Kapitel 1
Es tut mir Leid«, sagte der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis mit leiser Stimme, wobei sich auf seinem Gesicht Schuldbewusstsein und Bedrückung mischten. »Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, aber gegen den Inneren Kreis bin ich machtlos. Weder meine Hinweise auf moralische Gebote noch auf rechtliche Vorschriften haben etwas gefruchtet.«
Pitt stand in der Mitte des Raumes, auf dessen Boden das Sonnenlicht des warmen Junitages tanzte. Durch das Fenster kaum gedämpft, hörte er von der Straße herauf Hufgetrappel, die Rufe der Fuhrleute und das knirschende Geräusch der Räder schwerer Fuhrwerke auf dem Pflaster, untermalt vom Tuten der Vergnügungsdampfer auf der Themse. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Nach der Verschwörung von Whitechapel hatte ihm Königin Viktoria persönlich für seinen Mut gedankt und für die Treue zur Krone, die er bewiesen hatte. Er war wieder in sein Amt als Oberinspektor der Wache in der Bow Street eingesetzt worden – und jetzt entließ ihn sein Vorgesetzter erneut! »Das können die doch nicht machen!«, sagte er empört. »Ihre Majestät hat mich doch selbst …«
Cornwallis blickte gequält, zuckte aber mit keiner Wimper. »Doch, die können das. Ihre Macht reicht weiter, als Sie oder ich je ahnen werden. Die Königin erfährt lediglich, was diese Menschen billigen. Selbst wenn wir ihr den Fall vortragen wollten, hätten Sie keinerlei Rückhalt – nicht einmal mehr beim Sicherheitsdienst, glauben Sie mir das. Narraway übernimmt Sie liebend gern wieder«, stieß er rau hervor. Es schien ihn große Mühe zu kosten. »Nehmen Sie das Angebot an, Pitt. Um Ihrer selbst und um Ihrer Familie willen. Etwas Besseres bekommen Sie nicht. Und Sie machen Ihre Sache gut. Niemand vermag zu ermessen, welch ein bedeutender Dienst an Ihrem Lande es war, dass Sie Voisey in der Whitechapel-Sache das Handwerk gelegt haben.«
»Ganz so ist es ja nicht«, sagte Pitt voll Bitterkeit. »Die Königin hat ihn in den Adelsstand erhoben, und der Innere Kreis ist nach wie vor mächtig genug zu entscheiden, wer Leiter der Wache in der Bow Street sein soll und wer nicht!«
Cornwallis zuckte zusammen. »Ich weiß. Andererseits wäre England jetzt eine Republik, wenn Sie Voisey nicht in den Arm gefallen wären, und im Lande würde Aufruhr herrschen, wenn nicht gar Bürgerkrieg. Voisey wäre jetzt Präsident, denn das war schließlich sein Ziel, und durch diese Rechnung haben Sie ihm zweifellos einen Strich gemacht, Pitt. Daran sollten Sie immer denken, denn er wird Ihnen das auf keinen Fall verzeihen.«
Pitt ließ die Schultern sinken. Er fühlte sich kraftlos und zutiefst verletzt. Wie sollte er das Charlotte beibringen? Sie wäre fuchsteufelswild wegen des Unrechts, das man ihm damit antat, und würde dagegen ankämpfen wollen. Aber man konnte nichts dagegen unternehmen. Das war ihm durchaus klar, und er begehrte Cornwallis gegenüber lediglich auf, weil er den Schock noch nicht verwunden hatte und die Wut über die Ungerechtigkeit, die ihm da widerfuhr, tief saß. Er hatte wirklich angenommen, seine Stellung sei jetzt endlich sicher. Hatte nicht die Königin selbst seine Leistungen gewürdigt?
»Ihnen steht Urlaub zu«, sagte Cornwallis. »Es … tut mir Leid, dass ich Ihnen diese bittere Pille verabreichen musste.«
Pitt fiel nichts ein, was er darauf hätte sagen können. Er brachte es nicht über sich, der bloßen Höflichkeit zu genügen.
»Fahren Sie irgendwo hin, wo es schön ist«, fuhr Cornwallis fort. »Raus aus London, aufs Land oder ans Meer.«
»Ja … das wäre wohl das Beste.« Für Charlotte wäre es so leichter und auch für die Kinder. Zwar wäre sie nach wie vor tief getroffen, aber zumindest wären sie beieinander. Schon seit Jahren hatten sie immer nur wenige Tage Zeit für sich gehabt, an denen sie einfach durch Wälder oder über Felder gezogen waren, im Freien gepicknickt und träge zum Himmel emporgesehen hatten.
Charlotte war entsetzt, verbarg es aber nach dem ersten Ausbruch, wohl in erster Linie der Kinder wegen. Die zehnjährige Jemima reagierte ausgesprochen empfindlich auf Veränderungen der Gefühlslage im Hause, und der zwei Jahre jüngere Daniel stand ihr darin nicht nach. So sprach Charlotte möglichst viel über die geplanten Ferien und dachte darüber nach, wie viel sie dafür würden aufwenden dürfen.
Nach wenigen Tagen waren alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen. Sie würden auch Edward mitnehmen, den Sohn von Charlottes Schwester Emily, der im gleichen Alter wie ihre eigenen Kinder war und sich bestimmt freute, sich für eine Weile dem Zwang der Schule wie auch den Pflichten entziehen zu dürfen, in die er allmählich als Erbe seines Vaters hineinwuchs. Emily war in erster Ehe mit Lord Ashworth verheiratet gewesen, mit dessen Tod der Titel wie auch das Vermögen auf den Jungen übergegangen war. Ihrer zweiten Ehe mit dem Unterhausabgeordneten Jack Radley entstammte Evangeline, die aber für eine solche Reise in die Sommerfrische noch zu klein war.
Die Familie Pitt hatte für zweieinhalb Wochen ein Häuschen in Harford gemietet, einem kleinen Dorf am Rande von Dartmoor. Nach ihrer Rückkehr würde die Unterhauswahl vorüber sein, und Pitt würde sich erneut zur Arbeit bei Narraway melden, dessen Sicherheitsdienst in erster Linie die Aufgabe hatte, die Bombenleger der Fenier und andere Machenschaften der irischen Unabhängigkeitsbewegung zu bekämpfen, gegen die Gladstone erneut vorging. Allerdings waren seine Erfolgsaussichten so gering wie eh und je.
»Ich weiß gar nicht, wie viel ich für die Kinder mitnehmen soll«, sagte Charlotte, als wäre es eine Frage. »Wie sehr sie sich wohl schmutzig machen werden …«
Sie packten im Schlafzimmer die letzten Dinge zusammen. Mit dem Mittagszug wollten sie in Richtung Südwesten fahren.
»Hoffentlich sehr«, gab Pitt mit breitem Lächeln zurück. »Sauberkeit ist für ein Kind nicht gesund … jedenfalls nicht für einen Jungen.«
»Dann kannst du ja einen Teil der Wäsche übernehmen!«, gab sie schlagfertig zurück. »Ich zeige dir, wie man mit einem Bügeleisen umgeht. Es ist ganz unkompliziert – nur eben anstrengend und langweilig.«
Gerade, als er etwas erwidern wollte, meldete sich das Dienstmädchen Gracie von der Tür. »’n Droschkenkutscher hat ’ne Mitteilung für Sie gebracht, Mister Pitt«, sagte sie. »Hier is se.« Sie hielt ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin.
Er nahm es und las.
Pitt, ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Kommen Sie mit
dem Überbringer dieser Mitteilung. Narraway.
»Worum geht es?«, fragte Charlotte mit einem scharfen Unterton, als sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Wo brennt es jetzt schon wieder?«
»Ich weiß nicht«, gab er zur Antwort. »Narraway will mich sprechen. Bestimmt ist es nichts Besonderes. Ich fange ja erst in drei Wochen wieder beim Sicherheitsdienst an.«
Sie wusste natürlich, wer Narraway war, auch wenn sie ihn nicht kannte. In den elf Jahren, seit sie Pitt 1881 kennengelernt hatte, war sie in jedem seiner Fälle aktiv geworden, der ihre Neugier oder Empörung ausgelöst hatte oder in den jemand verwickelt war, der ihr am Herzen lag. Im Fall der Verschwörung von Whitechapel hatte sie sich mit der Witwe von John Adinetts Opfer angefreundet und schließlich die Hintergründe von dessen Tod aufgedeckt. Außerhalb des Sicherheitsdienstes wusste niemand besser als sie, wer Narraway war.
