Kapitel 12

Der nächste Vormittag gehörte zu den schlimmsten in Pitts Leben. Irgendwann war er eingeschlafen, dankbar im Bewusstsein, dass zumindest Charlotte mit den Kindern und Gracie in Sicherheit waren. Er erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen, da er sie alle vor seinem inneren Auge vor sich sah.

Dann kehrte die Erinnerung zurück. Francis Wray war tot, möglicherweise von eigener Hand gestorben, allein und verzweifelt. Er sah ihn deutlich vor sich, wie er am Teetisch gesessen hatte und seinen Besucher um Entschuldigung bat, weil er weder Kuchen noch Himbeerkonfitüre im Hause hatte. Stattdessen hatte er ihm voll Stolz seine kostbare Mirabellenkonfitüre angeboten.

Auf dem Rücken liegend, sah Pitt zur Decke empor. Im Hause war es still. Es war kurz nach sechs, in zwei Stunden würde Mrs. Brody kommen. Ihm fiel nichts ein, wofür er hätte aufstehen sollen, aber er konnte nicht wieder einschlafen. Voisey hatte sich gerächt, was ihm in vollendeter Weise gelungen war. Hatte Wetron die Zusammenhänge gekannt, als er Tellman beauftragt hatte, Pitt zu einem zweiten Besuch in Teddington zu veranlassen, damit er sich im Dorf umhörte?

Wray war das ideale Opfer: ein vergesslicher alter Mann, der schmerzliche Verluste erlitten hatte und zu ehrlich war, um seine Zunge zu hüten, wenn es um seinen Groll gegen ein Verhalten ging, das seiner Ansicht nach gegen Gottes Gebot verstieß. Bestimmt kannte Voisey die Geschichte der jungen Penelope, die ihr Kind verloren und in ihrem tiefen Kummer eine Spiritistin aufgesucht hatte, die ihr Geld genommen, sie benutzt und getäuscht hatte – eine schäbige Betrügerin. Immerhin war all das in eben dem Dorf geschehen, in dem seine Schwester lebte. Eine so günstige Konstellation konnte sich ein Mann seines Schlages nicht gut entgehen lassen.

Möglicherweise hatte Octavia Cavendish in Wrays Haus Maude Lamonts Werbe-Faltblatt an eine Stelle gelegt, wo Pitt es sehen musste. Das war nicht weiter schwierig. Wray wie Pitt waren wie Lämmer zur Schlachtbank geführt worden. In Wrays Fall stimmte das buchstäblich, was Pitt betraf, würde der Vorgang länger dauern und um so qualvoller sein. Sicher würde Voisey jeden Augenblick auskosten, während er Pitt bei seinem Leiden zusah.

Es war töricht, im Bett zu liegen und darüber nachzugrübeln. Rasch stand er auf, wusch und rasierte sich. Nachdem er sich angezogen hatte, ging er in der Stille des Hauses nach unten, um Tee zu machen und die beiden Kater zu füttern. Ihm selbst war nicht nach Essen zumute.

Was würde er Charlotte sagen? Wie konnte er ihr erklären, dass es in ihrer aller Geschick wieder einmal zu einer entsetzlichen Wendung gekommen war? Der bloße Gedanke daran bereitete ihm Seelenqualen.

Ohne auf die Zeit zu achten, saß er da, bis sein Tee kalt wurde. Schließlich stand er auf, nahm ein wenig Kleingeld aus der Tasche und verließ das Haus, um eine Zeitung zu kaufen.

Es war ein ruhiger Mittsommermorgen. Die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel, und das helle Licht durchdrang den Dunstschleier über der Stadt. Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war, sah man viele Menschen ihren Geschäften nachgehen: Botenjungen, fliegende Händler, die nach früher Kundschaft Ausschau hielten, Hausmädchen, die Abfälle an die Straße stellten und sich Schmähungen von Stiefelputzern und Spülmägden anhören mussten. Lieferfuhrwerke rollten durch die Straße, und von Zeit zu Zeit hörte er das laute Klatschen, mit dem ein Teppich geklopft wurde, wobei mit jedem Schlag eine feine Staubwolke aufstieg.

An der Straßenecke fand er den Zeitungsjungen. Es war derselbe wie jeden Morgen, doch hatte er diesmal für Pitt weder einen Gruß noch ein Lächeln.

»Heute woll’n Se wohl keine«, sagte er finster. »Ich muss sagen, ich bin platt. Ich hab ja schon immer gewusst, dass Se ’n Greifer sind, auch wenn Se hier in ’ner feinen Gegend wohnen, aber dass Se ’nen alten Mann in’n Tod treiben, hätt ich nie gedacht. Macht zwei Pence.«

Pitt hielt dem Jungen das Geld hin, dieser nahm es entgegen und drehte ihm gleich danach den Rücken zu.

Pitt kehrte nach Hause zurück, ohne die Zeitung aufzuschlagen. Zwei oder drei Menschen kamen an ihm vorüber. Keiner richtete das Wort an ihn. Er wusste nicht, ob sie es bei anderen Gelegenheiten getan hätten. Er war zu benommen, um klar zu denken.

In der Küche setzte er sich wieder an den Tisch und schlug die Zeitung auf. Zwar waren die ersten Seiten, wie zu erwarten, der Wahl vorbehalten, doch fand sich der Bericht gleich auf Seite fünf oben in der Mitte.

Mit großem Bedauern müssen wir melden, dass man Reverend Francis W. Wray gestern in seinem Haus in Teddington tot aufgefunden hat. Er war dreiundsiebzig Jahre alt und litt nach wie vor unter dem kürzlich erfolgten Ableben seiner geliebten Ehefrau Eliza. Er hinterlässt keine Kinder, da alle in jungen Jahren gestorben sind.

