Neununddreißig

Pálmi begab sich für ein paar Stunden in die Nationalbibliothek, während Kiddi Kolke den Mann bewachte. Sie wollten ihn nicht sofort freilassen, denn er sollte keine Zeit haben, sich mit Erik Faxell in Verbindung zu setzen. Er würde also noch etwas länger in Kiddis Abstellkammer hocken bleiben müssen. Er bäumte sich nach Kräften auf und versuchte, sich von den Fesseln zu befreien, aber die waren fest geschnürt und gaben nicht nach. In der Nacht versuchte er einmal, sich gegen die Tür zu werfen, aber das brachte ihm nur eine Beule am Kopf ein. Jetzt war er wieder ruhiger. Er bat um eine Zigarette, aber Kiddi Kolke erklärte ihm, Rauchen sei gefährlich, davon würde man Krebs kriegen. Das wolle er nicht auf dem Gewissen haben.

Der Name Sævar Kreutz hatte Erinnerungen in Pálmi wachgerufen, er erinnerte sich dunkel an Artikel über ihn, die vor vielen Jahren in den Zeitungen erschienen waren. Pálmi hatte auf der Suche nach Quellen-und Dokumentationsmaterial früher oft alte Zeitungen und Zeitschriften durchgeblättert, und sich das notiert, was er interessant fand – mit dem Hintergedanken, sich später besser mit dem Material vertraut zu machen. An manches konnte er sich erinnern, obwohl es gar nichts eingebracht hatte, beispielsweise an Sævar Kreutz.

Pálmi fühlte sich nirgends wohler als in einer Bibliothek. In der früheren Nationalbibliothek an der Hverfisgata, wo er besonders gern gewesen war, konnte er tagelang sitzen, ohne im eigentlichen Sinne etwas zu machen. Aus purer Neugierde schmökerte er in alten Zeitschriften und dicken Büchern. Es gab diverse andere Stammkunden, aber er war sicherlich der jüngste. Manchmal betrachtete er die anderen Bibliotheksbesucher und stellte sich vor, wie er im Alter genauso dort sitzen würde, in abgewetztem Anzug und ausgetretenen Schuhen; er würde alte Wälzer mit einer Lupe in Augenschein nehmen und etwas in ein Notizbüchlein kritzeln, der Himmel mochte wissen, was. Vielleicht war er jetzt schon so. Er fühlte sich wohl auf diesen großen geschnitzten Stühlen mit der lederbezogenen grünen Tischplatte vor sich, eingehüllt in Schweigen. Manchmal, wenn es ihm nicht gut ging, kam es ihm so vor, als würde ihn dieses schöne Gebäude mit seinen dicken, alten Wänden und diesem Geruch der Jahrhunderte schützend umgeben. Wenn er es betrat, schlossen die Türen den Lärm von draußen aus, und er tauchte ein in die Sicherheit dessen, was vergangen und weit weg war. Die Vergangenheit stellte keine Bedrohung für ihn dar – bis jetzt.

Aber auch in dem neuen Gebäude beim Nationalmuseum, das sowohl die Universitätsbibliothek als auch die Nationalbibliothek beherbergte, fühlte er sich sofort wohl. Er verspürte dort dasselbe Gefühl der Geborgenheit im Vergangenen, mit dem einen Unterschied, dass dort sehr viel mehr Leute unterwegs waren, vor allem vor Weihnachten und im Mai, wenn die Prüfungen an der Universität stattfanden. Zu solchen Zeiten ließ sich Pálmi selten dort blicken, aber wenn es wieder ruhiger wurde, kehrte er zurück und vergaß beim Schmökern in alten, vergilbten Schwarten alles um sich herum. Im Vergleich zu dem alten Gebäude aus der dänischen Zeit war die neue Bibliothek ein Riesenkasten, aber der Geist in diesem Haus war derselbe.

