Kapitel 8
Bischof Underhill verwandte nicht viel Zeit auf einzelne Gemeindemitglieder. Sofern es aber doch dazu kam, geschah das meist im Zusammenhang mit Feierlichkeiten wie Hochzeiten, Konfirmationen und gelegentlich bei Taufen. Wohl aber gehörte es zu seinen Berufspflichten, den Geistlichen seiner Diözese als Berater zur Verfügung zu stehen, so dass sie zu ihm kamen, um Trost und Hilfe zu suchen, wenn etwas sie bedrängte, das mit ihrer geistlichen Berufung zusammenhing.
Daher war Isadora daran gewöhnt, besorgte Männer aller Altersgruppen im Hause zu sehen, angefangen von Vikaren, denen die Last ihrer Verantwortung zu groß schien oder die vor Ehrgeiz brannten weiterzukommen, bis zu altgedienten Gemeindepfarrern, denen die Sorge um die ihnen Anvertrauten mitunter zu viel wurde oder die sich von ihren Verwaltungsaufgaben überfordert fühlten.
Am meisten fürchtete sie Besuche von Männern, die Frau oder ein Kind verloren hatten und mehr Trost und Kraft suchten, als sie in ihren täglichen Glaubensübungen finden konnten. Andere Menschen vermochten sie zu stützen und aufzurichten, doch ihr eigener Kummer drückte sie bisweilen rettungslos nieder.
An diesem Tag war Reverend Patterson gekommen, ein etwas älterer hagerer Mann, dessen Tochter im Kindbett gestorben war. Mit gebeugtem Haupt, das Gesicht halb in den Händen verborgen, saß er im Arbeitszimmer des Bischofs.
Isadora brachte das Teetablett herein und stellte es auf das Tischchen. Ohne das Wort an einen der beiden Männer zu richten, goss sie beide Tassen voll. Sie kannte Patterson so gut, dass sie ihn nicht zu fragen brauchte, ob er Milch oder Zucker haben wollte.
»Ich dachte, ich würde es verstehen«, sagte Reverend Patterson voll Verzweiflung. »Immerhin wirke ich seit fast vierzig Jahren im geistlichen Amt! Gott weiß, wie viele Menschen ich nach einem Verlust getröstet habe, und jetzt bedeuten mir all die Worte, die ich gesagt habe, nicht das Geringste.« Er hob den Blick zu seinem Bischof. »Warum? Warum glaube ich sie nicht, wenn ich sie mir selbst sage?«
Isadora erwartete, dass ihr Mann ihm erklären würde, es hänge mit dem Schock zusammen, mit der Empörung und der Qual, und er müsse abwarten, dass die Zeit die Wunde heile. Selbst ein Tod, mit dem man rechnen muss, ist unbegreiflich und übersteigt unser Fassungsvermögen, und es kostet jeden Menschen Mut, sich ihm zu stellen, ganz gleich, ob er sich dem Dienst an Gott geweiht hat oder nicht. Der Glaube bedeutet weder Gewissheit noch nimmt er Schmerzen fort.
Der Bischof schien nach Worten zu suchen. Er holte Luft und stieß sie dann seufzend wieder aus. »Mein Bester, uns allen widerfährt im Laufe unseres Lebens gelegentlich eine Heimsuchung. Ich bin sicher, dass Sie diese mit Ihrer Seelenstärke überwinden werden. Sie sind ein guter Mensch, vergessen Sie das nicht.«
Reverend Patterson sah ihn mit unverhülltem Schmerz an. Isadoras Anwesenheit schien ihm nicht bewusst zu sein. »Wenn das stimmt, warum ist mir das geschehen?«, wollte er wissen. »Und warum spüre ich nichts als Verwirrung und Schmerz? Warum kann ich Gottes Hand nicht darin erkennen, nirgendwo den Hauch des Göttlichen spüren?«
»Das Göttliche ist ein unendliches Mysterium«, gab der Bischof zur Antwort und hielt den Blick über den Kopf seines Besuchers hinweg auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Auf seinem Gesicht lag ebenso große Verwirrung wie auf dem Pattersons, und er schien keinerlei Trost zu wissen. »Es geht über unseren Verstand hinaus. Vielleicht wollen wir es nicht begreifen.«
Das Leid verzerrte Pattersons Züge. Es kam Isadora, die sich nicht zu rühren wagte, weil sie fürchtete, sonst seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, vor, als würde er im nächsten Augenblick seine unendliche Not herausschreien, für die ihm niemand Linderung zu geben vermochte.
»In all dem liegt keinerlei Sinn!«, sagte er mit erstickter Stimme. »Sie hat gelebt, und wie, mit dem Kind in ihrem Leibe! Die Vorfreude auf die bevorstehende Geburt hat sie erfüllt … und geblieben ist nichts als Leiden und Tod. Wie ist das möglich? Darin liegt doch kein Sinn! Das ist nicht nur grausam, sondern auch dumm, so, als wäre das ganze Universum sinnlos.« Er schluchzte tief auf. »Warum habe ich mein Leben lang den Leuten gesagt, es gibt einen gerechten und liebenden Gott, der alles zum Besten wendet, und wir würden das eines Tages erkennen? In dem Augenblick, da ich selbst auf dieses Wissen angewiesen bin … ist nichts als Finsternis um mich herum … Finsternis und Schweigen. Warum?« Seine Stimme wurde eindringlicher, zorniger. »Warum? War mein ganzes Leben eine absurde Posse? Antworten Sie mir.«
Der Bischof zögerte. Schwerfällig verlagerte er das Gewicht von einem auf das anderen Bein.
»Antworten Sie mir!«, rief Patterson.
»Mein Bester …«, stotterte der Bischof. »Mein Bester … Sie wandeln durch ein finsteres Tal … wir alle durchleben Zeiten, in denen uns die Welt ungeheuerlich vorkommt. Die Furcht legt sich wie die schwarze Nacht auf alles, und eine Morgendämmerung … scheint uns unvorstellbar …«
Isadora ertrug es nicht länger. »Mister Patterson, natürlich empfinden Sie den Verlust als schrecklich«, sagte sie eindringlich. »Wenn man einen Menschen wirklich liebt, muss dessen Tod schmerzen, vor allem, wenn dieser Mensch jung ist.« Sie trat einen Schritt vor, ohne auf den verblüfften Gesichtsausdruck ihres Mannes zu achten. »Aber dieser Verlust ist Bestandteil unserer menschlichen Erfahrung, das gehört zu Gottes Plan. Dabei geht es gerade darum, dass es bis an die Grenze dessen schmerzt, was wir ertragen können. Letzten Endes läuft alles auf die Frage hinaus, ob Sie Gott vertrauen oder nicht. Wer ihm vertraut, erträgt die Pein, bis das tiefe Tal durchschritten ist. Wenn nicht, sollte man besser anfangen zu überlegen, was man glaubt, und sich bis in die tiefste Tiefe seiner Seele erkunden.« Sie senkte die Stimme und fuhr fast liebevoll fort: »Ich denke, Ihre Lebenserfahrung wird Ihnen sagen, dass Ihr Glaube da ist … nicht immer, aber meistens. Und das genügt.«
Erstaunt hob Patterson den Blick zu ihr. Während er über ihre Worte nachzudenken begann, milderte sich der Ausdruck der Qual auf seinem Gesicht allmählich.
