Inzwischen leitete Schwahl die ersten Maßnahmen der Evakuierung ein. In seinem Dienstzimmer war der Stab versammelt: Wittig, die Ordonnanz, Kamloth, Kluttig, Weisangk und Offiziere der Truppe. Schwahl erteilte die Befehle. Die Offiziere eilten fort, um sie auszuführen. Bald brodelte und wirrte es im Gelände um das Lager von marschierenden SS-Gruppen und ratternden Lastautos. Die äußere Postenkette um das Lager wurde auf Schwahls Befehl hin verstärkt, die Wachposten auf den Türmen {wurden} verdoppelt, neben den vorhandenen leichten {wurden} schwere Maschinengewehre auf die Türme montiert, Handgranaten, Panzerfäuste verteilt.
Schwahls Dienstzimmer verwandelte sich in ein Hauptquartier. Ununterbrochen läutete das Telefon. Meldungen über ausgeführte Befehle wurden gebracht, neue Befehle mitgenommen. Es war ein Kommen und Gehen, und Schwahl, der über alles entscheiden musste, von dem ein jeder etwas wollte, war mitten hineingestellt in diesen Trubel. In das Durcheinander platzte ein Personenwagen mit Offizieren der Wehrmacht. Sie brachten Schwahl einen Befehl des Stadtkommandanten von Weimar, die in den Munitionsbunkern der SS lagernden riesigen Bestände von deponierter Wehrmachtsmunition sofort abzutransportieren. Die Munition wurde im Raum zwischen Halle und Hof dringend gebraucht, wo die vor dem Amerikaner zurückweichenden Armeegruppen versuchten, eine neue Verteidigungslinie aufzubauen.
»Meine Herren, meine Herren!«, rief Schwahl verzweifelt, »Sie sehen, wir sind mitten in den Vorbereitungen zur Räumung des Lagers.«
Doch er musste den Befehl durchführen und gab ihn an Kamloth weiter. Der flitzte mit den Offizieren zu den Truppengaragen, hier jagte er Brauer und Meisgeier auf: »Sofort 20 LKWs fertig machen!« Bald knatterten die Wagenkolonnen durch das Gelände zu den Munitionsbunkern hinter den SS-Kasernen. Schwitzend und keuchend schleppten SS-Leute schwere Munitionskisten aus den Bunkern.
Befehle ertönten, Geschrei und Durcheinander wie bei einer überstürzten Flucht …
Schwahl kam nicht zur Ruhe. Eine telefonische Meldung lief ein. Am Schlagbaum war soeben ein großer Transport von Häftlingen eingetroffen, der von einem im Harz befindlichen Außenlager nach Buchenwald zurückgekommen war. Schwahl, schon völlig durcheinandergebracht, schrie seine Nervosität in den Hörer, knallte ihn auf, telefonierte mit Reineboth, gab ihm Befehl, sich um die Zugänge zu kümmern, beauftragte Kluttig, sich für die weitere Abwicklung Krämers zu bedienen, der die Unterbringung der Häftlinge zu besorgen hatte, und sank danach stöhnend in den Klubsessel, die Arme theatralisch ausgebreitet: »Meine Herren, meine Herren …«
Weisangk goss dem Geplagten einen Schnaps ein, der noch vom Morgen her auf dem Tisch stand.
»Sauf, dös beruhigt.«
An marschierenden Abteilungen und ratternden Lastwagen vorbei raste Reineboth auf seinem Motorrad die Zugangsstraße zum Lager entlang nach dem Schlagbaum. Ihn wollte die gewohnte Schnoddrigkeit verlassen, als er die Tausende abgelumpter, verhungerter und völlig erschöpfter Häftlinge sah, die etwa hundert Meter vom Schlagbaum entfernt am Rand der Bergstraße lagen und standen. Er stellte das Motorrad ab und schob sich verzweifelt die Mütze aus der Stirn. Einige SS-Chargen, Untersturmführer und Scharführer, verdreckt, verstaubt und unrasiert, in sichtlich gereizter Gemütsverfassung, kamen Reineboth am Schlagbaum entgegen.
»Was ist los hier? Warum lasst ihr uns nicht rein?«
»Wo kommt ihr her?«, fragte Reineboth fassungslos.
Der Untersturmführer, der das Wort hatte, lachte böse.
»Fragt der auch noch, woher wir kommen! Uns sitzt der Amerikaner auf den Hacken, und ihr scheint hier noch im tiefsten Frieden zu leben. Also los, los, aufgemacht das Tor zum Paradies!«
Reineboth blieb nichts weiter übrig, als den Transport passieren zu lassen. Die eskortierende SS, die den Elendshaufen bewachte, trieb die Menschen hoch. Reineboth jagte zum Lager zurück, wusste nicht, wo ihm der Kopf stand; heute noch sollte die Räumung einsetzen, stattdessen quollen noch Tausende ins Lager herein. Fluchend sprang er von der Maschine. In einem Anfall von Bissigkeit rief er Kluttig entgegen, der sich bereits im Rapportzimmer befand: »Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Absetzbewegung.«
Kluttig hatte keinen Sinn für den Zynismus des Jünglings.
Reineboth warf sich mit einem nervösen Lachen in den Stuhl: »Immer rin in die gute Stube! Seine Majestät, der Herr Lagerälteste, sorgt bestens für Unterbringung. Er kann 46 {Mann} spurlos verschwinden lassen, warum soll er nicht 3000 …«
»Halt die Schnauze!«, brüllte Kluttig, durch den Spott gereizt. »Hätte ich nicht auf dich gehört, dann wären sie im Steinbruch längst schon umgelegt.«
»Bababahhh«, Reineboth äffte den Kommandanten nach: »Befehl mit aller Vorsicht und Klugheit ausführen. Gott verzeih mir, ich habe es gemacht.«
Er sprang zum Fenster. »Die Hunnen kommen!«
Auf der Zugangsstraße wurde der Transport herangetrieben. Die Autos mussten zur Seite fahren und stoppen. Aus ihrer Stube stürzten die Blockführer. Auch Kluttig und Reineboth eilten hinaus. Sie ließen durch die Torwache die Flügel der schmiedeeisernen Tür öffnen. Kluttig dirigierte die Blockführer auf den Appellplatz und ließ einen großen Raum absperren. Mit Fußtritten und Gewehrstößen jagte die Begleit-SS die Häftlinge durch das Tor. Es gab ein entsetzliches Gedränge und Gewirr, der enge Durchgang quetschte die hereinquellende Masse zusammen, die sich wie ein riesiger Schwarm über den Appellplatz ausbreitete. Das heiße Summen der Erregung wurde von dem Brüllen und Schreien der Blockführer übertönt, die sich an den Händen gefasst hatten und den ersten Schub abfingen und mit Fußtritten und Kniestößen zum Halten brachten. Viele der Gejagten hatten nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten, sie sanken nieder, spitzatmig und keuchend. Das Tor wurde geschlossen. Die Begleit-SS rückte in die Quartiere der Kasernen ab.
In den vorderen Blockreihen hingen die Häftlinge an den Fenstern.
»Der Lagerälteste, sämtliche Blockältesten und der Lagerschutz zum Tor!«, klang Reineboths Stimme durch die Lautsprecher. Was mochte das wieder bedeuten? Das in Lähmung und Ungewissheit verharrende Lager horchte. Für die Häftlinge des Lagerschutzes war der Befehl ein willkommener Abbruch ihrer vorgetäuschten Suchaktion. Sie rannten aus den Blocks, in denen sie sich gerade befanden, sammelten sich vor ihrem Quartier und eilten, vom Kapo angeführt, den Appellplatz hinauf, sich unterwegs mit den Blockältesten vereinend.
Reineboth gab Krämer nicht Zeit, Aufstellung nehmen zu lassen und seine übliche Meldung abzugeben. »Sofort alles im Lager unterbringen und aufteilen!«
Kluttig ließ die Blockführer durch den Lagerschutz ablösen, der nun seinerseits eine Kette um den Menschenhaufen bildete. Krämer hatte sogleich die Situation erkannt und wusste, dass das herrische Wesen der beiden nur Hilflosigkeit war, den Andrang zu bewältigen. Es galt ihm, die richtige Taktik anzuwenden, um die Lage zu beherrschen. Schon waren die abgelösten Blockführer dabei, wie beißwütige Hunde unter die Erschöpften zu fahren. Schnell gab Krämer seine Befehle. »Blockälteste in Reihenfolge antreten!« Sofort spritzten die Blockältesten in zwei Reihen auseinander.
»Stillgestanden!«
Ohne Reineboth und Kluttig zu beachten, ging Krämer auf den Menschenhaufen zu.
