7
Von einem fürchterlichen Durst gepackt, wachte Olivia mitten in der Nacht auf und hatte einen entsetzlichen Geschmack im Mund.
Wasser.
Sie öffnete ein Auge, sammelte Kraft, um ihren schweren Kopf vom Kissen zu heben, und streckte die Hand zu ihrem Nachttisch aus. Sie tastete nach dem Glas mit abgestandenem Leitungswasser und trank mit großen Schlucken, ohne die winzigen Staubpartikel wahrzunehmen, die sich darauf abgesetzt hatten. Dann stützte sie sich auf die Ellbogen und legte die Hände auf den Kopf, um das furchtbare Pochen zu mildern, das bis nach unten in ihre Zehen zu reichen schien. Langsam öffnete sie die Augen, und ihr Blick fiel auf den Boden, auf einen dunklen Haufen neben dem Fußende ihres Bettes.
Das Kleid.
Sie stöhnte laut auf, die Erinnerung an die Ereignisse des letzten Abends überraschten sie wie eine plötzliche Flutwelle. Als sei es nicht schlimm genug gewesen, dass sie sich völlig zum Narren gemacht hatte, in einem Ballkleid bei einer Togaparty aufzutauchen und sich wie eine Stalkerin hinter Soren in die Badezimmerschlange zu stellen, hatte sie dann auch noch Halluzinationen gehabt. Ein leuchtender Schmetterling.
»Bin ich völlig verrückt geworden?«, flüsterte sie.
»Eigentlich schon, aber das ist doch nichts Neues.« Die raue, spöttische Stimme kam direkt aus ihrer Nähe.
Olivia drehte den Kopf und sah zum Kopfende des Bettes, dessen dunkle Umrisse schwach zu erkennen waren, dann hinaus durch die vom Wind leicht gebauschten Vorhänge.
»Hallo?«, rief sie leise in die Dunkelheit und kam sich ziemlich albern vor.
Nichts.
»Na toll«, murrte sie. »Jetzt höre ich auch noch Stimmen.«
»Ach, jetzt komm mal wieder auf den Teppich!«, spottete die Stimme. »Du bist vielleicht verrückt, aber bestimmt nicht schizophren.«
Olivias Herz klopfte schneller. Sie schlug die Decke zurück und ging rasch zur Tür, zog sie auf und streckte den Kopf hinaus. Sie blickte im Flur auf und ab. Er war leer und still. Sie schauderte, schloss die Tür wieder und umfasste fröstelnd ihre Ellbogen.
Niemand.
Ihre Nase zuckte. Was war das für ein Geruch?
Ein dünner Faden von Zigarettenrauch erreichte sie. Olivia blickte nach unten. Das kam aus dem Nebenzimmer! Sie folgte dem sich kräuselnden, rauchenden Pfad an ihrem Bett und am Fenster vorbei, den ganzen Weg zu der schmalen Tür auf der anderen Seite ihres Zimmers. Die Tür war nur einen Spalt offen und ließ einen Strahl blasses, bläuliches Licht auf den Boden fallen.
Olivia holte tief Luft, bevor sie die Tür aufzog und in das leere Zimmer spähte. Dort auf dem Fensterbrett, von hinten erleuchtet durch den unheimlichen Schein des Vollmonds, saß ihre Schwester und rauchte eine Zigarette.
»Violet?«, flüsterte Olivia in die Dunkelheit, trat ins Zimmer und ging langsam zum Fenster. Es kam ihr vor, als gleite sie, als bewegten sich ihre Füße einige Zentimeter oberhalb der schiefen Bodenbretter. Es war, als ob der Rest der Welt verschwunden wäre und alles, was sie sehen konnte, war ihre Schwester, ihre wunderschöne Schwester mit der milchweißen Haut und den Sommersprossen, die auf sie wartete.
»So heiße ich!«, sagte Violet, sprang vom Fensterbrett und öffnete beide Arme ganz weit.