Pálmi begann damit, Sævar Kreutz’ Namen in der Datenbank nachzuschlagen, die sämtliche Buchtitel der Bibliothek und die Suchkategorien für die Zeitschriften enthielt. Dort war er nicht zu finden. Auch in den Kurzbiographien bekannter Isländer tauchte er nicht auf. Pálmi ließ sich Mikrofiches mit alten Zeitungen und Zeitschriften bringen. Er konnte sich an ein ausführliches Interview mit Sævar Kreutz erinnern, als er 1967 zum ›Mann des Jahres‹ der isländischen Wirtschaft ernannt wurde, im gleichen Jahr also, als das Experiment mit Daníel und seinen Freunden stattgefunden hatte. Er fand das Interview in Morgunblaðið, eine ganze Seite. Ein Foto zeigte den hochgewachsenen Sævar Kreutz – bestimmt nicht unter zwei Metern, dachte Pálmi. Er trug Anzug und Krawatte, das Haar war aus der enorm hohen Stirn zurückgekämmt. Sævar Kreutz hatte kein Lächeln für die Kamera übrig.

In dem Interview wurden in aller Ausführlichkeit sein Hintergrund und seine Familie ausgeleuchtet, es ging um den Aufstieg seines Unternehmens, um die Betriebsführung und Gewinnspannen, alles in ziemlich trockenem und geschäftsmäßigem Ton. Pálmi suchte in anderen Zeitungen und Zeitschriften und fand ein weiteres Interview im Wochenmagazin Vikan. Pálmi hatte früher einmal als Zeitungsjunge dieses Wochenblatt zu verkaufen versucht, war von Haus zu Haus gegangen, treppauf, treppab, aber niemand wollte es kaufen. Dieses Interview war genau im gleichen Stil, rein geschäftsmäßig, nichts Persönliches. ›Wir stehen gerade erst am Anfang, die Bedeutung der Pharmaindustrie zu entdecken‹, erklärte Sævar Kreutz, ›und ich bin mir sicher, dass die Menschheit in Zukunft Medikamente gegen alle Krankheiten finden und sie damit aus der Welt schaffen wird.‹ Dann das übliche Geschwafel in Interviews, Fortsetzung auf Seite 31. Pálmi verspürte keine Lust, weiterzulesen.

Er ging die Mikrofiches schnell und gezielt durch, fand aber nichts von Belang und stand kurz davor, aufzugeben, als er doch noch einmal die Seite 31 in Vikan aufschlug. Das Ende des Interviews mit Sævar Kreutz umfasste nur eine kleine Passage. ›Die wissenschaftliche Forschung macht gigantische Fortschritte‹, erklärte Sævar Kreutz, ›und was die Zukunft betrifft, ich sehe da enorm viele und spannende Möglichkeiten.‹ Als er nach seinen Forschungserfolgen gefragt wurde, schien er kein Interesse daran zu haben, sich dazu zu äußern. ›Die Entdeckungen, die bis jetzt schon in diesem Jahrhundert von den Wissenschaftlern gemacht wurden, sind von unerhörter Bedeutung für die zukünftigen Generationen‹, erklärte er. ›Einiges ist aus meiner Sicht bedeutender als alles andere. Ich glaube, wenn man später einmal auf das zwanzigste Jahrhundert zurückblicken wird, dürfte keine Entdeckung bedeutender sein als diejenige von James Watson und Francis Crick, Sie haben sicher davon gehört‹, wandte er sich direkt an den Reporter. ›Die beiden haben unsere sämtlichen Vorstellungen von der Zukunft der Menschheit revolutioniert.‹ Das Interview endete mit diesen Worten, die nicht weiter erklärt wurden. Was für ein schlampiger Journalismus, dachte Pálmi. Wussten wirklich alle, wer Watson und Crick waren?

Watson und Crick? Pálmi gingen diese Namen nicht aus dem Kopf. Es kam ihm so vor, als hätte er sie doch schon einmal gehört. Wissenschaftler. Waren sie die Ersten, die …?

Er sprang hoch, schnappte sich die Enzyclopædia Britannica und schlug unter Crick auf. Sein Verdacht bestätigte sich. Er versenkte sich in die Enzyklopädie und beschaffte sich anschließend weitere biologische und medizinische Nachschlagewerke und vertiefte sich in seine Lektüre.