»Kameraden«, rief er, »ihr werdet jetzt zu je 100 Mann auf die einzelnen Blocks aufgeteilt. Die Kameraden vom Lagerschutz übernehmen die Formierung der Gruppen und bringen sie zu den Blocks. Disziplin und Ordnung! Dann geht es schnell!«
Der Kapo des Lagerschutzes übernahm das Kommando über seine Leute. {Die sorgfältige militärische Erziehung wirkte sich aus.} Schnell teilte er sie in Gruppen von je zehn Mann auf, die sich wiederum je zehn Mann aus der Masse herausgriffen und Züge von je hundert Mann formierten. Das ging nicht glatt, denn die müden Menschen ließen sich nicht wie ein Regiment Soldaten kommandieren. Doch der Instinkt des Gefangenen war die dirigierende Kraft, die es auch verhinderte, dass die Blockführer die Aufteilung stören konnten. Sie mussten es den Häftlingen überlassen und beschränkten sich darauf, hier und da besonders Schwache mit gezielten Fußtritten hochzutreiben. Indessen rief Krämer die einzelnen Blockältesten auf, und es dauerte nicht lange, dass sich die ersten Gruppen den Appellplatz hinunterbewegten. In einer knappen Stunde war alles vorüber. Die Blockführer verzogen sich. Zurück blieben Reineboth und Kluttig. Sie hatten dabeigestanden und zugesehen. Der eine hämisch und auf der Knopfleiste trommelnd, der andere verbissen. Jetzt zog Krämer die Mütze und meldete: »Befehl ausgeführt. Zugänge auf die Blocks verteilt.«
Kluttig schob den Unterkiefer vor.
»Sie fühlen sich wohl schon als Kommandeur, was?«
Wie so oft, wenn er vor Kluttig stand, musste Krämer den Stoß des Hasses abfangen, um den Gefährlichen nicht noch mehr zu reizen. Schweigend durfte er die provokatorische Frage nicht hinnehmen, das wäre ihrer Bestätigung gleichgekommen.
»Nein, Hauptsturmführer, ich habe nur Ihren Befehl ausgeführt.«
»Befehl ausgeführt!«, schrie Kluttig los. »Wenn bis Mittag die 46 nicht hier sind, dann lege ich Sie eigenhändig um!«
Der unmotivierte Gedankensprung zu den 46 warnte Krämer. Insgeheim hatte er gehofft, dass die Suche nach den 46 ebenso untergehen möge wie die Suche nach dem Kind. Auf diese Drohung musste er reagieren. Welche richtige Antwort aber ließ sich zwischen zwei Atemzügen finden?
Da enthob ihn Reineboth ungewollt der Entscheidung.
»Der Lagerschutz sucht weiter, verstanden?«
»Jawohl«, antwortete Krämer und atmete erleichtert auf.
»Wegtreten!«
Die Blocks gerieten in Bewegung, als die Hundertmanngruppen in die Tagesräume quollen. So, wie sie waren, fielen viele der Ermatteten auf die bereitwillig frei gemachten Bänke, oder sie streckten sich erlöst auf den Fußboden nieder, ohne Sinn und Interesse für die Umgebung. Auf ihren gehetzten Gesichtern zeichnete sich die Erlösung ab, nach den Strapazen endlich ein Dach über dem Kopf zu haben. Bochow, an Runkis statt, hatte ebenfalls hundert Mann auf den Block gebracht. Er verteilte sie auf die vier Flügel und wehrte die neugierigen Insassen ab. »Lasst sie zur Ruhe kommen. Gebt ihnen zu trinken. Wer ein Stück Brot entbehren kann, helfe.« Er selbst holte seine Ration aus dem Spind und teilte sie auf. Andere folgten seinem Beispiel. Die Stubendienste brachten Kaffee. Decken wurden herbeigeschleppt, Notlager hergerichtet. Viele Insassen machten im Schlafraum ihren Bettplatz für die Kranken frei. Nicht mehr wurde danach gefragt, dass die Benutzung der Betten am Tage streng verboten war. »Was wollen die uns jetzt noch verbieten? Los, rin mit die Kumpels!« Sie zerrten ihnen die verdreckten Lumpen vom Leibe. Manch einer der Erschöpften wimmerte vor Glück, auf einem Strohsack sich ausstrecken zu können. Schlafen, schlafen, nichts als schlafen! Sogar der Hunger trat vor diesem stärksten Bedürfnis zurück. Nachdem es sich im Block beruhigt und die Kräftigeren unter den Zugängen sich zurechtgefunden hatten, konnte sich Bochow mit diesen unterhalten. Von neugierigen Blockinsassen umringt, berichteten sie:
Vor vielen Wochen schon waren sie aus dem unterirdischen Lager bei Nordhausen, wo man eine V-Waffenfabrik in den Berg hineingetrieben hatte, evakuiert worden. Unterwegs hatten sie sich mit ähnlichen Transporten von Häftlingen aus Halberstadt, Mühlhausen und Langensalza vereinigt. Kreuz und quer waren sie gehetzt worden, immer zwischen den Fronten, von der SS getrieben und gezwungen, mit ihr vor dem anrückenden Amerikaner zu fliehen. Besonders schlimm wurde es für sie in der Nähe der Fronten. Ihre langen Züge waren den Angriffen der Tiefflieger ausgesetzt, die anscheinend nicht erkennen konnten, dass es sich um Häftlingstransporte handelte, und rücksichtslos in die Kolonnen schossen. Unbeschreiblich hohe Verluste hatte es dann immer gegeben, ungerechnet der Kranken und völlig Erschöpften, die unterwegs von der SS und – auf dem Marsch durch die Ortschaften – von Hitlerjugend abgeknallt worden waren. Oft mussten sich die Züge auf Seitenwegen durchschlagen, weil die Straßen verstopft waren von Panzern, Geschützketten und marschierenden Kolonnen der Soldaten. An dem ratternden und knatternden Lärm vorbei rasten Motorräder und Autos mit Offizieren. Zwischen dem militärischen Gewimmel die Trecks flüchtender Zivilisten. So fluteten auf den Straßen Thüringens die Geschlagenen zurück. An den Feldrainen längs der Landstraßen lagen Berge gestapelter Artillerie- und Flakmunition, die nicht mehr mitgenommen werden konnte, so eilig war die Flucht!
Mit gespannten Gesichtern lauschten die Insassen den Berichten. So also sah es draußen aus! Wie nahe schon musste die Front sein, wenn bereits die Thüringer Außenkommandos geräumt werden mussten! Wie auf diesem, so erfuhren die Häftlinge auch auf den übrigen Blocks von den Geschehnissen. Erwartungen und Hoffnungen ballten sich in der zusammengepferchten Masse des Lagers zusammen. Konnte nicht täglich mit dem Eintreffen der amerikanischen Vorhuten gerechnet werden? –
Es hatte kaum die elfte Vormittagsstunde begonnen, als die Sirene aufheulte: Fliegeralarm! So früh hatte er noch niemals eingesetzt. Diesmal war kein Gewimmel im Lager, kein Arbeitskommando rückte ein. Nur die 16 vom Sanitrupp rannten den Appellplatz hinauf. Starr lag das Lager in der frühen Sonne des 4. April. Es zogen auch keine silbrig glänzenden Vögel am Himmel dahin. Der Alarm galt amerikanischen Tieffliegern, die aus hohem Himmel auf die eiligen Kolonnen der Lastwagen herabstießen, die sich den Berg hinunter auf Weimar zubewegten. Im Gelände der SS hatte der Alarm die Hast der Vorbereitungen abgeschnitten. Vor den Munitionsbunkern stand eine Anzahl allein gelassener Lastwagen, halb beladen. Die SS war verschwunden, sie hockte in den Unterständen. Die Schützen der dreifach gestaffelten Postenkette duckten sich in den Splittergräben. Von weitab aus dem Tal drang das gedämpfte Bellen und Husten der Geschütze bis zum Berg hinauf.
Doch nur eine kurze Stunde hatte der Alarm gedauert, und eine halbe Stunde nach der Entwarnung war Krämer durch Köhn bereits über alles unterrichtet, was die 16 draußen gesehen. Die Munitionstransporte hatten sie beobachtet. An der äußeren Bewachungszone waren sie auf die dreifache Postenkette gestoßen, zwischen den Posten standen Maschinengewehre … Auf den Türmen hatten sie die Doppelposten und die schwere Bewaffnung entdeckt. Alle Beobachtungen deuteten darauf hin, dass da draußen fieberhafte Tätigkeit entwickelt wurde, die nur durch den Alarm unterbrochen worden war. Schnell musste Bochow informiert werden. Krämer eilte nach dessen Block. Bochow folgte dem Lagerältesten die äußere Steintreppe hinauf, die zu den oberen Flügeln führte. Hier waren sie ungestört. Krämer gab knappen Bericht. Bochow hörte zu. Sein Blick glitt dabei über den Teil des Lagers hinweg, der von hier oben zu übersehen war. Schweigend und still lagen die Blocks. Nirgends war ein Häftling zu sehen. Schweigend und starr standen die Türme drüben am Zaun. Dort hinten aus dem verrußten Schornstein des Krematoriums quoll die träge Lohe. Sie verheizten wieder. – Der Gestank verbrannten Fleisches mischte sich mit dem scharfen Geruch der kochenden Suppe aus der Küche. Bochow machte die Augen schmal. Über die Dächer des Blocks hinweg konnte er ein Stück des Appellplatzes mit dem Torgebäude sehen. Ihm schien es, als könne er auf dem Laufgang des Hauptturms, statt der üblichen zwei, vier Maschinengewehre erkennen. Unheimlich still und reglos war es da oben am Tor, unheimlich still und reglos auch das Lager, wie die schwüle Natur kurz vor dem Gewitter. –
»Dicke Luft«, sagte Bochow dumpf. Doch es war nicht Zeit, Gedanken nachzuhängen. Jede Stunde konnte die Starre zerbersten und die Furie unter die Menschen fahren. {Der Augenblick} drängte nach einer Aussprache mit den Genossen des ILK. Auf welche Weise aber konnten sie unauffällig nach Block 17 gelangen? Krämer half. Der Küchengestank – sonderbarerweise – brachte ihm die richtige Idee zur Tarnung.