»Auf jeden Fall solltest du dafür sorgen, dass er dich nicht zu lange aufhält«, sagte sie ärgerlich. »Du hast Urlaub und musst heute Mittag den Zug bekommen. Mir wäre es lieber, er hätte sich morgen gemeldet, dann wären wir fort gewesen.«
»Ich glaube nicht, dass es etwas Besonderes ist«, erwiderte er in munterem Ton, und mit einem schiefen Lächeln fügte er hinzu: »In jüngster Zeit hat es keine Bombenanschläge gegeben, und so kurz vor der Wahl wird es wohl auch eine Weile ruhig bleiben.«
»Und warum kann die Sache dann nicht warten, bis du zurück bist?«, fragte sie.
»Vermutlich kann sie das.« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Aber ich muss mich wohl fügen.«
Schmerzlich kam ihm seine neue Situation wieder zu Bewusstsein. Er unterstand unmittelbar Narraway und konnte sich an niemanden wenden als an ihn. Die Öffentlichkeit würde nichts erfahren, und ihm war auch der Weg zu ordentlichen Gerichten verwehrt, der ihm in seiner Zeit als Polizeibeamter offen gestanden hatte. Wenn Narraway ihn zurückwies, hätte er keine Chance mehr.
»Ja, ich weiß …« Sie senkte den Blick. »Vergiss aber nicht, ihm das mit dem Zug zu sagen. Es ist der Einzige, mit dem wir unser Ziel noch heute erreichen können.«
»Keine Sorge.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging hinaus.
Vor dem Haus wartete der Droschkenkutscher. »Fertig?«, fragte er vom Bock herunter.
»Ja«, sagte Pitt und stieg ein. Was mochte Victor Narraway von ihm wollen, was nicht bis zu seiner Rückkehr in knapp drei Wochen warten konnte? Wollte er seine Macht beweisen, erneut klarstellen, wer das Kommando hatte? Er dürfte kaum Pitt um seinen Rat fragen wollen, denn Pitt war im Sicherheitsdienst nach wie vor ein Neuling. Zwar wusste er dies und jenes über die Fenier, verstand aber nichts von Dynamit oder anderen Sprengstoffen und nur sehr wenig von Verschwörungen. Offen gestanden wollte er auch all das gar nicht wissen. Als Kriminalbeamter wusste er, wie man Verbrechen aufklärte, den Beweggründen von Menschen nachspürte, die einen Mord begingen, und die Einzelheiten eines solchen Falles zusammentrug, das Treiben von Spionen, Anarchisten und politischen Umstürzlern hingegen war ihm fremd.
Im Fall der Verschwörung von Whitechapel hatte er einen glänzenden Erfolg errungen, doch diese Angelegenheit war jetzt abgeschlossen. Alles, was damit zusammenhing, würde für alle Zeiten in Schweigen und Finsternis gehüllt sein. Charles Voisey lebte noch, doch konnte man ihm nichts nachweisen. Dennoch hatte es eine Art Gerechtigkeit gegeben, denn er, der Mann an der Spitze der im Untergrund tätigen Bewegung zum Sturz der Monarchie, hatte nicht verhindern können, dass man die Dinge so hinstellte, als hätte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um eben diese Monarchie zu retten. Beim Gedanken daran, wie er im Buckingham-Palast neben Charlotte und Tante Vespasia gestanden hatte, als die Königin Voisey wegen seiner Verdienste um die Krone geadelt hatte, trat unwillkürlich ein Lächeln auf Pitts Züge, während ihm zugleich der Zorn über die Art, wie man ihn nun behandelte, die Kehle zuschnürte. Als sich Voisey von den Knien erhoben hatte, war er so aufgebracht gewesen, dass er keinen Ton herausgebracht hatte. Die Königin hatte das als Zeichen der Ehrerbietung gedeutet und huldvoll gelächelt, und der Thronfolger hatte Voisey in den höchsten Tönen gelobt. Doch als sich dieser schließlich umgewandt hatte und an Pitt vorüber gegangen war, hatte in seinen Augen ein Hass wie Höllenfeuer gebrannt. Bei der bloßen Erinnerung daran zog sich Pitt noch jetzt vor Angst der Magen zusammen.
Ja, es würde gut sein, nach Dartmoor zu fahren: der weite Himmel, über den der Wind die Wolken trieb, der Geruch nach Erde und Gras auf den Feldwegen. Sie würden wandern und miteinander reden oder einfach nur nebeneinander hergehen! Er würde mit Daniel und Edward Drachen steigen lassen, auf einige der vielen hohen, felsigen Hügel klettern, dies und jenes sammeln, was sich in der Natur fand, Tiere des Waldes und Vögel beobachten. Charlotte und Jemima mochten unterdessen tun, wonach ihnen der Sinn stand, Gärten ansehen, Wildblumen pflücken, sich mit Leuten unterhalten und neue Bekanntschaften schließen.
Die Droschke hielt. »Wir sind da«, rief der Kutscher. »Der Herr erwartet Sie schon.«
»Danke.« Pitt stieg aus und ging auf die Stufen des Hauses zu, auf das der Kutscher gewiesen hatte. Es handelte sich nicht um den Laden in Whitechapel, in dessen Hinterzimmer er dem Leiter des Sicherheitsdienstes zum ersten Mal begegnet war. Vielleicht richtete sich Narraway jeweils dort ein, wo es erforderlich war? Pitt öffnete die einfache Holztür, ohne anzuklopfen, und trat in einen Flur. Dahinter lag ein behaglicher Wohnraum, dessen Fenster auf einen winzigen Garten gingen, in dem vor allem wuchernde Rosen standen, die dringend beschnitten werden mussten.
Victor Narraway saß in einem von zwei Lehnsesseln. Als Pitt eintrat, hob er den Blick, stand aber nicht auf. Er war schlank, von durchschnittlicher Größe und sorgfältig gekleidet. Zahlreiche graue Fäden durchzogen sein dichtes dunkles Haar. Seine Augen waren nahezu schwarz und seine Nase lang und gerade. In seinen Zügen fiel sogleich die wache Intelligenz auf. Selbst im Sitzen schien er eine Energie auszuströmen, als komme sein Geist nie zur Ruhe.
»Setzen Sie sich«, gebot er Pitt, der stehen geblieben war. »Ich habe nicht die Absicht, zu Ihnen aufzublicken. Außerdem werden Sie bestimmt bald müde und fangen dann an herumzuzappeln, was mich nur ärgern würde.«
Pitt steckte die Hände in die Taschen. »Ich habe nicht viel Zeit, denn ich fahre mit dem Mittagszug nach Dartmoor.«
Narraways dichte Brauen hoben sich. »Mit Ihrer Familie?«
»Natürlich.«
»Tut mir Leid.«
»Das braucht es nicht«, gab Pitt zur Antwort. »Ich werde den Urlaub in vollen Zügen genießen. Schließlich habe ich mir ihn nach der Sache in Whitechapel verdient.«
»Das stimmt«, gab ihm Narraway Recht. »Aber Sie werden nicht fahren.«
»Natürlich fahre ich.« Sie kannten einander erst seit wenigen Monaten und hatten in sehr loser Zusammenarbeit nur einen einzigen Fall gemeinsam bearbeitet. Ihr Verhältnis war nicht mit der schon lange bestehenden Beziehung zwischen Pitt und Cornwallis vergleichbar, den Pitt sehr schätzte und dem er weit mehr getraut hätte als jedem anderen. Nach wie vor wusste er nicht recht, wie er Narraway einschätzen sollte, und auf keinen Fall traute er ihm, trotz der Art, wie er sich im Fall der Verschwörung von Whitechapel verhalten hatte. Auch wenn er überzeugt war, dass Narraway seinem Land diente und sich für einen Ehrenmann hielt, wusste Pitt nicht so recht, welche Vorstellungen Narraway damit verband. Vor allem aber bestand zwischen ihnen keinerlei freundschaftliche Beziehung.
