ZWEITES KAPITEL
AS YOU LIKE IT oder
WIE ES EUCH GEFÄLLT
(Shakespeare, 1599)
Die hellgrauen Augen der lieben Zarin Katharina waren von listigen Fältchen umgeben. Vielleicht hatten die Fältchen auch nichts mit List zu tun, sondern kamen von den Wangen, dachte Mithridates. Was für aufgeplusterte Backen, wie zwei Kissen! Die drückten womöglich auf die Augen.
Die gottgleiche »Feliza« – so nannte sie der zeitgenössische Odendichter Dershawin – war in allem so: dick, aufgedunsen, als habe sie sich nur mit Mühe in das Kleid gezwängt. Der Fuß, den sie auf ein geschnitztes Bänkchen gesetzt hatte, quoll über den Saffianschuh wie aufgegangener Teig über den Topfrand, am Kinn schwabbelten Falten, und selbst unter der Nase, wo es von der Physiognomie her eigentlich gar nicht geht, hatte sie eine Falte – vermutlich, weil Ihre Majestät oft ohne wirkliche Fröhlichkeit lächeln musste, wie Mitja nach seiner Gewohnheit von der Wirkung auf die Ursache zurückschloss.
Der Blick der Kaiserin blieb für eine Sekunde an der kleinen Gestalt hängen, und Mithridates presste sofort seine Hand aufs Herz, wie es ihn der Vater gelehrt hatte, und verbeugte sich elegant, wodurch ihm der Puder von den Haaren in die Stirn fiel und ihn kitzelte. Doch leider ließ die Zarin ihren erleuchtenden Blick gleichgültig von unten nach oben wandern, von dem anderthalb Arschin (Altes russisches Längenmaß: 1 Arschin =16 Werschok = 0,7112 m) winzigen Knaben zu dem riesigen Indianer, und interessierte sich nicht im Mindesten für ihn. Das Weib mit dem Schnurrbart besah sie sich etwas länger. Dann zog sie die Lippen zu einem zerstreuten Lächeln in die Breite und blickte wieder in die Karten.
»Hatten wir die Karodame schon?«, fragte ein zittriges Stimmchen, das die russischen Worte mit deutschem Akzent aussprach. Zögernd nahm Katharina mit ihrer fetten Hand aus der Vertiefung im Tisch eine weiße Spielmarke und hielt sie hoch.
Na, wie gefällt euch das? Da kann die sich noch nicht einmal merken, welche Karten bereits abgelegt wurden, und will die Gebieterin über das Russische Reich sein! Und das, wo es sich nur um Boston handelt, ein einfaches und stupides Spiel, in dem es nur sechsunddreißig Blatt gibt!
Mitja war endgültig enttäuscht von der Kaiserin. Auf den Porträts stellte man sie als Minerva und Pallas Athene dar, dabei war sie in Wirklichkeit eine alte Oma. Wie die Assessorin Luisa Karlowna, die donnerstags zu seiner Mutter zum Kaffee kam. Sogar ihre Haube sah genauso aus! Und was hatte Ihre Majestät da unter dem Ohr (die Kaiserin wandte sich gerade ihrer Partnerin zur Linken zu)? Um Gottes willen, eine Warze, id est ein Hautknoten auf dem Epithelium, und dieser Warze entsprießen auch noch graue Härchen. Igittigitt!
Er schielte mitleidig zu seinem Vater, der, wie vorgeschrieben, rechts hinter ihm stand. Der musste ja nun völlig niedergeschlagen, vernichtet sein. Wie hatte er doch die himmlische Schönheit und Majestät der neuen Semiramis gepriesen! Manchmal waren ihm dabei sogar die Tränen gekommen. Und nun das!
Aber der Vater bemerkte weder die Schweinchenbacken noch die abscheuliche Falte unter der Nase noch die behaarte Warze. Seine schönen, etwas hervortretenden Augen strahlten vor heller Begeisterung. Alexej Woinowitsch tippte seinem Sohn vorsichtig mit einem Finger an die Schulter und bedeutete ihm damit, er solle nicht herumzappeln, sondern stillstehen. Und Mithridates stand still, betrachtete aber nicht mehr die fette Alte, sondern die anderen Spieler, deren Anblick weitaus angenehmer war.
Als Katharina sich endlich entschieden hatte und unsicher eine Karte auf das blaue Tuch warf, klapperte die junge Dame, die links von ihr saß, mit ihren flaumigen Augenwimpern, biss sich auf die Unterlippe und sah sich unsicher nach ihrem Nachbarn um, einem prächtigen Jüngling in blauer Uniform. Diese zwei hier hatte Mitja sofort erkannt, weil sie im Unterschied zu der Zarin auf den Porträts realistisch dargestellt waren. Der Jüngling war Seine Hoheit, der Enkel der Kaiserin, die anmutige Person seine Gattin, eine gebürtige Markgräfin von Baden-Durlach. (Wie er es gewohnt war, prüfte Mitja sein Gedächtnis: Das Markgrafentum hatte 712000 Einwohner beiderlei Geschlechts, von denen zwei Drittel lutherischer Konfession waren. Größe: 3 127 Quadratmeilen. Eisenerzgewinnung und Anbau von Weinen, deren berühmteste der »Markgräfler« und der »Klingelberger« sind.) Ihre Hoheit drehte die Karten ein wenig, damit ihr Gatte sie einsehen könne, der Großfürst flüsterte ihr etwas in ihr rosiges Öhrchen, woraufhin sie leise raunte:
»Je passe.«
Der erhabenste Enkel passte ebenfalls, offenbar hatte auch er die Karte nicht. Der vierte Spieler dagegen, der ungewöhnliche Beau mit dem blau schimmernden Band, einem Brillantkringel auf der Schulter und wunderbaren Schnallen aus funkelnden Steinen an den Schuhen (wie anzunehmen ist, nicht aus buntem Glas wie bei Mithridates, sondern echte Rubine und Smaragde), knallte leger seine Karte auf die der Kaiserin.
»Da ist sie, die Dame. Das habt Ihr vergessen, meine Liebe«, sagte der Sieger lachend und sammelte alle Spielmarken ein.
Mitja ahnte bereits, dass dies der wichtigste Mann an der Seite Ihrer Majestät war: der Favorit höchstpersönlich, der durchlauchtigste Fürst Platon Alexandrowitsch Surow; ein anderer konnte es nicht sein. Vater hatte viel von dem Fürsten erzählt. Und hatte sich dabei jedes Mal auf die Lippen gebissen und mit den Nasenflügeln gezuckt – er zürnte dem Schicksal, dass es ihn hatte leer ausgehen lassen. Einer hatte alles bekommen, war General-Feldzeugmeister, Oberkommandeur der Flotte und General der Infanterie geworden und hatte auch noch rund fünfzigtausend Bauern geschenkt gekriegt, während der andere, keineswegs weniger würdige, mit einem Leben ohne Lichtblick, einem untröstlichen Herzen und bitterem Bedauern zurückblieb. Dabei hätte alles auch ganz anders kommen können, sagte Vater; seine Augen sprühten jedes Mal Funken, die gezupften Brauen wölbten sich, seine Stimme kam ins Zittern und überschlug sich.