Der Bischof wandte sich ihr mit ungläubigem Gesicht zu. Es wirkte so schlaff, als wenn er schliefe, und eine Leere lag auf seinen Zügen, die darauf zu warten schien, dass sie durch Gedanken gefüllt wurde.
»Ich muss schon sagen, Isadora«, setzte er an, sprach aber nicht weiter. Es war nur allzu deutlich, dass er ebensowenig wusste, was er ihr sagen sollte, wie er gewusst hatte, was er Patterson sagen konnte. Vor allem aber schien er von einer tiefen Empfindung beherrscht zu sein, die stärker war als seine Wut oder seine Verlegenheit. Seine übliche Selbstgefälligkeit war dahin, sein ihr nur allzu gut bekanntes festes Vertrauen in seine Fähigkeit, auf alle Fragen eine Antwort zu finden. Zurückgeblieben schien eine klaffende Wunde.
Sie wandte sich an Patterson. »Ein Mensch stirbt nicht, weil er gut oder böse ist«, sagte sie entschieden. »Und mit Sicherheit auch nicht, um andere zu bestrafen. Eine solche Vorstellung ist ungeheuerlich. Wenn es sich so verhielte, würde dadurch die Wirklichkeit von Gut und Böse aufgehoben. Es gibt Dutzende von Gründen, aber oft ist es einfach nichts anderes als ein unglücklicher Umstand. Das Einzige, woran wir uns unverbrüchlich und jederzeit halten können, ist das Bewusstsein, dass Gott das Geschick von uns allen lenkt und wir nicht zu wissen brauchen, wie es aussieht. Wir könnten es ohnehin nicht verstehen und müssen Ihm vertrauen.«
Patterson schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Wie Sie das sagen, klingt es, als wäre es ganz einfach, Mistress Underhill.«
»Möglich.« Sie lächelte mit einem Mal betrübt. Sie musste daran denken, wie viele ihrer eigenen Gebete unbeantwortet geblieben waren, musste an ihre Einsamkeit denken, die bisweilen nahezu unerträglich war. »Das ist aber nicht dasselbe, als wenn man sagte, es wäre leicht. Dieses Verhalten wird von uns erwartet. Ich sage damit nicht, dass ich es kann, ebensowenig wie ich das von Ihnen oder einem anderen Menschen zu sagen vermag.«
»Sie sind sehr weise, gnädige Frau.« Er sah sie ernst an und suchte in ihrem Gesicht zu ergründen, welche Erfahrungen sie zu solchen Erkenntnissen geführt haben mochten.
Sie wandte sich ab. Diese Dinge konnte sie mit niemandem teilen, und sofern er überhaupt etwas davon verstand, wäre das gleichbedeutend damit, dass sie Reginald endgültig hinterging. Eine Frau, die in ihrer Ehe glücklich ist, empfindet keine solche Trostlosigkeit. »Trinken Sie Ihren Tee, solange er heiß ist«, riet sie ihm. »Er löst zwar unsere Schwierigkeiten nicht, hilft uns aber, sie mit größerem Mut anzugehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ sie den Raum und schloss leise die Tür hinter sich.
Draußen im Vestibül kam ihr zu Bewusstsein, dass sie sich in etwas eingemischt hatte. Während ihres ganzen Ehelebens hatte sie die Rolle ihres Mannes nicht in dieser Weise an sich gerissen. Ihre Aufgabe war es, getreulich und unauffällig im Hintergrund zu helfen und ihn zu unterstützen. Jetzt hatte sie gegen praktisch alle Regeln verstoßen, mit dem Ergebnis, dass ihr Mann vor einem Untergebenen als unfähig dastand.
Nein, das wurde ihr nicht gerecht. Er selbst hatte sich unfähig gezeigt. Damit hatte sie nichts zu tun. Er war unsicher gewesen, als Entschiedenheit von ihm erwartet wurde und stille Zuversicht, als er Patterson, den die Stürme des Lebens zumindest vorläufig haltlos hin und her warfen, einen Halt und Anker hätte bieten müssen.
Doch was war der Grund? Was um Himmels willen stimmte nicht mit Reginald? Warum hatte er nicht voll Zuversicht und leidenschaftlicher Gewissheit erklärt, dass Gott alle Menschen liebt, Männer, Frauen und Kinder, und dass wir vertrauen müssen, wo wir nicht verstehen können?
Sie ging zurück in die Küche, um mit der Köchin die nächsten Mahlzeiten zu besprechen. Am Abend würde sie mit dem Bischof zu einem weiteren der endlosen politischen Empfänge gehen. Immerhin waren es nur noch wenige Tage bis zur Wahl, dann wäre zumindest das vorüber.
Was erwartete sie danach? Lediglich Variationen dessen, was sie schon kannte, und unendliche Einsamkeit.
Sie saß im Salon, als sie hörte, dass Patterson ging. Ihr war klar, dass es nur wenige Minuten dauern würde, bis der Bischof hereinkam, um sie wegen ihres Eingreifens zur Rede zu stellen. Sie wartete und überlegte, was sie sagen sollte. Wäre es langfristig das Beste, sich einfach zu entschuldigen? Eine Rechtfertigung für ihr Verhalten gab es nicht. Sie hatte seine Stellung untergraben, indem sie den Trost gespendet hatte, den er hätte geben sollen.
Erst eine Viertelstunde später kam er herein. Er war bleich. Obwohl sie damit rechnete, dass er jeden Augenblick explodieren würde, brachte sie es nicht fertig, sich zu entschuldigen.
»Du siehst erschöpft aus«, sagte sie mit weniger Mitgefühl, als sie ihrer eigenen Ansicht nach hätte aufbringen müssen, wofür sie sich aufrichtig schämte. Er ließ sich in einen Sessel sinken, als gehe es ihm wirklich schlecht. »Was ist mit deiner Schulter?« Auf diese Weise versuchte sie ihre Gleichgültigkeit wettzumachen, denn ihr war aufgefallen, dass er zusammenzuckte und sich den Arm rieb, während er seine Stellung veränderte.
»Ein Rheumaanfall«, sagte er. »Er ist sehr schmerzhaft.« Sein gequältes Lächeln schwand schon nach wenigen Sekunden. »Du musst mit der Köchin sprechen. Ihre Leistungen lassen in letzter Zeit zu wünschen übrig. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine so schlechte Verdauung.«
»Vielleicht etwas Milch und Pfeilwurz?«, schlug sie vor.
»Ich kann doch nicht für den Rest meiner Tage von Milch und Pfeilwurz leben!«, knurrte er. »Ich brauche einen Haushalt, der einwandfrei funktioniert, mit einer Küche, die essbare Speisen auf den Tisch bringt. Wenn du dich um deine eigenen Aufgaben kümmern würdest, statt dich in die meinen einzumischen, gäbe es das Problem nicht. Du bist für meine Gesundheit verantwortlich. Damit solltest du dich beschäftigen, statt zu versuchen, jemanden wie den armen Patterson zu trösten, der das Leben nicht meistert.«
»Den Tod«, verbesserte sie ihn.
»Wie bitte?« Seine Hand fuhr hoch, und er blitzte sie an. Er war wirklich sehr bleich. Auf seiner Oberlippe glänzten Schweißperlen.
