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Olivia stieß die große Schultür auf und ging auf die Straße hinaus, die Lippen zusammengepresst, um die Schluchzer zu erstickten, die sich den ganzen Nachmittag in ihr angesammelt hatten. Sie zog ihre Fleecejacke enger um sich und lief zur Ecke, ihre Schritte waren schwer, und sie stemmte sich gegen den Wind, der ihr Haar aus der gerunzelten Stirn wehte.
»Hey.« Sie hörte eine vertraute Stimme hinter sich und spürte dann eine Hand auf ihrem Rücken.
Sie drehte sich um und sah Soren, der einen karierten Wollschal um den Kragen seiner braunen Lederjacke gebunden hatte, sein blondes Haar war zerzaust und seine Augen gerötet.
Olivia schüttelte seine Berührung ab und machte einen Schritt von ihm weg. »Hey«, sagte sie, ihre Stimme war kühl und kurz. »Ich bin gerade ziemlich in Eile.«
»Warte.« Er legte seine Hände auf ihre Ellbogen und schaute sie fragend an. »Ich habe dich das ganze Wochenende versucht anzurufen. Was ist denn los?«
»Tut mir leid«, sagte sie, und der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker. »Ich muss nach Hause.«
Soren ließ die Arme schwer nach unten fallen. »Okay«, sagte er unsicher. »Dann war es das?«
Olivia blickte gehetzt die Straße auf und ab.
Da standen sie nun zusammen in Sichtweite der Schule, gleich um die Ecke vom People’s. Jeder konnte um diese Ecke kommen und sie zusammen sehen. Jeder.
»Soren, bitte«, sagte Olivia. »Ich muss wirklich …«
»Wovor hast du solche Angst?«, fragte Soren.
Olivia verschränkte die Arme, um sich zu wärmen.
»Ich weiß auch nicht«, sagte sie. »Ich will einfach nicht alles noch schlimmer machen.«
»Für wen?«, fragte er.
Olivia hob den Kopf und sah ihm in die Augen, die Antwort war ja wohl offensichtlich.
Soren zuckte mit den Schultern. »Calla hätte es sowieso irgendwann erfahren«, sagte er schließlich. »Und okay, es wird eine Weile nicht einfach sein, aber irgendwann beruhigt sich alles.«
Olivia sah in Sorens Gesicht, das offen und optimistisch war. Sie wünschte sich so sehr, sich in seine Arme zu schmiegen, wünschte sich so sehr, mit ihm wegzulaufen und nie mehr etwas mit all den Problemen zu tun haben zu müssen.
Plötzlich spürte Olivia etwas an ihrer Schulter. Sie drehte schnell den Kopf, erwartete, Violet zu sehen, hoffte mit jeder Faser ihres Herzens, ihre Schwester dort stehen zu sehen, wie sie mit verschränkten Armen einen trockenen Kommentar von sich gab.
Doch es war nur der Wind.
Die Erkenntnis, dass sie einsamer war als je zuvor, traf sie wie ein Schlag.
Soren scharrte über den Boden und schaute auf den Gehweg. »Ich habe nachgedacht«, sagte er, und seine Stimme klang rau und unsicher. »Als du mich gefragt hast, warum ich dich mag … Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte, und es tut mir leid, dass mir nichts Besseres eingefallen ist.«
Soren sah ihr nicht ins Gesicht, sondern sprach weiter direkt zu ein paar Rissen im Weg, stieß mit den Spitzen seiner Turnschuhe gegen den Rinnstein.
»Ich wollte wohl irgendetwas sagen, was besonders und toll klang.« Er zuckte mit den Schultern und steckte die Hände tiefer in seine Taschen. »Aber die Wahrheit ist, ich habe keinen richtigen Grund. Schon am ersten Tag, als ich im Schulhof mit dem Skateboard an dir vorbeigefahren bin, warst du mir so eigenartig vertraut.«
Olivia lächelte und nickte, erinnerte sich an ihre erste holprige Unterhaltung. Es war so gewesen, als hätten sie sich beide so viel zu sagen, dass sie quasi über sich selbst stolperten, um nicht alles zu schnell und auf einmal herauszulassen.