Mitja hatte diese Geschichte oftmals gehört und kannte alle Einzelheiten in- und auswendig. Wie sein Vater in jungen Jahren bei demselben Kavallerie-Garderegiment gedient hatte, aus welchem Platon Alexandrowitsch dann später aufgestiegen war, und dass er sich ebenfalls hatte hervortun können – die Zarin hatte schon ein Auge auf den bildschönen Mann geworfen. Und nicht nur das! Eines Tages (o unvergesslicher Tag) hatte sie sich erlaubt, ihn mit dem Finger zu sich zu winken, hatte ihn am Kinn gepackt und Vaters Kopf so gedreht, dass sie das Profil zu sehen bekam, und das Profil des Seconderittmeisters Alexej Karpow war nun wirklich von reinem Bronze-Marmor, woraufhin der Kandidat zur Untersuchung beim Leibarzt geschickt wurde und selbst die »Prüfung« bei Anna Stepanowna Protassowa würdig hinter sich brachte, worauf er später besonders stolz war. Worin die Prüfung bestand, war Mitja schleierhaft, aber an dieser Stelle der väterlichen Erzählung packte ihn immer die Angst. Nach Vaters Worten war das berühmte Kammerfräulein Anna Stepanowna schrecklicher als ein afrikanisches Einhorn, und Einhörner hatte Mithridates auf einem Bild in der Enzyklopädie gesehen – sie waren furchtbar. Das habe die Kaiserin mit Absicht so eingerichtet, erklärte Alexej Woinowitsch, als Vorkehrung, damit sie nicht als Weib beleidigt würde: Wenn der Kandidat selbst vor der Protassowa nicht erschrak und sich bewährte, dann würde er Ihre Majestät die Zarin nicht enttäuschen.
Aber Vaters Heroismus war vergebens. Ausgerechnet in diesem Moment kehrte der fürchterliche Zyklop in die Hauptstadt zurück und vertrieb den kühnen Offizier nicht nur aus Petersburg, sondern warf ihn auch aus der Garde, und das mit einer solchen Brutalität, dass Vater damals eine Nervenkrankheit bekam, die er später nur unter größten Schwierigkeiten mit Blutegeln und Fliegenpilzen zu kurieren vermochte. Als Mitja noch unverständig war, träumte er nachts oft von dem Zyklopen, einem hinterlistigen Scheusal mit einem einzigen feuerroten Auge, der das Geschlecht der Karpows ausrotten wollte. Erst später, als er Vernunft angenommen hatte und nicht mehr Mitja, sondern Mithridates hieß, erfuhr er, dass es nicht ein griechischer Höhlenriese war, der seinen Vater beleidigt hatte, sondern der Fürst Potjomkin. Vor drei Jahren war der allmächtige Günstling gestorben, und der entlassene Seconderittmeister machte sich schnell in die Hauptstadt auf, doch er konnte sich dort nicht halten und kehrte tränenüberströmt zurück. Der neue Favorit, besagter Surow, saß, wie sich herausstellte, schon fest im Sattel, war blendend schön und zehn Jahre jünger als Vater.
Von blendender Schönheit hatte Mitja mehrfach in Romanen gelesen und dabei gedacht, das sei metaphorisch gemeint. Nun musste er feststellen, dass es die reine Wahrheit war. Fürst Surow blendete wirklich: Im Gesicht und an den Händen funkelte seine Haut wie goldene Sterne – die Augen taten richtig weh davon. Bis zum heutigen Tag war sich Mitja sicher gewesen, dass sein Vater Alexej Woinowitsch Karpow der schönste Mensch auf Erden war, doch nun kamen ihm auf einmal Zweifel. Und gleich schämte er sich wieder dafür: Würde man Vaters silbrig weiße Weste mit so vielen Brillanten besticken und sein Gesicht und die Hände mit Goldpuder einreiben, dann wäre noch die Frage, wer schöner wäre.
»Noch eine Partie?«, fragte Mütterchen Katharina die Zarin nicht den Großfürsten oder die Großfürstin, sondern Surow.
Der Favorit streckte sich, gähnte gelangweilt, ohne die Hand vor den Mund zu halten, und ließ seine blitzenden geraden, mit Perlmutt gefärbten Zähne sehen.
»Ich bin’s leid.«
Und ohne die Reaktion der Kaiserin abzuwarten, erhob sich Seine Hoheit sofort. Ein älterer Diener kam angetrippelt und fegte die Karten und das Spielgeld mit einer schnellen Handbewegung geschickt auf ein silbernes Tablett.
Die Kaiserin zupfte dem Fürsten zärtlich seine Spitzenmanschette zurecht.
»Beliebt Ihr, Schach spielen zu wollen, mein Freund?«
Wieder stupste ihn der Vater von hinten mit dem Finger, um ihm einzuschärfen, dass es gleich losginge und er aufpassen solle.
Ein anderer Diener brachte schon das wunderbare Schachbrett aus Elfenbein und Ebenholz; ein dritter stellte rasch die Figuren auf, die weißen für Ihre Majestät, die schwarzen für Seine Hoheit.
Die Höflinge näherten sich und stellten sich respektvoll in einem Halbkreis um den Tisch auf; bei dem Kartenspiel vorhin hatten sie es nicht gewagt, näher zu treten. Vater nutzte die Umgruppierung als Deckung und nahm Mitja auf den Arm, damit er ungehindert über die gepuderten Nacken und die Damenfrisuren gucken und die Schlacht beobachten könne.
Jetzt, da der Enkel und seine Gattin aufgestanden waren, saß außer den beiden Spielern nur noch ein erstaunlich hässlicher Mann am Tisch. Mitja hatte ihn schon vorher betrachtet und versucht herauszufinden, wer er war, warum er sich von allen absonderte und wieso sein Gesicht zuckte. Er war wirklich potthässlich: er hatte eine platte Nase, seine Stirn war von Beulen verunstaltet, und er hatte eine Glatze – wie ein Totenkopf sah er aus. Auf der Weste des unschönen Mannes funkelte ein Stern, aber zu welchem Orden der gehörte, wusste Mithridates nicht, denn er interessierte sich nicht für äußerliche soziale Auszeichnungen – das waren Dummheiten, welche die Aufmerksamkeit eines vernunftbegabten Individuums nicht wert waren. Trotz des Ordens sah es nicht so aus, als sei der Mann mit der platten Nase eine einflussreiche Person. Er saß mutterseelenallein da, keiner beachtete ihn, und alle, die in seiner Nähe standen, hatten sich von ihm abgewandt. Er ist wohl ein Krüppel und kann nicht stehen, schloss Mitja voll Mitleid, zumal er nun auch noch sah, dass dieses Scheusal einen Stock in der Hand hatte. Na gut, überlassen wir diesen Invaliden Gott.
Hinter die Kaiserin stellte sich ein schwarz gekleideter alter Mann. Sogar seine Perücke war schwarz und glich so denen, die man unter Peter dem Großen getragen hatte. Der Alte war der einzige Mann, der eine lockige Perücke hatte, die anderen benutzten keine fremden Haare, sondern puderten ihre eigenen, wie es der neuen Mode entsprach. Er sieht aus wie ein Rabe unter Papageien, dachte Mitja von dem schwarzen Mann, der sich zwischen den rauschenden Gewändern, goldbestickten Westen und farbenprächtigen Fräcken seltsam ausnahm. Nur sein Gesicht hatte nichts von einem Raben, sondern glich eher dem eines Hundes, genauer, eines englischen Mopses: die Lefzen hingen schlaff zu den Seiten herab, die untere Lippe war über die obere gestülpt, die Nase war verschwindend klein, aber die Augen huschten wie kleine Knöpfe blitzschnell hin und her.
