11
»Holly?« Beth bumperte an die Tür. »Kann ich hereinkommen?«
Holly blickte sich um. Sie hatte sich lieber im Gästezimmer als gleich gegenüber in dem großen Schlafzimmer eingerichtet. Es war eine Sache, mit Linc verlobt zu sein.
Aber es war etwas ganz anderes, wenn Linc seine kleine Schwester »an der kurzen Leine« hielt, während er sich selbst keinerlei Zügel anlegte.
»Komm schon«, erlaubte Holly ihr.
Die Tür wurde aufgerissen, und Beth kam hereingestürzt.
»Linc läßt dir ausrichten, daß er noch ein Weilchen in der Scheune sein wird«, sagte Beth. »Eines seiner besten Pferde braucht seine Hilfe.«
»Ein Weilchen?« fragte Holly aus Erfahrung. »Ich erinnere mich noch gut an Linc und seine preisgekrönten Araber. Das kann fünf Minuten oder aber fünf Stunden dauern, habe ich recht?«
»Eine Stute fohlt zum ersten Mal«, erklärte Beth. »Sie kann sich nicht entscheiden, ob sie sich hinlegen oder stehen bleiben soll. Es könnte die ganze Nacht dauern.«
Holly seufzte und knöpfte ihre frisch gewaschene Bluse zu.
»Dann kümmern wir uns am besten darum, Linc etwas zu essen zu bringen.« Holly fügte noch hinzu: »Das Frühstück ist ja schon ein Weilchen her.«
Beth grinste. »Ich habe ihn bereits mit drei Sandwiches und einem halben Liter Kaffee verwöhnt.«
»Er hat wirklich Glück, daß er dich zur Schwester hat.«
»Das sage ich ihm ja auch immer.«
Holly lächelte und prüfte dann ihre Haare.
»Na endlich«, murmelte sie. »Trocken genug, um einen Zopf zu flechten.«
Ihre Finger machten sich eilig daran, ein kompliziertes Zopfmuster zu fabrizieren.
»Bei dir sieht das alles so leicht aus«, bewunderte Beth sie. »Was?«
»Dein Zopf. Er sieht so besonders aus. Aber meiner – puh!« Beth hielt einen ihrer langen Zöpfe wie eine tote Schlange in die Luft.
»Du hast schönes Haar«, lobte Holly.
»Ha«, erwiderte Beth. »Entweder doof geflochten oder ein Pferdeschwanz, igitt.«
»Es gibt noch andere Frisuren, die du dir mit langem Haar machen kannst, wenn du es nicht abschneiden möchtest.«
»Ich will es ja abschneiden, aber Linc läßt mich nicht.« Hollys Brauen formten zwei schwarze Bögen.
»Kein Make-up«, maulte Beth weiter. »Keine schicken Klamotten und dazu dieselbe Frisur, die ich schon seit sechs Jahren trage.«
»Hast du das alles Linc zu verdanken?«
Die vollen Lippen des jungen Mädchens verzogen sich zu einer Grimasse.
»Nur ihm«, stimmte sie zu. »Früher hat es mich nicht weiter gestört, aber jetzt ...«
Ihre Stimme brach ab. Der Ausdruck sehnsüchtigen Verlangens erschien auf ihrer Miene.
»Ein Junge?« fragte Holly, die bereits die Antwort kannte. Beth lächelte schüchtern und nickte.
»Wer ist es denn?«
»Jack. Der ältere Bruder meiner besten Freundin.«
»Wieviel älter ist er denn?«
»Du redest schon genauso wie Linc!«
Holly kräuselte die Lippen. »Das kommt daher, daß wir dich eben beide lieben.«
»Er ist gerade achtzehn geworden. In ein paar Monaten werde ich sechzehn sein, also sind es nur zwei Jahre. Er ist nicht zu alt für mich!«
»Natürlich nicht.«
Beth atmete erleichtert auf.
»Ich bin froh, daß du so denkst«, sagte sie. »Linc denkt nämlich anders. Und so, wie er meine Kleidung aussucht, sehe ich aus, als ginge ich noch in den Kindergarten.«
»Wenn Jack wirklich etwas taugt, dann sind ihm deine Kleider und deine Frisur vollkommen egal«, klärte Holly sie auf.
Beth kniff den Mund zusammen, was Holly an Linc erinnerte.
