Leben, hatten aber seit Jahren nichts von ihm gehört. Sie hatten ihn mit siebzehn aus dem Haus geworfen, und ihren Worten zufolge war es unzumutbar gewesen, mit ihm unter einem Dach zu leben, denn er klaute nicht nur, sondern war auch gewalttätig und drogensüchtig.
Agnar Baldursson, Aggi genannt, war an Herzversagen gestorben. Seine Mutter lebte noch, ebenso sein älterer Bruder, der als Schreiner in Sauðárkrókur arbeitete. Sein Vater lebte mit einer anderen Frau in Hveragerði zusammen. Agnar war dreizehn Jahre alt, als er starb.
Von Óskar Kárason lebten noch zwei Geschwister. Sein Bruder besaß ein florierendes EDV-Unternehmen, und die Schwester war bei ihm angestellt. Ihre Eltern waren vor einigen Jahren gestorben. In den Gesprächen mit den Polizeibeamten stellte sich heraus, dass Óskar, der in seiner Jugend Skari Skandal genannt wurde, Ende der siebziger Jahre an einer Überdosis Rauschgift gestorben war. Das war noch am selben Tag vom Amtsarzt bestätigt worden. Óskars Bruder erklärte, dass der Junge schon sehr früh mit Drogen in Berührung gekommen war. Mit der Polizei war er erstmals in Konflikt geraten, als er anfing, Drogen ins Land zu schmuggeln und zu verkaufen. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Mit zweiundzwanzig Jahren wurde er vor einer Diskothek in Sigtún tot aufgefunden.
Gísli Bjarnason war durch einen Arbeitsunfall zu Tode gekommen. Er hatte auf dem Feld einen Traktor ohne Überrollbügel gefahren und allem Anschein nach die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Er war unter den Trecker geraten und auf der Stelle tot gewesen. Mutter und Vater waren beide verstorben, aber seine Schwester lebte noch. Ihrer Aussage nach hatten die Eltern den Tod des einzigen Sohns nie verwunden. Ihre Ehe ging danach auseinander. Der Vater war vor einem Jahr an einem Herzschlag gestorben. Gísli war dreizehn Jahre alt, als er ums Leben kam.
In Bezug auf Daníel waren ihnen die Fakten bekannt. Er hatte vor einigen Tagen in einer psychiatrischen Klinik Selbstmord begangen. Von der Familie lebte nur noch sein jüngerer Bruder Pálmi. Bei Daníel war bereits in jungen Jahren Schizophrenie diagnostiziert worden. Er hatte versucht, seinen kleinen Bruder umzubringen, und hatte seitdem in einer geschlossenen Anstalt gelebt. Er war zweiundvierzig Jahre alt, als er starb.
Von Kristján Einarsson, genannt Kiddi Kolke, gab es seit dreizehn Jahren kein einziges Lebenszeichen. Seine Eltern wohnten in Akureyri. Der Vater war mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten und hatte für einen Totschlag, den er unter Alkoholeinfluss verübt hatte, eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren erhalten. Messerstecherei in einem Vergnügungslokal. Es gab Gerüchte, dass seine Mutter in jüngeren Jahren auf den Strich gegangen war. Über die näheren Umstände von Kristjáns Verschwinden war nichts weiter bekannt. Die Eltern hatten nie Gewissheit über seinen Verbleib erhalten. Seine Schwester, die in Neskaupstaður lebte, hatte man bislang nicht erreichen können. Über Kristján gab es keine Akte bei der Polizei. Er war neunundzwanzig Jahre alt, als er spurlos verschwand. Óttar Guðmundsson war ebenfalls verschwunden, aber nicht spurlos. Man ging davon aus, dass er im Meer ertrunken war. Seine Leiche wurde zwar nie gefunden, aber seine Kleidung und seine Schuhe lagen am Strand beim Grótta-Leuchtturm auf Seltjarnarnes. Seine Eltern und seine drei Geschwister waren noch am Leben, und sie beschrieben Óttar als einen äußerst schwierigen, haltlosen und willensschwachen Jungen, aber trotzdem hatte der mutmaßliche Selbstmord sie überrascht. Er war in psychiatrischer Behandlung gewesen. Er verschwand im Alter von neunzehn Jahren.