Bevor die Zarin den ersten Zug machte, beugte sich der Mops zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
»Das weiß ich selber, dazu brauch ich Euch nicht, mein Herr«, antwortete sie stirnrunzelnd und rückte den Bauern von e2 nach e4. »Prochor Iwanowitsch, Ihr solltet Euch etwas weniger rohe Zwiebeln zu Gemüte führen.«
Der Alte lächelte verlegen und sagte:
»Ihr wisst doch, Mütterchen, der Volksmund sagt: ›Gegen der Wehwehchen sieben / helfen sicher nur die Zwiebeln.‹«
Eine Reaktion auf den lustigen Spruch blieb aus, der Mops ließ von ihr ab, entfernte sich aber nicht. Auch mit diesem hatte Mitja Mitleid. Ein ehrenwerter Mann, der besser zu Hause bei seinen Enkeln säße, als den Hals zu recken und sich auf die Zehenspitzen zu stellen.
Der Favorit dachte lange nach und zog das rechte Pferd. Aha, er will die Karlsbader Eröffnungspartie ausprobieren. Wie interessant! Aber nachdem die Kaiserin einen weißen Läufer vorgerückt hatte, knallte Seine Durchlaucht einen Bauern auf h5, und es wurde klar: Das hatte nichts mit der Karlsbader Eröffnung zu tun, sondern Surow ging ohne Sinn und Verstand, wie es gerade kam. Was war denn das für ein Spiel? Mitja hatte keine Lust, weiter zuzusehen.
In der Ecke hörte man ein Krachen. Ein paar Höflinge drehten sich um, doch als sie sahen, dass der Stock des Krüppels mit der platten Nase hingefallen war, verloren sie sofort das Interesse an diesem kleinen Zwischenfall. Der Arme konnte seine Krücke (die übrigens wunderschön war: Mahagoni mit einem Goldknauf) nicht alleine aufheben und rührte sich nicht, nur seine dünne Lippe zuckte.
Mitja wollte hinlaufen und ihm den Stock reichen, aber Vater hielt ihn am Rockschoß fest und zischte: »Das ist doch der Thronfolger!«
Ach so, der war das also. Seine Kaiserliche Majestät, der Sohn der Kaiserin höchstpersönlich. Er hatte aber auch keinerlei Ähnlichkeit mit den Porträts, die es von ihm gab – zwar führten diese nicht gerade eine Schönheit vor, aber er wirkte auf ihnen wenigstens erhaben und wichtig. Ob er früher so ausgesehen hatte, als er noch nicht gelähmt war? Aber warum half ihm denn keiner? Oder galt das als Verstoß gegen das Zeremoniell?
Nein, der schwarz gekleidete Mops löste sich lautlos von dem illustren Tisch, eilte zu dem Thronfolger, bückte sich, reichte ihm den heruntergefallenen Stock und verneigte sich ehrerbietig.
Der reglos Dasitzende blickte, wie es schien, verwundert den Helfer an, dankte ihm aber nicht und nickte ihm noch nicht einmal zu – im Gegenteil, er reckte den Kopf in die Höhe. Der herrliche Alte hielt sich nicht länger bei dem Invaliden auf, sondern kehrte sofort an seinen alten Platz zurück – und kam gerade recht. Die Kaiserin drehte sich um und fragte:
»Prochor Iwanowitsch, soll ich dem Fürsten den Turm wegnehmen oder nicht?«
»Na klar, müsst Ihr ihn wegnehmen, Eure Majestät.«
Aber was sollte das denn überhaupt für einen Sinn haben? Surow war doch längst schachmatt.
»Ist der Sohn der Zarin körperlich geschwächt?«, fragte Mithridates flüsternd seinen Vater.
»Nein, das macht er aus Wichtigtuerei. Pass auf das Spiel auf.«
Das fehlte gerade noch.
Mitja drehte den Kopf nach rechts und nach links, um die Kleine Eremitage in Augenschein zu nehmen.
An der Wand hing ein Riesenbild: Leda, in Gestalt eines Schwans in leidenschaftlicher Pose mit Jupiter vereint. Ein anderes Bild, etwas kleiner: eine Jungfrau oder vielleicht auch eine Dame in antiker Chlamys und mit Goldkrone, dahinter ein wunderbarer Palast orientalischen Aussehens mit einem prächtigen Dachgarten. Aha, das war wohl eine Darstellung der babylonischen Königin Semiramis (oder richtiger: Sammu-Ramat, wie sie bei dem großen Herodot heißt) mit ihren Hängenden Gärten. Alles klar.
Sehr viel bemerkenswerter war ein am Fenster angebrachter Apparat: er war rund und aus Bronze. Das ist ja toll, registrierte Mithiridates, er zeigt die Temperatur an und den Luftdruck. Schade, dass man nicht näher herangehen und ihn untersuchen kann.
Aber darüber hinaus gab es nichts sonderlich Interessantes in dem Saal. Gut, da war ein Kronleuchter aus Kristallglas, der in allen Regenbogenfarben schillerte. Gut, da waren Büsten aus Marmor. Gut, da war ein Intarsien-Parkett. Aber von den Gemächern, in denen sich die Vertrauten der größten Monarchin der Welt versammeln, hätte man doch etwas Ausgefalleneres erwarten können.
»Schachmatt, Platon Alexandrowitsch«, erklärte Katharina, und die Zuschauer klatschten leise und dezent. »Sei nicht betrübt, mein Herz, ich tröste dich nachher dafür.«
Sie beugte sich zu ihm und flüsterte dem dicht an sie herangerückten Surow etwas zu, was allem Anschein nach lustig war – jedenfalls kicherte sie selbst fein und wackelte mit ihren Kinnfalten. Die Höflinge wandten sich sofort ab, ja manche taten sogar so, als musterten sie den Kronleuchter und den Stuck an der Decke.
Der Favorit lächelte ebenfalls, wenn auch etwas angestrengt. Er sagte:
»Ich danke, Eure Majestät.«
Ach, was gab es bei den beiden schon zu sehen!
Am meisten interessierten Mitja die wunderlichen Gestalten, die neben ihm standen: der amerikanische Wilde und das Weib mit dem verwegenen, nach oben gezwirbelten Schnurrbart. Er ging zwei Schritte nach hinten, um ihr nicht ins Gesicht zu starren, und reckte den Hals nach rechts, wo die wunderbare Schnurrbärtige von einem Bein auf das andere trat.
Ja, das war wirklich ein echtes Wunder! Da behaupten doch die anatomische und die physiologische Wissenschaft, während Personen weiblichen Geschlechtes eine erhöhte Behaarung in der Scheitel- und Nackenpartie des Craniums aufweisen, seien sie von Natur aus nicht zur Behaarung des Gesichts disponiert! Ob er einmal an ihrem Schnurrbart ziehen sollte – womöglich war er ja nur angeklebt?
Offenbar hatte die Kaiserin dieselbe Idee.
Wieder, schon zum zweiten Mal, betrachtete sie die Gruppe: Mithridates mit dessen Vater, den Indianer, das Mannweib und (vorneweg in der Pose eines Regimentskommandeurs bei der Parade) den Oberstallmeister Lew Alexandrowitsch Kukuschkin, den Wohltäter von Mitja und dessen Vater.
»Wen habt Ihr denn da angeschleppt, Lew Alexandrowitsch? Und darüber sollen wir uns nun vor Lachen ausschütten?«, fragte die Kaiserin. »Ist ihr Schnurrbart denn überhaupt echt?«
In den über und über mit Federn und bunten Glaskugeln behängten Indianer (wenn man den doch mal berühren könnte!) kam Bewegung. Er versteht unsere Sprache ja nicht, erriet Mitja. Da denkt er womöglich, es ginge um ihn.
»Waschecht, Eure Kaiserliche Majestät! Da könnt Ihr Euch drauf verlassen, ich hab an der Behaarung des Mädchens Jefimija gezupft, dass ich mir die ganzen Finger zerstochen habe. Der ist nicht abzukriegen!«, brüllte Kukuschkin munter und fröhlich. Lew Alexandrowitsch musste fröhlich auftreten, das war seine Aufgabe: sich alle möglichen Späße und Kunststücke zur Aufmunterung Ihrer Majestät auszudenken.