Olivia stand wie erstarrt in der Mitte des Zimmers, die Arme schwer wie Zement an ihren Seiten.
Violet machte noch einen Schritt auf sie zu und wedelte mit einer Hand vor dem ausdruckslosen Gesicht ihrer Schwester.
»Hallo?«, rief sie, und ihre blassblauen Augen funkelten, als sie ihre Schwester leicht am Ellbogen schüttelte. »Bekomme ich vielleicht eine Umarmung, bitte?«
Olivia schluckte. »Was … aber …«, stotterte sie. »Ich … ich verstehe das nicht.«
Violet stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und zog ihre Schwester an sich. »Ganz einfach: Ich umarme dich. Du umarmst mich. Verstanden?«
Olivias Augen brannten, und sie merkte, wie sie sich langsam in die Arme ihrer Schwester schmiegte, ihr Gesicht in Violets wunderbarer Lockenpracht vergrub.
Meeressalz und Erdbeer-Kiwi-Shampoo.
»Du bist es«, flüsterte Olivia an Violets Halsbeuge. »Du bist es wirklich?«
»Das letzte Mal, als ich es überprüft habe, gab es nur zwei von uns«, lachte Violet, schob Olivia zurück und sortierte die ineinander verschlungenen Strähnen ihrer vollkommen identischen rotblonden Locken auseinander.
»Aber wie …«, fing Olivia an und schüttelte den Kopf. »Ich meine, du bist …«
Violet nahm einen übertrieben langen Zug von ihrer Zigarette, bevor sie die Asche nach draußen schnippte.
»Du rauchst nicht«, erklärte Olivia. »Ich meine, du hast nie …«
»Einer der Vorteile.« Violet lächelte und wedelte mit dem glimmenden Zigarettenstummel vor ihrem Gesicht herum. »Zigaretten können dich nicht umbringen, wenn du bereits tot bist.«
Olivia folgte ihr langsam zum Fenster. »Also bist du …«, stotterte sie. »Ich meine, du bist immer noch …«
»Mausetot, leider.« Violet nickte und nahm noch einen Zug von der Zigarette.
Olivia sah zurück durch die offene Tür zu den Umrissen ihres Bettes; die Bettdecke in einem wirren Haufen auf einer Seite. Dann blickte sie ihre Schwester lange und durchdringend an, bevor sie den Kopf schüttelte, sich umdrehte und zurück in ihr Zimmer marschierte.
Mit einem Seufzer setzte sie sich auf ihr Bett und ließ sich rückwärts in die Kissen fallen. Dann zog sie die Decke nach oben, bis über ihr Gesicht. Es musste ein Traum sein.
Olivia holte noch einmal tief Luft, bevor sie den weichen Stoff noch weiter über sich zog und dann mit einem Ruck die Bettdecke zurückwarf.
»Ta-da!«, rief Violet neben dem Kopfende ihres Bettes. »Immer noch da.«
Olivia zog die Beine an und rutschte im Bett nach oben, bis sie sich an die Wand lehnen konnte. »Okay«, sagte sie, und ihre Stimme war ruhig und vernünftig. »Okay, also du bist …«
»Tot«, sagte Violet geradeheraus und setzte sich im Schneidersitz neben ihre Schwester. »Ich bin tot, O. Es macht mich auch nicht toter, wenn du es aussprichst.«
»Okay«, sagte Olivia. »Entschuldige. Du bist tot. Aber trotzdem …«
Violet lächelte, die Zigarette im Mundwinkel.
»Bist du wirklich hier?«, fragte Olivia leise.
Violet nahm den Zigarettenstummel aus dem Mund und schnippte ihn quer durch das Zimmer aus dem offenen Fenster.
»Entweder das«, sagte sie und legte sanft eine Hand auf Olivias zitternde Knie, »oder du hast einen ganz unglaublichen Kater.«