»Das sagt mein Bruder auch immer«, murmelte das unverstandene Kind.
»Da hat er recht.«
»Vielleicht. Aber warum muß ausgerechnet ich diejenige sein, die Lincs Theorien in der Praxis bestätigen soll? Mal ganz abgesehen davon, daß er sich ja auch nicht gerade für die unansehnlichsten Frauen entscheidet«, fuhr sie bitter fort.
Holly erinnerte sich an Cyn und konnte Beth unmöglich widersprechen.
»Aber du bist von Natur aus nicht unansehnlich«, sagte Holly.
Das junge Mädchen drehte sich um und blickte Holly direkt in die Augen.
»Ich bin so unansehnlich wie ein Telegrafenmast«, platzte es aus ihr heraus.
Die Art, wie sie das sagte, und ihr Tonfall überzeugten Holly, daß sie jedes ihrer Worte wirklich ernst meinte.
»Du siehst dich nicht richtig«, konterte Holly bestimmt. Beth warf ihr einen Seitenblick zu und schwieg.
»Schon allein dein Lächeln ist schön genug, daß sich die Leute danach sicher umdrehen«, bekam sie zu hören.
»Na gut, meine Zähne sind gerade, und meine Haut ist rein, aber abgesehen davon bin ich wirklich nichts Besonderes«, murrte das Mädchen.
Holly betrachtete Beth, als ob sie sie das allererste Mal vor sich hätte.
Die Augen des jungen Mädchens hatten eine intensive blaue Farbe, wie der Himmel über der Wüste nach einem Regenfall. Sie besaß volle Lippen und einen leicht gebräunten, vor Gesundheit strotzenden Teint. Und für eine Fünfzehnjährige hatte sie eine hübsche, schlanke, weibliche Figur.
Mit einem dezenten Make-up, der richtigen Kleidung und einer anderen Frisur ... doch, sie würde einfach umwerfend aussehen, dachte Holly.
»Holly?« Beth wedelte mit den Händen vor Hollys Gesicht. »Wo bist du denn?«
»Komm mit«, sagte Holly und streckte ihr die Hand entgegen.
Beth griff, ohne zu zögern, danach.
»Wohin gehen wir?« fragte sie.
»Nach Palm Springs.«
»Warum das denn?«
»Wenn wir uns beeilen, dann haben wir noch ein oder zwei Stunden, ehe die Läden dichtmachen.«
»Welche Läden?«
»Bekleidungsgeschäfte«, lautete Hollys Auskunft.
»Ich fasse es nicht. Mal abgesehen von der Frisur siehst du mit deinen Sachen ungefähr so alt aus wie ich.«
Holly starrte in den Spiegel: eine verknitterte Bluse, ebenso verknitterte Jeans, Cowboystiefel, kein Make-up und aus dem Gesicht gekämmte Haare.
Sie hat recht, dachte Holly. Ich sehe kaum alt genug aus, um einen Führerschein zu besitzen.
Achselzuckend durchsuchte Holly ihre Taschen, ob sie auch ihre Kreditkarten dabeihatte.
»Wenn mich Roger so sieht, wird er mich feuern«, orakelte sie.
»Wer ist Roger?« hakte Beth sofort nach.
»Mein Boß.«
»Ach so. Was für eine Arbeit machst du denn?«
»Ich bin Fotomodell.«
Beth atmete tief durch. Ihr junges, klares Gesicht blickte Holly ungläubig an.
»Weiß Linc das?« flüsterte sie.
»Ja«, sagte Holly. »Allerdings glaubt er mir nicht so ganz.«
»Holly ...« Beth' Stimme erstarb.
»Schon klar!«
»Tatsächlich?« fragte sie gepreßt. »Linc haßt Models. Seine Mutter und meine Mutter waren beide welche.«
»Ja, ich bin im Bilde.«
Beth grunzte bedrückt.
Holly lächelte Lincs Schwester mit einer Fröhlichkeit zu, die der reinste Bravourakt war.
»Laß uns jetzt einkaufen gehen«, sagte Holly. »Kommst du denn auch auf die Tausend-und-eine-Nacht-Party?«
»Würde ich nie und nimmer ausfallen lassen.«
»So, wie ich Linc kenne, brauchst du noch etwas für das Fest.«
Beth nickte beklommen. »Er läßt mich aber nichts einkaufen, wenn er nicht selbst dabei ist.«
»Du würdest doch ein Geschenk von mir nicht ablehnen, oder?«
»Ein Geschenk?«
»Für die Party.«
Die Augen des jungen Mädchens leuchteten auf.