Er schnippte mit den Fingern, um der Schnurrbärtigen zu bedeuten, sie möge näher kommen. Und ging dann rund und leicht, wie er war, selbst auf sie zu.
»Meine Liebe, seid Ihr wirklich ein Weib?«, fragte Ihre Majestät lächelnd und musterte das Naturwunder.
Kukuschkin legte die Hand auf die Brust und sagte:
»Ich habe es eigenhändig überprüft, Eure Majestät. Die gesamte weibliche Komplettierung ist an Ort und Stelle.«
Die Höflinge grölten bereitwillig – man merkte, sie hatten von Lew Alexandrowitsch etwas Komisches erwartet.
Auch die Kaiserin lachte und sagte:
»Wirklich?«
Lew Alexandrowitsch hob zwei Finger und sagte:
»Jefimija, los.«
Das Weib fragte laut flüsternd:
»Soll ich mich jetzt schon entblößen?«
Sie ging in die Hocke und hob einen Rockzipfel. Das Gegröle nahm zu.
Katharina konnte nicht mehr vor Lachen und winkte ab.
»Lass gut sein, du alter Verführer. Zieh mit deinem Monstrum ab. Und schenk ihr hundert Rubel. Da hast du mich aber ganz schön zum Lachen gebracht. . .«
Der Oberstallmeister machte eine Verbeugung, schnipste mit seiner im Rücken gehaltenen Hand (das konnte Mitja ja von hinten gut sehen) – und sofort eilten zwei Diener herbei und zogen die schnurrbärtige Jefimija fort.
Jetzt waren die Karpows an der Reihe. Die russische Juno, die noch ein Lächeln auf den Lippen hatte, ließ den Blick von Mitja zu dessen Vater gleiten. Der schluckte krampfhaft, und auch Mitja wollte das Herz fast aus der Brust springen.
»Welcher von den beiden?«, fragte Katharina. »Der Große oder der Kleine? Was ist mit denen?«
Vater trat vor, machte eine formvollendete Verbeugung und sagte sanft und ohne Stocken mit seiner schönsten Stimme:
»Eurer Kaiserlichen Majestät ergebenster Diener: Kavallerie-Garde-Seconderittmeister a. D. Alexej Karpow.«
Und er schwieg einen Augenblick. Er will herausfinden, ob sich die Kaiserin an ihn erinnert, erriet Mitja.
Nein, es sah nicht so aus. Eigentlich seltsam, er war so attraktiv und sympathisch, und trotzdem erinnerte sie sich nicht an ihn? Andererseits, sie ist ja schon alt, schon fünfundsechzig. In hohem Alter verlangsamt die Hirntinktur ihre Zirkulation und bildet Knoten und Verwachsungen, die das Funktionieren des Gedächtnisses beeinträchtigen.
»Das ist mein Sohn Mithridates«, fuhr Vater fort und deutete auf Mitja, der sich so tief, wie er es gelernt hatte, verbeugte. »Durch Zuhilfenahme tagtäglicher stundenlanger Exerzitien habe ich in diesem Wunderknaben eine unerhörte Geistesschärfe und Gelehrtheit ausgebildet. Mithridates multipliziert und dividiert jede beliebige Zahl mit unglaublicher Schnelligkeit. Genauso leicht potenziert er Zahlen, zieht Wurzeln und vollführt andere noch schwierigere mathematische Operationen. Und außerdem«, und hier wurde Vaters Stimme ganz samtig, »beherrscht er hervorragend die Geheimnisse des edlen Zeitvertreibs der orientalischen Könige und Weisen.« Er deutete souverän Richtung Schachbrett. »In diesem Spiel gibt es niemand, der sich mit ihm messen kann, noch nicht einmal unter den anerkannten Meistern. Und dabei ist der Junge erst fünf Jahre alt. . .«
Nachdem er seine vorbereitete Rede zu Ende gebracht hatte, verbeugte sich Alexej Woinowitsch wieder und erstarrte ehrfürchtig. Mitja seufzte. Von wegen fünf Jahre, da hatte Vater sich hinreißen lassen. In anderthalb Monaten wurde er sieben.
»So klein, und er soll schon Schach spielen können?«
Da, sie hatte angebissen! Die Kaiserin drehte sich mit ihrem ganzen schweren Körper um, so dass ihr auf der Bank ruhender Fuß auf den Boden rutschte.
»Aua!«
Katharina runzelte vor Schmerzen die Stirn und schrie auf.
Aus einer fernen Ecke kam ein dunkler Mann in einer mit Posamenten bestickten Marineuniform angestürzt und schob die Damen und Kavaliere beiseite, als zerteile eine Fregatte die Wellen.
»Ach, lieb Mütterchen, der Füßchen schmerzt?«, fragte er in seinem komischen Russisch. »Ich komme schon, ich, dein treuer Kosopoulos, ich bringe den Wunderwasser!«
Er zog ein Fläschchen mit einer giftig violetten Flüssigkeit aus der Riesentasche, warf sich auf die Knie, zog ihr vorsichtig den Schuh aus und massierte den angeschwollenen Fuß mit seinen geschickten fetten Fingern: rieb, wischte, drückte und brummelte sich dabei etwas in einer unverständlichen Sprache in den Bart.
»Dieser griechische Störenfried«, murmelte der Oberstallmeister verärgert. »Jetzt hat er alles verdorben!«
Vater richtete sich auf und fragte, verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlagend:
»Was ist denn das für ein Stümper?«
»Der Konteradmiral Kosopoulos, ein Pirat. Unser neuester Wundertäter, derzeit zuständig für den kranken Fuß der Kaiserin. Siehst du, er hat irgendein besonderes Mittelchen. Warum haben die Türken dieses Borstenschwein denn nicht gepfählt!«
Die Wangen des Admirals waren wirklich lila von den Borsten, die ihm tagsüber gewachsen waren, und auch die Ähnlichkeit mit einem Piraten war frappierend. Mitja stellte sich den Griechen ohne Militärweste und gepuderte Haare, sondern mit einem schwarzen Tuch auf dem Kopf und in einem roten, die behaarte Brust zur Schau stellenden Hemd vor, mit einem Krummsäbel am Gürtel – das wäre ein göttliches Bild! Warum hatte er denn nicht Seefahrer bleiben können?
»Na, da ist auch schon der Engländer, der Leibarzt Cruise«, sagte Kukuschkin spöttisch. »Jetzt wird es zur Schlacht bei Lepanto kommen.«
Die Schar der Höflinge geriet wieder in Bewegung – ein strenger Herr mit Goldbrille bahnte sich einen Weg zum Tisch. Er schrie schon von weitem, mit einer Aussprache, die ebenfalls komisch war:
»Hört sofort auf! Majestät, Ihr ruiniert Eure noble Gesundheit, wenn Ihr diesem Scharlatan vertraut! Ich habe sein so-called Elixier analysiert! Rossurin, gemixt mit billigstem Matrosenfusel!«
Er packte den Griechen an der Schulter, um ihn wegzuziehen.
»Na klar, Pferdepisse.« Der Admiral stieß ihn mit dem Ellenbogen, so dass der Leibarzt zur Seite flog. »Na und? Meine Großmutter hat noch etwas Schafskacke dazugetan, ich habe das perfektioniert, ich reibe dazu Affensch . . .« Und der Seemann gebrauchte ein Wort, das nach Mitjas Meinung im Zarenpalast auf gar keinen Fall hätte erklingen dürfen.