»Er sieht sich außerstande, den Tod hinzunehmen«, erklärte sie. »Sie war seine Tochter. Es muss ganz entsetzlich sein, ein Kind zu verlieren, obwohl das weiß Gott vielen Menschen geschieht.« Den Schmerz darüber, dass ihr das nie geschehen würde, verbarg sie in ihrem Innersten. Auch wenn sie sich schon vor vielen Jahren damit abgefunden hatte, kehrte der Gedanke daran von Zeit zu Zeit unerwartet zurück und überraschte sie.
»Sie war kein Kind mehr«, sagte er, »sie war dreiundzwanzig.«
»Großer Gott, Reginald, was zum Kuckuck hat ihr Alter damit zu tun?«, sagte sie gereizt. Es fiel ihr immer schwerer, sich zu beherrschen. »Es ist doch völlig gleichgültig, was seinen Schmerz verursacht hat. Wir haben die Aufgabe, ihm so gut wie möglich Trost zu spenden oder ihm zumindest zu zeigen, dass wir bereit sind, ihn zu unterstützen und ihn daran zu erinnern, dass der Glaube seinen Kummer im Laufe der Zeit lindern wird.« Sie holte tief Luft. »Das gilt auch dann, wenn diese Zeit über das irdische Leben hinausreicht. Gewiss gehört es zu den Hauptaufgaben der Kirche, die Menschen bei Verlusten und Beschwernissen zu unterstützen, die ihnen die Welt nicht zu erleichtern vermag.«
Er stand unvermittelt auf, hustete und legte die Hand auf die Brust. »Es ist Aufgabe der Kirche, Isadora, den richtigen Weg zu weisen, damit die Gläubigen das Ziel errei …« Er hielt inne.
»Reginald, du bist doch nicht krank?«, fragte sie, inzwischen durchaus bereit zu glauben, dass er es war.
»Natürlich nicht«, sagte er aufgebracht. »Ich bin einfach müde und habe eine Magenverstimmung … und einen Rheumaanfall. Es wäre mir lieb, wenn du die Fenster entweder öffnen oder schließen könntest, statt sie immer einen Spalt breit offen zu halten, so dass es im ganzen Hause zieht!« Seine Stimme klang schroff und enthielt zu ihrer Verblüffung einen Anflug von Furcht. Lag das daran, dass er so kläglich versagt hatte, als er Patterson hätte helfen müssen? Hatte er Angst wegen seiner inneren Schwäche, war er besorgt, weil er meinte, man könne sehen, dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen war?
Sie versuchte sich an frühere Zeiten zu erinnern. Sie hatte selbst gehört, wie er Menschen beim Tod von Angehörigen oder auch Sterbende tröstete. Damals war er stärker gewesen; die Worte waren ihm leicht gekommen, Zitate aus der Heiligen Schrift, aus früheren Predigten, die Aussprüche anderer bedeutender Kirchenmänner. Er hatte eine wohlklingende Stimme, das hatte ihr immer an ihm gefallen und gefiel ihr auch jetzt noch.
»Bist du sicher, dass du …« Sie wusste nicht recht, was sie sagen wollte. Stand sie im Begriff, ihm eine Antwort zu entlocken, die sie nicht hören wollte?
»Was?«, fragte er und wandte sich der Tür zu. »Ob ich krank bin? Warum fragst du? Ich habe dir bereits gesagt, dass ich an einer Magenverstimmung und an Gliederschmerzen leide. Hältst du es womöglich für etwas Schlimmeres?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie rasch. »Bestimmt hast du Recht. Entschuldige, dass ich mich da so hineinsteigere. Ich werde dafür sorgen, dass die Köchin künftig zurückhaltender mit Gewürzen und süßem Gebäck ist. Außerdem soll sie weniger Gans auf den Tisch bringen – Gans ist ausgesprochen schwer verdaulich.«
»Wir haben seit Jahren keine Gans gegessen!«, stieß er empört hervor und verließ den Raum.
»Noch vorige Woche«, sagte sie zu sich selbst. »Bei den Randolphs’. Da ist sie dir gar nicht bekommen!«
Isadora bereitete sich mit großer Sorgfalt für den Empfang vor.
»Ist es etwas Besonderes, Ma’am?«, fragte ihre Zofe interessiert, fast neugierig, als sie das Haar ihrer Herrin auf dem Kopf auftürmte, so dass deren blasse Stirn in voller Breite zu sehen war.
»Ich vermute nicht«, gab Isadora mit leichter Selbstironie zurück. »Aber es wäre schön, wenn etwas Besonderes passierte. Wahrscheinlich wird die Sache unsagbar langweilig.«
Martha wusste nicht recht, was sie sagen sollte, verstand aber durchaus. Von den Damen, bei denen sie bisher gearbeitet hatte, war Isadora nicht die erste, die unter der Maske einwandfreien Verhaltens eine tiefe Unruhe verbarg. »Ja, Ma’am«, sagte sie pflichtschuldig und machte sich daran, die Frisur, die Isadora ausnehmend gut zu Gesicht stand, ein wenig gewagter zu gestalten.
Der Bischof kommentierte ihre Erscheinung nicht, weder die kühne Frisur noch das meergrüne Kleid mit dem sehr tief ansetzenden Oberteil und einem exquisiten weißen Spitzeneinsatz – es war die gleiche Spitze, die man dort sah, wo der seidene Rock vorne geschlitzt und hinten in regelmäßigen Abständen elegant hochgerafft war. Er sah sie an und wandte den Blick dann wieder ab, während er ihr in die Kutsche half und dem Kutscher den Befehl zur Abfahrt gab.
Sie saß im Dämmerlicht neben ihrem Gatten und fragte sich, wie es wohl wäre, sich für einen Mann anzukleiden, der sie mit Wohlgefallen betrachtete, dem die Farben und der Schnitt dessen, was sie trug, gefielen, dem nicht entging, wie es ihr schmeichelte, und der sie vor allem schön fand. Die meisten Frauen haben etwas Begehrenswertes an sich, und sei es nur eine anmutige Bewegung oder einen bestimmten Klang ihrer Stimme. Jemanden zu finden, dem das gefiel, war etwa so, als breite man die Schwingen aus und spüre die Sonne auf dem Gesicht.
Es kostete sie große Mühe, den Kopf hochzuhalten, zu lächeln und so zu schreiten, als glaube sie an sich selbst, denn der Bischof hatte ihr nichts in der Art gesagt, so dass sie sich beinahe minderwertig vorkam.
Wieder gab sie sich ihrem Tagtraum hin. Ob ihr Kleid Cornwallis gefallen würde? Angenommen, sie hätte sich für ihn so herausgeputzt – hätte er dann am Fuß der Treppe gestanden und berückt zugesehen, wie sie herunterkam? Vielleicht wäre er sogar davon beeindruckt, wie schön eine Frau auszusehen vermag, beeindruckt von der Seide, der Spitze, dem Parfüm – lauter Dinge, mit denen er wohl ziemlich wenig vertraut war.
Schluss jetzt! Sie durfte ihrer Phantasie nicht die Zügel schießen lassen. Sie wurde tiefrot, als sie sich bei solchen Gedanken ertappte, und wandte sich ganz bewusst dem Bischof zu, um etwas zu sagen, irgendetwas, um den Zauber zu brechen.