Thomas Pitt, der gerade erst von seinem Posten auf der Bow-Street-Wache entbunden wurde und keinerlei polizeiliche Vollmachten besaß, hat Mr. Wray mehrfach aufgesucht und den Bewohnern umliegender Häuser eine ganze Reihe von Fragen über Mr. Wrays Privatleben und dessen Ansichten und Verhalten in jüngerer Zeit gestellt. Er bestreitet jeden Zusammenhang mit seinen bisher erfolglos gebliebenen Nachforschungen im Zusammenhang mit der Ermordung von Miss Maude Lamont, einer in der Southampton Row in Bloomsbury wohnhaften Spiritistin.

Nach seinen letzten Erkundigungen im Dorf suchte Mr. Pitt Mr. Wray in seinem Hause auf, wo eine spätere Besucherin Mr. Wray im Zustand tiefster Bekümmernis vorfand.

Am folgenden Morgen entdeckte Mr. Wrays Dienstmädchen, Mary Ann Smith, ihren Herrn tot in seinem Lehnsessel. Ein Abschiedsbrief fand sich nicht, wohl aber war in einem Lyrikband ein Gedicht von Matthew Arnold gekennzeichnet, das man wohl als sein verzweifeltes und tragisches Lebewohl an eine Welt deuten muss, die er nicht länger zu ertragen vermochte.

Der hinzugezogene Arzt erklärte, der Tod sei durch Gift eingetreten, höchstwahrscheinlich ein Herzgift. Man vermutet, dass es von einer der vielen Pflanzen stammen könnte, die Mr. Wray in seinem Garten zog, denn man weiß, dass er sein Haus nach Mr. Pitts Besuch nicht verlassen hat.

Francis Wray konnte auf eine herausragende akademische Laufbahn zurückblicken …

Dann wurden Wrays Leistungen aufgezählt; es folgten Würdigungen durch eine Anzahl im öffentlichen Leben bekannter Menschen, die alle miteinander seinen Tod beklagten und sich von dessen Art und Weise entsetzt zeigten.

Pitt faltete die Zeitung zusammen und goss sich eine weitere Tasse Tee ein. Er setzte sich wieder, hielt die Tasse zwischen den Händen, und versuchte sich an den Wortlaut dessen zu erinnern, was er den Menschen in Teddington gesagt hatte. Wie war es möglich, dass das Wray so bald zu Ohren gekommen war und ihn so tief verletzt hatte? War er wirklich so uneinfühlsam vorgegangen? Zu Wray hatte er mit Sicherheit nichts gesagt, was ihn kränken konnte. Der Kummer, dessen Zeugin Octavia Cavendish geworden war, hatte Wrays verstorbener Frau gegolten … das aber konnte sie natürlich nicht wissen. Vermutlich war sie unter den Umständen auch nicht bereit gewesen, es zu glauben. Das würde wohl niemand tun. Pitts Schuld wog dadurch, dass sich Wray um den Tod seiner Frau gegrämt hatte, noch schwerer.

Wie aber konnte er jetzt gegen Voisey vorgehen? Die Wahl stand zu nahe bevor. Aubrey Serracold verlor an Boden, und Voisey brachte sich mit jeder Stunde in eine günstigere Ausgangsposition. Es war Pitt nicht gelungen, dessen ungestümes Vorandrängen im Geringsten aufzuhalten. Er hatte nur zugesehen und ungefähr so viel Einfluss darauf gehabt wie ein Zuschauer im Theater auf das Stück, das auf der Bühne gespielt wird – er sieht alles, hört alles, hat aber keinerlei Möglichkeit, selbst einzugreifen.

Er wusste nicht einmal, welcher der drei Besucher Maude Lamont getötet hatte. Nur was das Motiv anging, war er seiner Sache sicher: sie hatte diese Menschen mit ihren Ängsten erpresst. Kingsley fürchtete, dass sein Sohn als Feigling gestorben war, und Rose Serracold quälte sich nach wie vor mit der Frage, ob ihr Vater bei seinem Tode geistig gesund gewesen war. Über die schwache Stelle des Mannes, der sich hinter der Kartusche verbarg, wusste Pitt naturgemäß nichts, denn was er von Rose Serracold und Kingsley erfahren hatte, lieferte ihm nicht den geringsten Hinweis. Das Wissen der Getöteten konnte sich theoretisch auf alles Mögliche beziehen: ein Familiengeheimnis, den Verrat an einem verstorbenen Freund, Kind, Liebhaber, ein Verbrechen, das nicht ans Tageslicht kommen durfte, oder einfach irgendeine Torheit, die ihren Verursacher bloßstellen konnte. Auf jeden Fall musste es etwas sein, für dessen Verschweigen die Menschen bereit waren, einen Preis zu zahlen.

Vielleicht käme er weiter, wenn er am anderen Ende der Gedankenkette anfing? Wie sah dieser Preis aus? Wenn Voisey dabei die Finger im Spiel hatte, musste es sich um etwas handeln, was ihn in seinem Kampf um die Macht weiterbrachte. Für seine Reden, seinen Wahlkampffonds, die Programmpunkte, die er ansprach, hatte er alles, was er brauchte. Zusätzlich weiterhelfen konnte ihm alles, was dazu beitrug, Serracolds Position zu schwächen. Darauf hatte er Kingsley angesetzt. Die Konservativen, die ihn unterstützten, standen bereits auf seiner Seite; wenn er siegen wollte, musste er Wähler der Liberalen für sich gewinnen, denn nur so konnte er die Machtverhältnisse umkehren. Welche Menschen hatten Serracold sonst noch angegriffen, von denen man es eigentlich nicht erwarten sollte?

Zögernd nahm Pitt die Zeitung wieder zur Hand und überflog den politischen Kommentar, die Leserbriefe, die Berichterstattung über die Reden von Bewerbern um einen Sitz im Unterhaus. Auf beiden Seiten gab es Lob und Tadel, doch das meiste war allgemein gehalten und richtete sich eher gegen die jeweilige Partei als gegen Einzelpersonen. Außerdem stieß er auf einige bissige Äußerungen über Keir Hardie und dessen Versuch, den Arbeitern eine neue Stimme zu verschaffen.