»Ich verstehe Eure medizinischen Termini nicht«, sagte Katharina lachend. »Jakow Fjodorowitsch, seid nicht böse auf meinen Kostja. Er hat zwar nicht studiert, ist aber weit herumgekommen, hat allerhand gesehen, und seine Hände sind weich. Adelaida Iwanowna, was wollt Ihr denn mit Eurem Schnäuzchen? Ach, lecken will sie, mein Goldschatz!«
Mitja zuckte zusammen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Die letzten Worte hatten Gott sei Dank nicht einer der Hofdamen gegolten, sondern waren an die perlmuttgraue Windhündin gerichtet, die eifrig die Knöchel der Zarin leckte. So war das hier also: den Hund redete man mit Vor- und Vatersnamen an, den Admiral nannte man dagegen schlicht Kostja.
»Sie haben den Indianer und uns vergessen«, flüsterte Mitja seinem Vater zu. »Dann ist das Projekt also gescheitert?«
Von Vater war nur ein Schluchzen zu hören. Und der Indianer zwinkerte auch nicht besonders glücklich mit seinen Olivenäugelchen. Auch er, der wilde Bewohner der Urwälder, hatte vermutlich irgendwelche besonderen Hoffnungen in diesen Tag gesetzt.
»Zu welchen Indianern gehört Ihr, gnädiger Herr?«, fragte Mitja leise, erst auf Englisch, dann auf Französisch. »Ich kenne die Irokesen, die Tscherokesen und die Algonkins.«
Obwohl er die Frage doch höflich und respektvoll gestellt hatte, war der Wilde sichtlich erschrocken. Er rückte mit einem Satz von Mitja ab und murmelte:
»Big little man.«
Und bekreuzigte sich auch noch. Von wegen ein Wilder.
Vater tat ihm schrecklich Leid. Sie hatten doch so lange auf diesen Tag gewartet! Wie viel Geld sie allein ausgegeben hatten: für die Reise, für die Kleidung, für Futter, für ein Geschenk an Lew Alexandrowitsch Kukuschkin, damit er ihnen eine Einladung für den Donnerstagsempfang in der Kleinen Eremitage besorgte (er war zwar ein alter Bekannter, aber man muss sich doch trotzdem erkenntlich zeigen)!
Wie viel Geld sie ausgegeben hatten, war gar nicht so schwer nachzurechnen, denn Vater hatte es dem Sohn anvertraut, auf die Rechnung zu achten, weil er selber mit der Arithmetik Probleme hatte. Achtundzwanzig Rubel dreiunddreißig ein Viertel Kopeken für die Pferde, acht Rubel dreizehneinhalb Kopeken für das Essen, fünfhundertdreißig Rubel für die Kleidung, hundertfünfzig Rubel für Lew Alexandrowitschs Bronzenajade und vier Rubel elf Kopeken sonstige Ausgaben, also insgesamt (eine kinderleichte Rechnung, so dass Mitja noch nicht einmal die Stirn runzelte) 720 Rubel 57 3/4 Kopeken. Ganz schön viel!
Und als ob es nur um das Geld ginge!
Vater hatte sein ganzes Herz in dieses Projekt gesteckt, wie oft hatte er Mutter in allen Einzelheiten ausgemalt, wie sich alles ändern würde, wenn Mütterchen Kaiserin an Mithridates Gefallen fände, sich seiner annähme und sich plötzlich auch an ihre frühere Sympathie erinnerte und einen gewissen Seconderittmeister a. D. mit ihrem sonnigen Blick beglückte. Was war die Sonne schon im Vergleich zu diesem Blick?! Sie kann nur einen Halm aus dem Samen sprießen lassen, nicht mehr, während Katharinas wunderbarer Blick den kleinsten Halm in einen stolzen Affenbrotbaum verwandeln kann. Mutter hatte diesen Phantasien nur so zugehört und war vor Glück ganz rosig geworden.
Vater hatte Mitja mehr als drei Jahre auf diesen Tag vorbereitet. Man kann sagen, von dem Augenblick an, da er entdeckte, dass sein Sohn anders als andere Kinder war, lebte er nur noch für sein Projekt.
Bis zu jenem Tag hatte man den Jüngsten mitleidig belächelt und für einen Idioten gehalten. Er war ja schon über drei und sprach noch kein einziges Wort. Er schmatzte mit den Lippen, gab ein Zischen von sich, aber etwas Verständliches bekam man nicht von ihm zu hören. Sie ermahnten ihn und versuchten es mit Schreien – doch er sagte kein Sterbenswort; dabei war er doch gar nicht taub, sondern hörte alles. Schließlich gaben sie es auf, dachten, er werde wohl nicht lange leben, der Herrgott werde ihn wohl früh zu sich nehmen, und bis dahin solle er doch aufwachsen, wie er wollte.
Wenn sie Mitja in Ruhe ließen, dann hatte er ein höchst interessantes Leben. Am liebsten saß er im Klassenzimmer, wo Monsieur de Chaumont und der Seminarist Vikenti abwechselnd seinen Bruder unterrichteten. Wenn man den Kleinen verjagte, stimmte er ein Geheul an und litt danach lange unter einem Schluckauf, deshalb jagten sie ihn nicht mehr fort – sollte er doch dableiben. Es stellte sich heraus, dass der Kleine lange still hielt, wenn man ihm einen Band aus der französischen »Grande Encyclopédie« in die Hand drückte (Alexej Woinowitsch hatte sie einst aus der Hauptstadt mitgebracht, man hatte sie ihm zur Begleichung einer Kartenschuld gegeben). Die Erwachsenen belächelten den kleinen Idioten: Sie waren gerührt; er starrte auf die großen Seiten, als könne er lesen. Wenn man ihnen gesagt hätte, dass Mitja schon mit drei Jahren in der französischen Enzyklopädie wirklich einen Artikel nach dem anderen verschlang, hätten sie das nie im Leben geglaubt.
Aber hier muss man schön der Reihe nach erzählen – angefangen bei dem Punkt, da der Adelige Dmitri Alexejewitsch Karpow im Kreis Swenigorod das Licht der Welt erblickte. Dieser Spross einer alten Adelsfamilie (mit einem Pferdehuf und einem Hundekopf auf einem Stock im Wappen) kam nicht wie die üblichen Schreihälse auf die Welt, sondern erblickte unter völligem Schweigen und mit weit geöffneten Augen, die er zur Verwunderung des Arztes und der Hebamme sofort drehte und wand, das Licht der Welt. Dass das Neugeborene schwieg, war gar nicht so erstaunlich, denn das Stöhnen der Wöchnerin, die, von der stundenlangen erfolglosen Anstrengung erschöpft, gezwungen gewesen war, sich der grausamen Operation eines Kaiserschnitts zu unterziehen, war recht durchdringend. Angesichts des schrecklichen Lärms, den die Unglückliche machte, hatte der neue Erdenbürger kaum hoffen können, gehört zu werden. Die offenen, klaren Äugelchen, die vom ersten Augenblick an vor unersättlicher Neugier brannten, waren dagegen wirklich ein außergewöhnliches Phänomen.
Eine andere auffällige Besonderheit zeigte sich etwas später, als der Säugling Haare auf dem Kopf bekam: Sie waren überall kastanienbraun, nur auf dem Scheitel war ein grauer Fleck, aus dem mit der Zeit eine silberne Locke wuchs. Die Bedeutung dieser symbolischen Auszeichnung offenbarte sich erst viel später; anfangs dachte sich keiner etwas dabei. Was es nicht alles so gibt: der eine hat ein Muttermal, der andere Sommersprossen und der Dritte einen weißen Fleck am Kopf.