Ágúst Kjartansson verblutete, nachdem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Er wurde in seiner Wohnung aufgefunden, einem kleinen Kellerloch, das er gemietet hatte. Er wurde erst einige Wochen später aufgefunden, nachdem die Nachbarn sich beim Vermieter über den Gestank aus der Wohnung beschwert hatten. Seine Eltern lebten noch und wohnten in Reykjavík, hatten aber schon lange keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Sein Bruder hatte ihn regelmäßig besucht, und er beschrieb ihn als hoffnungsloses Drogenopfer. Ágúst hatte sich einiger kleinerer Straftaten schuldig gemacht, um zu Geld zu kommen. Er war siebenundzwanzig Jahre alt gewesen, als er starb.
»Besten Dank«, sagte Erlendur, nachdem er die Berichte gehört hatte. »Wir sehen also, dass all diese Männer vieles gemeinsam hatten, und das stützt Sigmars Aussage. Drogenmissbrauch, psychische Störungen, Straffälligkeit, Selbstmord. Ob der Grund dafür darin liegt, dass ihnen in der Volksschule etwas verabreicht wurde, ist allerdings nicht so einfach festzustellen. Ich persönlich finde diesen Teil der Geschichte reichlich abstrus. Das klingt eher nach den Wahnvorstellungen eines Rauschgiftsüchtigen, der sich im Laufe seines Lebens viel zu viel – und viel zu oft – mit Drogen zu schaffen gemacht hat. Kinder aus solchen Verhältnissen landen nicht selten ohne das Zutun anderer auf Abwegen. Allerdings lässt die Tatsache, dass Halldór, ihr Lehrer, auf eine derart grausame Weise umgebracht worden ist, darauf schließen, dass wir es mit unversöhnlichem Hass und Rachsucht zu tun haben. Es ist möglich, dass Sigmar das Feuer gelegt hat, aber irgendwie kann ich mir ihn nur schwer als Mörder vorstellen. Der Mann war ein komplettes Wrack.«
»Aber wenn all das, was er über den Verbleib seiner Freunde gesagt hat, wahr ist, weshalb sollte er uns dann Lügen auftischen, was diese Experimente in der Schule betrifft?«, fragte Elínborg. Alle, die mit den Ermittlungen befasst waren, hatten sich mit den unglaublichen und rätselhaften Aussagen von Sigmar vertraut gemacht. »Ist das wirklich so abstrus? Kann es nicht genauso gut sein, dass irgendjemand ein neues Präparat testen wollte? Hätte man das damals nicht ohne weiteres ausprobieren können, weil niemand auf so etwas achtete?«
»Dann haben wir es hier mit einem Pharmahersteller zu tun«, sagte Sigurður Óli.
»Es könnte sein«, warf Elínborg ein, »dass die Firma heute nicht mehr existiert. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Aspekt befassen wollen, dass womöglich ein Pharmahersteller die Kinder gedopt hat, sollten wir dann nicht überprüfen, welche Firmen damals auf dem Markt waren? Und falls Sigmars Klasse wirklich für ein solches Experiment verwendet worden ist, könnte es dann nicht sein, dass auch an anderen Schulen ähnliche Versuche durchgeführt wurden?«
»Wir müssen ebenfalls in Erfahrung bringen, warum gerade Sigmars Klasse ausgewählt wurde«, sagte Erlendur. »Eine Sonderklasse mit schwierigen Schülern aus beinahe asozialen Verhältnissen, die sich urplötzlich zu Superschülern entwickeln. War es das, worauf diese Versuche abzielten, oder waren das nur die Nebenwirkungen?«
»Wissen wir schon irgendetwas über diese Krankenschwestern, die Sigmar erwähnt hat?«, fragte Elínborg.
»Ich habe überlegt, wie wir sie finden könnten«, entgegnete Sigurður Óli. »Wenn ich Sigmars Aussage richtig verstanden habe, waren sie so um die fünfunddreißig. Es wäre zu erwägen, alle Krankenschwestern ausfindig zu machen, die in den Jahren zwischen 1953 und 1963 ihre Ausbildung absolviert haben, also die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1935. Dazu brauchen wir jede Menge Leute.«
»Kümmere dich darum«, sagte Erlendur. »Wir müssen sie finden.«