Soren blickte auf und sah ihr in die Augen. »Und ich weiß, dass es richtig ist, weil … es eben richtig ist.«
Olivia lachte über seine absurde Logik, wollte aber, dass er nicht damit aufhörte.
»Stimmt’s?«, sagte er lächelnd und stieß sie mit dem Ellbogen an.
Olivia merkte, wie ihre Gesichtszüge weicher wurden, während Soren die Hand aus seiner Tasche zog. Er griff langsam nach ihrer Hand, seine Finger sanft und vorsichtig.
Sie ließ ihre Handfläche einen Moment bewegungslos in seiner liegen, bevor ihr Griff fester wurde und sie zärtlich seine Hand drückte.
Da war es, das passgenaue Ineinanderfügen.
Noch ein Windstoß strich über die Taille von Olivias Jacke, und obwohl sie nicht nachsehen musste, um zu wissen, dass Violet nicht bei ihr stand, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie dennoch nicht wirklich mit Soren allein war.
***
Trotz der Kälte nahmen Soren und Olivia einen Umweg nach Hause, eng aneinandergedrückt und mit langsamen, synchronen Schritten. Vor ihrem Haus küsste Soren sie und versprach, sie später anzurufen. Sie sah ihm nach, als er um die Ecke verschwand, eine warme, leichte Ruhe stieg in ihr hoch.
Erst als Olivia den Schlüssel im Schloss drehte, kehrte das Flattern in ihrem Bauch zurück. Sie drückte die Tür leise auf und hoffte, ihr Vater würde irgendwo in einer entfernten Ecke des Hauses mit irgendwelchen Reparaturarbeiten beschäftigt sein. Aber alles, was sie begrüßte, war eine gemütliche Stille, das vertraute Scheppern alter Leitungsrohre und das Summen des Kühlschranks.
Das war Überraschung Nummer eins.
Überraschung Nummer zwei war der lange Wollmantel ihrer Mutter, der über dem Geländer hing, ihre Pumps standen direkt darunter – das abgelegte Kostüm eines Workaholic. Was machte ihre Mutter mitten am Nachmittag zu Hause?
Plötzlich, über leise Hintergrundgeräusche hinweg, drangen gedämpfte, freundliche Stimmen von oben herunter. Olivia ging langsam die schiefen Stufen der Treppe hinauf.
Violets Tür zum Flur stand offen, und Olivia konnte einen kühlen Luftzug an ihrer Nasenspitze spüren. Er kam wohl von den Fenstern, die sie am Morgen geöffnet hatte. Sie war beinahe am Ende des Flurs angelangt, als sie etwas hörte, das ihr so fremd geworden war, dass sie auf der Stelle stehen blieb.
Der kurze, abgehackte Bariton.
Ein helles Lachen.
Sie machte noch einen vorsichtigen Schritt und spähte um die Ecke.
Dort, zwischen den Erkerfenstern in Violets Zimmer, saßen Olivias Eltern, den Inhalt offener Kisten um sich ausgebreitet. Und sie lachten.
Mac, dessen breite Schultern gegen die eingebaute Bank lehnten, sah Olivia zuerst. Ihre Blicke begegneten sich, und Olivia bemerkte sofort, dass seine Augen voller Tränen standen. Olivia zögerte in der Türöffnung, ihre Tasche rutschte an ihrem Arm entlang nach unten und landete auf dem Boden.
»Hi«, sagte sie unsicher und kam sich wie ein Eindringling vor.