Narraway seufzte. »Setzen Sie sich bitte, Pitt. Ich kann mir denken, dass Sie bereit sind, mir moralisch einzuheizen, aber tun Sie mir wenigstens den Gefallen, mir dabei nicht auch noch Unbequemlichkeiten zu bereiten. Ich mag es nicht, wenn ich den Kopf recken muss, um Sie ansehen zu können.«
»Ich fahre heute nach Dartmoor«, wiederholte Pitt, nahm aber in dem anderen Sessel Platz.
»Heute haben wir den 18. Juni. Am 28. endet die Sitzungsperiode, und das Unterhaus löst sich auf«, sagte Narraway lustlos, als gehe es dabei um eine betrübliche und unbeschreiblich erschöpfende Angelegenheit. »Sofort im Anschluss daran findet die Unterhauswahl statt. Ich denke, die ersten Ergebnisse werden am vierten oder fünften Juli vorliegen.«
»Dann lass ich diesmal meine Stimme eben verfallen«, gab Pitt zur Antwort, »denn um die Zeit bin ich nicht zu Hause. Vermutlich macht es ohnehin nicht den geringsten Unterschied.«
Narraway sah ihn unverwandt an. »Ist Ihr Wahlkreis so korrupt?«
Leicht verwundert antwortete Pitt: »Das glaube ich nicht, aber er ist seit Jahren in den Händen der Liberalen, und die allgemeine Ansicht scheint zu sein, dass Gladstone siegen wird, wenn auch nur mit einer knappen Mehrheit. Sie haben mich bestimmt nicht drei Wochen vor meinem Dienstantritt hergebeten, um mir lediglich das mitzuteilen!«
»Eigentlich nicht.«
»Gut, dann …« Pitt machte Anstalten aufzustehen.
»Bleiben Sie sitzen!«, gebot ihm Narraway mit unterdrücktem Zorn. Seine Stimme klang scharf und bissig.
Eher vor Überraschung als aus Gehorsam ließ sich Pitt wieder in den Sessel sinken.
»Sie haben sich im Fall Whitechapel bewährt«, sagte Narraway mit ruhiger, gelassener Stimme, wobei er sich wieder zurücklehnte und die Beine übereinander schlug. »Sie sind nicht nur mutig, sondern besitzen auch Vorstellungskraft, Initiative und einen eindrucksvollen Moralbegriff. Sie haben die Männer des Inneren Kreises vor Gericht besiegt, obwohl Sie sich das vermutlich zweimal überlegt hätten, wenn Ihnen klar gewesen wäre, mit wem Sie es da zu tun hatten. Sie sind ein guter Kriminalist, der beste, den ich habe. Die meisten meiner Männer verstehen eher etwas von Sprengstoff und Mordanschlägen. Es war schon eindrucksvoll, dass es Ihnen gelungen ist, Voisey eine Niederlage zuzufügen! Wie Sie dann aber auch noch den Mordvorwurf so auf den Kopf stellten, dass er als Retter des Thrones in den Adelsstand erhoben wurde, war einfach brillant. Es war die vollkommene Rache. Die anderen Republikaner betrachten ihn seither als Erzverräter an der Sache.« Der kaum wahrnehmbare Anflug eines Lächelns trat auf Narraways Lippen. »Sie hatten ihn als künftigen Präsidenten vorgesehen. Jetzt würden sie ihm nicht einmal erlauben, Briefmarken anzulecken.«
Zwar klang das wie ein überschwängliches Lob, doch hatte Pitt, während er seinen künftigen Vorgesetzten ansah, das Gefühl, dass ihm Gefahr drohte.
»Er wird Ihnen das nie verzeihen«, fügte Narraway so beiläufig hinzu, als sage er ihm die Uhrzeit.
Pitts Kehle zog sich zusammen, und so krächzte seine Stimme, als er antwortete: »Das ist mir klar. Etwas anderes hätte ich auch nicht angenommen. Als der Fall abgeschlossen war, sagten Sie aber auch, dass es dabei nicht um etwas so Primitives wie Gewalttätigkeit gehen würde.« Seine Hände fühlten sich steif an, und es überlief ihn kalt, nicht aus Angst um sich selbst, sondern um Charlotte und die Kinder.
»Bestimmt nicht«, sagte Narraway freundlich. Einen Augenblick lang legte sich ein weicher Zug auf sein Gesicht, der sogleich wieder verschwand. »Aber er hat sich Ihren Geniestreich zunutze gemacht – das ist sein Geniestreich.«
Pitt räusperte sich. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Er ist ein nationaler Held! Die Königin hat ihn in den Adelsstand erhoben, weil er die Monarchie gerettet hat«, sagte Narraway, stellte die Füße nebeneinander und beugte sich vor. Mit einem Mal verzerrten Hass und Bitterkeit seine Züge. »Er kandidiert für das Unterhaus!«
Pitt glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Was sagen Sie da?«
»Sie haben es gehört! Er kandidiert für einen Unterhaussitz. Sofern man ihn wählt, wird er die Macht des Inneren Kreises dazu nutzen, sehr rasch in der Partei aufzusteigen. Er ist von seinem Posten als Richter am Appellationsgericht zurückgetreten und wird sich künftig der Politik verschreiben. Bald werden die Konservativen die Regierung bilden. Gladstone macht es bestimmt nicht mehr lange. Einmal davon abgesehen, dass er dreiundachtzig Jahre alt ist, wird ihm die Frage der irischen Unabhängigkeit den Hals brechen.« Er nahm den Blick nicht von Pitts Gesicht. »Dann werden wir Voisey als Lordkanzler sehen, als Mann an der Spitze der Justiz des britischen Weltreichs! Er wird die Macht haben, jedes Gericht im Lande zu korrumpieren, was letzten Endes darauf hinauslaufen wird, dass man sich auf keines mehr verlassen kann.«
Die Vorstellung war entsetzlich, aber Pitt konnte sich bereits ausmalen, auf welche Weise es dazu kommen könnte. Jedes Gegenargument erstarb auf seinen Lippen, bevor er es äußerte.
Narraway entspannte sich kaum merklich. »Er tritt im Wahlkreis South Lambeth an.«
Vor seinem geistigen Auge sah Pitt den Londoner Stadtplan vor sich. »Gehört nicht auch Camberwell oder Brixton dazu?«
»Beide.« Narraway sah ihn unverwandt an. »Und Voisey gehört der konservativen Partei an, während der Sitz bisher fest in der Hand der Liberalen war. Davon lasse ich mich aber keinesfalls einlullen, und falls Sie das beruhigt, sind Sie ein Tor!«
»Das tut es ganz und gar nicht«, sagte Pitt kalt. »Er wird seine Gründe haben. Bestimmt gibt es jemanden, den er bestechen oder einschüchtern kann. Vermutlich weiß der Innere Kreis, wo man den Hebel ansetzen muss. Wer kandidiert denn dort für die Liberalen?«
Narraway nickte betont langsam, ohne den Blick von Pitts Gesicht zu nehmen. »Ein Neuer, ein gewisser Aubrey Serracold.«
Pitt stellte die Frage, die sich aufdrängte: »Gehört er zum Inneren Kreis, so dass er im letzten Augenblick von der Kandidatur zurücktreten oder irgendwie dafür sorgen kann, dass er die Wahl verliert?«
»Nein«, sagte Narraway mit Bestimmtheit, ohne zu erklären, woher er das wusste. Sofern er Kontakte zum Inneren Kreis hatte, legte er sie nicht einmal seinen eigenen Leuten gegenüber offen. Allerdings wäre Pitt auch von ihm enttäuscht gewesen, wenn er sich anders verhalten hätte. »Wenn ich wüsste, woher der Wind weht oder auf welche Weise man die Sache deichseln will, wäre ich nicht darauf angewiesen, Sie hier in London zu behalten, damit Sie sich darum kümmern«, fuhr Narraway fort. »Es könnte sich als einer der größten Fehler jener Leute erweisen, dass man Sie aus der Bow Street hinausgedrängt hat.« Sogleich fühlte sich Pitt an die Ungerechtigkeit erinnert, die man ihm zugefügt hatte, aber auch an das Ausmaß der Macht, die jene Menschen besaßen. Narraway gab sich keinerlei Mühe zu verbergen, dass er genau wusste, was er da sagte.