»Pass auf«, sagte er, »die Genossen des ILK treten an Stelle der Stubendienste vom Block 17 an der Küche an und bringen das Essen zum Block. Im Gedränge fallen sie nicht auf. Das berede ich. Wie aber kriegst du bis dahin deine Schäfchen zusammen?« Bochow verstand Krämers Frage. War der Lagerälteste doch der Einzige, der sich trotz Weisangks Verbot im Lager bewegen konnte, und nur durch Krämer konnten die Genossen des ILK instruiert werden. Die von Bochow bisher so streng eingehaltene Vorsicht hob sich jetzt von selbst auf. Er gab Krämer daher die Namen und Blocks der einzelnen Genossen bekannt, die sofort verständigt werden mussten. Bochow legte Krämer die Hand auf die Schulter.
»Du wirst es von nun an sehr schwer haben, Walter. Bei dir konzentriert sich alles.«
Krämer sagte nichts darauf. Seine Hände umschlossen hart das rostige Rohr des Geländers. Erst nach einer Weile fuhr Bochow fort: »Dein Leben wird stündlich bedroht sein. Machen wir uns nichts vor. Wenn sie von den 46 keinen erwischen, dann kannst du … Dann besteht die Gefahr, dass sie dich … Sie sehen nun mal den führenden Kopf in dir.«
»Weiß ich.«
»Wäre es nicht besser für dich, wenn du noch rechtzeitig untertauchtest … Ob 46 oder 47 verschwinden, das spielt nun keine Rolle mehr.«
Krämer blickte Bochow an. Auf ihren Gesichtern spielten die Gedanken. Krämer dachte an Kluttigs Drohung, die er Bochow verschwieg.
»Vielleicht haben wir keine Zeit und Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen, Herbert«, sagte er zwischen karg geöffneten Lippen, »darum will ich dir jetzt noch etwas sagen. Behalte es für dich. Ich will leben und nicht sterben kurz vor dem Ende. Versteh mich recht. Mag das Ende sein, wie es will. Vielleicht will ich nur leben, weil … Ich meine, man ist ja schließlich neugierig, was nach dem kommt.« Der Scherz gelang Krämer schlecht. Er blickte zum Himmel auf. »Vorige Woche habe ich mein elftes Haftjahr rund gemacht. Elf Jahre! Gottverdammmich! Da möchte man doch auch wissen, ob es sich gelohnt hat.« Krämer verstummte und biss die Lippen aufeinander. Bochow ehrte sein Schweigen. Über die eigene Rührseligkeit ärgerlich, schimpfte Krämer mit sich selbst. »Quatsch! Umlegen? Na, wennschon. Dann bilden sie sich ein, den Kopf abgeschlagen zu haben, und das ist schließlich auch gut, für das ILK meine ich, nicht wahr?« Wie unbedacht, von Bochow die Bestätigung der Frage zu erwarten. – Krämer lachte darum verlegen: »Da stehen wir rum, und ich quatsche dummes Zeug …«
Krämers Idee war gut gewesen. Eine kurze Verständigung mit dem Blockältesten von 17, eine kurze Instruktion durch diesen an die Stubendienste. »Hört zu. Beim Essenholen bringt ihr ein paar Kumpel mit. Sie wollen für ’ne Weile ungestört sein, {bringt sie her und} quatscht nicht darüber.« Ohne zu neugieren, waren zwei der Stubendienste nach der Küche gekommen und hatten die Genossen unauffällig in den Block gelotst. Sie zogen sich sofort in den leeren Schlafsaal zurück. Das internationale Menschengemisch des Quarantäneblocks, ähnlich stumpfe und armselige Geschöpfe wie die Bewohner des Kleinen Lagers, nahm keine Notiz davon. Schnell musste die Besprechung durchgeführt werden. Nach der Essenausgabe hatten die Genossen die leeren Kübel in die Küche zurückzubringen, um Gelegenheit zu haben, ebenso unauffällig, wie sie gekommen waren, den Block zu verlassen und in ihre Behausungen verschwinden zu können. Der Bericht, den Bochow über die Beobachtungen des Sanitrupps gab, von den dreifach gestaffelten Kordons um den Zaun, den lauernden Maschinengewehren auf den Türmen, den bereitgelegten Handgranaten und Panzerfäusten … wie ein Raubvogel zog die Gefahr ihre Kreise immer enger über dem Lager. Was tun, wenn die Evakuierungen einsetzten? Immer wieder fand sich nur die eine Antwort auf die oft gestellte Frage. Dem Raubvogel mussten, wenn er niederstieß, so viele Menschen aus den Klauen gerissen werden, wie es durch passiven Widerstand und Verzögerung möglich war.
Waffen, Widerstandsgruppen – waren sie und die sorgfältigen Vorbereitungen für die letzten Stunden sinnlos geworden, da sich alle Mitglieder des ILK gegen den ungestümen Pribula wehrten, der von Verzögerung nichts wissen wollte und den bewaffneten Aufstand forderte? Er schien sogar recht zu haben.
»Ich kann nicht verstehen«, sagte er, »wir sollen nicht machen den Aufstand, wenn viele, viele werden getrieben in den Tod? Und wir sollen losschlagen, wenn gefunden wird nur einer von den 46? Ich kann das nicht verstehen.«
»Und doch ist es so«, antwortete Bochow dem Hitzigen. »Wir wollen hoffen, dass uns dieser Schritt der Verzweiflung erspart bleiben möge. {Der Tod} ist das Letzte, was wir zu vergeben haben. Solange aber Leben in uns ist, werden wir es verteidigen{, auch wenn viele sterben müssen}. Ich bin für den Aufstand, wenn seine Stunde gekommen ist. Sie ist noch nicht da.« Bogorski stimmte Bochow zu. Die Ungleichheit der militärischen Kräfte ließ den bewaffneten Aufstand erst zu, wenn die Front so nahe war, dass mit ihr Verbindung hergestellt werden konnte. So weit aber war es noch nicht. Jetzt galt es, den in den Blocks zusammengepferchten Menschen eine Marschrichtung zu geben, galt es, die Ungewissheit und Unsicherheit zu durchstoßen.
Bochow schlug vor, im ganzen Lager durch die Genossen der Gruppen, durch die Blockältesten und durch jeden weiteren zuverlässigen Kumpel die zentrale Parole verbreiten zu lassen: Evakuierung verzögern! Jeder Tag und jede Stunde sind ein Gewinn.
»Vielleicht morgen schon«, setzte er hinzu, »kann die Lage eine völlig veränderte sein, und wir werden ganz neue Beschlüsse fassen müssen. Vielleicht morgen schon kann die Front so nahe sein, dass wir durch aktiven Widerstand jede weitere Evakuierung verhindern können.« Seine Worte waren an Pribula gerichtet.
Die Gefahr der Stunde war so stark nach vorn gerückt, dass die bisherigen Sorgen und Bedrängnisse, die durch das verschwundene Kind entstanden waren, fernab lagen. Keiner dachte in diesem Augenblick an das Kind, keiner an Höfel und Kropinski. Selbst die eben noch so mutvoll durchgeführte Rettungsaktion für die 46 Todeskandidaten schien vergessen. Das alles trat zurück hinter der Frage nach dem Schicksal aller.
Zur selben Zeit, da die Genossen des ILK berieten, hatte sich auch die durch den Alarm zersprengte und durch den überraschenden Vorstoß der amerikanischen Flieger nervös gewordene Versammlung in Schwahls Dienstzimmer wieder eingefunden. Die kurze Stunde des Alarms hatte ausgereicht, die nach außen hin noch gewahrte Beherrschung zerplatzen zu lassen. Selbst Schwahl, der sich sonst Mühe gab, als der Überlegene zu erscheinen, konnte nicht mehr durchhalten. Er verfiel der allgemeinen Aufregung und Nervosität. Alle redeten und gestikulierten durcheinander. Jede Ordnung war aufgelöst. »Na, bitte schön, meine Herren«, eiferte Schwahl in die Unruhe hinein, »nun sitzt uns der Amerikaner auf der Pelle! Ich habe Mitteilung erhalten, dass amerikanische Panzerspitzen schon in den Raum von Gotha vorgedrungen sein sollen.«
Kluttig brüllte erregt: »Und wir stehen noch hier herum und halten Reden! Wozu eigentlich haben Sie schwere Bewaffnung an die Türme verteilen lassen?«, schrie er Schwahl an und fuhr wild unter die Versammelten. »Schießt die Brut zusammen und dann fort!«
Es war nicht erkennbar, ob der Aufruhr, den sein Geschrei ausgelöst hatte, Zustimmung oder Ablehnung bedeutete. Im Strudel der Kopflosigkeit quirlte alles durcheinander. Mit einem behenden Satz sprang Schwahl hinter den Schreibtisch und entriss dem Schubfach eine Pistole. »Meine Herren!« Alles fuhr zu Schwahl herum, sie sahen die Waffe in seiner Hand. Mit verzerrtem Gesicht starrte Kluttig auf den Kommandanten.