Der Vater hatte sich für das zweite Kind, wenn es ein Junge werden würde, den schönen Namen Apollon ausgesucht, sah sich aber gezwungen, auf den edlen Klang zugunsten des gewöhnlichen Dmitri zu verzichten. Das war der Name des Schwiegervaters, dessen finanzielle Hilfe der Kavallerie-Garderittmeister a. D. damals dringendst benötigte, um eine Kartenschuld zu begleichen.
Der winzige Dmitri Alexejewitsch wurde in eine kleine Wiege gelegt, der ein Meister am Stammsitz in Trost, dem früheren Sopatowka, die Form eines Schiffes gegeben hatte, und in diesem Kahn machte er sich auf die Fahrt durch das anfänglich stille und seichte Meer des Lebens.
Im Schlafzimmer war an der Decke dargestellt, wie die Planeten sich um die Sonne drehen. Dieses Bild hatte Mitja sage und schreibe das ganze erste Jahr seines Erdendaseins vor Augen. Gegenüber von jedem Himmelskörper war mit kyrillischen und lateinischen Buchstaben sein Name angegeben, so dass der Gegenstand und seine Schreibweise für Mitja sehr viel früher zusammenfielen als die mündliche Bezeichnung und der Gegenstand. Zuerst war СОЛНЦЕ O Sol; dann, als sie Mitja zum ersten Mal in den Garten trugen und auf den heißen gelben Kreis zeigten, tauchte »Sonne« auf, und er verband Ersteres und Zweiteres schon aus eigener Kraft, was der erregendste und geheimnisvollste Augenblick seines Lebens war.
Er wollte schrecklich gern möglichst schnell gehen lernen, aber diese Unmenschen hielten ihn fast ein ganzes Jahr in Windeln gebunden. Als sie ihn dann endlich herumkriechen ließen, konnte Mitja sich bereits am ersten Abend an der Wand festhalten und einen Schritt tun; und am nächsten Tag watschelte er wacker durch das ganze Haus und machte eine neue Entdeckung nach der anderen.
Dass er, bis er drei Jahre alt war, mit niemand sprach, lag daran, dass er keine Zeit hatte. Was hätte er denn auch Interessantes von seiner Umgebung hören können? Von der Amme Malascha »Baju-Baj, Baju-Baj, bald schon holt dich der Mamaj«. Von seiner Mutter, wenn sie ihn morgens zu ihr ins Schlafzimmer brachten und ihr vorzeigten: »Ach, mein Mitjaleinchen, du mein Zuckerschweinchen.« Von seinem Bruder Endimion, der ins Kinderzimmer gelaufen kam, um seine Schleuder oder einen Lappen mit von Vater geklautem Tabak an einem sicheren Ort unter der Wiege zu verstecken: »Na, du Scheißer, machst du immer noch in die Hose?« (Dabei stimmte das gar nicht! Mitja hatte seiner Amme schon mit sechs Monaten beigebracht: Wenn er mit der Zunge schnalzt, ist das der Ruf der Natur. Dass sie nicht früher kapiert hatte, was das Schnalzen bedeutete, lag nicht an ihm; sie war eben etwas schwer von Kapee.)
Mitjas Hauptabenteuer jener stummen Zeit bestand darin, sich still und heimlich in Vaters Arbeitszimmer zu den Büchern zu schleichen oder, noch besser, zu den Gästen unter den Tisch. Da hörst oder erfährst du immer etwas Neues: vom Krieg mit den Schweden und Türken, von den Jakobinern und von den Ereignissen in Moskau. Aber in den Zimmern der Erwachsenen darf man nicht reden, sonst nehmen sie dich gleich auf den Arm und bringen dich weg, zu Malascha, wo du zum tausendsten Mal den Unsinn von Kater Katersohn und der Hexe über dich ergehen lassen musst.
Als Mitja sich das Recht erkämpft hatte, bei seinem Bruder im Klassenzimmer zu sitzen, da fing für ihn endlich das richtige Leben an. Jeden Tag neue Entdeckungen, ein wahres Fest für den Verstand! Monsieur de Chaumont unterrichtete Französisch und Deutsch sowie Geographie, Geschichte und Astronomie. Der Seminarist Vikenti Arithmetik, russische Grammatik und Theologie. Schade, der Unterricht dauerte nur zwei Stunden pro Tag, und Endimion mit seiner Begriffsstutzigkeit ging einem auf die Nerven, wie viel Zeit seinetwegen verloren ging! Mitja nannte den älteren Bruder heimlich Embryo, denn von der Denkfähigkeit her hatte sich dieser Schwachkopf nicht weit vom menschlichen Fötus weiterentwickelt.
Abends wenn das Haus einschlief (und in Trost ging man früh ins Bett: im Sommer kurz nach neun, im Winter kurz nach acht), begann die wichtigste Zeit.
Leise, auf Zehenspitzen, an der Truhe vorbei, auf der die Amme schnarcht, in den Flur; von dort mucksmäuschenstill zur Treppe – und in den oberen Wohnraum –, auf Französisch heißt das bel-étage; dort ist das Arbeitszimmer. Unter dem Tisch hatte er zuvor schon eine Kerze versteckt und einen Band der großen Enzyklopädie – einen, der zu schwer ist, als dass man ihn aufheben könnte. Bis fünf Uhr hast du ein königliches Leben, unterhältst dich mit Menschen, die dir intellektuell ebenbürtig sind – vor dem einen verneigst du dich ehrfürchtig, mit dem anderen streitest du vielleicht. Um sechs geht es zurück ins Bett. Das ist doch unbegreiflich, dass die Menschen ein Drittel ihres ohnehin nicht langen Lebens im Bett verbringen! Warum so viel? Drei Stunden sind doch für die physische Erholung und Erfrischung des Geistes mehr als genug.
Bis jetzt kamen Mitja manchmal Zweifel, ob es nicht verkehrt war, dass er an jenem Herbsttag den Mund aufgemacht hatte. Ein spontaner Drang, ein Impuls seines gefühlvollen Herzens, setzte seinen stillen Freuden schweigender Absonderung ein für alle Mal ein Ende. Es tat ihm einfach Leid, sehen zu müssen, wie sein Vater nach seiner Rückkehr aus Petersburg, wohin er gefahren war, weil er durch den Tod des Zyklopen Hoffnung geschöpft hatte, versauerte und der Hypochondrie verfiel. Tag für Tag von morgens bis abends weinte Alexej Woinowitsch bitterlich, hob die Hände gen Himmel und verfluchte das grausame Schicksal, das ihn dazu verdammte, in Moskauer Armut bei zweitausendachthundert Rubeln jährlich zu verkümmern, als untröstlicher Erzeuger zweier Missgeburten – eines unvorstellbaren Dummkopfes und eines stummen Idioten.
Im Haus war es still. Die Mutter wurde von Kopfschmerzen gepeinigt, der Bruder hatte sich auf dem Speicher versteckt, damit sie ihn nicht versohlten, das Gesinde hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Und da fällte Mitja eine großherzige Entscheidung: Vater sollte wenigstens in einem Punkt Erleichterung bekommen. Er sollte sich wenigstens nicht um seinen Jüngsten sorgen, der nichts weniger als ein Dummkopf war und, wenn er wollte, sehr wohl sprechen konnte.
Anfangs versuchte er zur Übung, laut mit sich selbst zu reden. Früher hatte er natürlich manchmal ebenfalls in Monologen gesprochen, aber lautlos, indem er nur die Lippen bewegte; und da hatte sich heraus gestellt, dass seine Stimme den Gedanken hinterherhinkte. (Diese überstürzte Redeweise hielt sich auch später, und nicht jeder konnte sie verstehen, besonders, wenn sich Mitja für irgendeinen Gedanken begeisterte.) Man musste hier außerdem auch noch Vaters Hitzigkeit berücksichtigen. Die Sätze mussten kurz sein und enden, bevor Alexej Woinowitsch stürmisch protestieren konnte und den ganzen Effekt verdarb. Das Einfachste war, hineinzugehen und guten Tag zu sagen, aber nicht auf Russisch, sondern in einer Fremdsprache. Kurz und bündig.