»Ich kann doch die Wahl nicht beeinflussen«, entgegnete Pitt bitter. Dies war kein Argument mehr dagegen, dass er nicht mit Charlotte und den Kindern in den Urlaub fahren konnte, sondern Ausdruck seiner Hilflosigkeit angesichts eines unlösbaren Problems. Er hätte nicht gewusst, wo er anfangen sollte, ganz davon zu schweigen, wie es ihm gelingen könnte.
»Nein«, gab ihm Narraway Recht. »Für den Fall, dass ich so etwas beabsichtigte, würden mir geeignetere Männer als Sie zur Verfügung stehen.«
»Außerdem wären Sie in dem Fall kaum besser als Voisey«, sagte Pitt eisig.
Seufzend setzte sich Narraway etwas bequemer hin. »Sie sind ziemlich treuherzig, Pitt, aber das war mir von vornherein klar. Ich arbeite mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, und versuche erst gar nicht, mit einem Schraubenzieher Holz zu sägen. Hören Sie sich um, und halten Sie die Augen offen. Sie werden erfahren, welche Leute Voisey an der Hand hat und wie er sie einsetzt. Sie werden etwas über Serracolds Schwächen erfahren und darüber, auf welche Weise sie sich nutzen lassen. Sofern Voisey an irgendeiner Stelle verwundbar ist und Sie das Glück haben, sie zu finden, werden Sie mich davon sofort in Kenntnis setzen.« Er atmete langsam ein und aus. »Was ich dann in Bezug auf ihn unternehme, geht Sie nichts an. Ich möchte, dass Sie das klar verstehen! Hier geht es nicht darum, dass Sie auf Kosten der einfachen Menschen dieses Landes Ihrem Gewissen folgen. Sie kennen nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes und können in Ihrer Lage keine großartigen moralischen Urteile fällen.« Weder in seinen Augen noch um seinen Mund herum lag der kleinste Hinweis, der die Nachdrücklichkeit seiner Aussage hätte abschwächen können.
Die leichtfertige Antwort erstarb Pitt auf den Lippen. Was Narraway da von ihm verlangte, schien unmöglich. Hatte der Mann überhaupt eine Vorstellung von der wirklichen Macht des Inneren Kreises? Es war eine Geheimgesellschaft von Männern, die einander geschworen hatten, sich ungeachtet ihrer sonstigen Interessen oder Treuepflichten bedingungslos gegenseitig zu unterstützen. Sie bildeten kleine Zellen, die den Forderungen der Führung gehorchten, so dass jeder immer nur eine Handvoll anderer Mitglieder kannte. Soweit Pitt wusste, war keiner dieser Männer je von den anderen fallen gelassen worden. Fehlverhalten wurde innerhalb des Kreises unverzüglich mit dem Tode bestraft; das war um so einfacher möglich, als niemand wusste, wer dazu gehörte. Es konnte der eigene Vorgesetzte oder ein untergeordneter Angestellter sein, der einem nie weiter aufgefallen war, der Hausarzt, der Zweigstellenleiter der Hausbank oder gar der Gemeindepfarrer. Nur eines war sicher: die eigene Ehefrau war es nicht, denn keine Frau hatte zu diesem Kreis Zutritt oder Kenntnis von dessen Tun.
»Wir dürfen uns nicht davon beruhigen lassen, dass dieser Sitz bisher den Liberalen zugefallen ist«, fuhr Narraway fort, »denn das politische Klima neigt gegenwärtig zu Extremen. Die Sozialisten machen zur Zeit nicht nur durch Lautstärke auf sich aufmerksam, sondern kommen in manchen Gebieten durchaus voran.«
»Sie sagten, dass Voisey für die Tories kandidiert«, sagte Pitt. »Warum?«
»Weil er damit rechnen darf, dass eine Gegenreaktion die Konservativen an die Macht bringt«, gab Narraway zur Antwort. »Wenn die Sozialisten weit genug gehen und es zu Fehlern kommt, könnten die Tories so lange an die Macht gelangen, dass Voisey Gelegenheit hat, Lordkanzler oder eines Tages sogar Premierminister zu werden.«
So unbehaglich diese Vorstellung war, so wenig ließ sie sich von der Hand weisen. Wer den Fehler beging, sie als weit hergeholt abzutun, würde Voisey in die Hände spielen.
»Und die Sitzungsperiode soll in zehn Tagen beendet werden?« , fragte Pitt.
»So ist es«, bestätigte Narraway. »Sie fangen heute Nachmittag an.« Er holte tief Luft. »Tut mir Leid, Pitt.«
»Wie bitte?«, fragte Charlotte ungläubig. Sie stand unten an der Treppe, als Pitt zur Haustür hereinkam. Auf ihr von der Anstrengung gerötetes Gesicht trat der Ausdruck von Zorn.
»Ich muss bleiben, weil die Unterhauswahl bevorsteht«, wiederholte er. »Voisey kandidiert.«
Sie sah ihn verständnislos an. Dann kamen ihr all die Ereignisse um die Verschwörung von Whitechapel in Erinnerung, und sie begriff. »Und was sollst du dagegen unternehmen?«, fragte sie. »Du kannst weder seine Kandidatur verhindern noch dafür sorgen, dass ihn die Leute nicht wählen, wenn ihnen danach zumute ist. Es ist ungeheuerlich, aber wir selbst haben einen Helden aus ihm gemacht, weil es keine andere Möglichkeit gab, seinem Treiben Einhalt zu gebieten. Die Republikaner werden kein Wort mit ihm reden und ihn schon gar nicht wählen. Warum kannst du es nicht ihnen überlassen, dass sie mit ihm fertig werden? Wütend wie sie sind, würden sie ihn bestimmt am liebsten umbringen! Lass sie gewähren, und erscheine einfach erst auf der Bildfläche, wenn es zu spät ist.«
Er versuchte zu lächeln. »Bedauerlicherweise kann ich mich nicht darauf verlassen, dass sie gründlich genug vorgehen, um uns damit zu nutzen. Uns stehen nur rund zehn Tage zur Verfügung.«
»Das ist nicht recht! Du hast drei Wochen Urlaub!« Sie bemühte sich, die Tränen der Enttäuschung herunterzuschlucken, die ihr mit einem Mal in die Augen stiegen. »Was kannst du denn schon ausrichten? Allen Leuten sagen, dass er ein Lügner ist und hinter der Verschwörung zum Sturz der Monarchie stand?« Sie schüttelte den Kopf. »Niemand weiß doch, dass es überhaupt eine gegeben hat! Er würde dich wegen übler Nachrede verklagen oder wahrscheinlich sogar in eine Irrenanstalt sperren lassen. Wir haben dafür gesorgt, dass alle glauben, er hätte praktisch im Alleingang etwas Großartiges für die Monarchie getan. Die Königin hält große Stücke auf ihn. Der Thronfolger und alle um ihn herum werden hinter ihm stehen.« Empört fügte sie hinzu: »Und niemand kann etwas gegen diese Leute unternehmen – schon gar nicht, wo Randolph Churchill und Lord Salisbury ebenfalls auf ihrer Seite stehen.«
Er lehnte sich an den Geländerpfosten. »Ich weiß«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte dem Thronfolger enthüllen, dass Voisey um ein Haar all seine Aussichten auf die Krone zunichte gemacht hat, aber wir verfügen über keinerlei Beweise mehr.« Er beugte sich zu ihr und strich ihr über die Wange. »Es tut mir wirklich Leid. Ich weiß, dass meine Erfolgschancen schlecht sind, aber ich muss es versuchen.«
Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Ich packe morgen früh wieder aus. Jetzt bin ich zu müde dazu. Was um Himmels willen soll ich nur Daniel und Jemima sagen – und Edward? Die Kinder haben sich so gefreut –«
»Pack nicht aus«, fiel er ihr ins Wort. »Ihr fahrt einfach…«
»Etwa allein?« Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Nimm Gracie mit. Ich komme schon zurecht.« Er wollte ihr nicht sagen, wie sehr es ihm dabei auch um ihre Sicherheit ging. Im Augenblick war sie aufgebracht und enttäuscht, doch würde sie nach und nach begreifen, was es bedeutete, Voisey erneut gegenüberzutreten.