Er aber schwieg während der ganzen Fahrt, als habe er gar nicht bemerkt, dass sie neben ihm saß. Das war ungewöhnlich. Sonst sprach er bei solchen Gelegenheiten über die erwarteten Gäste, zählte ihr deren Tugenden und Schwächen auf und erklärte, was man von ihnen an materiellen Beiträgen zum Wohl der Kirche im Allgemeinen und seines Bistums im Besonderen zu erwarten hatte.
»Was können wir deiner Ansicht nach tun, um dem armen Mister Patterson zu helfen?«, fragte sie schließlich, als sie fast am Ziel waren. »Er scheint wirklich großen Kummer zu leiden.«
»Nichts«, gab er zurück, ohne sie auch nur anzusehen. »Die Frau ist tot, Isadora. Gegen den Tod kann niemand etwas unternehmen. Er ist da, unausweichlich, vor uns und um uns herum. Wir können im Licht des Tages sagen, was wir wollen, wenn die Nacht hereinbricht, wissen wir nicht, woher wir kommen, und haben keine Vorstellung davon, wohin wir gehen – falls wir überhaupt irgendwohin gehen. Lass dich nicht dazu herab, Patterson etwas anderes zu sagen. Sofern er Trost im Glauben zu finden vermag, gelangt er aus eigener Kraft dorthin. Du kannst ihm den deinen nicht geben, immer vorausgesetzt, du glaubst und sagst nicht einfach wie die meisten Menschen, was du selbst gern hören möchtest. Jetzt solltest du dich besser bereitmachen. Wir sind gleich da.«
Die Kutsche hielt an. Sie stiegen aus und gingen in das Haus, wo sie erwartet wurden. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich, wurde ihr Eintreffen in aller Form angekündigt. Früher hatte sich Isadora jedes Mal gefreut, wenn sie hörte, dass Reginald als Seine Eminenz, der Bischof angekündigt wurde. Diesen Titel hatte sie höher geschätzt als ein Adelsprädikat, da er nicht ererbt, sondern von Gott verliehen war, und er schien ihr unendlich viele Möglichkeiten zu enthalten. Jetzt blickte sie ausdruckslos auf das geräuschvolle Meer von Farben vor sich, als sie an seinem Arm in den Raum trat. Inzwischen sah sie in diesem Titel nicht mehr als eine Auszeichnung, die Menschen auf jemanden übertragen hatten, der dem von ihnen gewünschten Muster am ehesten entsprach, die Aufmerksamkeit der richtigen Leute auf sich gelenkt hatte und dem es gelungen war, niemanden zu kränken. Er brauchte nicht zu den Mutigen und Kühnen zu gehören und würde das Leben keines Menschen verändern. Er war lediglich jemand, von dem man am ehesten annehmen konnte, dass er das Bestehende und Bekannte, in dem sich alle eingerichtet hatten, nicht gefährdete. Bei ihm durfte man sich auf jeden Fall darauf verlassen, dass er bewahrte, was da war, ob gut oder schlecht.
Sie wurden vorgestellt, und sie folgte ihm mit einem Schritt Abstand und erwiderte den Gruß der Anwesenden mit einem Lächeln und höflichen Worten. Sie bemühte sich, Interesse für sie aufzubringen
»Mister Aubrey Serracold«, stellte Lady Warboys vor. »Er bewirbt sich um den Unterhaussitz für South Lambeth. Mistress Underhill, Bischof Underhill.«
»Sehr erfreut, Mister Serracold«, sagte Isadora pflichtschuldig, da merkte sie mit einem Mal, dass etwas an ihm ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Er erwiderte ihre Begrüßung mit einem Lächeln, wobei in seinen Augen eine leichte Belustigung lag, als herrsche zwischen ihnen Einverständnis über einen eher absurden Witz, den sie vor diesem Publikum anstandshalber nicht ausbreiten durften. Während der Bischof zum nächsten Gast weiterging, lächelte sie ihrerseits Aubrey Serracold zu. Ihr fiel ein, dass sie irgendwo gehört hatte, er sei der zweite Sohn eines Marquis oder dergleichen, weshalb ihm die Anrede »Lord« zustehe, auf die er aber keinen Wert lege. Insgeheim hoffte sie, er habe politische Überzeugungen und strebe den Sitz im Unterhaus nicht nur an, um sich die Langeweile zu vertreiben. Wie diese Überzeugungen wohl aussehen mochten?
»Welche Partei vertreten Sie, Mister Serracold?«, fragte sie mit einem Interesse, das sie nicht zu heucheln brauchte.
»Ich bin gar nicht sicher, dass eine der beiden die Verantwortung für mich übernehmen würde, meine Gnädigste«, gab er mit leicht schiefem Lächeln zurück. »Ich habe einige meiner persönlichen Überzeugungen offen ausgedrückt, was mich nicht überall beliebt gemacht haben dürfte.« Mit diesen Worten erregte er ihre Aufmerksamkeit, und vielleicht war das auf ihren Zügen zu erkennen, denn er machte sogleich nähere Ausführungen. »Zunächst einmal habe ich die unverzeihliche Sünde begangen, dem Gesetzesentwurf für den achtstündigen Arbeitstag Vorrang vor der Selbstbestimmung für Irland einzuräumen. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht beides einführen sollten, womit wir wahrscheinlich die Unterstützung der großen Masse der Bevölkerung gewinnen könnten, und das wiederum wäre eine Basis, auf der man weitere dringend nötige Reformen durchführen könnte, angefangen damit, dass man die Länder des Weltreichs ihren angestammten Bewohnern zurückgibt.«
»Was den letzten Punkt angeht, bin ich nicht sicher, aber alles andere klingt ungeheuer vernünftig«, stimmte sie zu. »Viel zu sehr, als dass man annehmen dürfte, man werde es in Gesetze gießen.«
»Sie sind ja eine Zynikerin«, sagte er mit gespielter Verzweiflung.
»Mein Mann ist Bischof«, gab sie zur Antwort.
»Ach so! Natürlich …« Da drei weitere Gäste auf sie zutraten, unter ihnen Serracolds Gattin, musste er von weiteren Ausführungen absehen. Isadora hatte die Frau zwar noch nie gesehen, wohl aber gehört, dass man mit Beunruhigung und Bewunderung über sie sprach.
»Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Mistress Underhill«, sagte Rose mit nur mühsam verhüllter Teilnahmslosigkeit, als sie einander vorgestellt wurden. Weder beschäftigte sich Isadora mit Politik, noch konnte sie trotz ihres meergrünen Kleides als wirklich modisch gelten. Sie war eine Frau von konservativem Geschmack und unwandelbarer Schönheit.
Rose Serracold hingegen war in geradezu übersteigerter Weise avantgardistisch eingestellt. Das zeigte sich bereits in ihrer Erscheinung. Das Kleid aus burgunderfarbenem Satin war mit Guipurespitze verziert, was zusammen mit ihrem aschblonden Haar besonders auffällig wirkte, etwa wie Blut und Schnee. Ihre leuchtend blauen, wasserhellen Augen schienen jeden im Raum mit einer Art Hunger zu betrachten, als suche sie nach einem bestimmten Menschen, den sie nicht fand.
»Mister Serracold hat mir über die Reformen berichtet, die er bewirken möchte«, sagte Isadora im Unterhaltungston.