»Oh«, sagte Beth. »Ist das wirklich dein Ernst?«
»Aber sicher. Hebt Linc seine Autoschlüssel immer noch in der Schüssel an der Hintertür auf?«
»Ja.«
Holly wählte einen von Lincs Wagen, ein bronzefarbenes BMW-Coupé, das sich für kurvenreiche Gebirgsstraßen besonders eignete. Die Luft war schwül. Hinter den Wolkenbergen kündigte sich entfernter Donner an.
Als sie Palm Springs erreicht hatten, wandte sich Holly an Beth.
»Wohin jetzt?« fragte sie.
»Ach, da gibt es viele Läden.«
»Klar, aber welcher ist der beste?«
»Für dich?« fragte Beth.
»Für uns beide.«
Das Mädchen blinzelte erfreut.
»An der nächsten Ampel links ab«, dirigierte sie aufgeregt.
Beth hatte sich das »Elegance« ausgesucht, eine kleine, exklusive Boutique, die Kleidung für Teenager und auch Frauen in den Zwanzigern führte.
Holly überflog das Angebot der Designs und der Farben. Erleichtert stellte sie fest, daß selbst die modischste Avantgarde auch auf Qualität und nicht nur auf Schockwirkung setzte.
Beth wanderte von einem Ständer zum nächsten. Ihr Interesse war so unschuldig, daß Holly lächeln mußte.
»Hast du etwas gefunden, das dir gefällt?« fragte Holly. »Einfach alles«, seufzte Beth. »Dies ist der angesagteste Laden, aber Linc läßt mich hier niemals etwas einkaufen.«
»Zu teuer?«
»Zu avantgardistisch«, äußerte Beth betrübt.
»Vertraue mir«, sagte Holly. »Wenn ich Hand anlege, dann wirst du nicht nach mehr und nicht nach weniger aussehen, als du wirklich bist.«
Eine Stunde später verließen sie den Laden mit einer weitgeschnittenen, ecruweißen Seidenbluse und einem knöchellangen seidenen Rock, der genau Beth' blauen Augen ent sprach. Feine, dazu passende Bändchen für ihr Haar waren auch mit dabei. Silberne Sandaletten mit einem leichten Absatz rundeten das Ganze perfekt ab.
Beth fühlte sich im siebten Himmel. Sobald sie auf den Bürgersteig hinausgetreten waren, drückte sie die Tüten an sich und wirbelte unentwegt freudestrahlend um ihre eigene Achse.
»Was für ein wunderbares Geschenk, Holly! Ich kann es kaum abwarten bis zur Party! Jack wird auch mit seinen Eltern dort sein! Warte nur, wenn er mich sieht! Er wird ...«
Ihr Freudengeheul brach plötzlich ab, als sie mit jemandem zusammenstieß.
»Paß auf deine großen Füße auf«, schnauzte Cyn sie an. Holly und Beth drehten sich gleichzeitig nach ihr um.
»Tut mir leid«, murmelte Beth.
»Ihre Füße sind vollkommen in Ordnung«, bemerkte Holly kühl. »Und sie hat sie besser unter Kontrolle als Sie Ihre Zunge!«
Cyns zusammengekniffene Augen wanderten über Hollys Bluse, Jeans und Schuhe.
»Ist das eine neue Aushilfe auf der Ranch?« fragte Cyn an Beth gewandt.
Das junge Mädchen lächelte liebenswürdig.
»Hat dir das Linc heute morgen nicht erzählt, als er dich von der Scheune aus anrief?« fragte Beth mit Unschuldsmiene. »Holly wird Frau Lincoln McKenzie werden.«
Cyns Gesichtsausdruck veränderte sich, sie sah plötzlich hart und eingefallen aus.
»Wieder mal am anderen Apparat mitgehört?« schnappte sie.
Einen Augenblick lang schien es Beth unangenehm.
»Das wundert mich nicht«, höhnte Cyn. »So unscheinbare Mädchen wie du müssen wenigstens clever sein. Sie haben ja sonst nichts, was für sie spricht.«
Beth versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, wie weh ihr Cyns Worte taten. Es gelang ihr jedoch nicht. Sie war einfach noch nicht erfahren genug, um Beleidigungen dieser Art etwas entgegenzusetzen.