»Was wirst du essen? Was wirst du anziehen?«, wandte sie ein.
»Mistress Brody kann mir etwas kochen und sich um die Wäsche kümmern«, gab er zur Antwort. »Mach dir keine Sorgen. Nimm die Kinder mit, und genieß die Zeit mit ihnen. Ganz gleich, ob Voisey gewinnt oder verliert, sobald die Wahlergebnisse bekannt sind, kann ich ohnehin nichts mehr tun. Dann komme ich nach.«
»Das ist viel zu spät!«, sagte sie verärgert. »Die Auszählung kann Wochen dauern.«
»Er kandidiert für einen Sitz in einem Londoner Wahlkreis. Der wird als einer der Ersten ausgezählt.«
»Es kann trotzdem Tage dauern!«
»Charlotte, ich kann nichts daran ändern!«
Mit kaum beherrschter Stimme sagte sie: »Das ist mir klar! Sei nicht so verdammt vernünftig. Macht es dir denn nicht das kleinste bisschen aus? Bist du nicht wenigstens wütend?« Sie fuhr mit der geballten Faust durch die Luft. »Es ist einfach ungerecht! Die haben beliebig viele andere zur Verfügung. Erst werfen sie dich in der Bow Street hinaus und verlangen, dass du in irgendeinem Elendsquartier von Spitalfields lebst, und nachdem du die Regierung und den Thron gerettet hast und weiß der Himmel was sonst noch, setzt man dich wieder ein – nur um dich erneut zu entlassen! Jetzt nimmst du deinen ersten Urlaub …« Sie holte Luft, und aus ihren Worten wurde ein Schluchzen. »Und wozu das alles? Für nichts und wieder nichts! Du kannst nichts gegen Voisey unternehmen, wenn die Menschen so dumm sind, ihm zu glauben. Ich hasse den Sicherheitsdienst! Die tun, was ihnen beliebt, und niemand gebietet ihnen Einhalt. Man könnte glauben, dass sie niemandem verantwortlich sind!«
»Ein bisschen wie der Innere Kreis und Voisey«, sagte er und versuchte, ein wenig zu lächeln.
»Von mir aus ganz genauso.« Sie sah ihm in die Augen, und er entdeckte in ihrem Blick den Anflug eines Aufleuchtens, das sie zu verbergen versuchte. »Niemand kann sich ihm in den Weg stellen.«
»Ich habe es einmal getan.«
»Wir!«, verbesserte sie ihn mit Nachdruck.
Diesmal lächelte er richtig. »Hier gibt es keinen Mordfall, den du lösen müsstest.«
»Du auch nicht«, gab sie zurück. »Du meinst wohl, dass das alles mit Politik und Wahlen zu tun hat und Frauen nicht einmal wählen, ganz davon zu schweigen, dass sie sich für das Unterhaus aufstellen ließen.«
»Geht dein Ehrgeiz etwa in diese Richtung?«, fragte er überrascht. Lieber redete er über jedes beliebige Thema, sogar dieses, solange er ihr nicht sagen musste, wie sehr er um ihre Sicherheit fürchtete, sobald Voisey merkte, dass er wieder mit einer Sache zu tun hatte, die ihn betraf.
»Auf keinen Fall!«, gab sie zur Antwort. »Das hat damit aber nichts zu tun.«
»Glänzende Logik.«
Sie steckte eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, wieder mit der Nadel fest. »Wenn du zuhause wärest und mehr Zeit mit den Kindern verbrächtest, würdest du das ohne weiteres verstehen.«
»Was?«, fragte er ungläubig.
»Dass ich es nicht will, hat nichts damit zu tun, dass man es mir erlauben sollte für den Fall, dass ich es wollte! Frag jeden beliebigen Mann!«
Er schüttelte den Kopf. »Was soll ich den fragen?«
»Ob er mich oder eine andere darüber entscheiden lassen würde, was er darf oder nicht darf«, sagte sie aufgebracht.
»Was soll er dürfen oder nicht dürfen?«
»Alles Mögliche!«, stieß sie ungeduldig hervor, als sei die Antwort klar. »Bestimmte Leute machen anderen Leuten Vorschriften, nach denen sie leben sollen, obwohl sie die für sich selbst nie im Leben gelten lassen würden. Begreifst du nicht, Thomas? Haben dir die Kinder, wenn du sie aufgefordert hast, etwas zu tun, noch nie gesagt: ›Du tust es doch auch nicht!‹? Du kannst ihnen zwar sagen, dass sie unverschämt sind, und sie ins Bett schicken, aber du weißt auch, dass du sie damit ungerecht behandelst und dass ihnen das ebenfalls klar ist.«
Er errötete, weil ihm der eine oder andere Anlass einfiel, bei dem er sich in der Tat so verhalten hatte. Er wollte nicht mit ihr streiten, und so verzichtete er darauf, auf die Fragwürdigkeit von Parallelen zwischen der Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Frauen und der von Eltern gegenüber Kindern einzugehen. Ihm war klar, warum sie das gesagt hatte. Er spürte in sich selbst die gleiche Wut und Enttäuschung, doch um das zu zeigen, gab es bessere Möglichkeiten als Temperamentsausbrüche.
»Du hast Recht«, sagte er unzweideutig.
Überrascht riss sie die Augen weit auf. Dann begann sie unwillkürlich zu lachen und legte ihm die Arme um den Hals. Er zog sie an sich, liebkoste ihre Schulter, die sanfte Linie ihres Halses, und küsste sie schließlich.
Pitt begleitete Charlotte, Gracie und die Kinder zum Bahnhof, der Endstation für alle Züge aus dem Südwesten des Landes war. Unter dem Dach der riesigen Halle, in der Reisende in alle Richtungen durcheinander hasteten, wurde jedes Geräusch vielfach verstärkt. Man sah Menschen, die einander begrüßten, und solche, die Abschied voneinander nahmen, hörte das Zischen von Dampflokomotiven, das Zuschlagen von Waggontüren, den Hall von Schritten und das Dröhnen der Räder von Gepäckkarren auf den Bahnsteigen. Der erregende Geruch nach Abenteuer lag in der Luft. Was mochte hier alles beginnen und enden!
Voll Ungeduld hüpfte Daniel auf und ab. Edward, genauso blond wie Emily, bemühte sich, daran zu denken, dass man von einem Lord Ashworth ein würdiges Auftreten verlangte, doch es gelang ihm nur kurz. Schon nach fünf Minuten rannte er den Bahnsteig entlang, weil er sich auf keinen Fall entgehen lassen wollte zuzusehen, wie die Flammen aufloderten, während ein Heizer Kohlen in den unersättlichen Rachen einer riesigen Lokomotive schaufelte. Der Mann hob den Blick, lächelte dem Jungen zu, wischte sich mit der Hand über die Stirn und schaufelte weiter.
»Jungs!«, murmelte Jemima halblaut, wobei sie ihrer Mutter einen Blick zuwarf.
Gracie, immer noch nicht viel größer als zu der Zeit, da das Ehepaar Pitt sie als Dreizehnjährige aufgenommen hatte, hatte sich für die Reise herausgeputzt. Obwohl sie London erst zum zweiten Mal verließ, um in die Sommerfrische zu reisen, brachte sie es fertig, ausgesprochen welterfahren und gelassen dreinzublicken. Allerdings glänzten ihre Augen, ihre Wangen waren gerötet – und sie klammerte sich an ihre Reisetasche, als hinge ihr Leben davon ab.
Es war Pitt klar, dass sie alle um ihrer eigenen Sicherheit willen die Stadt verlassen mussten. Er wollte Voisey ohne Ängste und in dem Bewusstsein entgegentreten, dass sie sich an einem Ort befanden, wo er sie keinesfalls aufspüren konnte. Dennoch empfand er Trauer, als er einen Träger rief und ihn anwies, das Gepäck seiner Angehörigen einzuladen, wofür er ihm eine Drei-Penny-Münze gab.