Rose sah sie mit strahlendem Lächeln an. »Bestimmt haben Sie hinreichend Kenntnis von dieser Notwendigkeit«, gab sie zur Antwort. »Zweifellos sind Ihrem Gatten in seinem Amt Armut und Ungerechtigkeit in der Welt nur allzu schmerzlich zu Bewusstsein gekommen, die sich lindern ließen, wenn unsere Gesetze mehr Gleichheit bewirkten.« Sie sagte das herausfordernd. Offenkundig wollte sie erreichen, dass Isadora bekannte, nichts davon zu wissen, womit sie als Heuchlerin dagestanden hätte, die das von ihrem Mann gepredigte Christentum nicht lebte.
Ohne ihre Worte abzuwägen, gab Isadora zurück: »Selbstverständlich. Auch fällt es mir nicht schwer, mir die Veränderungen vorzustellen, wohl aber weiß ich nicht recht, wie sie sich verwirklichen lassen. Ein Gesetz taugt nur dann etwas, wenn man es durchsetzen kann, das heißt, es muss eine Sanktion geben, die wir anzuwenden bereit sind, wenn jemand dagegen verstößt. Solche Verstöße aber wird es auf jeden Fall geben, und sei es nur, um die Ernsthaftigkeit des Reformbestrebens auf die Probe zu stellen.«
Rose war begeistert. »Sie haben sich ja tatsächlich Gedanken darüber gemacht!« Ihre Überraschung ließ sich förmlich mit Händen greifen. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie gekränkt habe, indem ich Ihre Aufrichtigkeit anzweifelte.« Mit gesenkter Stimme, so dass nur die ihr zunächst Stehenden hören konnten, was sie sagte, fuhr sie fort: »Wir müssen unbedingt miteinander sprechen, Mistress Underhill.« Weil sie mit einem Mal so leise sprach, trat um sie herum Stille ein, da alle hören wollten, was sie sagte. Mit ihrer eleganten Hand, an deren langen Fingern mehrere Ringe blitzten, zog sie Isadora von der Gruppe fort, in der sie mehr oder weniger zufällig aufeinander gestoßen waren. »Die Zeit ist schrecklich knapp«, nahm sie den Faden wieder auf. »Wir müssen uns weit mehr vorwagen als die Partei das offiziell zulässt, wenn wir wirklich etwas Gutes ausrichten wollen. Die Abschaffung des Schulgeldes für Elementarschulen im vorigen Jahr hat schon großartig gewirkt, aber das ist erst ein Anfang. Es bleibt noch weit mehr zu tun. Bildung für alle ist auf Dauer die einzige Möglichkeit, etwas gegen die Armut zu unternehmen.« Sie holte rasch Luft und fuhr fort: »Wir müssen Möglichkeiten finden, dafür zu sorgen, dass Frauen die Zahl ihrer Kinder begrenzen können. Armut und körperliche wie seelische Erschöpfung sind das unvermeidliche Ergebnis, wenn sie ein Kind nach dem anderen zur Welt bringen und weder die Kraft haben, sich um sie zu kümmern, noch das Geld, sie zu ernähren und zu kleiden.« Sie sah Isadora mit offener Herausforderung an. »Es tut mir Leid, wenn diese Vorstellung gegen Ihre religiösen Überzeugungen verstößt, aber als Frau eines Bischofs in einer großen Dienstwohnung zu leben ist etwas völlig anderes, als wenn man in einem oder zwei kaum heizbaren Zimmern ohne Wasser versucht, ein Dutzend Kinder zu ernähren und sauber zu halten.«
»Würde sich der Achtstundentag günstig oder ungünstig darauf auswirken?«, erkundigte sich Isadora, bemüht, sich nicht durch Dinge kränken zu lassen, die mit der eigentlichen Frage letzten Endes nichts zu tun hatten.
Die geschwungenen Augenbrauen der anderen hoben sich. »Wie könnte der sich ungünstig auswirken? Jeder, der arbeitet, ob Mann oder Frau, muss vor Ausbeutung geschützt werden!« Die blasse Haut ihres Gesichts wurde flammend rot vor Zorn.
Ihr Gespräch wurde durch das Hinzutreten einer Bekannten von Rose unterbrochen, die sie überschwänglich begrüßte. Sie wurde ihr als Mrs. Swann vorgestellt und machte ihrerseits Isadora mit ihrer Begleiterin bekannt, einer selbstsicher wirkenden reifen Frau von vierzig Jahren, die immer noch so jugendlich wirkte, dass die Augen der meisten Männer mit Wohlgefallen auf ihr ruhten. Sie hielt den Kopf anmutig hoch erhoben und gab sich wie jemand, der einerseits völlig in sich ruht, andererseits aber den Menschen gegenüber aufgeschlossen ist.
»Mistress Octavia Cavendish«, sagte Mrs. Swann mit einem Anflug von Stolz.
Unmittelbar bevor sich Isadora äußerte, begriff sie, dass es sich um eine Witwe handeln musste, wenn sie auf diese Weise vorgestellt wurde. »Interessieren Sie sich für Politik?«, fragte sie. Angesichts des eingeladenen Personenkreises lag diese Annahme nahe.
»Nur soweit sie die Gesetze ändert, und das, hoffe ich, zum Nutzen aller«, sagte Mrs. Cavendish. »Man braucht ein großes Maß an Weisheit, wenn man die Ergebnisse seines Handelns im Voraus abschätzen will. Bisweilen führen gerade die edelsten Absichten zu einem nicht vorhersehbaren katastrophalen Ergebnis.«
Rose öffnete ihre bemerkenswerten Augen weit. »Mistress Underhill wollte uns gerade erklären, welchen Schaden der achtstündige Arbeitstag anrichten kann«, sagte sie und sah Mrs. Cavendish dabei fest an. »Ich fürchte, dass sie im Innersten konservativ gesinnt ist.«
»Also wirklich, Rose«, mahnte Mrs. Swann sie und warf Isadora rasch einen entschuldigenden Blick zu.
»Nein!«, sagte Rose ungeduldig. »Wir sollten nicht länger um den heißen Brei herumreden und wirklich sagen, was wir meinen. Ist es zu viel verlangt, dass wir von Menschen Ehrlichkeit erwarten? Haben wir nicht die Pflicht, Fragen zu stellen und Antworten zu erwarten?«
»Rose, ein wenig Überspanntheit ist gut und schön, aber ich fürchte, du gehst zu weit!«, sagte Mrs. Swann mit nervösem Hüsteln. Sie legte ihr eine Hand auf den Arm, die Rose aber ungeduldig abschüttelte. »Vielleicht möchte Mistress Underhill nicht -«
»Wirklich nicht?«, fragte Rose, wobei ihr strahlendes Lächeln wieder aufblitzte.
Bevor Isadora antworten konnte, ergriff Mrs. Cavendish das Wort. »Es ist schlimm, wenn jemand so viel arbeiten muss, und es ist auch nicht recht«, sagte sie, »doch ist das immer noch besser, als überhaupt keine Arbeit zu haben…«
»Eine solche Haltung ist erpresserisch!«, fiel ihr Rose wütend ins Wort.