Er ging ins Esszimmer, in dem Vater am Fenster saß, seine aufgelösten und ungekämmten Locken aufs Fensterbrett fallen ließ und schluchzte. Und er gab sich äußerste Mühe, die französischen Laute genauso wie Monsieur de Chaumont auszusprechen, als er sagte: »Bon matin, papa.«
Vater drehte sich um. Er hatte es nicht gehört oder dachte, er habe sich verhört. Leidend runzelte er die Stirn und seufzte: »Geh, geh nur, du unverständiges Kind!« Und wies mit der Hand auf die Tür und heulte noch mehr, so sehr brachte ihn Mitjas Anblick aus dem Gleichgewicht.
Da führte Mitja ihm ein Zitat zu Verstand und Unverstand aus Pascals »Pensées« an (er hatte gerade gestern Nacht das Buch gelesen und viele Maximen wörtlich behalten, weil sie so treffend waren): »Deux excès: exclure la raison, n admettre que la raison.« »Die Vernunft ausschließen, nur die Vernunft anerkennen«, Blaise Pascal, Gedanken, Nr. 183
Das klang noch effektvoller, als er gedacht hatte. Mitja hatte Vaters Stabilität falsch eingeschätzt; kaum hatte er die Maxime gehört, verdrehte Alexej Woinowitsch die Augen und fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, sah er das verwirrte Gesicht seines Jüngsten über sich, der ihn auf Russisch, Französisch und Deutsch tröstete, und da hob er die Hände zum Himmel und dankte der Vorsehung für das erwiesene Wunder.
Dann seufzte und staunte Vater lange, als er erfuhr, dass der Junge auch Latein verstand und sich in verschiedenen Wissenschaften gut auskannte. Aber am meisten verblüfften den Vater Mitjas Gedächtnis und seine Schnelligkeit bei der Lösung arithmetischer Aufgaben. Etwas Interessantes zu behalten, ist keine außerordentliche Leistung, auch wenn es sich gleich um ganze Seiten handelt, das konnte er Vater leicht erklären; dagegen fiel es ihm schwer, von den bunten Zahlen zu berichten, denn auch er selbst verstand nicht ganz, wie diese arithmetische Mechanik eigentlich im Hirn funktionierte.
Es verhält sich damit folgendermaßen: die Eins ist weiß, die Zwei rosa, die Drei blau, die Vier gelb, die Fünf braun, die Sechs grau, die Sieben rot, die Acht grün, die Neun lila, die Null schwarz. Wer das nicht sieht, dem hat es keinen Sinn zu erklären, dass wenn du zum Beispiel die Zahl 387 nimmst, sie wie ein dreifarbiges Bonbon aussieht: blau-grün-rot. Wenn du sie mit der Zahl 129 multiplizierst, einer weiß-rosa-lila Zahl, verflechten sich alle Zahlen im Nu in einen dicken bunten Zopf, die Farben gehen von einer in die andere über, und das Weitere ist einfach: Nenne die entstehenden Parzellen des Spektrums hintereinander, dann erhältst du die gesuchte Zahl 49923. Und genauso funktioniert das Dividieren.
Vater hörte sich die unverständlichen Erklärungen lange an und schrie plötzlich wie Archimedes von Syrakus »Heureka!«. Er packte Mitja an den Händen und lief mit ihm zu Mutter. Dort fiel er auf die Knie und küsste Mamas Bauch, direkt durch das Kleid. »Was macht Ihr da, Alexis?«, schrie sie ängstlich.
»Ich küsse Euren gesegneten Leib, der einen Herakles der Gelehrtheit auf die Welt gebracht und uns damit den Weg ins Paradies geebnet hat! Aglaja Dmitrijewna, schaut auf diese Frucht Eurer Lenden!«
Das war der Augenblick, in dem das Projekt entstand.
In der Zeit von Vaters Kindheit hatte man viel von dem kleinen Mozart gesprochen, den sein Vater durch Europa begleitete und den Monarchen vorführte, wofür man ihm nicht wenig Ehre und Anerkennung zukommen ließ. Wieso war Dmitri Karpow schlechter als das deutsche Naturwunder? Weil er nichts von Musik verstand? Wer braucht denn in unserem Russland diesen dummen Zeitvertreib? Zwar hörte die erlauchte Herrscherin Opern und Symphonien, aber mehr um der Erbauung und Geschmackserziehung der Höflinge willen; sie selbst nickte manchmal direkt in der Loge ein, erzählte man. Wir brauchen die Musik nicht! Alle in der Hauptstadt redeten nur von dem neuen Hobby Ihrer Majestät: dem Schachspiel. Viele rissen sich darum, diesen Denksport zu erlernen. Auch Vater kaufte ein Brett mit Figuren, eignete sich die kniffligen Regeln an – vielleicht ließe sich damit ja was machen? Leider nicht. Die Zarin hatte auch ohne Alexej Karpow jemand zum Schachspielen.
Aber wenn man Ihrer Majestät nun einen ganz ungewöhnlichen Partner anbieten würde: einen kleinen Jungen, einen Däumeling? Das wäre ein Kunststück, mit dem sich ein Mozart nicht messen könnte!
Bleich vor Angst, es könne schief gehen, zählte der Gutsbesitzer von Swenigorod seinem wundersamen Sprössling die Regeln dieses edlen Spiels auf, und es geschah natürlich ein Wunder, genauer: es geschah absolut kein Wunder, denn die Schachweisheiten waren für den in den farbigen Rechnungen gewieften Mitja ein Kinderspiel. Schon bei der ersten Partie errang der Dreijährige einen klaren Sieg über seinen Vater, und bald siegte er gegen alle ohne Ausnahme, obwohl er freiwillig auf seine Dame und den Turm verzichtete.
Von diesem Moment an änderte sich in der Familie Karpow alles von Grund auf, insbesondere für das jüngste Mitglied. Um ihn in allen dem Menschengeschlecht bekannten Wissenschaften zu unterrichten, wurde für den Herakles der Gelehrtheit ein halbes Dutzend Lehrer eingestellt, und die Fortschritte des jungen Mithridates (so nannten sie den früheren Mitja jetzt) übertrafen die kühnsten Hoffnungen des glücklichen Vaters. Einmal monatlich fuhren sie extra nach Moskau und kauften alle neuen Bücher, die Mitja sich wünschte. Von den Bauern in Trost und im fernen Dorf Karpowka trieben sie eine neue Abgabe ein, die für die Bücher bestimmt war: pro Kopf jährlich einen halben Rubel oder zwei Hühner oder drei Pfund Honig oder einen Sack getrocknete Pilze, je nachdem, wie der Älteste entschied.
Mitja war nun die Hauptperson des Hauses. Wenn er im Klassenzimmer saß, flüsterten alle. Wenn er ein Buch las, gingen alle nur auf Zehenspitzen und mit bloßen Füßen. Und da der neue Mithridates immer entweder lernte oder etwas las, wurde es in dem Haus in der Stadt still, man flüsterte wie bei einer Beerdigung.