Der Mann tippte sich an den Mützenschirm und lud das Gepäck auf seinen Karren. Pfeifend entfernte er sich, und schon ging dies Geräusch im Zischen des Dampfes, im Rhythmus der hin und her fahrenden Kohlenschaufeln und dem Schrillen einer Trillerpfeife unter, mit der ein Zug abgefertigt wurde, der anfuhr und bald immer schneller wurde.
Daniel und Edward rannten auf der Suche nach einem möglichst leeren Abteil den Bahnsteig entlang. Schließlich kamen sie wild winkend und unter Triumphgeheul zurück.
Die Reisenden brachten ihr Handgepäck in den Waggon und traten dann an die Tür, um sich zu verabschieden.
»Passt gegenseitig auf euch auf«, sagte Pitt, nachdem er alle umarmt hatte – zu ihrer Überraschung und Freude auch Gracie. »Und amüsiert euch schön. Lasst es euch richtig gut gehen.«
Eine weitere Tür wurde zugeschlagen, dann ruckte der Zug unter dem Klirren der Waggonkupplungen langsam an. »Gute Fahrt«, rief Pitt und trat winkend zurück.
Er blieb noch einen Moment stehen und sah, wie sich alle aus dem Fenster beugten, wobei Charlotte die Kinder festhielt. Mit einem Mal lag der Ausdruck von Einsamkeit auf ihrem Gesicht. Dampfwolken stiegen zum riesigen Gewölbe der Halle empor. Schwarze Flocken wirbelten durch die Luft, und es roch nach Ruß, Eisen und Feuer.
Er winkte, bis der Zug an einer Weiche seine Richtung änderte und nichts mehr von ihnen zu sehen war. Dann kehrte er mit möglichst raschen Schritten über den Bahnsteig auf die Straße zurück. Er nahm die erste Droschke, die er sah, und ließ sich zum Unterhaus fahren.
Er lehnte sich zurück und legte sich seine Worte zurecht. Noch fuhren sie am Südufer der Themse entlang, doch würde es trotz des dichten Verkehrs nicht mehr lange bis ans gegenüberliegende Ufer dauern – vielleicht eine halbe Stunde.
Die Frage, wie sehr gesellschaftliche Ungleichheit, Not und Elend das Ergebnis von Armut, Krankheit, Unwissenheit und Vorurteil waren, hatte ihn stets sehr beschäftigt. Er hatte keine hohe Meinung von Politikern und bezweifelte, dass sie sich mit diesen Themen beschäftigen würden, die ihm am Herzen lagen, es sei denn, sie würden von auf Reformen Bedachten dazu gedrängt. Jetzt bekam er Gelegenheit, diese möglicherweise voreilige Einschätzung zu überdenken und sehr viel mehr über die Persönlichkeit von Politikern wie auch über die parlamentarischen Abläufe zu erfahren.
Beginnen wollte er mit seinem Schwager Jack Radley. Als die beiden Männer einander kennen lernten, war Jack ein reizender Mensch gewesen, der weder einen Titel noch genug Vermögen besaß, um in der Gesellschaft etwas zu gelten. Da er aber gut aussah und ein witziger Kopf war, wurde er in so viele bedeutende Häuser eingeladen, dass er ein durchaus angenehmes Leben in der eleganten Welt führen konnte.
Nachdem er Emily geheiratet hatte, empfand er dies Leben zunehmend als schal und hatte daher eines Tages spontan für das Unterhaus kandidiert. Zur Überraschung aller, einschließlich seiner selbst, war er tatsächlich gewählt worden. Vielleicht lag es an den günstigen Umständen, vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass sein Sitz zu einem der vielen Wahlkreise gehörte, in denen bis dahin Korruption der entscheidende Faktor gewesen war, jedenfalls war er als Politiker sehr viel nachdenklicher geworden und vertrat weitaus solidere Grundsätze, als jemand annehmen durfte, der ihn von früher kannte. Als es in Ashworth Hall um die irische Frage gegangen war, hatte er nicht nur Mut bewiesen, sondern auch die Fähigkeit, mit Würde und Urteilskraft zu handeln. Zumindest dürfte er imstande sein, Pitt mehr und genauere Einzelheiten zu liefern, als er aus öffentlich zugänglichen Quellen bekommen konnte.
Vor dem Parlament entlohnte Pitt den Droschkenkutscher und ging die Stufen hinauf. Er rechnete nicht damit, ohne weiteres eingelassen zu werden. Gerade als er eine Mitteilung auf eine seiner Karten schreiben und sie Jack hineinschicken lassen wollte, begrüßte ihn freudestrahlend der Polizeibeamte am Eingang, der ihn aus der Zeit in der Bow Street kannte.
»Guten Morgen, Mister Pitt, Sir. Schön, Sie zu sehen, Sir. Hier gibt’s doch hoffentlich keinen Ärger?«
»Nicht die Spur, Rogers«, gab Pitt zurück und war froh, sich an den Namen des Mannes zu erinnern. »Ich möchte mit Mister Radley sprechen, wenn das möglich ist. Es ist ziemlich wichtig.«
»Gewiss, Sir.« Rogers wandte sich um und rief über die Schulter: »George, bring Mister Pitt nach oben zu Mister Radley. Kennst du ihn? Er ist der Abgeordnete von Chiswick.« Er sah wieder zu Pitt hin. »Gehen Sie mit George. Er bringt Sie nach oben, denn in diesem Irrgarten würden Sie sich hoffnungslos verlaufen.«
»Danke, Rogers«, sagte Pitt aufrichtig. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Im Inneren stieß er auf ein unübersichtliches Gewirr von Gängen und Treppen, von denen zahllose Räume abgingen. Geschäftig eilten Menschen hin und her. Er fand Jack allein in einem Zimmer, das er sich offenbar mit einem Kollegen teilen musste. Pitt dankte seinem Führer und wartete, bis dieser den Raum verlassen hatte, dann schloss er die Tür hinter ihm und wandte sich seinem Schwager zu.
Jack Radley ging auf die Vierzig zu, wirkte aber jünger, da er nach wie vor gut aussah und eine natürliche Freundlichkeit ausstrahlte. Überrascht, Pitt zu sehen, legte er die Zeitung beiseite, in der er gelesen hatte, und sah ihn neugierig an.
»Setz dich«, forderte er ihn auf. »Was führt dich hierher? Ich dachte, du wolltest deinen längst fälligen Urlaub nehmen. Edward ist doch bei euch!« Über seinen Augen lag ein Schatten, und Pitt begriff, dass Jack klar war, wie übel man ihm mitgespielt hatte, als man ihn zum Sicherheitsdienst versetzt hatte. Er befürchtete wohl, Pitt wolle ihn um seine Hilfe bitten, um diese Entscheidung rückgängig zu machen. Doch dass er dazu keinerlei Möglichkeit hatte, wusste Pitt besser als er selbst.
»Charlotte ist mit den Kindern gefahren«, gab Pitt zur Antwort. »Edward war so aufgedreht, dass er den Zug am liebsten selbst gefahren hätte. Ich muss noch eine Weile hier bleiben. Du weißt ja, dass in ein paar Tagen gewählt wird.« Bei diesen Worten blitzte flüchtig Belustigung auf seinem Gesicht auf. »Aus Gründen, die ich nicht näher erläutern darf, brauche ich einige Angaben über Sachfragen … und über den einen oder anderen Abgeordneten.«
Jack hielt den Atem an.
»Es sind keine persönlichen Gründe«, beruhigte ihn Pitt lächelnd, »sondern hat mit dem Sicherheitsdienst zu tun.«
Jack errötete leicht. Es kam nicht oft vor, dass ihn jemand auf dem falschen Fuß erwischte, schon gar nicht Pitt, der die Methoden der politischen Debatte nicht beherrschte, bei der man mit der Opposition die Klingen kreuzte. Vielleicht hatte Jack vergessen, dass beim Verhör von Verdächtigen viele der gleichen Elemente eine Rolle spielten: das genaue Studium von Mienenspiel und Körpersprache des Gegenübers, die indirekte Anspielung, die Vorwegnahme dessen, was gesagt werden mochte, und das Lauern im Hinterhalt.