Einem dieser Kommentare folgte ein persönlich gehaltener Brief, der die unmoralischen und auf eine Katastrophe abzielenden Ansichten des liberalen Kandidaten für South Lambeth geißelte und Sir Charles Voisey pries, weil dieser für den gesunden Menschenverstand statt für den Sozialismus eintrete, für Sparsamkeit, Verantwortungsbewusstsein, Selbstzucht und christliches Mitgefühl anstelle von Laxheit, Ichsucht und unerprobten gesellschaftlichen Experimenten, bei denen die Ideale der Redlichkeit und Gerechtigkeit auf der Strecke bleiben würden. Gezeichnet war er von Reginald Underhill, Bischof der Anglikanischen Kirche.

Selbstverständlich hatte dieser Mann einen Anspruch auf eine politische Meinung und darauf, sie wie jeder andere so offen zu äußern, wie ihm das richtig schien, ganz gleich, ob seine Worte durchdacht oder nur ehrlich gemeint waren. Aber tat er das aus eigenem Antrieb – oder weil man ihn dazu erpresste?

Welche Gründe aber konnte es für einen Bischof geben, eine Spiritistin aufzusuchen? Sicherlich wäre ihm die bloße Vorstellung ein ebensolcher Gräuel gewesen wie Francis Wray.

Noch während Pitt über die möglichen Hintergründe nachdachte, traf Mrs. Brody ein. Sie grüßte ihn höflich und blieb dann vor ihm stehen, wobei sie verlegen von einem Bein auf das andere trat.

»Was gibt es, Mistress Brody?«, fragte er. Er war nicht in der Stimmung, sich den Kopf über häusliche Probleme zu zerbrechen.

Sie sah bedrückt drein. »Tut mir Leid, Mister Pitt, aber nach dem, was heute in der Zeitung steht, kann ich hier nich mehr arbeiten. Mein Mann sagt, das gehört sich nich. Es gibt genug Arbeit, un ich soll mir ’ne andre Stelle suchen. Sag’n Se Ihrer Frau, dass ich das sehr schade finde, aber ich muss tun, was er sagt.«

Es hatte keinen Sinn, mit ihr darüber zu rechten. Ihr Gesicht wirkte zugleich trotzig und unglücklich. Aus Pitts Haus konnte sie fortgehen, aber nicht aus dem ihres Mannes. Mit ihm musste sie auskommen, ganz gleich, wie sie über die Sache denken mochte.

»Dann gehen Sie besser«, sagte er ausdruckslos. Er legte zweieinhalb Shilling auf den Tisch, der Betrag, den er ihr für die bis dahin geleistete Arbeit schuldete. »Auf Wiedersehen.«

Sie rührte sich nicht vom Fleck. »Ich kann nix dafür!«, sagte sie.

»Sie haben sich entschieden, Mistress Brody.« Er sah sie zornig an. Die ihm angetane Kränkung und seine Hilflosigkeit brodelten in ihm. »Sie arbeiten seit über zwei Jahren hier und haben sich entschieden zu glauben, was in der Zeitung steht. Damit ist die Sache erledigt. Ich werde meiner Frau sagen, dass Sie fristlos gekündigt haben. Ob sie Ihnen eine Empfehlung schreibt oder nicht, ist allein ihre Angelegenheit. Allerdings bezweifle ich, dass Ihnen eine Referenz von ihr viel nutzen würde, denn schließlich halten Sie ja in gewisser Weise auch von ihr nicht viel, weil sie meine Frau ist. Schließen Sie bitte die Haustür, wenn Sie gehen.«

»Was soll ich denn machen?«, fragte sie laut. »Ich hab doch keinen armen alten Mann in ’n Tod getrieben.«

»Sie glauben also, dass ich ihn grundlos verdächtigt habe?«, fragte er. Seine Stimme klang lauter, als er beabsichtigt hatte.

»So steht das da!« Sie sah ihn unverwandt an.

»Wenn Ihnen das genügt, kann ich Sie nicht daran hindern, mich zu verurteilen und zu gehen. Wie gesagt, achten Sie bitte darauf, dass Sie die Haustür hinter sich zumachen. An einem solchen Tag kann jeder Beliebige mit finsteren Absichten von der Straße ins Haus kommen. Auf Wiedersehen.«

Empört schnaubend nahm sie das Geld vom Tisch, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon. Er hörte die Haustür laut ins Schloss fallen; zweifellos sollte das eine Botschaft an ihn sein, dass sie wirklich gegangen war.

Nach einer quälenden Viertelstunde klingelte es an der Tür. Am liebsten hätte Pitt es überhört. Es klingelte erneut. Wer auch immer davorstehen mochte, hatte nicht die Absicht, sich ohne weiteres abweisen zu lassen. Es klingelte ein drittes Mal.

Pitt stand auf, ging zur Haustür und öffnete, bereit, sich zu verteidigen. Es war Cornwallis. Zwar wirkte sein Gesicht recht kläglich, doch blickte er entschlossen drein und sah Pitt in die Augen.

»Guten Morgen«, sagte er leise. »Darf ich eintreten?«

»Wozu?«, fragte Pitt unfreundlicher, als er beabsichtigt hatte. Vorwürfe aus dem Munde von Cornwallis würden ihn stärker verletzen als solche von nahezu jedem anderen Menschen. Es überraschte ihn, wie verletzlich er sich fühlte, und es ängstigte ihn ein wenig.

»Weil ich nicht wie ein Hausierer zwischen Tür und Angel mit Ihnen reden möchte«, sagte Cornwallis scharf. »Ich weiß zwar noch nicht, was ich sagen könnte, aber ich würde lieber im Sitzen darüber nachdenken. Ich war so aufgebracht, als ich die Zeitungen las, dass ich ganz vergessen habe zu frühstücken.«

Pitt hätte fast gelächelt. »Ich habe Brot und Orangenmarmelade, und der Kessel steht auf dem Feuer. Ich werde gleich noch einmal nachlegen, Mistress Brody hat mir vorhin gekündigt.«

»Ihre Zugehfrau?«, fragte Cornwallis, trat ins Haus, schloss die Tür hinter sich und folgte Pitt durch den Flur zur Küche.