Die Amme Malascha konnte den Jungen jetzt nicht mehr tyrannisieren. Wenn er nicht schlafen wollte, brachte sie ihn eben nicht ins Bett; wenn er seinen Brei nicht essen wollte, zwang sie ihn auch nicht dazu. Sie sorgte sich sehr um ihn und hatte Mitleid mit ihm. Einmal, als Mitja in Gegenwart von allen Hausbewohnern in der deutschen Sprache glänzte, die ihm schneller von den Lippen ging als seinem Lehrer, sagte die Amme traurig: »Wie schnell er leben will. Er hat wohl nicht lange zu leben, er hat’s am Herzen.« Vater hatte das gehört und ließ sie auspeitschen, damit sie das Unglück nicht heraufbeschwöre.
Natürlich gab es in Mitjas neuem Leben nicht nur Rosen, sondern auch Dornen. So ärgerte ihn der Bruder beispielsweise sehr, er war neidisch, dass der Kleine jetzt Erwachsenenkleidung trug: Hose mit Strümpfen, Gehrock und Weste. Mal kniff er ihn heimlich, mal zog er ihn an den Ohren, mal legte er ihm einen Frosch in den Schuh. Er nutzte es aus, dass Mitja der stoischen Philosophie anhing und Denunziation für unter seiner Würde hielt. Was konnte man von dem unverständigen Wesen schon erwarten? Von diesem Embryo.
Am Ende des Jahres war Mithridates so weit. Man hätte ihn in eine Kutsche setzen und direkt zur Kaiserin oder sogar zur Akademie der Wissenschaften bringen können, er hätte sich nicht blamiert. Die Sache verzögerte sich aufgrund von Kleinigkeiten, es ergab sich keine passende Gelegenheit. Wie sollte Alexej Woinowitsch den Jungen der Kaiserin vorführen und auch auf sich selbst aufmerksam machen? (Aus nahe liegenden Gründen war es nicht angebracht, Mutter mit an den Hof zu nehmen.)
Sie warteten noch zwei Jahre auf eine Gelegenheit, bis ihr Wohltäter Lew Alexandrowitsch Kukuschkin endlich nach Moskau kam. In der Zwischenzeit hatte Mitja die Große Enzyklopädie hinter sich gebracht und begeisterte sich für die Integralrechnung, was nach Vaters Ansicht nun wirklich überflüssig war. Alexej Woinowitsch fiel das Warten schwer, so schwer wie einem Vater, der für seine schöne Tochter keinen Würdigen finden kann und sieht, wie das Mädchen allmählich versauert. Ein vierjähriger oder ein fast siebenjähriger Schachspieler, das war ein großer Unterschied.
Mitja machte das nichts, er konnte warten. Er hätte immer so weiterleben mögen: mit seinen Büchern und dem Unterricht. Nur Vater tat ihm Leid.
Wie viele Mühen und Hoffnungen er darauf gesetzt, wie viele Hindernisse er überwunden hatte, und sie wollte ihn noch nicht einmal sehen! Wegen Vaters jämmerlichen Aussehens, seiner einschnürend engen Weste, seines unter den speckigen Haaren juckenden Kopfes (und wehe, du kratzt mit den Fingernägeln, das ist strengstens untersagt) war Mitja wütend auf die dicke Alte und machte ein mürrisches Gesicht. Wenn die Augen Hitze ausstrahlen könnten, so wie die Sonne ihre Strahlen zu uns schickt, würde er dieses undankbare Weib versengen, würde ihre aufgebauschte Puderfrisur in Brand stecken!
Ob es nun Wärme war oder etwas anderes, Mitjas Blick musste irgendeine Substanz ausstrahlen, denn die Kaiserin, die sich über den Zank des Griechen mit dem Engländer noch nicht ausgelacht hatte, drehte plötzlich den Kopf und betrachtete den kleinen Menschen in der himmelblauen Kavallerieuniform ein drittes Mal. Da zahlte Mitja dieser launischen Zicke gleich für alles auf einmal heim: Er schnitt eine beleidigende Grimasse und streckte ihr die Zunge heraus. Da hast du’s, ätsch!
Die Augen der Semiramis weiteten sich erstaunt – offenbar hatte ihr in dem Palast noch nie jemand die Zunge herausgestreckt.
»Was habt Ihr noch einmal gesagt, wie alt ist Euer Kleiner?«, fragte sie Vater.
»Sechs, Eure Kaiserliche Majestät!«, schrie Alexej Woinowitsch begeistert. »Ich habe das Gemeinderegister mitgenommen, Ihr könnt Euch davon persönlich überzeugen!«
Der rosige Finger lockte Mitja zu sich.
»Na, sag mir mal. . .«
Sie wollte ihn beim Namen nennen, hatte ihn aber vergessen. Vater hauchte zuckersüß: »Mithridates.«
»Sag mir mal, Mithridates . . .«
Sie brauchte etwas Zeit, um eine Frage zu stellen. An dem freundlichen Lächeln sah man, dass sie eine möglichst leichte Frage stellen wollte.
»Was haben wir jetzt für ein Jahr?«
»Nach welcher Zeitrechnung?«, fragte Mitja schnell und rückte näher an die Alte heran (sie roch nach Lavendel, Puder und etwas Würzigem, Muskatähnlichem). Ohne die Antwort abzuwarten, kam es wie aus der Pistole geschossen: »Nach den griechischen Chronisten: das Jahr 7303 seit der Erschaffung der Welt, nach den römischen Chronisten: das Jahr 5744, nach den griechischen Chronisten: das Jahr 5061 seit der Sintflut, nach den römischen: das Jahr 4088, seit Christi Geburt: das Jahr 1795, seit Mohammeds Flucht: das Jahr 648, seit der Gründung Moskaus: das Jahr 453, seit der Entdeckung Amerikas: das Jahr 303 und seit der Thronbesteigung Katharinas der Zweiten: das Jahr 33.«
Die Kaiserin klatschte begeistert in die Hände, und sofort fingen alle an zu flüstern und mit der Zunge zu schnalzen. Dann lief alles wie geschmiert.
Mitja multiplizierte eine Weile dreistellige Zahlen (der Favorit überprüfte die Aufgaben höchstpersönlich auf seiner Serviette: Es stimmte); dann zog er die Quadratwurzel aus 79 566 (nachprüfen konnte das nur der Enkel, und auch der nur beim dritten Anlauf, weil er sich dauernd vertat); er zählte alle russischen Provinzen auf, und auf Nachfrage nannte er sogar die jeweiligen Kreisstädte. Er siegte im Schachspiel gegen den Oberstallmeister Kukuschkin (das schaffte er in vier Zügen) und den schwarzen Alten, der sich als Geheimrat Maslow und Chef der Geheimexpedition entpuppte (er spielte ordentlich, aber gegen Mithridates war nun einmal nicht anzukommen), und maß sich am Schluss sogar mit der Kaiserin. Dabei geriet er etwas in Fahrt, vergaß, dass Vater ihn gelehrt hatte, Ihrer Majestät nachzugeben, und zerschlug das weiße Heer bis auf den letzten Mann. Aber Katharina machte sich nichts daraus; sie war nicht beleidigt, küsste Mitja sogar auf beide Wangen und nannte ihn »Liebster« und »Neunmalkluger«.
Er trug Dershawins Gedicht »Feliza« vor, dumme, aber schön schwülstige Verse, und sagte am Ende dieser triumphalen Vorstellung mit einer tiefen Verbeugung: »Ich wiege mich in der Hoffnung, dass ich mit diesen bescheidenen Kunststücken die große Kaiserin von der Last der Sorgen um den Staat habe ablenken können. Ich werde es als größtes Glück erachten, so Eure Kaiserliche Majestät und Eure Kaiserlichen Hoheiten sowie Eure Durchlaucht (damit meinte er den Favoriten, Vater hatte ihm eingeschärft, ihn ja nicht zu vergessen) als Belohnung für die gute Absicht meine Verbeugung mit Händeklatschen beantworten wollten.«