Mrs. Cavendish beherrschte sich bewundernswert. »Gewiss, sofern ein Arbeitgeber es darauf anlegt. Doch wenn seine Erträge zurückgehen und die Konkurrenz ihm das Leben schwer macht, kann er sich höhere Kosten nicht leisten, denn sonst würde er Bankrott machen, und seine Leute würden ihren Arbeitsplatz verlieren. Da wir nun einmal das Weltreich haben, müssen wir es unbedingt behalten, ob uns das recht ist oder nicht.« Sie lächelte, um ihren so überzeugend vorgetragenen Worten den Stachel zu nehmen. »Bei der Politik geht es um das, was möglich ist, und nicht um das, was wir gern hätten«, fügte sie hinzu. »Ich denke, das ist Teil der Verantwortlichkeit eines Politikers.«
Isadora ließ den Blick zwischen Mrs. Cavendish und Rose Serracold hin und her wandern und sah, dass Letztere mit einem Mal verblüfft wirkte. Sie war auf einen Menschen gestoßen, der eine der ihren entgegengesetzte Position vertrat, und zwar mit der gleichen Überzeugung wie sie. Sie sah keine Möglichkeit, der schlüssigen Argumentation etwas entgegenzusetzen. Einstweilen musste sie sich geschlagen geben. Allem Anschein nach war das für sie eine neue Erfahrung.
Bei einem Blick zu Aubrey Serracold hinüber sah Isadora in seinen Augen nicht nur Empfindsamkeit, sondern auch eine Art Betrübnis, das Wissen, dass kostbare Dinge zerstört werden können.
Genau so hätte sie Cornwallis gegenüber empfinden können. Sie wäre bereit gewesen, vieles auf sich zu nehmen, um zu schützen, was gut an ihm war: ein großzügiges Herz, ein klarer Verstand, Ehrgefühl und Abscheu vor Gemeinheiten und Niedertracht. All das war von unendlichem Wert, nicht nur für sie, sondern an sich. An Reginald Underhill gab es nichts, was in ihr diesen wilden Schmerz hervorrief, der halb Qual, halb Lust war.
In diesem Augenblick trat ein weiterer Mann zu ihrer Gruppe. Die Vertrautheit, mit der er Mrs. Cavendish ansah, zeigte, dass er zu ihr gehörte. Es überraschte Isadora nicht, dass sie zumindest einen Bewunderer hatte, denn sie war eine bemerkenswerte Frau, und das nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung. Sie besaß ein Ausmaß an Charakter, Intelligenz und Klarheit des Denkens, wie man es nicht alle Tage fand.
»Darf ich meinen Bruder vorstellen«, sagte Mrs. Cavendish rasch. »Sir Charles Voisey. Mistress Underhill, Mister und Mistress Serracold.« Bei den letzten beiden Namen verzog sie das Gesicht ein wenig, und Isadora durchfuhr die Erkenntnis, dass sich Voisey und Serracold um denselben Unterhaussitz bewarben. Einer von beiden musste verlieren. Interessiert sah sie zu Voisey hin. Sie entdeckte keinerlei Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern. Seine Haare waren leicht rötlich, die seiner Schwester hingegen dunkel, was einen aufregenden Kontrast zu ihrer hellen Haut bildete. Die Nase in seinem langen Gesicht war nicht ganz gerade, als wäre sie irgendwann einmal gebrochen und schlecht verheilt. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihre rasche Intelligenz und eine starke innere Kraft. Bei ihm war sie so ausgeprägt, dass sie schon fast erwartete, sie als Hitze in der Luft spüren zu können.
Sie murmelte einige höfliche Worte. Ihr war bewusst, dass Aubrey Serracold jetzt seine Empfindungen verbarg, wusste er doch, dass es sich bei seinem Gegenspieler um einen völlig anders gearteten Menschen handelte, dem jegliche Rücksicht fremd war. Die sich anschließende höfliche Konversation genügte lediglich der gesellschaftlichen Form und war nicht dazu angetan, auch nur irgendjemanden zu täuschen.
Rose war unübersehbar wütend. Die Ringe an ihren langen Fingern blitzten, während sie ihre Hände bewegte, und im Licht der Kronleuchter über ihnen schimmerte die Haut ihres Halses fast bläulich weiß. Es sah aus, als könnte man die Venen sehen, wenn man ein wenig genauer hinschaute. Isadora meinte an ihr den Ausdruck von Furcht zu erkennen. Er lag gleich einem Parfüm in der Luft, wie der Duft nach Lavendel, Jasmin und der schwere Geruch der Lilien, die in Vasen auf dem Tisch standen. War es ihr so wichtig zu gewinnen? Oder gab es da etwas anderes?
Die ganze Gesellschaft zog ins Esszimmer um, wobei selbstverständlich auf die genaue Rangfolge geachtet wurde. Als Ehefrau eines Bischofs gehörte Isadora zu den Ersten. Ihnen folgten Angehörige des Adels, weit vor gewöhnlichen Sterblichen, wie es bloße Unterhauskandidaten waren. Auf den Tischen schimmerten Kristall und Porzellan um die Wette. An jedem Platz glänzten Messer, Gabel und Löffel.
Nachdem die Damen Platz genommen hatten, setzten sich auch die Herren. Gleich darauf wurde der erste Gang aufgetragen, dann nahm man die unterbrochenen Gespräche wieder auf, ertönte munteres Geplauder, hinter dem sich so manches Geschäft verbarg und bei dem die eine oder andere Schwäche sondiert und auch ausgebeutet wurde. An einem solchen Ort wurden Bündnisse geschmiedet, aber auch künftige Feindschaften keimten dort auf.
Isadora achtete nur halb auf das, was um sie herum gesagt wurde. Das meiste davon hatte sie schon früher gehört: die Fragen von Wirtschaft und Moral, Finanzangelegenheiten, die religiösen Schwierigkeiten und Rechtfertigungen, die politischen Erfordernisse.
Als aber der Bischof mit einem Mal Voiseys Namen nannte und seine Stimme geradezu begeistert klang, erregte das ihre Aufmerksamkeit, und sie hörte verblüfft zu. »Unschuld bewahrt uns nicht vor den Fehlern wohlmeinender Männer, deren Kenntnis der Menschennatur weit geringer ist als ihr Bestreben, Gutes zu tun«, sagte er salbungsvoll. Er sah nicht zu Aubrey Serracold hin, doch merkte Isadora, dass mindestens drei andere am Tisch das taten. Rose erstarrte, ihre Hand umklammerte das Weinglas.
»Ich habe in jüngster Zeit schrittweise erkannt, wie schwierig es ist, weise zu regieren«, fuhr der Bischof fort und sah entschlossen drein, als werde er sich auf keinen Fall davon abbringen lassen, vollständig vorzutragen, was er sagen wollte. »Das ist keine Aufgabe für Amateure, wie hochstehend und hochgesinnt sie auch sein mögen. Wir können uns die Kosten von Fehlern einfach nicht leisten. Ein misslungenes Experiment mit den Kräften von Handel und Finanz, die Preisgabe von Gesetzen, denen wir seit Jahrhunderten gehorchen, genügt, und Tausende müssen leiden, bevor wir die Entwicklung umkehren und das verlorene Gleichgewicht wiedergewinnen können.« Er schüttelte weise den Kopf. »Hier wartet auf uns eine weit tiefer reichende Aufgabe als je in unserer Geschichte. Um der Menschen willen, die wir führen und denen wir dienen, können wir uns weder Sentimentalität noch Maßlosigkeit leisten.« Rasch sah er zu Aubrey hin und wandte dann den Blick wieder ab. »Darauf zu achten ist in erster Linie unsere Pflicht, denn sonst bleibt uns nichts.«
Aubrey Serracold war bleich, seine Augen glänzten. Er schwieg, mit den Händen Messer und Gabel umklammernd. Ihm war klar, dass es nichts nutzen würde, gegen diesen Redefluss zu argumentieren, und so entgegnete er nichts.