»Ja. Ich werde ab sofort meinen Haushalt allein führen müssen.« Cornwallis nahm den angebotenen Tee und Toast gern an und machte es sich auf einem der Küchenstühle bequem.

Pitt legte Kohlen nach und schürte das Feuer, bis es hell brannte. Dann steckte er eine Scheibe Toast auf die Röstgabel und hielt sie über die Flammen, um sie zu bräunen. Allmählich begann der Wasserkessel zu singen.

Als beide etwas Toast gegessen hatten und der Tee aufgegossen war, begann Cornwallis: »Hatte dieser Wray etwas mit Maude Lamont zu tun?«

»Meines Wissens nicht«, gab Pitt zur Antwort. »Er hasste spiritistische Medien, vor allem solche, die Leidtragenden falsche Hoffnungen machten, doch soweit mir bekannt ist, bezog sich das nicht speziell auf Maude Lamont.«

»Warum?«

Pitt berichtete ihm die Geschichte der jungen Frau aus Teddington, die ein Medium aufgesucht hatte, nachdem ihr Kind gleich nach der Geburt gestorben war, sprach von der Tiefe ihres Kummers und ihrem Tod.

»Hätte das Medium in ihrem Fall Maude Lamont sein können?« , fragte Cornwallis.

»Nein.« Pitt war seiner Sache ziemlich sicher. »Sie dürfte zu jener Zeit höchstens zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen sein. Es besteht keinerlei Verbindung zu ihr, außer der, die Voisey geschaffen hat, um mir eins auszuwischen. Und ich habe alles getan, um ihm dabei zu helfen.«

»So sieht es aus«, sagte Cornwallis. »Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich zulasse, dass Voisey damit durchkommt. Wo man sich nicht verteidigen kann, muss man angreifen.«

Diesmal lächelte Pitt, überrascht und dankbar, dass sich Cornwallis so ohne Wenn und Aber auf seine Seite schlug. »Wenn ich nur wüsste, wie«, sagte er. »Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich bei dem Mann, der sich hinter der Kartusche verbirgt, um Bischof Underhill handeln könnte.«

Er war selbst verblüfft, als er sich das sagen hörte. Einen Augenblick lang fürchtete er, Cornwallis würde diese Vorstellung als lachhaft abtun. Die Freundschaft dieses Mannes war an diesem Tag sein einziger Trost. Insgeheim war er sicher, dass sich Vespasia ähnlich verhalten würde. Er hoffte, sie würde Charlotte über eine Zeit hinweghelfen, die ihr sehr zu schaffen machen würde, weil sie kein Ziel für ihre Empörung hätte und keine Möglichkeit sehen würde, Pitt zu helfen. Auch unter der Grausamkeit der Schulkameraden oder der von Menschen auf der Straße würde sie leiden, denn die würde den Kindern zusetzen, denen nicht einmal der Grund dafür bekannt wäre. Sie würden lediglich mitbekommen, dass man ihren Vater hasste. Dergleichen hatten sie nie erlebt, und sie würden es nicht verstehen. Doch er war nicht bereit, sich jetzt über all das den Kopf zu zerbrechen. Es würde schrecklich genug sein, wenn es so weit war, da brauchte er nicht noch den Schmerz vorwegzunehmen, wenn er ohnehin nichts dagegen unternehmen konnte.

»Bischof Underhill also«, wiederholte Cornwallis hoffnungsvoll. »Was bringt Sie zu dieser Vermutung?«

Pitt erläuterte seine Gedankenkette, die mit dem Brief anfing, in dem der Bischof offen Voisey unterstützte.

Cornwallis runzelte die Brauen. »Und warum sollte er eine Spiritistin aufsuchen?«

»Ich habe keine Ahnung«, gab Pitt zu. Er war so sehr in seinem Unglück gefangen, dass er die Anteilnahme in der Stimme des anderen nicht wahrnahm.

Ein erneutes Klingeln an der Haustür verhinderte eine Fortsetzung des Gesprächs. Sogleich stand Cornwallis auf und kam damit Pitt zuvor. Kurz darauf kehrte er mit Tellman zurück, der wie der Hauptleidtragende bei einer Beerdigung aussah.

Ohne etwas zu sagen, wartete Pitt, dass einer der beiden sprach.

Nach einer Weile räusperte sich Tellman, versank dann aber wieder in trübseliges Schweigen.

»Warum sind Sie hergekommen?«, fragte ihn Pitt. Er hörte, dass seine Stimme gereizt und vorwurfsvoll klang, konnte aber nichts dagegen unternehmen.

Tellman funkelte ihn an. »Wo sollte ich jetzt sonst wohl sein?«, fragte er herausfordernd. »Es war meine Schuld! Ich habe gesagt, Sie sollen nach Teddington fahren! Ohne mich hätten Sie den Namen Wray nie gehört!« Auf seinem Gesicht lag unübersehbarer Gram, seine Körperhaltung war steif, seine Augen glänzten verdächtig.

Überrascht merkte Pitt, dass sich Tellman tatsächlich Vorwürfe machte. Das beschämte ihn so sehr, dass er keine Worte fand. Unter anderen Umständen, wenn er selbst etwas weniger unter dem Vorgefallenen gelitten hätte, würde ihn Tellmans Anhänglichkeit gerührt haben, jetzt aber reichte seine eigene Furcht zu tief. Alles ging zurück auf seine Aussage im Mordfall Fetters, die er vor der Whitechapel-Affäre gemacht hatte. Wäre er doch nicht so selbstsicher gewesen, hätte er doch nicht so dickköpfig darauf beharrt auszusagen – nur weil er wollte, dass sich seine Vorstellung von Gerechtigkeit durchsetzte!

Zwar hatte er damals Recht behalten, das aber würde ihm jetzt nichts nutzen.

»Wer hat Sie auf die Spur von Francis Wray gesetzt?«, fragte Cornwallis Tellman. »Stehen Sie doch nicht so herum, Mann! Man kommt sich vor wie an einem offenen Grab. Noch ist die Schlacht nicht vorüber.«

Zwar hätte Pitt das gern geglaubt, doch sah er keinen konkreten Anlass zur Hoffnung.