»Ich bin bereit, mir vor Ihren Augen eine Kugel in den Kopf zu jagen. Dann können Sie meinetwegen auf Kluttigs Befehle hören! Solange ich lebe, gilt mein Befehl!«
Schwahl sah die Wirkung seiner Demonstration auf allen Gesichtern. Er schleuderte die Pistole ins Schubfach zurück und stieß es zu.
»Keine Panik, meine Herren! Noch halten unsere Truppen die Stellungen. In wenigen Tagen wird das Lager leer sein, und wir haben Gelegenheit, uns abzusetzen. Mein Befehl gilt. Es ist der Befehl von Reichsführer SS!«
Zweiling hatte sich auf der Effektenkammer noch nicht sehen lassen. Keiner der Häftlinge vom Kommando dachte daran, zu arbeiten. Sie drückten sich im Schreibbüro und im Kleiderraum herum. Das Schicksal des Kommandos lastete auf jedem Einzelnen von ihnen. Pippigs Tod machte sie voreinander still.
Rose saß an seinem Arbeitsplatz. Keiner der Häftlinge sprach mit ihm, keinen von ihnen wagte er anzusehen, obwohl es ihn drängte, gegen die Absonderung aufzubegehren. Doch die stumme Verachtung drückte ihn viel zu sehr zusammen, so dass er am Tisch hockte und als Einziger, gallig und verbissen, eine unsinnige Betriebsamkeit entwickelte. Die schweigsame Aufmerksamkeit der Häftlinge aber galt dem Zinker Wurach. Der spürte die geheime Übereinstimmung gegen sich und bemühte sich krampfhaft, recht aufgeräumt zu sein. Er war der Einzige, der unaufhörlich schwatzte; soweit überhaupt Gespräche zustande kamen, drehten sie sich um die bevorstehende Evakuierung.
»Von mir aus kann es besser heute als morgen losgehen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
Wurachs Bemerkung wurde vorerst schweigend hingenommen, bis sich einer von den Häftlingen, mit denen sich Wurach im Schreibbüro befand, nicht zurückhalten konnte und bemerkte: »Es gibt auch in diesem Falle welche, die es verstehen, mit dem Arsch an die Wand zu kommen …«
Sofort hakte ein anderer ein: »Vorausgesetzt, dass so einem nicht schon vorher der Arsch kalt geworden ist …«
Die Anspielung war deutlich. Wurach fühlte sich umlauert und übermeckerte verlegen die verborgene Drohung. Die Häftlinge schwiegen wieder. Aber in ihnen allen bohrte es. Wenn sie den Zinker nur greifen, wenn sie ihm auf die Stirn zusagen könnten: Du Hund hast uns verzinkt! Du hast auch Pippig auf dem Gewissen! Doch sie wagten es nicht. Noch war es zu gefährlich, ihn an der Kehle zu packen.
Am Nachmittag kam Zweiling. Sein Erscheinen war die Folge einer Auseinandersetzung, die er mit Hortense gehabt hatte. Zweiling wollte sich von nun an überhaupt nicht mehr im Lager sehen lassen. »Man kann nie wissen …«, war die philosophische Begründung seiner Absicht. Doch Hortense hatte ihn fortgetrieben. »Alle deine Leute stehen jetzt auf ihrem Posten, und du willst dich drücken?«
»Jeder ist sich selbst der Nächste …«
»Der Nächste?«, hatte Hortense gekeift. »Der Nächste, der von seinen eigenen Leuten umgelegt wird, bist du!«
»Wieso ich?«, war die dumme Frage Zweilings.
»Na, hört euch den Herrn Hauptscharführer an! – Erst mogelt er mit einem Judenbalg, dann mogelt er mit der Kommune …«
Hortense hatte aggressiv die Fäuste in die Hüften gestützt.
»Wenn ich Kluttig wäre, dann würde ich sagen: Da haben wir ja den Beweis! Nun drückt er sich beiseite, der feige Hund!«
Hortense war auf Zweiling losgefahren: »Gerade jetzt musst du stramm durchhalten! Denn zu guter Letzt wirst du mit deinen Leuten abziehen müssen. Oder bildest du dir noch immer ein, bei der Kommune unterkriechen zu können?« Hässlich hatte Hortense aufgelacht: »Wo ist dein Judenbalg? Die Kerle haben dich damit ganz schön reingelegt.«
Zweiling hatte die Zunge vorgeschoben und nachdenklich geblinzelt. Die sonst so verworrene Sicht {in das Ende} hatte sich inzwischen so weit geklärt, dass die Räumung des Lagers gesichert schien, bevor die ersten Amerikaner kamen. Also ging es ins Ungewisse hinein. Hortense hatte wieder einmal recht gehabt. Zweiling musste mitmarschieren.
Das Kommando merkte Zweilings verändertes Wesen. Er kümmerte sich um niemand, interessierte sich nicht für die Arbeit, zog sich sofort in sein Zimmer zurück, und hier blieb er. Für Wurach war Zweilings Verhalten ein Signal. Von diesem hatte er nichts mehr zu erhoffen, von den Häftlingen aber alles zu befürchten. Zwischen die Puffer war er geraten … Doch ließ sich Wurach nichts anmerken, wie angestrengt er bereits über einen Ausweg grübelte.
Obwohl längst erwartet, löste der Befehl, der am späten Nachmittag über den verödeten Appellplatz schallte und in die Blocks hineinstieß, dennoch einen lähmenden Schock aus.
»Alle Juden sofort auf dem Appellplatz antreten!«
Reineboths Stimme brachte in den Blocks das Rumoren und Gesumm zum Schweigen, aber nur für wenige stockende Atemzüge, dann brach der Lärm noch stärker wieder auf. »Es geht los, es geht los! Die Juden kommen zuerst dran!«
Die Würfel waren gefallen!
Zwar waren die Juden die Ersten, doch jeder Einzelne glaubte mit seinem Block als Nächster dranzukommen. Viele hatten sich schon reisefertig gemacht, eine Schlafdecke zusammengerollt und die wenigen Habseligkeiten verpackt.
Manche hatten sich abenteuerliche Pläne ausgeheckt, um der Evakuierung zu entgehen. Im freien Gelände des Lagers wollten sie sich ein Loch in die Erde buddeln, wollten unter die Baracken kriechen … Aber das waren Spintisierereien. Der unerbittliche Befehl faszinierte alle und hielt sie zusammen in Hoffnung und Fatalismus.
Unter den 6000 jüdischen Häftlingen des Lagers verursachte der Befehl einen Aufruhr der Angst und Verzweiflung. Zuerst war ein Schrei des Entsetzens in ihnen aufgebrochen. Sie wollten die schützenden Blocks nicht verlassen. Sie schrien und weinten, wussten nicht, was sie tun sollten. Wie ein wütender Wolf hatte der furchtbare Befehl sie angesprungen, hatte sich in sie verbissen, und sie konnten ihn nicht mehr abschütteln. Ungeachtet von Weisangks Befehl, die Blocks nicht zu verlassen, stürzten viele der jüdischen Häftlinge fort, kopflos und in höchster Not. Sie rannten in andere Blocks hinein, in die Seuchenbaracke des Kleinen Lagers, ins Häftlingsrevier. »Helft uns! Versteckt uns!«
»Wie euch verstecken? Wir kommen doch selber dran.«
Trotzdem, die Blocks nahmen sie auf. Man riss ihnen die jüdischen Markierungen von den Kleidern, gab ihnen andere dafür. Köhn {und der Kapo vom Revier} steckten die Hilfesuchenden als »Kranke« in die Betten, gab ihnen ebenfalls andere Markierungen und Nummern. Manche der Gehetzten versteckten sich auf eigene Faust und krochen in den Leichenkeller des Reviers. Andere wieder stürzten in die Pferdeställe des Kleinen Lagers, in der Masse untertauchend. Und doch war diese Flucht die sinnloseste, denn gerade hier steckten viele jüdische Angehörige fremder Nationen. Aber wer überlegte, wer dachte klar, wenn er vom Wolf gehetzt wurde …
Was in den Blocks der jüdischen Häftlinge zurückblieb, unterlag schließlich der Lähmung des mörderischen Befehls. Verstört sahen sie dem Kommenden entgegen. Die Blockältesten, selbst jüdische Häftlinge, hatten nicht den Mut, zum Marsch nach dem Tor antreten zu lassen. Dort wartete der Tod! Konnte man ihn nicht auch hier erwarten?
Bochow kämpfte mit sich. Sollte er es wagen, in das menschenleere Lager hinauszulaufen? – Wer jedoch, außer ihm von den Genossen des ILK, konnte jetzt Krämer beistehen? Also lief Bochow zur Schreibstube.
»Na? Und nun?«, empfing ihn Krämer, als hätte er ihn erwartet, und nicht etwa Ratlosigkeit lag in der Frage.
»Den Abmarsch hinauszögern, so lange wir es können!«
»Für wie lange wird es uns gelingen?«
»Ganz gleich! Und wenn es nur Stunden sind, Walter, wenn es nur Stunden sind!«
Im Lautsprecher knackte es. Reineboths Stimme ertönte, nicht mehr lässig und zynisch: »Der Lagerälteste zum Rapportführer!«
Es war stets wie ein neues Erschrecken, wenn eine Durchsage kam. Krämer stampfte gequält auf und schleuderte den Arm gegen den feindlichen Lautsprecher. »Da!«
Krämer stülpte die Mütze auf und zerrte sich den Mantel über. Bochow sah den hastigen Bewegungen zu.
