17
Olivia drehte die Lautstärke ihres iPods hoch und fiel in den angenehmen Rhythmus ein, ihre Füße schlugen gleichmäßig auf der glatten Teerdecke des Weges um den Lake Merced auf, als sie merkte, dass jemand neben ihr lief. Es war das erste Mal, dass der Sportunterricht draußen stattfand, und es dauerte einen Moment, bis sie die verbeulten alten Turnschuhe erkannte, die zu einem gewissen jungen Mann mit grünen Augen gehörten.
Olivia war Soren seit Grahams Party so gut wie möglich aus dem Weg gegangen. Das war nicht schwer gewesen, da sie nur Sport zusammen hatten. Olivia hatte zu ihrem Entsetzen erfahren, dass der Lehrplan in Sport am Golden Gate eine Stunde Yoga beinhaltete. Den Yogaunterricht hielt ein Lehrer namens Morningstar, der einen Pferdeschwanz trug. Olivia hatte bald entdeckt, dass es gewisse Bewegungen gab, für die ihr Körper nicht geschaffen war. Dementsprechend freute sie sich über den vierzehntägig stattfindenden Lauf um den See.
Olivia hatte noch nicht einmal die Hälfte ihrer ersten Runde um den See hinter sich, als ihr klarwurde, dass Soren neben ihr lief, seine Füße landeten in kurzen, präzisen Schritten auf dem Boden.
»Entschuldige«, stieß Olivia hervor, als sie aufsah und ein erwartungsvolles Leuchten in seinen Augen entdeckte. »Hast du etwas gesagt?«
»Oh, ich habe dir nur gerade die Antwort auf die größten Rätsel des Lebens gegeben«, antwortete er. »Bloß schade, dass du stattdessen deinem iPod zugehört hast.«
Olivia lächelte und reduzierte ihr Tempo, um sich seinem Rhythmus anzupassen.
»Irgendwas Gutes?«, fragte er und deutete auf den silberfarbenen iPod, den sie in der Hand hielt.
Sie zerbrach sich den Kopf, um auf die angesagteste Indie-Band zu kommen, an die sie sich aus den Zeiten mit Violet erinnerte. Insgeheim ärgerte sie sich über die strikte Weigerung ihrer Schwester, mit ihr zum Sportunterricht – oder überhaupt zu irgendeiner körperlichen Aktivität – zu kommen. Und wie hieß diese Band, die Bowie bei der Party erwähnt hatte? Die Lion Kings?
Schließlich entschloss Olivia sich zur Wahrheit. »Beethoven«, erklärte sie verlegen. »Die Mondscheinsonate.«
Wenn Soren überrascht war, konnte er es gut verbergen. Er schob die Unterlippe vor und nickte, und Olivia hatte keine Ahnung, ob das eine Geste der Zustimmung oder der Missbilligung war, doch es war jetzt sowieso zu spät, einen Rückzieher zu machen.
»Klassische Musik beruhigt mich beim Laufen«, erklärte sie. Olivia war in ihrer alten Schule in Willis unbeabsichtigt so etwas wie ein Laufstar gewesen und hielt sogar den Rekord über eine Meile. Laufen hatte ihr schon immer gelegen, doch sie machte sich nichts aus dem Wettstreit. Damals hatten die Anführer des Teams – ein paar ältere Mädchen mit identischen Shorts und muskulösen Armen und Beinen – vor den Wettkämpfen stets versucht, das Team mit Anfeuerungsrufen zu motivieren. Olivia hatte ihre Mundbewegungen betrachtet und wie sie ihre Fäuste in die Luft stießen, als wären sie alberne Puppen, während in Olivias Kopfhörern ein beruhigendes Streichquartett spielte. Diese Wettläufe waren ein Kapitel ihres alten Lebens, das sie gerne hinter sich gelassen hatte. Doch sie vermisste das Laufen, die Ruhe, die sie empfand, wenn sie ihre Runden auf der Aschenbahn drehte.
Soren andererseits schien mehr ein Sonntagsläufer zu sein.
»Beethoven, ja? Das muss ich auch mal ausprobieren.« Er lächelte und sah zum Wasser, wo eine Touristenfamilie in orangefarbenen Rettungswesten für ein Foto posierte und dabei fast ihr Ruderboot umgekippt hätte. »Normalerweise zähle ich hier lediglich die Anzahl der missglückten Versuche, ein Foto auf dem See zu machen.«
Sein Ellbogen streifte versehentlich ihren, worauf sich bei Olivia prompt die kleinen Härchen auf dem Unterarm aufstellten. »Für den Fall, dass du es nicht bemerkt hast«, keuchte er übertrieben, »ich bin kein großer Läufer.«
Olivia grinste mit einem Schulterzucken. »Ich dachte, du genießt nur den schönen Ausblick«, scherzte sie und sah ihm in die Augen. Sein Gesicht war entspannt, die Lippen leicht geöffnet zu einem Lächeln. Seine etwas schiefen und nicht gerade perfekten Zähne machten den Rest seines schön geschnittenen Gesichtes weicher. Er schien hier lockerer zu sein, als er es auf der Party gewesen war, und da war etwas an der Art, wie er ihren Blick erwiderte, bei der auch sie sich sofort wohl fühlte.