»Oberinspektor Wetron«, antwortete Tellman. Er sah zu Pitt hin.

»Welchen Grund hat er Ihnen dafür genannt?«, bohrte Cornwallis nach. »Wer hat ihn auf den Gedanken gebracht, dass Wray der Täter sein könnte? Wer hat die Verbindung zwischen Wray und dem Unbekannten hergestellt, der Maude Lamont besucht hat?«

Unwillkürlich ging Pitt der Gedanke durch den Kopf, dass Cornwallis in Bezug auf kriminalistische Arbeit eine Menge gelernt hatte. Er sah zu Tellman hinüber.

»Das hat er nicht gesagt«, gab dieser mit geweiteten Augen zurück. »Ich habe ihn gefragt, aber er hat keine Antwort gegeben, mit der ich etwas anfangen konnte. Vielleicht Voisey?« In seiner Stimme lag ein Anflug von Hoffnung. »Soweit ich weiß, stammen alle Angaben über Wray von Oberinspektor Wetron.« Sein Mund wurde schmal. »Aber ob er ein Anhänger von Voisey ist … oder möglicherweise selbst zum Inneren Kreis gehört?« Er sagte es ungläubig, als sei ihm der Gedanke, sein Vorgesetzter könne jenem entsetzlichen Bund angehören, so ungeheuerlich, dass man ihn gleich fallen lassen musste, ohne ihn weiter zu verfolgen.

Pitt kamen Vespasias Worte in den Sinn. »Möglicherweise haben wir einen Bruch im Inneren Kreis herbeigeführt, indem wir Voiseys Vorhaben aufgedeckt haben«, sagte er und ließ dabei den Blick zwischen den beiden hin und her wandern. Während Tellman alle Einzelheiten des Falles Whitechapel kannte, wusste Cornwallis nur dies und jenes. Pitt merkte, dass ihm jetzt offenbar Verschiedenes klar wurde. Er stellte keine Fragen.

»Einen Bruch?«, fragte Tellman gedehnt. »Sie meinen, er ist in zwei Gruppen zerfallen?«

»Zwei oder mehr«, antwortete Pitt.

»Voisey und noch jemand?« Cornwallis hob die Brauen. »Wetron?«

Empört brauste Tellman auf: »Unmöglich – er ist Polizeibeamter!« Dennoch ging er dem Gedanken nach, schüttelte den Kopf, schob die Vorstellung von sich. »Vielleicht ein unbedeutendes Mitglied. Manche Leute machen so etwas, um weiterzukommen, aber …«

Cornwallis kaute auf der Lippe herum. »Das scheint zu passen. Jemand, der sehr viel Macht besitzt, hat dafür gesorgt, dass Sie ein zweites Mal Ihren Platz in der Bow Street räumen mussten«, sagte er zu Pitt gewandt. »Ob das Wetron war? Immerhin ist er an Ihre Stelle getreten. Die Position eines Leiters der Wache in der Bow Street ist für einen Mann an der Spitze des Inneren Kreises äußerst günstig.« Er sah betrübt drein, einen Augenblick lang schien er sogar Furcht zu empfinden. »Sein Ehrgeiz muss maßlos sein.«

Keiner der beiden anderen lachte oder bestritt, was er gesagt hatte.

»Ehrgeizig ist er«, sagte Tellman ernst.

Cornwallis beugte sich ein wenig vor. »Könnten die beiden miteinander um die Vorherrschaft in diesem Bund rivalisieren?«

Pitt wusste so genau, was er damit meinte, als hätte er es selbst gesagt. So abwegig das zu sein schien, es war der erste Funken Hoffnung. »Und wir wollen uns das zunutze machen?«, fragte er. Er wagte kaum, den Gedanken in Worte zu fassen.

Cornwallis nickte bedächtig.

Tellman sah ihn mit bleichem Gesicht an. »Einen gegen den anderen ausspielen?«

»Fällt Ihnen etwas anderes ein?«, fragte ihn Cornwallis. »Wetron ist ehrgeizig, um so mehr, wenn er glaubt, dass er Voisey die Führung einer Hälfte des Inneren Kreises entreißen kann. Ich denke, wir dürfen annehmen, wenn er schon nicht derjenige ist, der den Bruch herbeigeführt hat, dass er ihn zumindest vollendet hat. Er kann nicht so dumm sein anzunehmen, Voisey würde ihm das verzeihen. Er wird sich sein Leben lang vorsehen müssen. Wer aber weiß, dass er einen Feind hat, tut gut daran, ihm zuvorzukommen, bevor dieser zuschlägt, und sofern Aussicht besteht, ihn aus dem Weg räumen zu können, sollte man das tun.«

»Aber wie?«, fragte Pitt. »Indem er Voisey in den Mord an der Southampton Row verwickelt?« Die Theorie gewann Konturen, während er sprach. »Es muss eine durchgehende Verbindung geben. Voisey sucht Maude Lamont auf. Er kann ihr gesellschaftliche Beziehungen bieten, Geld, alles, wonach ihr der Sinn steht, und als Gegenleistung erpresst sie bestimmte ihrer Besucher, damit diese Aubrey Serracold in der Öffentlichkeit unmöglich machen, was Voisey bei seiner Unterhauskandidatur zugute kommt.«

»Die Gedankenkette klingt plausibel«, sagte Tellman. »Voisey  – Maude Lamont – ihre Besucher, die tun, was sie von ihnen verlangt – das wiederum hilft Voisey. Aber wir können es nicht beweisen! Maude Lamont war das Bindeglied, und sie ist tot.« Er holte tief Luft. »Augenblick mal! Hat die Erpressung nach ihrem Tod aufgehört? Haben die Leute aufgehört, Voisey zu helfen?« Damit wandte er sich an Pitt.