»Um was für Sachfragen es geht?«, sagte Jack. »Da wäre die Selbstbestimmung Irlands, aber um die geht es schon seit Generationen, und es steht nicht besser um sie als früher, obwohl Gladstone nicht locker lässt. Einmal ist er schon darüber gestolpert, und ich bin überzeugt, dass sie ihn auch diesmal wieder Stimmen kosten wird. Aber er lässt sich von der Forderung nach Unabhängigkeit der Iren nicht abbringen, obwohl es weiß Gott viele probiert haben.« Er verzog das Gesicht ein wenig. »Weit seltener wird die Forderung nach Selbstbestimmung für Schottland oder Wales erhoben.«
Pitt war verblüfft. »Selbstbestimmung für Wales?«, fragte er ungläubig. »Wer unterstützt denn das?«
»Kaum jemand«, räumte Jack ein. »Das gilt auch für Schottland. Aber die Frage wird doch von Zeit zu Zeit angesprochen.«
»Das hat aber doch sicher keinen Einfluss auf die Londoner Wahlkreise?«
»Könnte schon sein, wenn man die Sache zur Sprache bringt.« Jack zuckte die Achseln. »Ganz allgemein gesagt, sind die Leute am meisten dagegen, die geographisch am weitesten vom Schuss sitzen. In London ist man gewöhnlich der Ansicht, dass Westminster alles beherrschen soll. Je mehr Macht man hat, desto mehr will man.«
»Die Frage der Selbstbestimmung ist schon seit Jahrzehnten ein Streitpunkt, jedenfalls was Irland betrifft.« Pitt ließ das Thema einstweilen fallen. »Was haben wir da noch?«
»Den Achtstundentag«, gab Jack finster zur Antwort. »Das ist zumindest gegenwärtig die wichtigste Frage, und ich kann mir keine andere denken, die ihr den Rang ablaufen könnte.« Mit leichtem Stirnrunzeln sah er Pitt an. »Was steckt hinter deiner Fragerei, Thomas? Etwa eine Verschwörung, die den Alten stürzen soll?« Damit meinte er Gladstone. Es hatte bereits Mordanschläge gegen ihn gegeben.
»Nein«, gab Pitt rasch zurück. »Nichts Offensichtliches.« Gern hätte er ihm die ganze Wahrheit berichtet, das aber musste er sowohl um seiner selbst willen wie auch in Jacks Interesse unterlassen. Unter keinen Umständen durfte auch nur der geringste Verdacht aufkommen, Jack könne etwas ausgeplaudert haben. »Es geht um Korruption in Wahlkreisen und um unsaubere Machenschaften.«
»Seit wann kümmert sich denn der Sicherheitsdienst um solche Sachen?«, fragte Jack zweifelnd und lehnte sich ein wenig zurück, wobei er mit dem Ellbogen einen Stapel aus Büchern und Papieren umstieß. »Die Leute haben doch die Aufgabe, sich um Anarchisten und Bombenleger zu kümmern, vor allem um Fenier.« Erneut runzelte er die Stirn. »Belüg mich nicht, Thomas. Sag mir lieber, ich soll mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, als mich mit Ausflüchten abzuspeisen.«
»Das sind keine Ausflüchte«, sagte Pitt. »Es geht um einen bestimmten Unterhaussitz, und soweit ich weiß, hat er weder mit der irischen Frage noch mit Sprengstoffanschlägen etwas zu tun.«
»Und warum setzt man dich darauf an?«, fragte Jack ruhig. »Hat es etwa mit der Adinett-Sache zu tun?« Damit bezog er sich auf den Mordfall, bei dessen Verfolgung Pitt den Inneren Kreis und Voisey so sehr gegen sich aufgebracht hatte, dass sie ihn von seinem Amt in der Bow Street hatten ablösen lassen, um sich an ihm zu rächen.
»Mittelbar«, räumte Pitt ein. »Gleich ist es so weit, dass ich dir sagen muss, du sollst dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Um welchen Sitz geht es?«, fragte Jack vollkommen gelassen. »Wenn ich das nicht weiß, kann ich dir nicht helfen.«
»Das kannst du sowieso nicht«, gab Pitt trocken zurück. »Außer mit Angaben über Sachfragen und den einen oder anderen Rat, wie ich mich am geschicktesten verhalten soll. Hätte ich mich doch früher mehr um Politik gekümmert, dann wüsste ich die Antworten selbst!«
Ein breites Lächeln, in dem eine ganze Portion Selbstironie lag, trat auf Jacks Gesicht. »Das denke ich auch jedes Mal, wenn ich mir überlege, wie knapp unsere Mehrheit diesmal wohl ausfallen wird.«
Gern hätte Pitt gefragt, als wie sicher Jacks Sitz einzuschätzen war, hielt es aber für klüger, diese Frage einem anderen zu stellen. »Kennst du Aubrey Serracold?«, fragte er stattdessen.
Jack schien überrascht. »Ja, eigentlich sogar ziemlich gut. Seine Frau ist mit Emily befreundet.« Wieder runzelte er die Stirn. »Warum willst du das wissen, Thomas? Ich würde fast jede Wette eingehen, dass er hochanständig ist – ein ehrlicher, intelligenter Mann, der mit seinem Engagement in der Politik dem Lande dienen will. Er ist auf Geld nicht angewiesen und sucht die Macht nicht um ihrer selbst willen.«
Eigentlich hätte das Pitt beruhigen müssen, doch stellte er sich jetzt einen Mann vor, dem eine Gefahr drohte, die er erst erkennen würde, wenn es zu spät war. Es war ohne weiteres möglich, dass Serracold einen Feind nicht einmal als solchen erkannte, weil dessen Wesen seinen Vorstellungen fremd war.
Hatte Jack womöglich Recht, und sollte ihm Pitt die Wahrheit sagen? Brachte er sich dadurch, dass er es nicht tat, möglicherweise um die einzige Waffe, die ihm zu Gebote stand? Narraway hatte ihm eine Aufgabe zugewiesen, die unlösbar schien. Es ging nicht um die übliche Art der Detektivarbeit, die er gewohnt war. Hier versuchte er nicht ein Verbrechen aufzudecken, sondern etwas zu verhindern, das moralisch unannehmbar war, aber vermutlich nicht gegen die Gesetze des Landes verstieß. Es ging nicht darum, dass Voisey nicht an die Macht kommen sollte – dazu hatte er dasselbe Recht wie jeder andere Kandidat –, sondern darum, wozu er sie unter Umständen in zwei oder drei, vielleicht auch erst in fünf oder zehn Jahren nutzen würde. Man kann aber niemanden für etwas bestrafen, wovon man annimmt, dass er es künftig möglicherweise tun könnte – wie verworfen auch immer es sein mag.
Jack beugte sich über seinen Schreibtisch vor. »Thomas, Serracold ist ein guter Bekannter. Sag es mir bitte, falls ihm Gefahr droht.« Merkwürdigerweise wirkten seine Worte gerade deshalb so eindrucksvoll, weil er sie ohne besonderen Nachdruck sagte. »Genau wie du habe auch ich den Wunsch, Menschen zu schützen, die mir nahe stehen. Freundestreue hat für mich einen hohen Stellenwert. Sollte sich das eines Tages ändern, möchte ich mit der Politik nichts mehr zu tun haben.«
Nicht einmal damals, als Pitt gefürchtet hatte, Jack mache Emily wegen ihres Geldes den Hof, war es ihm möglich gewesen, ihn unsympathisch zu finden. Von ihm ging menschliche Wärme aus, er war zu Selbstironie fähig und sagte stets offen heraus, was er dachte, was seinen Charme verstärkte. Pitt sah keine Möglichkeit weiterzukommen, ohne etwas zu riskieren, denn bei einem Kampf gegen Voisey gab es keinerlei Sicherheit, weder am Anfang noch im weiteren Verlauf.