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas, dann sprachen ein halbes Dutzend auf einmal, entschuldigten sich gegenseitig und fingen von vorn an. Als Isadora sie einen nach dem anderen ansah, merkte sie, dass Reginalds Worte sie beeindruckt hatten. Mit einem Mal wirkten Zauber und Ideale weniger leuchtend, weniger vielversprechend.
»Eine äußerst selbstlose Sichtweise«, sagte Voisey zum Bischof gewandt. »Wenn alle geistigen Führer Ihren Mut besäßen, wüssten wir, wo wir moralische Führung finden könnten.«
Der Bischof sah ihn an. Sein Gesicht war bleich, seine Brust hob und senkte sich, als falle ihm das Atmen entsetzlich schwer.
Wieder seine Magenverstimmung, dachte Isadora. Er hat zu viel von der Selleriesuppe gegessen. Er hätte sie stehen lassen sollen; schließlich weiß er, dass sie ihm nicht bekommt. Wenn man ihn reden hörte, hätte man glauben können, sie wäre mit Wein versetzt gewesen!
Der Abend schleppte sich hin, Versprechen wurden gemacht und gebrochen. Kurz nach Mitternacht gingen die ersten Gäste. Unter ihnen befanden sich der Bischof und Isadora.
Als sie in ihrer Kutsche davonfuhren, wandte sie sich ihm zu. »Was um Himmels willen ist nur in dich gefahren, dass du so gegen Mister Serracold vom Leder gezogen hast? Noch dazu in Anwesenheit des Ärmsten! Falls seine Vorstellungen extrem sein sollten, würde sie ohnehin niemand zur Grundlage eines Gesetzes machen wollen.«
»Willst du damit sagen, dass ich warten soll, bis sie dem Parlament vorgelegt werden, bevor ich mich dagegen wende?«, fragte er scharf zurück. »Möchtest du womöglich, dass ich warte, bis das Unterhaus den Vorschlag gebilligt hat und er dem Oberhaus vorliegt, wo ich mich dann dazu äußern darf? Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass seine weltlichen Mitglieder gegen die meisten Vorschläge dieser Art stimmen werden, aber in meine Amtsbrüder, die geistlichen Lords, setze ich weniger Vertrauen. Sie verwechseln das Erstrebenswerte mit dem Durchführbaren.« Er hüstelte. »Die Zeit ist kurz, Isadora. Niemand kann es sich leisten, den Tag hinauszuschieben, an dem er zu handeln hat. Möglicherweise erlebt er den morgigen Tag nicht mehr, an dem er Fehler wieder gutmachen kann.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Aussagen dieser Art entsprachen seinem Wesen in keiner Weise. Sie hatte noch nie an ihm bemerkt, dass er sich so festlegte. Früher hatte er sich stets ein Hintertürchen offen gelassen, um sich herauswinden zu können, falls sich die Umstände änderten.
»Geht es dir wirklich gut, Reginald?«, erkundigte sie sich. Im selben Augenblick wünschte sie, es nicht gesagt zu haben. Sie wollte sich nicht wieder eine Litanei darüber anhören müssen, was ihm am Abendessen nicht zugesagt hatte, seine Klagen über die Art der Bedienung, seine Kommentare zu den Ansichten anderer oder darüber, wie diese sie geäußert hatten. Hätte sie sich doch auf die Zunge gebissen und irgendein zustimmendes Gemurmel von sich gegeben! Jetzt war es zu spät.
»Nein«, sagte er ziemlich laut. In seiner Stimme schwang geradezu Verzweiflung mit. »In keiner Weise. An meinem Platz muss es gezogen haben. Ich spüre mein Rheuma in allen Knochen und habe entsetzlich Schmerzen in der Brust.«
»Ich nehme an, dass es nicht klug war, die Selleriesuppe zu essen«, sagte sie. Zwar bemühte sie sich, Mitgefühl in ihre Worte zu legen, merkte aber, dass ihr das nicht gelang. Sie hörte selbst, wie gleichgültig klang, was sie sagte.
»Ich fürchte, es ist etwas weit Schlimmeres.« Jetzt lag in seiner Stimme kaum verhüllte Panik. Sie war sicher, dass sie auf seinem Gesicht eine nur mühsam beherrschte Angst erkannt hätte, wenn sie es in der dunklen Kutsche hätte sehen können. Sie war froh, dass das nicht möglich war, denn sie wollte nicht in seine Empfindungswelt mit hineingezogen werden. Das war früher schon viel zu oft geschehen.
»Eine Magenverstimmung kann sehr unangenehm sein«, sagte sie ruhig. »Wer sich darüber lustig macht, hat noch nie darunter gelitten. Aber zum Glück geht so etwas vorüber und richtet keinen dauernden Schaden an. Schlimm ist nur die ständige Müdigkeit, weil man nicht schlafen konnte. Mach dir also bitte keine Sorgen.«
»Meinst du?«, fragte er. Er wandte ihr den Kopf nicht zu, doch hörte sie aus seiner Stimme den Wunsch heraus, ihr zu glauben.
»Natürlich«, sagte sie beschwichtigend.
Schweigend fuhren sie den Rest des Weges, doch spürte sie sein Unbehagen fast körperlich. Es saß zwischen ihnen wie ein lebendes Wesen.
Sie erwachte in der Nacht und sah, dass er vorgebeugt auf der Bettkante saß. Sein Gesicht war aschfahl, der linke Arm hing lose herab, als hätte er keine Kraft darin. Sie schloss die Augen wieder, bemüht, möglichst rasch wieder in ihren Traum vom offenen Meer zurückzufinden, wo Wellen leise an den Rumpf eines Bootes schlugen. Sie stellte sich John Cornwallis dort vor, das Gesicht in den Wind gedreht, ein vergnügtes Lächeln auf den Lippen. Von Zeit zu Zeit wandte er sich ihr zu und sah sie an. Möglicherweise wollte er etwas sagen, wahrscheinlich aber nicht. Ihrer beider Schweigen war friedvoll, und so tief war das Einverständnis zwischen ihnen, dass es keiner Worte bedurfte.
Doch ihr Gewissen ließ ihr keine Ruhe, und so gab sie See und Himmel auf. Das Bewusstsein, dass Reginald Schmerzen litt, veranlasste sie, die Augen wieder zu öffnen und sich langsam aufzusetzen. Mit den Worten: »Ich mach dir Wasser heiß«, schlug sie die Decke zurück und stand auf. Ihr Nachthemd aus feinem Leinen reichte bis zum Fußboden. Die Sommernacht war so warm, dass sie nichts darüber zu ziehen brauchte, und um die Schicklichkeit musste sie sich nicht sorgen, denn um diese Stunde würden keine Dienstboten mehr auf sein.