»Nein«, sagte dieser. »Nein. In dem Fall war Miss Lamont nicht die Erpresserin, sondern hat lediglich Angaben über verletzliche Stellen ihrer Klienten weitergegeben.« Dann machte sich erneut Enttäuschung breit. »Aber wir haben keine Beziehung zu Voisey entdeckt, obwohl wir ihre Papiere, Briefe, Tagebücher, Bankauszüge, einfach alles, durchgegangen sind. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine Beziehung zwischen den beiden. Andererseits würde Voisey auch keine Spuren hinterlassen, dazu ist er viel zu ausgekocht. Das war schon deshalb wichtig, damit sie nichts gegen ihn in der Hand hatte.«

»Sie suchen den Gegner in der falschen Richtung«, sagte Cornwallis mit zunehmender Erregung. Es war, als durchlebe er noch einmal eine seiner Seeschlachten und richte die Geschütze auf das feindliche Schiff. »Wetron! Wir sollten uns nicht den einen oder den anderen vornehmen, sondern überlegen, wie sie sich gegenseitig außer Gefecht setzen.«

Tellman machte ein finsteres Gesicht. »Und wie?«

Pitt empfand bei diesem Gedanken ein Hochgefühl, das er sogleich unterdrückte. Auf keinen Fall wollte er eine so tiefe Enttäuschung erleben, dass er sie nicht zu ertragen vermochte.

»Wetron ist ein Ehrgeizling«, sagte Cornwallis eindringlich. »Falls es ihm gelingt, den Mord in der Southampton Row auf spektakuläre Weise aufzuklären und sich das Verdienst daran zuzuschreiben, würde das seine Position so sehr stärken, dass ihm niemand in der Bow Street gefährlich werden könnte. Möglicherweise hilft es ihm sogar, eine weitere Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen.«

Damit war Cornwallis’ eigene Position gemeint. Die Erkenntnis, dass sich Cornwallis über diese Gefahr völlig klar zu sein schien, beeindruckte Pitt um so mehr, als er sah, dass der Mann, der da die Ellbogen auf seinen Küchentisch stützte, nicht im Geringsten zu zögern schien.

»Finden Sie den Mann, der sich hinter der Kartusche versteckt!« , sagte Cornwallis. »Sollte es Wetron gelingen, ihn zu ermitteln, ihm eine Falle zu stellen und ihm das Geheimnis der Erpressung zu entreißen, und sei es nur, um damit Voisey belangen zu können – was ohne weiteres möglich ist, da Rose Serracold und Kingsley zu den Opfern gehören –, dann …«

»Das ist nicht ungefährlich«, erklärte Pitt. Zugleich aber spürte er, wie das Blut in ihm zu pulsen begann. Mit einem Mal fühlte er wieder Lebenskraft und Tatendurst. Möglicherweise zeichnete sich da ein kleiner Hoffnungsschimmer ab.

Cornwallis lächelte kaum wahrnehmbar, eigentlich entblößte er lediglich die Zähne. »Er hat Wray benutzt. Jetzt wollen wir den armen Mann benutzen – ihm kann keiner mehr etwas anhaben. Sogar sein Ruf ist zugrunde gerichtet, falls der Gerichtsarzt auf Selbstmord erkennt. Damit würde sein Leben seinen Vorstellungen nach nahezu vollständig den Sinn verlieren.«

Bei diesem Gedanken packte Pitt die blanke Wut. »Ja, ich würde Wray gern benutzen«, stieß er durch die zusammengebissenen Zähne hervor. »Niemand weiß, worüber er und ich miteinander gesprochen haben. So, wie es mir unmöglich ist zu beweisen, dass ich ihm nicht gedroht habe, kann niemand bestreiten, wovon ich erkläre, dass er es mir gesagt hat!« Auch Pitt beugte sich über den Tisch. »Er hatte keine Vorstellung, wer ›Kartusche‹ sein könnte, aber das weiß außer uns niemand. Wenn ich nun sage, dass er gewusst hat, wer sich dahinter verbirgt, und es mir gesagt hat, behaupte, dass dieser Mann die Ursache seiner Seelenqual war –« Seine Gedanken jagten sich. »Und dass auch Miss Lamont trotz all seiner Vorsicht dahintergekommen war? Dass sie irgendwo in ihren Papieren eine diesbezügliche Notiz hinterlassen hat? Bei der Durchsuchung ihres Hauses haben wir nicht sogleich begriffen, was wir gesehen haben. Jetzt aber, mit Hilfe dessen, was ich von Wray erfahren habe, können wir …«

»Dann wird der Mann kommen, um den Beweis zu suchen und zu vernichten …«

»Dazu muss er aber erst einmal erfahren, was wir wissen!«, ergänzte Tellman. »Wie wollen wir erreichen, dass er es erfährt? Wird Wetron es ihm sagen? Er kennt den Mann sicher nicht, sonst hätte er …« Er hielt verwirrt inne.

»Mit Hilfe der Zeitungen«, sagte Cornwallis. »Ich sorge dafür, dass sie die Mitteilung morgen drucken. Wegen Wrays Tod ist der Fall nach wie vor in den Schlagzeilen. Ich kann dafür sorgen, dass der Mann glaubt, er müsse sich in den Besitz von Miss Lamonts Notiz bringen, weil er sonst entdeckt würde. Wie sein Geheimnis aussieht, ist doch unerheblich.«

»Und was wollen Sie Wetron sagen?«, fragte Tellman mit gerunzelter Stirn. Er wusste nicht recht, was er von dem Plan halten sollte, aber die Bereitschaft, etwas zu unternehmen, brannte in ihm. Seine Augen glänzten.

»Nicht ich – Sie sagen es ihm«, verbesserte ihn Cornwallis. »Erstatten Sie ihm wie üblich Bericht. Teilen Sie ihm mit, dass sich der Kreis zu schließen beginnt: Voisey gibt Maude Lamont Geld, diese erpresst Kingsley und ›Kartusche‹, um Voiseys Gegenkandidaten aus dem Rennen zu werfen. Erzählen Sie ihm, dass Sie gerade dabei seien, die Beweise dafür zusammenzustellen. Er kann dann gar nicht anders, als die Presse zu verständigen. Allerdings muss er selbst von der Geschichte überzeugt sein, sonst druckt sie niemand.«

Tellman schluckte und nickte bedächtig.