»Wenn Sie diese dunkelblauen Kontaktlinsen, die Sie offensichtlich tragen, einmal abnehmen würden, dann könnten Sie vielleicht Beth' Schönheit besser sehen«, ließ Holly sich deutlich vernehmen.
Cyns Lachen war so leicht und zart wie ihr Parfüm.
»Sie machen mir Spaß«, sagte Cyn. »Sie ist fast genauso gewöhnlich und unscheinbar wie Sie selbst! Wußten Sie denn nicht, daß Männer kleine Frauen, weich und mit Rundungen an den richtigen Stellen, bevorzugen?«
»Besonders an den Absätzen?« schlug Holly vor.
Cyn sprang sie wie eine Katze an.
»Nur weil Sie Lincs Leben gerettet haben, heißt das noch lange nicht, daß er Sie begehrt.« Ihre Stimme überschlug sich vor Wut. »Er wird schon bald Ihrer Bauernunschuld überdrüssig werden. Schließlich ist er ein astreiner Mann. Sehen Sie der Tatsache einfach ins Auge: Sie haben den Sex-Appeal einer Zaunlatte.«
»Einer Zaunlatte?« echote Holly.
Ihre Augen wurden schmal und genauso hart wie die von Cyn.
»Kommen Sie doch auf die Tausend-und-eine-NachtParty«, lud Holly sie ein. »Dort können Sie sich von den verschiedenen Sorten Sex-Appeal ein ganz neues Bild machen. Sie werden Ihre Blindheit verfluchen, Beth als unscheinbar zu bezeichnen. Haben Sie begriffen, was ich Ihnen sage?«
Cyn starrte Holly ungläubig an.
»Sie könnten nicht einmal einen Spiegel dazu überreden, Ihnen ein Kompliment zu machen, und erst recht keinen Mann«, geiferte Cyn.
Holly lächelte. Das Lächeln war ebenso unterkühlt wie ihr Blick.
»Ich werde auf den Ball kommen«, säuselte Cyn. »Dann sehen wir, wen die Männer umschwärmen! Ich freue mich darauf, Sie dort zu treffen. Schade, aber unter Umständen entdecken Sie mich gar nicht, da ich ziemlich belagert sein werde.«
Cyns Lachen war noch zu hören, als sie schon die Straße hinuntergetrippelt war.
»Ich hasse sie«, sagte Beth mit gepreßter Stimme. »Wie kann Linc nur an ihr etwas finden!«
Holly verzog das Gesicht. Sie wußte genau, was ihm an Cyn gefiel.
»Er hat sich halt an ihr ... Gesicht gewöhnt«, besänftigte sie die Kleine.
Beth berührte zaghaft Hollys Arm.
»Tut mir leid.« Sie fiel ein wenig zusammen. »Du hättest mich nicht wie eine Löwin verteidigen müssen. Ich weiß ja, wie ich aussehe.«
»Du bist etwas Besonderes«, versicherte Holly ihr, wobei sie jedes Wort einzeln betonte.
Ein mattes Lächeln huschte über Beth' Gesicht.
Holly ahnte den Grund ihrer Sorgen und gab ihr einen Klaps.
»Komm schon«, sagte sie. »Laß uns im Hotel meine Sachen holen. Du wirst dich wundern, wie sich eine Raupe in einen Schmetterling verwandeln kann.«
Niemanden aber wird es mehr verblüffen als Linc, wenn eine Shannon und keine Holly North seinen Ball beehrt, dachte Holly.
Es war nicht unbedingt ein berauschender Gedanke.
Donner grollte über ihnen, und ein schwüler Wind fegte über das Land. Der Wind roch nach Sand und Staub und Regen.
Beth und Holly beeilten sich, zum Auto zurückzukommen. Sie schafften es gerade noch, vor dem Sturm die Ranch zu erreichen. Als Holly in die Einfahrt bog, durchzuckten bereits Blitze die Wolken über ihren Köpfen.
»Linc?« rief Holly, als sie in die Küche trat.
Keiner antwortete.
»Der ist bestimmt noch in der Scheune, da wette ich drauf«, sagte Beth.
Holly nickte seufzend. Auf der Rückfahrt von Palm Springs hatte sie sich dazu entschlossen, mit Linc zu reden. Sie mußte ihn irgendwie auf die beschlossene Verwandlung der unkomplizierten Jugendfreundin in das Topmodel vorbereiten.