»Soweit ich weiß, droht ihm keinerlei Gefahr für Leib und Leben«, gab Pitt zur Antwort und hoffte, dass es richtig war, sich Narraways Anweisungen zu widersetzen und Jack zumindest einen Teil der Wahrheit anzuvertrauen. Mochte der Himmel geben, dass die Folgen dieser Entscheidung nicht auf sie zurückfielen und sie beide mit sich rissen! »Wohl aber könnte er durch betrügerische Machenschaften seinen Unterhaussitz einbüßen.«
Jack wartete, als wisse er, dass das noch nicht alles war.
»Und vielleicht seinen guten Namen verlieren«, fügte Pitt hinzu.
»Und wer steckt dahinter?«
»Wenn ich das wüsste, fiele es mir sehr viel leichter, Vorkehrungen dagegen zu treffen.«
»Heißt das, du kannst es mir nicht sagen?«
»Es heißt, dass ich es nicht weiß.«
»Warum bist du dann gekommen? Du musst doch etwas wissen.«
»Natürlich will jemand politisches Kapital daraus schlagen.«
»Also sein Gegner. Wer noch?«
»Die Menschen, die hinter ihm stehen.«
Jack wollte etwas sagen, unterbrach sich dann aber. »Vermutlich steht hinter jedem ein anderer. Am wenigsten Sorgen muss man sich um die machen, die man sehen kann.« Er erhob sich langsam. Er war fast von gleicher Größe wie Pitt, aber so elegant, wie dieser unordentlich war. Er war von einer natürlichen Anmut und ebenso tadellos gekleidet und gepflegt wie einst, als er nichts besaß als seinen Charme. »Ich würde mich gern weiter mit dir darüber unterhalten, aber ich muss in einer Stunde zu einer Besprechung, und ich habe noch nichts Vernünftiges gegessen. Kommst du mit?«
»Gern«, nahm Pitt die Einladung an und stand ebenfalls auf.
»Wir könnten ins Abgeordneten-Restaurant gehen«, schlug Jack vor und hielt Pitt die Tür auf. Er zögerte kurz, als mache er sich Sorgen wegen Pitts Aussehen. Zwar war sein Kragen sauber, aber seine Krawatte saß schief, und seine Jackentaschen waren ausgebeult. Er seufzte kurz auf, sagte aber nichts.
Pitt folgte ihm. Von seinem Platz aus sah er unauffällig, aber fasziniert zu den anderen Abgeordneten hinüber, so dass er kaum zum Essen kam. Es waren lauter Gesichter, die er in den Zeitungen gesehen hatte. Von vielen wusste er den Namen, andere kamen ihm bekannt vor, ohne dass er hätte sagen können, wer sie waren. Insgeheim hoffte er, auch Gladstone zu sehen.
Jack sah ihm lächelnd zu und amüsierte sich sichtlich.
Als sie gerade die Hälfte ihres Nachtischs verzehrt hatten, trat ein breitschultriger Mann mit schütterem blonden Haar an ihren Tisch. Jack stellte ihn als Finch vor, den Abgeordneten eines der Wahlkreise von Birmingham, und Pitt als seinen Schwager, ohne dessen Beruf zu nennen.
»Angenehm«, sagte Finch und wandte sich dann Jack zu. »Hören Sie, Radley, haben Sie schon gehört, dass sich dieser Hardie tatsächlich hat aufstellen lassen? Noch dazu in West Ham South, nicht mal in Schottland.«
»Hardie?« Jack verzog fragend das Gesicht.
»Keir Hardie!«, sagte Finch ungeduldig, ohne weiter auf Pitt zu achten. »Der war seit seinem elften Jahr Bergmann. Womöglich kann er nicht mal lesen oder schreiben – und so jemand will ins Unterhaus! Es heißt, er tritt für die Labour-Partei an … was auch immer das sein mag.« Er spreizte die Finger. »So was ist nicht gut, Radley! Gewerkschaften und dergleichen. Das ist unser Gebiet … Natürlich hat er nicht die geringste Aussicht reinzukommen. Aber diesmal sind wir auf jede Unterstützung angewiesen, die wir bekommen können.« Er senkte die Stimme. »Es wird verdammt knapp. Wir dürfen in der Frage der Arbeitswoche auf keinen Fall nachgeben, das würde uns in wenigen Monaten an den Rand des Abgrunds bringen. Wenn doch der Alte die irische Frage eine Zeit lang ruhen ließe. Damit bricht er uns noch das Genick!«
»Mehrheit ist Mehrheit«, gab Jack zur Antwort. »Auch mit zwanzig oder dreißig Sitzen Mehrheit lässt sich noch etwas machen.«
Finch knurrte. »Das hält nicht lange vor. Wir brauchen mindestens fünfzig. War schön, Sie kennen zu lernen … Pitt? Sagten Sie Pitt? Ein guter Tory-Name. Sind Sie etwa Tory?«
Pitt lächelte. »Wäre dagegen etwas einzuwenden?«
Finch sah ihn mit seinen blauen Augen mit einem Mal sehr direkt an. »Unbedingt, Sir. Man sollte den Blick auf die Zukunft richten. Es geht um kluge Reformen, die Schritt für Schritt durchgeführt werden müssen. Die Konservativen interessieren sich nur für ihre eigenen Angelegenheiten, doch damit wird nichts geändert, sondern man bleibt starr der Vergangenheit verhaftet. Aber wir brauchen auch keinen hirnrissigen Sozialismus, der alles umkrempeln will, das Gute wie das Schlechte ändern, als wenn die Vergangenheit überhaupt nichts wert wäre. Wir sind das bedeutendste Volk auf der Erde, Sir, aber wenn das in diesen Zeiten stetigen Wandels so bleiben soll, brauchen wir eine weise Führung.«
»Zumindest in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu«, sagte Pitt in munterem Ton.
Nach kurzem Zögern verabschiedete sich Finch und ging mit raschen Schritten davon, die Schultern vorgeschoben, als müsse er sich seinen Weg durch eine Menschenmenge bahnen. In Wahrheit brauchte er lediglich an einem Kellner mit einem vollen Tablett vorüberzugehen.
Als Pitt mit Jack das Restaurant verließ, wären sie an der Tür fast mit einem Mann im Nadelstreifenanzug zusammengestoßen, der gerade hereinkam. Pitt wusste, dass das der Premierminister Lord Salisbury war. Ein Vollbart umrahmte sein langes, ziemlich betrübt wirkendes Gesicht, während er auf dem Kopf nahezu vollständig kahl war. Pitt war so gebannt, dass er erst nach einem Augenblick auf den Mann sah, der Lord Salisbury offensichtlich begleitete, auch wenn er ihm mit einem Schritt Abstand folgte. Er hatte kräftige, intelligente Züge, seine Nase war ein wenig gekrümmt, seine Gesichtshaut bleich. Flüchtig trafen sich ihre Blicke, und Pitt erstarrte, als er erkannte, mit welchem Hass ihn der Mann ansah, als wären sie beide allein im Raum. Alle Geräusche um sie herum versanken, die Unterhaltung, das Gelächter, das Klirren von Gläsern und Besteck auf Geschirr. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten und als gäbe es nur noch den Willen zu verletzen und zu zerstören.
Dann kehrte die Gegenwart mit ihrer Geschäftigkeit und den Menschen, die sich um ihre Angelegenheiten kümmerten, zurück. Salisbury und sein Begleiter gingen ins Restaurant hinein, während Pitt und Jack Radley es verließen. Nach etwa zwanzig Schritten fragte Jack: »Kennst du den Mann, der mit Salisbury gekommen ist? Wer ist das?«
»Sir Charles Voisey«, gab Pitt zurück und merkte erstaunt, wie rau seine Stimme klang. »Der Mann, der sich in South Lambeth um einen Sitz im Unterhaus bewirbt.«
Jack verhielt den Schritt. »Das ist doch Serracolds Wahlkreis.«
»Ja«, sagte Pitt mit ruhiger Stimme. »Ich weiß.«
Jack stieß den Atem langsam aus. Auf seinem Gesicht zeigte sich allmähliches Begreifen und ein Anflug von Furcht.