»Nicht schlecht, was?« Soren deutete mit dem Kinn auf die weitläufigen Wiesen vor den bunt gestrichenen Hausdächern und dem weiten Himmel.
»Toppt Yoga auf jeden Fall«, stimmte Olivia zu.
Soren betrachtete sie skeptisch unter seinen dichten Wimpern hervor. So, fand Olivia, sah er fast zu schön aus.
»Ach komm schon«, erwiderte er, und kickte einen auf dem Boden liegenden Ast aus dem Weg. »Du bist ein Naturtalent.«
Olivias Herz schlug schneller, kleine rote Flecken breiteten sich an ihrem Hals aus. Er hatte sie in der Yogastunde bemerkt? Ihre Füße kamen automatisch in kürzeren, schnelleren Abständen auf dem Weg auf, so dass sie sofort ein bis zwei Schritte vor ihm war, während sie unter einem Dach von Kirschblüten entlangliefen. Die herabhängenden rosa Blüten verschwammen vor ihrem Blick.
»Und wie gefällt dir die Stadt bis jetzt?«, rief Soren hinter ihr. Seine Stimme zitterte ein wenig, als versuche er, nicht zu laut zu schreien, fürchte aber gleichzeitig, sie würde ihn nicht hören.
Olivia wurde wieder langsamer, damit er mit ihr gleichziehen konnte, und blickte auf ihre Füße in den braun-silbernen Nikes, die nun mit ihm im gleichen Takt liefen. Sie hatte nie vorher darüber nachgedacht, aber mit jemand anderem zu laufen, fühlte sich ein wenig wie Tanzen an.
»Es ist toll hier«, sagte sie. »Ich meine, auch wenn ich noch nicht wirklich viel von dem Touristenzeugs gemacht habe.«
Olivia erwartete fast, dass er lachte oder ihr sagte, sie versäume nicht viel. In einer so berühmten Stadt fremd zu sein, war etwas peinlich. Es wäre viel cooler, die erfahrene Reisende zu sein statt das neue Mädchen, das alles mit großen Augen betrachtete.
Doch stattdessen drehte Soren sich zu ihr und sah sie ernst an. »Du musst dir das alles ansehen«, sagte er mit aufrichtiger Überzeugung. »Ich meine, es gibt natürlich schon manches, was du auslassen kannst. Fisherman’s Wharf, das ist das Hafenviertel, das ist zum Beispiel immer total überfüllt und eigentlich auch langweilig, aber man sollte es trotzdem mal gesehen haben. Und dann ist da natürlich noch der Golden Gate Park, der Coit Tower, das Presidio oder der Farmer’s Market am Ferry Building …«
Olivia merkte, wie sie sich völlig entspannte, während er erzählte. Normalerweise hatte sie immer das Gefühl, sich beweisen zu müssen, wenn sie mit einem Typen plauderte. Doch bei Soren war es anders. Er erinnerte sie irgendwie an einen kleinen Jungen.
»Ich hätte noch eine Frage«, begann sie und fühlte sich plötzlich ganz mutig. »Ich meine, ich kann es natürlich erraten, aber ehrlich gesagt war ich noch nie bei einem solchen Markt, also habe ich gerade nur überlegt … was genau ist der Farmer’s Market, den du gerade genannt hast?«
Olivia war noch niemals auf einem richtigen Bauernmarkt gewesen, und sie wusste auch nicht, ob der Farmer’s Market hier wirklich ein solcher Markt war. Doch seit Bowies Mutter mit überquellenden Taschen voller Gemüse zurückgekommen war, das frisch geerntet aussah, war Olivia neugierig gewesen, wo es wohl herkam.
»Du warst noch nie auf einem Bauernmarkt?«, fragte Soren nach. Seine Stimme war locker und es klang nicht abschätzig, sondern so als freue er sich einfach, es ihr zu erklären. »Es gibt einige davon hier in der Stadt«, erklärte er. »Doch der am Samstag beim Ferry Building, das ist der beste. Bauern von überall aus der Gegend kommen mit allem, was gerade Saison hat. Und du darfst fast überall probieren. Lass das Frühstück ausfallen, und du hast ein vollwertiges Essen nur durch Kostproben …«
Olivia lächelte und hörte ihm zu, betrachtete Soren, der begeistert mit den Händen gestikulierte. Sie umrundeten die letzte Biegung, und Olivia wurde fast ein wenig traurig. Bald wären sie zurück in der Schule. Vielleicht würde er ihr in den Fluren zuwinken oder zulächeln, doch sie wusste, sie würden keine weitere Gelegenheit haben, so ungezwungen zu reden wie jetzt.
Sie lächelte und nickte, während Soren weiter von den verschiedenen Verkaufsständen erzählte. Und zusammen mit der leichten Enttäuschung, die sie verspürte, erkannte sie plötzlich auch eine andere Empfindung, die sie schon fast vergessen hatte:
Sie hatte Hunger.