»Trotzdem wird Wray als Selbstmörder beerdigt«, sagte Pitt. Schon die bloßen Worte schmerzten ihn. »Es … es fällt mir schwer zu glauben, dass er … Nicht, nachdem er all seinen Kummer so mannhaft ertragen hatte und …« Aber vorstellen konnte er es sich. Jemand konnte noch so tapfer sein, doch manche Schmerzen wurden in den finstersten Augenblicken der Nacht unerträglich. Er hatte wohl meist die nötige Kraft aufgebracht, wenn Menschen um ihn waren, es etwas zu tun gab, die Sonne schien, er sich an der Schönheit der Blumen aufrichten konnte, an einem Menschen, der sich um ihn kümmerte. Aber allein im Dunkeln, zu mitgenommen, um den Kampf fortzusetzen …

»Man hat ihn zutiefst bewundert und geliebt.« Cornwallis bemühte sich, eine bessere Antwort zu finden. »Vielleicht hat er Freunde in der Kirche, die ihren Einfluss geltend machen, um das zu verhindern.«

»Aber Sie haben ihn doch gar nicht in die Enge getrieben«, begehrte Tellman auf. »Warum hätte er ausgerechnet jetzt klein beigeben sollen? Das wäre gegen die Grundüberzeugungen seines Glaubens!«

»Wie hätte er das Gift zufällig nehmen können?«, fragte ihn Pitt bitter. »Eine natürliche Todesursache ist gänzlich ausgeschlossen.« Doch dann meldete sich in seinem Gehirn ein anderer Gedanke, eine verrückte Möglichkeit. »Vielleicht hat sich Voisey gar nicht einer Gelegenheit bedient, die man ihm wunderbarerweise geboten hat, sondern Wray ermordet oder zumindest ermorden lassen? Erst mit Wrays Tod war seine Rache vollkommen. Wäre Wray nur unverschuldet ins Gerede gekommen durch meine Ermittlungen, stünde ich lediglich als Schurke da. Weil er aber umgekommen ist, macht sich das für Voisey doch viel besser, denn damit bin ich rettungslos verloren. Bestimmt schreckt ein solcher Mann nicht vor dem letzten Schritt zurück! Er hat es in Whitechapel ja auch nicht getan.«

»Seine Schwester?«, fragte Cornwallis mit ungeheucheltem Entsetzen. »Ob er sie benutzt hat, um Wray zu töten?«

»Möglicherweise hatte sie keine Ahnung von dem, was sie tat«, gab Pitt zu bedenken. »Es gibt praktisch keine Möglichkeit, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Soweit sie weiß, war sie lediglich Zeugin meiner Grausamkeit einem verletzlichen alten Mann gegenüber.«

»Wie wollen wir das beweisen?«, sagte Tellman. »Es genügt nicht, dass wir es wissen! Es würde ihm den Genuss seines Sieges nur versüßen, wenn wir tatsächlich wüssten, was geschehen ist, und uns die Hände gebunden sind, dagegen anzugehen!«

»Eine Obduktion«, sagte Pitt. Das schien die einzige Lösung zu sein.

»Der wird man nie zustimmen.« Cornwallis schüttelte den Kopf. »Niemand will sie. Die Kirchenleute, die auf jeden Fall verhindern wollen, dass er als Selbstmörder gilt, haben Angst, dass es tatsächlich auf Selbstmord hinauslaufen könnte. Voisey wiederum befürchtet, dass dabei ein Mord bewiesen oder zumindest die Frage gestellt werden könnte, ob es sich um einen handelt.«

Pitt stand auf. »Bestimmt gibt es eine Möglichkeit. Ich gehe zu Lady Vespasia, die soll dafür sorgen. Sofern es jemanden gibt, der die Sache in unserem Sinne vorantreiben kann, weiß sie bestimmt, wer das ist und wo man ihn findet.« Er sah erst zu Cornwallis und dann zu Tellman hin. »Danke«, sagte er, von aufrichtiger Dankbarkeit überwältigt. »Danke, dass Sie … gekommen sind.«

Keiner der beiden sagte etwas darauf, weil jeder auf seine Weise um Worte verlegen war. Ihnen ging es nicht um Dank; sie hatten lediglich helfen wollen.

 

Tellman kehrte auf dem kürzesten Wege in die Bow Street zurück, wo er um Viertel nach zehn eintraf. Der Dienst tuende Beamte sprach ihn an, doch ging er, ohne auf ihn zu achten, nach oben in Wetrons Büro, das einst Pitt gehört hatte. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass das erst wenige Monate her war. Jetzt wirkte der Raum fremd auf ihn, und der Mann darin war sein Feind. Verblüfft merkte er, dass ihm diese Vorstellung nicht im Geringsten schwerfiel.

Er klopfte und hörte nach wenigen Augenblicken Wetrons Stimme, die ihn zum Eintreten aufforderte.

»Guten Morgen, Sir«, sagte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Morgen, Tellman.« Oberinspektor Wetron hob den Blick von seinem Schreibtisch. Auf den ersten Blick wirkte er durchschnittlich, mittelgroß, mausgrau. Erst ein Blick in seine Augen zeigte den unbeirrbaren Willen des Mannes weiterzukommen und die eiserne Energie, die dahinterstand.