»Nein!«, kam ein erstickter Schrei aus seiner Kehle. »Lass mich nicht allein!«
»Wenn du das Wasser in kleinen Schlucken trinkst, hilft das«, sagte sie. Unwillkürlich hatte sie Mitleid mit ihm. Er sah elend aus. Schweißperlen standen auf seiner Haut, und seine Körperhaltung zeigte, dass er Schmerzen hatte. Sie kniete vor ihm nieder. »Ist dir nicht gut? Kann es sein, dass du etwas gegessen hast, was nicht frisch oder nicht durchgekocht war?«
Wortlos sah er zu Boden.
»Es geht bestimmt vorüber«, sagte sie tröstend. »Eine Weile ist es schlimm, aber es hört bestimmt auf. Vielleicht solltest du in Zukunft weniger Rücksicht auf die Empfindungen deiner Gastgeberin nehmen und alles vorübergehen lassen bis auf die einfachsten Speisen. Manchen Leuten ist nicht klar, wie oft du genötigt bist, als Gast in fremden Häusern zu essen. Das kann nach einer Weile wirklich zu viel werden.«
Er sah sie mit dunklen, verängstigten Augen an, flehte wortlos um Hilfe.
»Soll ich den Arzt kommen lassen? Ich kann Harold schicken.« Sie machte das Angebot lediglich, um etwas zu sagen. Wie schon bei früheren Gelegenheiten würde der Arzt lediglich Pfefferminzwasser geben. Es war eine Zumutung, ihn nur deshalb kommen zu lassen, weil ihr Mann Blähungen hatte, ganz gleich, wie sehr sie ihn quälen mochten. Früher hatte der Bischof in solchen Fällen nichts davon wissen wollen, da er der Ansicht war, es vertrage sich nicht mit der Würde des hohen Amtes. Wie konnte man achtungsvoll zu einem Mann aufblicken, der nicht einmal seine Verdauungsorgane zu beherrschen vermochte?
»Ich will ihn nicht«, stieß er hervor. Dann brach ein Schluchzen aus ihm heraus. »Glaubst du wirklich, es lag am Essen?« Es klang wie eine wilde Hoffnung, als flehe er sie an, ihm zu versichern, dass es sich so verhielt.
Sie merkte, dass er fürchtete, es könne etwas Schlimmeres sein als eine Magenverstimmung, dass er annahm, er sei jetzt schwer krank, nachdem er über Jahre hinweg lediglich an Kleinigkeiten gelitten hatte. Wovor nur hatte er eine so entsetzliche Angst? Vor den Schmerzen? Oder vor der Peinlichkeit, sich erbrechen zu müssen, nicht mehr Herr seiner Körperfunktionen zu sein, vor der Notwendigkeit, von anderen sauber gehalten zu werden, auf deren Pflege er angewiesen war? Mit einem Mal tat er ihr wirklich Leid. Sicherlich hatte insgeheim jeder solche Befürchtungen, wie dann erst jemand, dem Macht und Selbstgefälligkeit alles bedeuteten? Im Tiefsten seines Herzens mochte er ahnen, wie brüchig die Autorität war, auf die er sich stützte. Vermutlich glaubte er nicht, dass Isadora ihn genügend liebte, um sich in einer solchen Phase seines Lebens an ihn gebunden zu fühlen, und war überzeugt, dass nur das Pflichtgefühl sie veranlassen würde, an seiner Seite zu bleiben. Das aber wäre beinahe schlimmer als die Pflege durch Fremde. Nur in den Augen der Außenwelt wäre damit alles in Ordnung, und niemand würde je erfahren, wie es wirklich um ihre Ehe stand, ob es zwischen ihnen eine wie auch immer geartete Beziehung gab oder nicht.
Er sah sie nach wie vor an, wartete, dass sie ihm versicherte, seine Angst sei unnötig, und alles werde vorübergehen. Das aber war ihr nicht möglich. Selbst wenn er ein Kind gewesen wäre und nicht ein Mann, der älter war als sie selbst, hätte sie ihm diese Gewissheit nicht zu geben vermocht. Man konnte nicht immer die Augen vor der Wirklichkeit einer Krankheit verschließen.
»Ich werde alles tun, was ich kann, um dir zu helfen«, flüsterte sie. Sie tastete nach seiner Hand, mit der er seine Knie umkrallte, und legte die ihre darauf. Sie spürte das Entsetzen, das er empfand, als wäre es durch seine Haut auf sie übergegangen. Dann ging ihr schlagartig auf, was es war: er hatte Angst zu sterben. Sein Leben lang hatte er die Liebe Gottes gepredigt, das unbedingte Erfordernis, den Geboten zu gehorchen, das nicht in Frage gestellt werden durfte und nicht erklärt werden konnte, die Hinnahme des irdischen Leides und das völlige Vertrauen auf das ewige Leben im Himmel … doch er selbst glaubte offenkundig nicht daran. Dem Abgrund des Todes gegenüber sah er kein Licht, keinen Gott auf der anderen Seite. Er war so allein wie ein Kind in der Nacht.
Sie ließ ihre Träume fahren und hörte sich erstaunt sagen: »Ich bin bei dir. Mach dir keine Sorgen.« Er umklammerte ihre Hand stärker, und sie fasste nach seinem anderen Arm. »Du brauchst nichts zu fürchten. Diesen Weg müssen alle Menschen gehen. Er ist nichts als ein Durchgang. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen zu glauben. Du bist nicht allein, Reginald. Alle Lebewesen sind bei dir. Es bedeutet nur einen Schritt in die Ewigkeit. Du hast bei so vielen Menschen erlebt, wie sie ihn mit Mut und Anstand getan haben. Du kannst es auch, ganz bestimmt.«
Er blieb auf der Bettkante sitzen, doch allmählich entspannte sich sein Körper. Der Schmerz hatte wohl nachgelassen, denn er ließ sich von ihr ins Bett helfen und schlief nach wenigen Augenblicken ein. Sie ging um das Bett herum auf die andere Seite und legte sich wieder hin.
So müde sie war, kam der Segen des Vergessens erst, als es schon fast früher Morgen war.
Er stand auf. Zwar war er ein wenig bleich, wirkte aber sonst ganz wie immer. Er sprach den nächtlichen Vorfall mit keiner Silbe an und vermied es, sie anzusehen.
Sie ärgerte sich sehr über ihn. Es war kläglich, dass er ihr nicht zumindest dankte, und sei es mit einem Lächeln. Sie war nicht auf Worte angewiesen. Aber offenbar grollte er ihr, weil sie ihn all seiner Würde entkleidet gesehen, seine nackte Angst erkannt hatte. Zwar begriff sie das, und dennoch verachtete sie ihn wegen seiner Kleingeistigkeit.
Er war krank. Das gestand sie sich ein. Selbst wenn er heute nicht daran denken mochte: es war eine Tatsache. Er brauchte Isadora, und es war gleichgültig, ob sie aus Zuneigung, Mitleid, Achtung oder einfach aus Pflichtgefühl bei ihm blieb. Sie war mit ihm gemeinsam gefangen, solange es dauern würde. Das konnten Jahre sein. Sie sah diese Zeit sich wie eine Straße auf einer grauen Ebene bis zum Horizont erstrecken. Sie würde sie mit ihren eigenen Träumen ausschmücken müssen, nie aber nach ihnen greifen dürfen.
Vielleicht waren es ohnehin nie etwas anderes als Träume gewesen. Nichts hatte sich verändert, lediglich ihr Bewusstsein.