»Walter!«, rief er Krämer an.
»Na was?«
Alles, was sie sich hätten sagen mögen, war in die Kargheit der kurzen Ausrufe hineingepresst. Sie empfanden es. Krämer winkte ab: nicht darüber reden.
»Geh in deinen Block zurück, ich mach das schon …«
Reineboth empfing Krämer ungeduldig: »Wo bleiben die Juden? Kümmern Sie sich gefälligst, dass die Kerle aufmarschieren! Oder glauben Sie, dass Sie es nicht mehr nötig haben?«
»Ich war in den Blocks und habe mich um die Durchführung Ihres Befehls bemüht«, log Krämer.
»Bemüht, bemüht!«, schrie Reineboth. »Das Gesindel kommt zum Arbeitseinsatz! In einer Stunde steht es hier angetreten, sonst gnade Ihnen Gott!«
Es war ein bitterer Gang zu den Blocks der jüdischen Häftlinge. Krämer ging wie mit Blei an den Sohlen. In seiner Brust schrie es: Bleibt in den Blocks, Kameraden! Keiner geht nach oben! Wir haben Waffen! Wir schützen euch! Aber der Ruf des Feuers verzehrte sich, Krämer betrat den ersten Block. –
Mit {angstoffenen} Gesichtern und dem Beben des Weinens in der Kehle umdrängten ihn die Unglücklichen, als käme durch ihn die Rettung.
»Wir bleiben hier! Wir gehen nicht!«
Unerhört musste sich Krämer zur bitteren Pflicht zwingen: »Ihr müsst gehen, Kameraden. Wir müssen auch gehen …« Krämer wandte sich an den jungen Blockältesten, er kannte ihn gut. »Lass antreten, Akim, es geht nicht anders. Langsam, verstehst du, langsam. Der da oben mag noch ein paarmal brüllen. Vielleicht können wir es bis zum Dunkelwerden hinziehen. In der Nacht können sie nicht evakuieren. Morgen kann schon wieder etwas anderes sein.«
Krämer tat nichts dazu, als die Häftlinge der Aufforderung ihres Blockältesten nur zögernd nachkamen. Er ging zu den anderen Blocks. Hier war es das Gleiche. Immer wieder rannten die verzweifelten Menschen in die Blocks zurück, kaum dass sie angetreten waren. Die Marschzüge kamen nicht zustande. Hinter den Fenstern der Baracken, die sich in der Nähe der jüdischen Blocks befanden, drängten sich die Insassen und sahen dem einsamen und verzweifelten Kampf zu. Auch vom Block der polnischen Häftlinge konnte es beobachtet werden. Mit einigen seiner Kameraden der Widerstandsgruppe klebte Pribula am Fenster, hatte die Fäuste hart gegen die Scheibe gedrückt.
»Verflucht! Wir müssen zusehen hier! Verflucht!« Seine Kameraden verstanden ihn. Schweigend, verbissen und mit dunklem Glanz in den Augen sahen sie auf das Drama da draußen. Aber sie sahen auch, dass Krämer sich keine Mühe gab, Ordnung in das Gewirr zu bringen. Kaum war unter seiner Gegenwart ein Teil der jüdischen Häftlinge vor dem Block zusammengekommen, ging Krämer zum nächsten. Sofort verschwanden die Angetretenen wieder. So ging es hin und her, über eine Stunde.
»Wo bleiben die Juden? Lagerältester! Sofort aufmarschieren lassen!«
Der grausame Lautsprecher trieb die schreienden Menschen noch mehr durcheinander. Vor einem der Blocks kam so etwas wie ein Marschzug zustande, doch gelangte er nur bis zum nächsten Block, hier zerstob er wieder, und die Häftlinge rannten in den Block hinein oder flüchteten in den Schutz des eigenen zurück, weinend, schreiend, schluchzend, fluchend, betend. Sie fielen sich in die Arme, küssten sich, sagten sich Lebewohl. Der Blockälteste ermahnte sie erneut, anzutreten. Sie flohen in die Schlafsäle, krochen unter die Betten oder versteckten sich auf der Latrine, und alles war so sinnlos, weil es kein Verbergen gab. Der Wolf hatte seine Fänge in ihrem Fleisch und hetzte sie und ließ sich nicht mehr abschütteln. Wieder schrie der furchtbare Lautsprecher: »Lagerältester! Sofort antreten lassen!«
Krämer zwängte sich durch die Masse der Häftlinge, die, einem Bienenschwarm gleich, den Eingang des Blocks verstopften, und sank am Tisch des jungen Blockältesten nieder. Akim sah die Qual.
»Lass uns nach oben gehen«, sagte er, »es hilft ja doch nichts …«
Krämer riss die Arme nach oben und wuchtete die Fäuste auf den Tisch.
Die Spannung nur war es, die zerbarst. Er sprang auf und brüllte Akim im Hinausstürzen zu: »Immer nur antreten lassen, wenn der oben brüllt, immer nur antreten lassen!«
Mehrere Male schon hatte Schwahl den Rapportführer nach dem Aufmarsch des Judentransportes bedrängt. Das Blockführerrudel, einer eingesperrten Hundemeute gleich, lauerte an den Fenstern der Stube am Torgebäude. Wieder verging eine halbe Stunde, der Appellplatz blieb noch immer leer.
Was hätte Bochow darum gegeben, nicht durch den das Lager lähmenden Befehl an den Block gefesselt zu sein. – Eingefangen in drangvolle Ungeduld und quälende Ungewissheit, wartete er. Was mochte Krämer tun? Was ging vor sich in den Blocks der jüdischen Kameraden? Was ereignete sich oben am Tor? Plötzlich zerriss eine neue Durchsage die Spannung.
»Der Lagerschutz sofort am Tor antreten!«
Aus dem Ton von Reineboths Stimme hörte Bochow Endgültigkeit heraus. »Sie gehen aufs Ganze«, sagte er, und die mit ihm im Tagesraum harrenden Häftlinge starrten sorgenvoll zu dem unheimlichen Lautsprecher hinauf, der mit jeder Durchsage feindlicher und gefährlicher wurde.
»Jetzt holen sie den Lagerschutz …«, sagte einer in die Stille hinein.
Unvermittelt begann ein anderer zu deklamieren:
Leergebrannt ist die Stätte
wilder Stürme raues Bette
In den öden Fensterhöhlen
und des Himmels Wolken schauen
hoch hinein …
Einige lachten. Das Lachen war trockenes Gebell …
Sonst eilte der Lagerschutz im Laufschritt zum Tor. Diesmal marschierte er im geschlossenen Zug den Appellplatz hinauf. Das dauerte um Minuten länger, und um jede Minute Verzögerung wurde gerungen. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit verfolgten die Häftlinge an den Fenstern der vorderen Blockreihen die Vorgänge oben am Tor, als die hundert Mann des Lagerschutzes angetreten waren. Sie sahen Reineboth durchs Tor kommen, sahen den Kapo des Lagerschutzes Meldung erstatten, sahen Reineboth Befehle erteilen, den Lagerschutz Aufstellung nehmen und Reineboth wieder durchs Tor verschwinden. Wenige Minuten vergingen. Da riss die Torwache die Flügel der schmiedeeisernen Tür auf, und ein Rudel Blockführer stürzte ins Lager, stürmte den Appellplatz hinunter, Knüppel in der Hand. Die Häftlinge an den Fenstern gerieten in Bewegung: »Sie holen die Juden!«
Das Rudel fuhr wie ein jäher Windstoß unter die jüdischen Häftlinge, die schreiend in die Blocks flüchteten. Aber sie wurden in wildem Knüppeltanz wieder hinausgetrieben. Mitten im Höllentumult befand sich Krämer! Er entriss die Bedrohtesten den Prügeln der rasenden Schläger, ohne Rücksicht darauf, dass auch auf seinen Schädel die Knüppel niedersausten. Einige von den Blockführern riegelten die Eingänge der Blocks ab, die anderen jagten den schreienden Menschenknäuel zum Appellplatz hinauf. Was unterwegs niederstürzte, wurde im Gedränge zertrampelt oder mit Stiefeltritten wieder hochgetrieben. Krämer war zurückgeblieben, nachdem die wilde Jagd davongerast war. Vor den leeren Blocks sah es wüst aus. Kleidungsstücke, Mützen, Decken, Trinkbecher, Essschüsseln lagen herum, in den Blocks waren Tische und Bänke umgestürzt, die Spinde aufgerissen, in den Schlafsälen die Strohsäcke von den Gestellen gezerrt und zerfetzt. Am Pult des Blockältesten hing die Karte des Kriegsschauplatzes in Fetzen herunter. Schwer atmend stand Krämer in dem verödeten Block, eine ganze Weile, um die keuchende Brust zur Ruhe zu bringen. Wie er so stand, glich er einem Tier, das die Todeswunde empfangen hat und darauf wartet, niederzusinken. {Nur allmählich konnte sich Krämer an die plötzliche Stille gewöhnen.} Er schob die Mütze in den Nacken und wischte sich mit dem Unterarm über die nasse Stirn, der Arm fiel ihm schlaff herab. Er sah um sich, dann verließ er den Block. Hier gab es nichts mehr zu tun …