Wenn ich bloß die richtigen Worte finde ... und den Mut, zerbrach sie sich den Kopf.
Bestimmt wird er mir die Chance einräumen, ihm zu erklären, daß nicht alle Fotomodelle herzlose Luder sind. Das würde er doch, oder?
»Holly, ist etwas mit dir? Du siehst irgendwie merkwürdig aus.«
»Nur ein wenig abgespannt.«
»Sonst nichts?«
Holly schüttelte den Kopf.
Beth zögerte, dann ging sie mit den Tüten im Arm auf ihr Zimmer zu. Im Flur hielt sie inne und blickte über ihre Schulter.
»Bist du sicher, daß ich dir das nicht zurückzahlen sollte?« fragte sie. »Papa hat mir Geld hinterlassen, das Linc bis zu meinem achtzehnten Geburtstag verwaltet.«
»Diese Kleider sind mein Rückkehrgeschenk an dich.«
»Es ist aber ein furchtbar teures Geschenk.«
»Mach dir keine Gedanken, Schätzchen«, erwiderte Holly lächelnd. »Jeder Pfennig davon stammt aus Sandras Tasche.«
»Ja, das hat mir Linc erzählt. Was für eine Hexe ... Sie hat sogar meine Briefe an dich unterschlagen.«
Hollys Lächeln wich aus ihrem Gesicht. Und ohne ihre Freundlichkeit sah sie unnahbar, irgendwie fremd aus, ganz die Kämpferin, zu der sie das Leben geformt hatte.
»Du hast mir auch geschrieben?« fragte sie leise.
»Natürlich. Außer Linc warst du der einzige Mensch auf der Welt, der mich geliebt hat.«
Holly durchquerte die Küche und umarmte Beth mitsamt ihren Tüten heftig.
»Und ich liebe dich noch immer«, bekräftigte sie. »Ich habe dir auch geantwortet.«
Beth' Augen waren feucht vor Rührung.
»Ich liebe dich genauso«, sagte sie. »Sandra hätte nie hierher kommen sollen. Linc wäre glücklicher gewesen und ich auch.«
»Ganz abgesehen mal von mir«, sagte Holly und ließ Beth los.
Lächelnd blickte Beth sie an.
»Weißt du, wenn Sandra nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt sicherlich schon Tante.«
Und Shannon wäre niemals geboren worden, schoß es Holly durch den Kopf.
Merkwürdig, aber diese Vorstellung mißfiel ihr.
Anfangs hatte sie die schillernde Maske von Shannon irritiert, weswegen sie auch nicht unter ihrem eigenen Namen arbeitete.
Aber der Name gehörte dennoch irgendwie zu ihr. Es war ihr mittlerer Name, der Mädchenname ihrer Mutter.
Shannon.
Grundsätzlich war Shannon einem Bedürfnis von Holly erwachsen, ob sie sich das damals eingestehen wollte oder nicht. Was auch immer Holly fehlte, Shannon hatte es. Shannon war nicht mit sechzehn elternlos geworden. Shannon mußte niemals weinen, weil sie mangels Schönheit von dem geliebten Mann übersehen würde. Shannon war nie unsicher oder zu groß gewesen. Und Shannon kannte keine Einsamkeit.
Die Liste ihrer Unterschiede ließ sich endlos fortführen. Aber waren sie wirklich so verschieden? Diese Frage stellte Holly sich zum allerersten Mal.
Shannon stieg nicht gleich mit Männern ins Bett noch verliebte sie sich in Typen, die Interesse an ihr zeigten. Genau wie Holly.
Shannon wollte nicht gekauft und dann wie ein lebensgroßes Schmuckstück am Handgelenk eines Millionärs getragen werden. Genau wie Holly.
Shannon träumte von Linc, spürte seine Haut unter ihrer Hand, schmeckte seine Lippen. Genau wie Holly.
Shannon war intelligent, fleißig und verantwortungsbewußt. Sie wollte die Beste sein und hatte es geschafft. Royce Design war mit ihr vollkommen identisch.
Das bin ich tatsächlich auch, dachte Holly.
Unmerklich waren die beiden Gegenpole ihrer Persönlichkeit miteinander verschmolzen.