Bridget drehte sich zu ihr um, ihr Eyeliner war verschmiert. »Wir haben gerade Violets Sachen durchgesehen«, sagte sie leise. »Wir dachten, es ist vielleicht Zeit, manches davon wegzugeben.«
Olivia lehnte sich an den Türrahmen, halb aus Trotz und halb, weil sie plötzlich aus dem Gleichgewicht kam.
Mac räusperte sich und stützte sich ab, um aufzustehen. »Und ich habe endlich die Bücherregale fertig, an denen ich gearbeitet habe«, sagte er und kam langsam auf Olivia zu. »Ich dachte, dass ich die später hier aufstelle. Wir könnten das Zimmer zu einer Bibliothek machen. Aber natürlich gehört das Zimmer vor allem dir, wenn du es möchtest.«
Olivia merkte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten.
»Liebes«, sagte Mac, streckte den Arm aus und drückte ihr sanft den Arm »Es tut uns wirklich leid, dass du dich so allein gefühlt hast. Aber du musst wissen, dass es für uns auch sehr schwer war.«
Bevor sie noch etwas dagegen tun konnte, stieg eine heiße Welle von Wut in Olivia auf, und sie hob den Blick und sah in die hoffungsvollen Augen ihrer Eltern.
»Schwer?«, wiederholte sie leise, und schon rollte ihr eine Träne die Wange herunter. »Aber alles, was ihr macht, ist arbeiten! Ihr habt nicht ein einziges Mal über sie geredet.«
Bridget sah zum Fenster, eine einzelne Träne tropfte von ihrem Kinn. Mac räusperte sich noch einmal und trat einen Schritt zurück.
»Und wisst ihr was? All dieses Arbeiten und Funktionieren?« Olivias Stimme war hoch und überschlug sich, die Tränen quollen jetzt in Strömen aus ihren brennenden Augen. »Es funktioniert bei mir nicht.«
Olivias Blick huschte zwischen ihren Eltern hin und her, bevor sie die Hände vors Gesicht schlug, die Wand hinabrutschte und dumpf auf dem Boden aufkam.
Ihr Vater kauerte sich neben sie – wie immer roch er nach Sägespänen und Aftershave – und zog ihren Kopf an seine Schulter, genau wie er es immer gemacht hatte, als sie noch klein war. Zu erschöpft, um weiter zu streiten, schluchzte Olivia in sein Sweatshirt.
»Wir vermissen sie doch auch, Liebes«, murmelte Mac in ihre Haare.
Olivia spürte eine warme Hand, die sie streichelte, und Bridgets Stimme, die Macs Worte leise wiederholte.
»Wir vermissen sie jeden Tag«, sagte Bridget.
Olivia schob beide Eltern weg und setzte sich zurück gegen die Wand, wischte mit den beiden Handrücken über ihre Wangen. »Wirklich?«, schniefte sie.
Bridget streckte die Hand aus und strich ein paar klebrige Locken von Olivias feuchten Wangen. »Ach Olivia«, antwortete ihre Mutter leise. »Jeden Morgen, wenn ich aufwache, denke ich als Allererstes an deine Schwester.«
»Ich rede mit ihr. Jede Nacht, bevor ich einschlafe«, sagte Mac. Diesmal war er nicht in der Lage, die Tränen aufzuhalten, die auf seinen Ärmel tropften. Bridget griff über Olivias Schoß hinweg, nahm seine Hand und drückte sie.
Olivia tat es im Herzen weh, ihre Eltern weinen zu sehen, aber es war die Art von Schmerz, die sich wichtig, echt und irgendwie richtig anfühlte, wie als sei man zu lange unter Wasser gewesen und käme schließlich hoch, um nach Luft zu schnappen.
Wie sie so dasaßen, alle drei zusammengedrängt in einer Ecke des Zimmers, das Violets gewesen wäre, da wusste Olivia, dass sich etwas verändert hatte. Violet war fort, und sie würde nie mehr zurückkommen. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander, und ihre Familie wäre nie wieder die gleiche.
Aber sie waren definitiv immer noch eine Familie.