Um den nach Tausenden zählenden Schwarm der Zusammengetriebenen hatte der Lagerschutz am Tor eine Absperrkette bilden müssen. Die Blockführer waren verschwunden. Um das Torgebäude war alles verödet. Eine Stunde und zwei stand die Masse. Es wurde finster. Der Transport konnte nicht abgehen. Ununterbrochen telefonierte Schwahl mit dem Weimarer Bahnhof. Die bereitgestellten Güterzüge hatten keine Ausfahrt, die Gleise waren verstopft. Eine weitere Stunde verging, und die Menschen standen noch immer am Tor. Über ihren Häuptern patrouillierten die Wachposten des Hauptturmes auf dem Laufgang, blickten ab und zu neugierig über das Geländer auf den Menschenhaufen. Schweigend umstanden die Lagerschutzler die zusammengedrängte Masse; sie hatten sich an den Händen gefasst. Voller Angst harrten die jüdischen Häftlinge. Hier unter den Augen der SS wagte keiner von ihnen, mit dem Lagerschutz zu sprechen. Aber ihre Augen flehten: Ihr seid doch wie wir, warum haltet ihr uns fest? Einer unter den Lagerschutzlern dachte, als er die starren Augen eines jüdischen Häftlings auf sich gerichtet sah: Wenn der jetzt davonläuft – ich halte ihn nicht … Gab es eine geheimnisvolle Sprache der Gedanken? Die beiden Häftlinge sahen sich an mit unbeweglichem Blick. Der jüdische Häftling stand steif, als hielte er den Atem an. Seine Starre war die Konzentration auf einen Entschluss. Plötzlich duckte er sich. Der Lagerschutzler spürte, wie sein Nebenmann mit dem Arm eine Bewegung machte, aber schon schlüpfte der jüdische Häftling unter der Armkette durch und rannte fort. Die kühne Flucht löste eine Kettenreaktion aus. Vier, fünf, zehn schlüpften durch und flohen den Appellplatz hinunter. Der Haufen begann zu wogen und zu drängen. Die Kette der Lagerschutzler stemmte sich gegen ihn, die Flucht unterbindend. Aber der geheimnisvolle Stromkreis war bereits geschlossen. Wohl hielten die Lagerschutzler die Fliehenden zurück, doch nur, damit nicht alle auf einmal davonliefen. Dann aber hoben sie selbst die Arme und erleichterten einem neuen Schub den Durchschlupf. Sonderbare Reflexionen spielten sich dabei in den Gehirnen der Lagerschutzler ab. Was sollen wir tun? Sie laufen uns ja alle wieder davon! Wir geben uns die größte Mühe, sie zu halten, aber es nützt nichts … Noch viel sonderbarer aber war es, dass nichts am Tor sich rührte. Weder schlugen die Posten auf dem Turm Lärm, obwohl sie trotz der Dunkelheit die Flucht bemerken mussten, noch kam Reineboth oder irgendein anderer herbeigestürzt. Nichts geschah! Die Spannung, unter der sich die Flucht vollzog, ließ keinen Raum für erklärende Gedanken, warum das Unerhörte möglich war. Vielleicht konnte es geschehen, weil sich Reineboth zur gleichen Zeit beim Kommandanten befand. Oder weil die Posten auf den Türmen dachten: Lauft doch da unten, was geht es uns an. Es ist sowieso bald Schluss. Schub um Schub ließ der Lagerschutz verschwinden, und dann stand er ganz allein am Tor. Der Kapo hob die Schultern. »Also gehen wir auch. Los, antreten.« Leise, als wollten sie nicht gehört werden, formierten sich die Lagerschutzler zum Zug. Erst ein wenig zaghaft, doch dann immer sicherer auftretend, marschierten sie den Appellplatz hinunter. Hinter der ersten Blockreihe kam ihnen Krämer entgegen, der hatte alles beobachtet. Wieder zog der Kapo resigniert die Schultern hoch.
»Haut ab in euren Block«, sagte Krämer, weil in dieser sonderbaren Situation nichts anderes zu sagen war.
»Haut ab«, sagte Krämer auch zu den Häftlingen der Schreibstube, als er nach ihr zurückkehrte, und ging dann selbst nach seinem Block Nummer 3. »Die können mich mal …«, sagte er grob auf Wunderlichs Frage, ob er nicht zur Nacht abpfeifen wolle. »Ich pfeife überhaupt nicht mehr ab.« Unfasslich, dass nach der Flucht der jüdischen Häftlinge nichts geschah. Hatte sich Reineboth, nachdem er vom Kommandanten zurückkam, etwa das Gleiche gesagt wie die Posten auf dem Turm? Hatte er dem Kommandanten das Verschwinden der Juden überhaupt gemeldet? War Kluttig nicht da, der bestimmt getobt und einen Aufruhr am Tor veranstaltet hätte?
Der Abend ging in die Nacht über. In den Blocks wussten sie alle bereits, dass der Lagerschutz die Juden hatte laufenlassen, und alle warteten auf neue Ereignisse. Sie belauerten misstrauisch die Stille, jeden Augenblick gegenwärtig, dass der Lautsprecher brüllen würde. Doch das unheilvolle Ding hing stumm über der Tür des Tagesraumes. Das Warten zerbröckelte. Manch einer schlurfte in den Schlafsaal und kroch auf das Lager.
Der deutsche Blockschreiber und die beiden polnischen Helfer im Kleinen Lager waren noch lange wach. Die zweite Nacht war angebrochen, in der Pröll in seinem Versteck hockte.
Die ewig gebückte Körperhaltung war Pröll schon längst zur furchtbaren Marter geworden. Die gekrümmten Nackenmuskeln glühten. Immer wieder knickten ihm die Beine ein. Er konnte sich nicht drehen, nicht setzen, nicht kauern. Nur mit dem Kopf lehnte er sich gegen die Wand des Schachtes. War es Tag oder Nacht? War ein Tag vergangen oder zwei oder vier? Pröll stöhnte, er war müde und geschwächt. Er hatte die Augen geschlossen und konnte doch nicht schlafen. Solange er sich unbeweglich hielt, stumpfte der Schmerz in den Nackenmuskeln ab, aber bei der geringsten Bewegung durchschlug es ihn wie eine Feuerlohe. Pröll biss die Zähne aufeinander.
Auf einmal fuhr Pröll zusammen. Über seinem Kopf bewegte sich der Deckel. Durch das aufgejagte Gehirn schoss es Pröll: Sie haben mich! – Da hörte er eine vertraute Flüsterstimme: »Fritz! Mensch! Lebst du noch?« Arme griffen nach ihm und zogen ihn heraus.
Pröll zitterte und bebte. Trotz des Mantels durchfrostete ihn die feuchte Nachtkälte. »Schnell, in die Baracke!« Die Polen fassten ihn unter, und Pröll schleifte zwischen ihnen mit steifen Beinen. In der kleinen Kabine des Blockschreibers erholte er sich.
Der Blockschreiber hatte ihm einen Becher warmer Suppe gebracht. Mit zitternden Händen führte Pröll den Becher zum Mund, und das warme Getränk belebte wohltuend das erstarrte Blut. Jetzt erinnerte er sich des Brotes. Er zog einen Kanten hervor, der schon hart geworden war, und riss mit den Zähnen ein Stück ab. Einer von den Polen stürzte herein. »Sie kommen!« Pröll schnellte hoch und sprang in die Nacht hinaus. Seine Helfer ihm nach. Sie rannten zum Kanalschacht. Im Augenblick, da Pröll in ihm unterschlüpfen wollte, tauchten hinter einer der vielen Baracken zwei SS-Leute auf, schattenhaft nur erkennbar. Ein großer Hund lief {spurschnuppernd} vor ihnen her. Von Zeit zu Zeit beleuchteten sie ihren Weg mit einer abgeblendeten Stablampe. Die vier Häftlinge standen zu Stein erstarrt und wagten nicht zu atmen. Die SS-Leute gingen in kaum 15 Meter Entfernung an den Baracken entlang. Ihre Tritte knirschten. Angstgeweiteten Auges sah Pröll die SS-Leute näher kommen. Jetzt überquerten sie den freien Raum zwischen den Baracken, auf dem sich auch der Kanalschacht befand. So deutlich, wie die vier Häftlinge die SS-Leute sehen konnten, so deutlich mussten doch auch sie selbst von diesen gesehen werden …
Wenige Meter freier Raum nur lag zwischen ihnen. {Ein Stocken, ein Stehenbleiben, ein Anruf oder gar ein Schuss …} Der Hund; hob er den Kopf? Witterte er? In dieser furchtbaren Starre stockte das Herz. – Die SS-Leute hatten den freien Raum überschritten und gingen an der Barackenwand weiter … entfernten sich … Die Köpfe der vier drehten sich in die Richtung, die Augen bohrten sich in das Dunkel hinein … Der Tod in seiner ganzen Unheimlichkeit war an ihnen vorübergegangen, das schwarze Himmelsgewölbe hatte standgehalten, es war nicht eingestürzt. Lautlos verschwand Pröll im Schacht. Über ihm klappte leise der Deckel zu. Pröll lehnte den Kopf gegen die Mauer, in tiefster Seele matt. Jetzt spürte er, was ihn die Minuten gekostet hatten. –
Am anderen Morgen war Bochow als einer der Ersten zu Krämer gekommen, dessen Raum immer mehr zum Sammelpunkt wurde. – Die Rettungsaktion für die 46 Todeskandidaten, das Davonlaufen der jüdischen Häftlinge am vergangenen Abend waren offene Kampfansagen, und jeder, Krämer, Bochow, die Blockältesten, die ebenfalls gekommen waren, oder die Häftlinge in den Blocks, wartete auf Repressalien. Bisher hatte die Lagerführung selbst den geringsten Verstoß gegen die Disziplin mit dem Einsatz ihrer Macht beantwortet.