Vielleicht ist es einfach das Erwachsenwerden, dachte sie. Endlich kann ich mich selbst akzeptieren. Einerseits bin ich die einfache Holly und andererseits die raffinierte Shannon, genau wie alle anderen Frauen.
Aber ihr Kern war ein fester Bestandteil, unabhängig von der äußeren Hülle, ob natürlich oder herausgeputzt. Die Frau selbst in der sich wandelnden Hülle blieb unverändert.
Und diese Frau liebte und wollte von einem einzigen Mann geliebt werden.
Lincoln McKenzie.
»Ist denn der Gedanke an Kinder so schrecklich?« unterbrach Beth ihre Überlegungen.
Holly blinzelte und tastete sich in die Realität zurück. Sie lächelte.
»Überhaupt nicht«, sagte sie. »Dann müßte ich Roger nur dazu bewegen, eine Kollektion für Schwangere zu entwerfen.« »Der Boß entwirft Kleider?«
»Keinerlei Fragen mehr über meinen Boß oder meine Arbeit bis morgen um Mitternacht!« ordnete Holly energisch an. »Wenn ich dir keine Fragen stelle, dann wirst du mir auch keine Lügen erzählen!« Beth meinte es durchaus ein wenig provokativ.
»Ich würde dich nicht anlügen, genausowenig wie Linc.«
»Gott sei Dank«, atmete Beth auf. »Das kann er nämlich am allerwenigsten ausstehen.«
Holly seufzte.
»Nun, die gesamte Wahrheit habe ich ihm allerdings noch nicht präsentiert«, gab sie zu. »Aber wenn dein werter Bruder auch nur ein wenig Einsicht hätte, statt sich von seinen Vorurteilen einnebeln zu lassen, dann müßte ich das auch nicht!«
Beth blickte erst erschrocken drein, dann kicherte sie fröhlich.
»Du wirst ihm richtig guttun«, sagte sie. »Er hält sich nämlich andauernd für den großen Zampano.«
Darauf hüpfte Beth in ihr Zimmer, um ihre schönen neuen Stücke aufzuhängen.
»Wenn du fertig bist, komm wieder«, rief Holly ihr hinterher. »Ich will dir etwas zeigen.«
Sie trug ihr Gepäck und ihren Schminkkoffer in das Gästezimmer. Wenig später erschien auch Beth. Sie durchforstete die Verschönerungsutensilien, während Holly weiter auspackte.
Als Holly ihre Kleidung verstaut hatte, hatte sich Beth bereits eine volle Kriegsbemalung zugelegt. Als sie merkte, daß Holly ihr zuschaute, spiegelte sich auf ihrem Gesicht eine Mischung aus Zerknirschtheit und Trotz.
Anstatt etwas zu sagen, setzte sich Holly neben Beth auf das Bett.
»Nun?« begehrte das junge Mädchen auf.
»Nun was?«
Beth betrachtete sich in dem Spiegel des Köfferchens. »Mir gefällt es«, sagte sie schnippisch.
Holly fand Beth' Aufmachung entsetzlich. Schwarze Augenbrauen, schwarze Wimpern, knallrote Lippen und Wangen, überall Puder, der ihren gesunden Teint zukleisterte.
Sie hatte das Make-up aufgetragen ohne ihr Alter, ihre natürliche Hautfarbe oder ihre Gesichtsform zu berücksichtigen.
Holly enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Ihr war der korrekte Einsatz von Make-up beigebracht worden, so wie man auch kochen oder malen erlernen konnte, als Handwerk nämlich. Kein Mensch wurde mit solchen Fertigkeiten geboren.
»Laß mich mal etwas ausprobieren«, sagte Holly freundlich.
Sie drehte den Spiegel zur Seite, damit Beth nicht sehen konnte, was mit ihr geschah. Dann entfernte Holly das Makeup auf der einen Gesichtshälfte, stöberte durch die Kosmetika und suchte verschiedene Farben heraus.
»In der Modeschule hat man uns damals aufgefordert, unser normales Make-up auf die eine Gesichtshälfte aufzutragen. Dann kam der Lehrer und schminkte die andere Hälfte«, erläuterte Holly.
Während sie erklärte, arbeitete sie nebenbei mit Routine. Jede ihrer sicheren Handbewegungen zeugte von jahrelanger Übung.