Tellman schluckte und begann dann, seine Lügengeschichte vorzutragen. »Ich habe heute Morgen mit Pitt gesprochen. Er hat mir mitgeteilt, was er Mister Wray gesagt hat und warum Wray so außer sich war.«

Sein Vorgesetzter sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Ich denke, je eher Sie sich und damit unsere Polizeieinheit von Mister Pitt lösen, desto besser, Inspektor. Ich werde eine Mitteilung an die Presse geben, dass er mit der Londoner Polizei nicht mehr das Geringste zu tun hat und wir für sein Handeln in keiner Weise verantwortlich sind. Mag sich der Sicherheitsdienst um ihn kümmern. Die sollen zusehen, dass sie ihn da heraushauen, sofern sie dazu überhaupt in der Lage sind. Der Mann ist eine Katastrophe.«

Tellman stand regungslos da. Die Wut in ihm angesichts dieser neuen Ungerechtigkeit konnte jeden Augenblick explodieren. »Gewiss haben Sie Recht, Sir, aber ich denke dennoch, dass Sie wissen sollten, was er erfahren hat, bevor Sie weitere Schritte unternehmen.« Ohne auf Wetrons Ungeduld zu achten, die sich in einer steilen Falte zwischen den Brauen und rastlosen Bewegungen seiner Finger äußerte, fuhr er fort: »Es sieht ganz so aus, als hätte Mister Wray gewusst, wer der dritte Besucher war, der sich in der Mordnacht im Hause von Maude Lamont aufhielt.« Er holte zitternd Luft. »Es war jemand, den er kannte. Soweit ich weiß, ist es ebenfalls ein Vertreter der anglikanischen Kirche.«

»Was?« Jetzt hatte er Wetrons Aufmerksamkeit geweckt, wenn dieser ihm auch noch nicht glaubte.

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er Wetrons forschendem Blick stand. »Ja, Sir. Offenbar befindet sich unter den Notizen dieser Miss Lamont ein Beweis dafür, den wir erst jetzt zuordnen können, seit wir wissen, wen sie damit gemeint hat.«

»Stehen Sie doch nicht herum und reden in Rätseln, Mann!«, fuhr ihn Wetron an. »Sagen Sie lieber, worum es sich handelt.«

»Das ist es gerade, Sir. Ganz sicher kann Mister Pitt erst sein, wenn er die Papiere in Miss Lamonts Haus noch einmal gesichtet hat.« Rasch sprach er weiter, bevor ihn Wetron erneut unterbrechen konnte. Er zwang sich, seine Stimme erregt klingen zu lassen. »Es wird trotzdem schwer sein, den Beweis zu führen. Aber wenn wir allen Zeitungen die Nachricht zuspielen, dass wir das Material besitzen, wird sich der Mann wahrscheinlich dadurch verraten, dass er das Haus in der Southampton Row aufsucht. Er dürfte der Mörder sein. Natürlich brauchen wir Mister Pitt nicht namentlich zu erwähnen, falls Ihnen das nicht richtig erscheint …«

»Ja, ja, Tellman, Sie brauchen mir das nicht so genau zu erklären!« , sagte Wetron unwirsch. »Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Lassen Sie mich darüber nachdenken.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Ich denke, wir lassen Pitt dabei tatsächlich aus dem Spiel. Gehen Sie in die Southampton Row. Schließlich ist es Ihr Fall.« Er achtete aufmerksam auf Tellmans Reaktion.

Tellman zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, Sir. Ich weiß sowieso nicht, warum der Sicherheitsdienst seine Finger in der Sache hat – außer es hätte mit Sir Charles Voisey zu tun.«

Wetron saß reglos da. »Was könnte das mit Voisey zu tun haben? Sie wollen damit doch wohl nicht andeuten, dass er sich hinter der Kartusche versteckt?«, fragte er mit vor Spott triefender Stimme und herablassendem mitleidigen Lächeln.

»Aber nein, Sir«, gab Tellman rasch zurück. »Wir sind ziemlich sicher, dass Maude Lamont manche ihrer Klienten erpresst hat. Das gilt auf jeden Fall für die drei, die am Abend ihrer Ermordung bei ihr waren.«

»Womit?«, erkundigte sich Wetron.

»Es ging dabei um verschiedene Dinge, aber nicht um Geld. Beispielsweise um ein bestimmtes Verhalten im Wahlkampf, das Sir Charles Voisey zugute kam.«

Wetrons Augen weiteten sich. »Tatsächlich? Das ist eine sonderbare Beschuldigung, Tellman. Ich hoffe, Ihnen ist klar, um wen es sich bei Sir Charles handelt?«

»Selbstverständlich, Sir. Um einen ehemaligen hochrangigen Richter am Appellationsgericht, der jetzt für das Unterhaus kandidiert und den Ihre Majestät kürzlich in den Adelsstand erhoben hat. Allerdings kenne ich den Grund dafür nicht. Es heißt, er habe sich in einer schwierigen Situation besonders tapfer verhalten.« Er sagte das ehrfurchtsvoll und merkte, wie Wetron die Lippen aufeinander presste und sich seine Nackenmuskeln wie Drahtseile spannten. Ob Lady Vespasia mit ihrer Vermutung Recht hatte?

»Und meint Pitt, es gebe Grund anzunehmen, dass sich das so verhält?«, fragte Wetron.

»Ja, Sir.« Tellman achtete sorgfältig darauf, seine Stimme nicht zu sicher klingen zu lassen. »Es gibt ein ziemlich eindeutiges Bindeglied, und alles passt bestens zueinander. Wir sind so nahe dran!« Er hielt Daumen und Zeigefinger im Abstand von zwei Zentimetern hoch. »Wir müssen nur diesen Mann ans Licht bringen, dann können wir es beweisen. Mord ist immer und unter allen Umständen ein übles Verbrechen, vor allem dieser. Die Frau ist erstickt worden, und zwar vermutlich dadurch, dass ihr der Täter ein Knie auf die Brust setzte und ihr das Zeug in den Hals stopfte, bis sie tot war.«

»Schon gut, Sie brauchen es mir nicht in allen Einzelheiten auszumalen, Inspektor«, sagte Wetron schroff. »Ich werde die Presse verständigen. Sehen Sie zu, dass Sie den Beweis finden, den Sie brauchen.« Er beugte sich über die Akte, mit der er sich beschäftigt hatte, bevor ihn Tellman unterbrach. Er konnte gehen.

»Sehr wohl, Sir.« Tellman nahm Haltung an und wandte sich auf dem Absatz um. Erst auf halber Treppe stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und entspannte sich, wobei ihn ein leichter Schauer überlief.