Im Lager zwischen den Blocks war es lebendig geworden. Die Häftlinge standen herum und rätselten, was sich heute wohl ereignen würde. Vergeblich wartete Krämer auf Reineboths Befehl, das Lager zum üblichen Appell aufmarschieren zu lassen. Als die Stunde dafür herangerückt war, befahl Reineboth durch den Lautsprecher lediglich die Kommandierten der Mannschafts- und Offiziersküchen an die Arbeitsstellen. Außer diesen rückte kein anderes Kommando aus. Das Ausbleiben des Appells war ebenso ungewöhnlich wie das Ausbleiben der Repressalien. Unruhig blickte Krämer auf die Uhr am Lagertor. Es war schon zwei Stunden über die Zeit.
»Das gibt heute keinen Appell«, sagte er, »das gibt überhaupt keinen Appell mehr …«
»Ich habe gehört«, orakelte einer von den Blockältesten, »dass der Kommandant mit dem Flugplatz hier in der Nähe telefoniert und Bombenflieger angefordert haben soll.«
Krämer fuhr herum. »Gehört, gehört!«, bellte er den Blockältesten an, »einen Dreck hast du gehört! Es fehlte gerade noch, dass wir Scheißhausparolen verbreiten!«
»Macht euch die Köpfe nicht wirr mit unkontrollierbaren Gerüchten«, mahnte Bochow, »jetzt gilt es, erst abzuwarten, wie sie auf das Davonlaufen der Juden reagieren.«
»Die Ruhe gefällt mir nicht«, knurrte Krämer.
Im Lautsprecher knackte es. Alles blickte gespannt auf den Kasten. Der Strom summte, das probierende Pusten ins Mikrophon war vernehmbar und endlich auch Reineboths Stimme: »Lagerältester, herhören. Das ganze Lager auf dem Appellplatz aufmarschieren lassen!« Reineboth wiederholte die Durchsage, dann knackte es wieder, und der Lautsprecher verstummte. Im Raum herrschte eine sonderbare Ruhe. Alle schwiegen und lasen sich die Gedanken von den Gesichtern. Im Lager selbst hatte die Durchsage eine quirlende Bewegung unter den Häftlingen verursacht. Was sich draußen befand, rannte zu seinem Block zurück, in den Blocks schwirrte und summte es durcheinander. »Wir gehen nicht! Wir lassen uns nicht evakuieren!« In wenigen Minuten war das Lager wie ausgestorben, kein Häftling befand sich mehr draußen. »Wir gehen nicht, wir gehen nicht!« Die Blockältesten kamen von Krämer zurück. »Wir gehen nicht!«, riefen ihnen die Häftlinge zu. »Wir müssen gehen«, antworteten die Blockältesten. Wieder verging eine Stunde. Währenddessen waren Kluttig und Reineboth bei Schwahl. Reineboth meldete mit vornehm zurückgehaltener Ironie: »Herr Kommandant, das Lager tritt nicht an.« Und Schwahl, verständnislos blinzelnd: »Wieso? Tritt nicht an?« Dafür hatte Reineboth nur ein leichtes Heben der Schultern als Antwort. Kluttig dagegen schrie los: »Die Kerle haben längst spitzgekriegt, dass ihnen durch Sie kein Haar gekrümmt wird!« Um die offenkundige Obstruktion nicht zugeben zu müssen, rettete sich Schwahl in sein großsprecherisches »Bahbahbah« hinein, und da er im gleichen Augenblick einen telefonischen Anruf erhielt, der ihm mitteilte, dass die bereitgestellten Güterzüge zur Ausfahrt freigegeben worden waren, plusterte er sich vor Kluttig auf: »Na also, was wollen Sie! Die Züge können ausfahren. {In spätestens zwei Stunden geht der Judentransport ab.}« Unvermittelt brüllte Schwahl auf Reineboth ein: »Lassen Sie sofort wieder antreten. Wenn sich binnen einer halben Stunde nichts rührt, dann schicke ich eine Kompanie SS ins Lager und lasse es mit Hundepeitschen zum Tor treiben! – Halt!«, hielt er Reineboth auf, »geben Sie meinen Befehl mit aller Härte, aber ohne Drohungen durch, vermeiden Sie aber auch den Eindruck, als ob wir denen da nicht gewachsen wären.«
Ein unmerkliches Lächeln huschte über Reineboths Mundwinkel. – Seine zweite Durchsage erhöhte den Tumult unter den Häftlingen. Im Kleinen Lager wimmelte es wild durcheinander. Im Innersten aufgewühlt, schrien die Blockältesten und Stubendienste: »Antreten, antreten!« Wie Schlachtvieh drängelten sich die Häftlinge vor den Blocks zusammen, einer schob den anderen vor. Geschrei und Gezeter in allen Sprachen war zu hören, doch machte keiner von ihnen den Anfang. Und keiner von den Blockältesten, sosehr sie auch in dem quirlenden Menschenhaufen herumfuhren, zerrten, stießen, schrien, keiner half nach, den Marsch zustande zu bringen. Es war ein Treten am Ort, ein verzweifeltes Treten am Ort. Im allgemeinen Lager ging es nicht anders zu. Wohl sammelten sich Häftlinge vor den Blocks, aber Ordnung wollte lange nicht eintreten. Wieder wurde damit eine Stunde vertan. Krämer war zum Kleinen Lager gelaufen. Hier erreichte ihn Reineboths nochmalige Durchsage: »Lagerältester, aufmarschieren lassen! Aufmarschieren lassen!« So drohend stieß der Ruf in das Gewimmel hinein, dass sich Krämer nur an die Spitze zu stellen brauchte, um endlich die Masse in Bewegung zu bringen. Block um Block dirigierten die Blockältesten jetzt zum Zug, der langsam den Berg hinauf zum Appellplatz kroch. Die Blocks des allgemeinen Lagers schlossen sich an. Zurück blieben nur die Pfleger des Reviers und der Seuchenbaracke 61 mit ihren Kranken sowie die vom Lager ohnedies isolierten sowjetischen Kriegsgefangenen.
Der Morgen war schon lange in den Vormittag übergegangen, als endlich das Lager angetreten war. Von den Blocks der jüdischen Häftlinge war im Riesenquadrat nichts zu sehen, sie hatten sich in der Masse verloren und waren in ihr verschwunden. Und in diese Masse hinein stürzten, kaum dass der Aufmarsch beendet war, die Block- und Kommandoführer{. Ein Teil von ihnen riegelte zwischen den Blocks ab, die Übrigen rasten unter die Menschen} und prügelten und zerrten aus den Reihen alles heraus, was dem Aussehen nach ein Jude sein konnte. Die Blocks wichen nicht, aber sie wogten wie Ährenfelder. Zwischen den Reihen huschten die jüdischen Häftlinge, verbargen sich im Rücken des Vordermannes und wurden maßlos zusammengedroschen, wenn ein SS-Mann sie erwischte. Reiche Ernte hielten die Blockführer in den Karrees des Kleinen Lagers. In kurzer Zeit waren Tausende jüdischer Häftlinge aus den Blocks herausgeknüppelt worden und zum Tor gejagt. Hier drängten sie sich, vom fiebernden Summen der Erregung zusammengehalten. Draußen vor dem Zaun kläfften Hunde. Von irgendwem schienen die Blockführer einen Befehl erhalten zu haben, sie ließen plötzlich von den Blocks ab und rannten zum Tor. Das Wogen in den Reihen ließ nach, und die Blocks standen erschöpft, als hätten sie Blut von sich gegeben. Während am Tor die Blockführer weiter auf die jüdischen Häftlinge einschlugen, um die Masse zu einem Marschzug zu formieren, und eine karabinerbewaffnete Hundertschaft der SS mit ihren Hunden anrückte, schrie Reineboths Stimme durch den Hauptlautsprecher vom Turm über den Appellplatz: »Alles andere in die Blocks!« Alles vollzog sich in fiebriger Hast. Einem strudelnden Wasser gleich quoll die Häftlingsmasse ins Lager zurück, ohne Ordnung und Regel. In den Durchgängen zu den Blocks staute sich der Strom, quetschte sich durch die Enge und breitete sich über das Lager aus. Hinein in die schützenden Blocks. Abgehetzt sanken die Häftlinge auf die Bänke nieder, mit fliegenden Lungen und flatterndem Atem. So also sah das Ende aus! Jetzt wusste ein jeder, was er zu erwarten hatte. – Das Durcheinander des Abmarsches ausnutzend, hatte Bogorski seinen Block verlassen und fing Bochow ab, schnell verständigten sie sich. Bogorski eilte, um Krämer zu benachrichtigen, und Bochow lief zu Pribulas Block. Der junge Pole wiederum musste Kodiczek herbeiholen. Die so eilig Gerufenen trafen sich im Block 17 zu einer Besprechung von wenigen Minuten. Auf den Gesichtern der Männer brannte es noch. Krämers Hände zitterten, als er sich jetzt die Mütze aus der Stirn schob. {Er hatte tatenlos zusehen müssen.}