»Weißt du, Make-up ist so individuell wie die Person, die es trägt. Wie ich dich jetzt schminke, das würde bei einer Frau Mitte Zwanzig bereits merkwürdig aussehen, bei einer Fünfunddreißigjährigen lächerlich und wenn sie fünfundvierzig ist, einfach nur noch bemitleidenswert.«
Beth blickte weiterhin stur geradeaus.
Linc und sie sind ein nettes Gespann, dachte Holly trocken. Aber ich selbst bin ja auch kein Schoßhündchen.
»Jedes Alter hat seine eigenen Ansprüche und seine eigene Schönheit«, fügte Holly hinzu. »Aber was jetzt bei dir paßt, würde bei mir schon immer schlimm ausgesehen haben, auch als ich so alt war wie du.«
»Warum?«
»Aus demselben Grund, aus dem auch die Farben meiner Garderobe dir nicht stehen würden.«
»Wie meinst du das?« fragte Beth.
»Ich bin ein dunkler Typ«, erläuterte Holly. »Du bist blond. Ich habe hellbraune Augen, du hellblaue. Meine Nase ist ein wenig schief, deine dagegen perfekt. Du hast schöne volle Lippen. Ich nicht. Meine Augen und meine Wangenknochen liegen zu schräg ...«
»Zu schräg!« unterbrach sie Beth ungläubig. »So etwas gibt es gar nicht.«
Holly lächelte.
»Mein Gesicht ist dreieckig«, fuhr sie fort, »deines ist oval. Kurzum, wir brauchen jeder ein vollkommen anderes Makeup, um unsere jeweiligen Vorzüge zu betonen.«
»Bei mir gibt es keinerlei Vorzüge zu betonen«, murmelte Beth verzagt.
»Gibt es wohl! Aber du siehst sie nicht, wenn du sie unter Bergen von Make-up versteckst.«
Holly arbeitete schweigend und konzentrierte sich auf die Wimperntusche. Sie trug ein wenig Rouge auf, damit Beth' Wangenknochen besser zur Geltung kamen. Dann überprüfte sie ihr Werk und nickte.
»Darf ich mich jetzt ansehen?« fragte Beth.
»Klar.«
Beth griff nach dem Köfferchen und hob den Deckel. Eine lange Zeit betrachtete sie ihre beiden Gesichtshälften.
»Also, du hast echt eine Menge mehr Ahnung als ich«, gestand sie schließlich.
Mit dieser Bemerkung griff das junge Mädchen nach einem Taschentuch und wischte sich die eigenen Tuschereien ab. Dann betrachtete sie sich wiederum. Aufmerksam verglich sie die rechte, geschminkte Seite mit der linken, ungeschminkten. Während Beth in den Spiegel schaute, löste Hollys Beth' rechten Zopf auf, rührte den linken jedoch nicht an. Sie bürstete die Hälfte des glänzenden, taillenlangen Haars, bis es glatt war. Dann zog Holly es ihr aus dem Gesicht und versuchte mehrere Frisuren.
Schließlich wand sie ein paar Strähnen lose um Beth' Stirn und steckte sie auf ihrem Kopf fest, damit sie nicht von der Masse erdrückt wurden. Den Rest des Haares auf der rechten Seite ließ sie offen auf ihren Rücken fallen. Das Resultat war ein einfacher und doch ungewöhnlicher Stil, der das perfekte Oval von Beth' Gesicht betonte.
»Einmal Shampoo und ein paar heiße Wickler würden den Knick beseitigen, der von den Rattenschwänzen geblieben ist«, instruierte Holly sie. »Und ich habe ein paar Ohrringe, die ausgezeichnet zu deinem neuen Rock passen.«
Etwas spät merkte sie, daß Beth ihr gar nicht zuhörte. »Beth?«
»Ja?«
Dann blinzelte Beth, als ob sie gerade aus einem Traum aufwachte und wandte ihren Blick vom Spiegel ab.
»Bin das wirklich ich?« flüsterte sie. »Meine Augen sehen so blau aus, so groß! Und auf einmal mag ich sogar mein Haar! Was hast du nur mit meinen Wangenknochen gemacht? Ich sehe überhaupt nicht mehr aus wie ein Kind. Wie funktioniert so was?«
»Das frage ich mich auch«, ertönte Lincs Stimme aus dem Flur. »Erkläre mir bitte, wie du ein süßes sechzehnjähriges Mädchen in ein Flittchen verwandelst.«