Pribula setzte sich auf eine Bettstatt, der Atem fauchte hörbar durch die Zähne, er schlug die Fäuste aneinander. Bogorski wusste um die Not des jungen Menschen. »Njet«, sagte er nur und schüttelte den Kopf. Pribula blickte zu ihm auf, und Bogorski sah das heimliche Glühen in dessen Augen, auf Polnisch sprach er weiter: »Wir müssen wartend kämpfen und kämpfend warten …« Pribulas Ungeduld rüttelte an Bogorskis scheinbarer Gelassenheit. »Warten, immer warten!«, stöhnte er in innerer Qual. Doch in Bogorski und den anderen bebte das Erleben nach und fieberte gleichfalls als Ungeduld in Bochows Worten: »Genossen, wir haben den ersten Transport um mehr als einen Tag verzögern können.« Er musste innehalten, weil ihm der Atem zu heftig ging. Pribula schlug gepeinigt mit den Fäusten auf die Knie. »Immer verzögern, verzögern!«, stöhnte er aufs Neue. Als hätte er es nicht gehört, wandte sich Bochow an Krämer, dennoch war, was er sagte, eine Entgegnung für Pribula. »An dir liegt jetzt alles, Walter. Verzögern, verzögern!« Zu Pribula herumfahrend, schrie er heiser und ohne Ton: »Es gibt nichts anderes!« Pribula erhob sich müde: »Dobrze …« – »Uwaga!«, sagte Bogorski zu dem Polen, »wir sind schwach, weil wir nicht können verhindern die Evakuierung. Nun gutt. Aber Faschisti sind auch schwach.« Bogorski wandte sich allen zu. »{Aber wenn kommt die Front immer näher jeden Tag, wir werden stärker und Faschisti werden immer schwächer, und wir müssen hören mit klugen Ohren immer und überall herum und müssen wissen immer ganz genau, wo ist die Front.}« Bogorski zog Krämer an der Schulter herbei. »Wenn Kluttig dir sagt: Mache einen Transport fertig, du antwortest ihm, jawohl, ich mache Transport fertig.« Voller Lebendigkeit sprach Bogorski auf Krämer ein, sich gleichzeitig an die anderen wendend. Die Transporte, so meinte er, müssten so zusammengestellt werden, dass den Faschisten nur immer die politisch und moralisch unzuverlässigsten Elemente des Lagers überlassen werden sollten. {Auslese!} Das Lager habe sich zu reinigen. Du musst wie ein General sein im Krieg«, sagte er zu Krämer, »{und dein Generalstab ist die Schreibstube und die Blockältesten.} Deine Anordnungen sind Befehle; unwiderrufliche! Du verstehen?«
Krämer nickte stumm. Plötzlich heulte die Sirene auf. Wie angstgetrieben stieg ihr Gejaul immer wieder bis zum Diskant hinauf und überflutete mit seinem Geschrei das Lager. »Charascho!«, triumphierte Bogorski! »Alarm! Jeden Tag muss er kommen. Einmal und zweimal, dann können sie nicht evakuieren!«
»Fort!«, drängte Bochow. Bogorski hielt Krämer zurück, der {mit den anderen} hinausstürzen wollte. »Kamerad«, sagte Bogorski warm. Krämer streckte dem Russen die Hand entgegen, der aber zog ihn an sich und küsste ihn.
In der Zelle Nummer 5 spielte sich eine stille Tragödie ab. Noch immer mussten die beiden stehen. Sonderbarerweise aber hatte sie der Mandrill in Ruhe gelassen, seit er ihnen den Strick um den Hals gelegt hatte. Sie waren bis zum Skelett abgemagert, und ihre Köpfe glichen Totenschädeln, in denen fiebrige Augen brannten. Der Bart wucherte und machte ihre Gesichter noch grausiger. Seit Tagen hatte ihnen der Mandrill weder Essen noch Trinken gegeben, und nicht immer gelang es Förste, ihnen einen Brotkanten zuzuschmuggeln, wenn er am Abend das Bett abschloss. Die Ecke, wo der Marmeladeneimer stand, schwamm im Unrat und verpestete die Luft, die kaum noch zum Atmen war. Als am vergangenen Tag Reineboth nach den Juden schrie, hatte Höfel, mit vorgestrecktem Hals nach draußen lauschend, sonderbar zu flüstern begonnen. »Marian …« – »Tak?« – »Hörst du? … Die Juden … Sie werden entlassen … Sie gehen nach Hause … Wir gehen alle nach Hause …« {Kropinski hatte dazu geschwiegen und sich gedacht, dass die fromme Hoffnung Höfel Kraft geben möge.} Heute, schon seit dem Morgen, war Höfel von einer seltsamen Unruhe befallen. Auf dem Bunkergang herrschte eine steinerne Stille. Keine Zelle wurde aufgeschlossen, kein Lärm, wie ihn der Mandrill sonst immer veranstaltete, war zu hören. Die frühe Morgenstunde des Weckens verging. Schon längst standen die beiden mit dem Gesicht zur Tür. Die Stunde des Lagerappells kam. Nichts rührte sich. Die Stunde des Appells ging vorüber. Immer unruhiger wurde Höfel. »Da stimmt etwas nicht«, flüsterte er erregt. Plötzlich vergaß er, dass er stehen zu bleiben hatte, und torkelte zum Fenster, blickte aufmerksam zu dem kleinen Geviert hinauf. Kropinski wurde ängstlich, flüsternd bat er: »Stelle dich wieder hin, André. Wenn dich sehen der Mandrill am Fenster, er machen uns tot.« Höfel schüttelte heftig den Kopf. »Kann er nicht! Wir haben doch den Strick um den Hals.« Trotzdem kehrte er zurück und nahm mechanisch den gewohnten Platz ein. Eine ganze Weile stand er lauschend, schluckte ein paarmal, der kantig hervorstehende Adamsapfel hob und senkte sich, die Ader am dürren Hals pulste. Höfel schien angestrengt über etwas nachzudenken. Auf einmal schleifte er zur Zellentür, presste das Ohr an und horchte.
»Bruder«, flehte Kropinski, »du musst kommen hierher …«
In jäher Angst starrte Höfel Kropinski an. »Fort!«, stieß er hervor. »Alles ist fort!« Aufbäumend reckte er sich an der Tür hoch, riss die Arme nach oben, noch ehe er aber mit wilden Fäusten gegen die Tür trommeln konnte, war Kropinski bei ihm und zerrte ihn zurück. Höfel taumelte in Kropinskis Arme hinein und wimmerte: »Sie haben uns vergessen! … Wir sind allein auf der Welt! … Jetzt müssen wir ersticken!«
Kropinski drückte Höfel brüderlich an sich und versuchte ihn zu beruhigen, doch Höfels Sinne waren nach innen gekehrt, er machte sich frei, zerrte am Strick, dass sich die Schlinge zuzog, und schrie: »Ersticken … ersticken …!« In greller Angst presste ihm Kropinski die Hand auf den Mund, dass der Schrei gurgelnd ertrank. Höfel wehrte sich mit plötzlicher Kraft, die beiden kämpften miteinander. Höfel gelang es, die Hand wegzureißen, in grellem Trompetenton brach der befreite Schrei durch. In wildem Entsetzen mühte sich Kropinski, den um sich Schlagenden zu bändigen, ihm den Mund zuzuhalten. Gurgelnd und röchelnd und immer wieder losschreiend, wand sich Höfel in den ihn umklammernden Armen, aber es war schon zu spät. Die Tür wurde aufgeschlossen, und der Mandrill kam in die Zelle, hinter ihm, bleich und schattenstill, Förste. Entsetzt ließ Kropinski den Schreienden fahren und starrte auf den Mandrill. Der sprach kein Wort. Er kniff die Augen zusammen und blickte abschätzend auf den schreienden Höfel, Sekunden nur. Da holte der Mandrill aus. Es war ein furchtbarer Schlag. Mit nach Halt rudernden Armen taumelte Höfel in die Ecke, prellte gegen die Wand, im Niederstürzen riss er den Marmeladeneimer um, dessen ekler Inhalt den bewusstlos Zusammengebrochenen überschwabbte. Mit unbeteiligtem Blick prüfte der Mandrill die Wirkung seines Hiebes und verließ die Zelle. Einen Augenblick blieb er vor der verschlossenen Tür stehen. Drohend sagte er: »Wenn der mir vorher krepiert …«
»Man müsste ihn saubermachen …«, wagte Förste zu raten. Der Mandrill blickte ihn kalt an. »Samariter spielen, was?« Er ging in sein Zimmer und ließ den Kalfaktor unbeachtet zurück …
Durch den Alarm wurde der Abtransport der jüdischen Häftlinge verhindert. Im Brüllen der Sirene ließ Kluttig die zusammengetriebenen Menschen durch die Hundestaffel in eine leerstehende Werkhalle außerhalb des Lagers treiben, die vom Bombenangriff im August 1944 übriggeblieben war. In großer Höhe zogen mächtige Geschwader über das Lager hinweg.
Auf der Straße, die von Weimar nach dem Lager führt, hatte der Alarm einen nach Tausenden zählenden Zug von Häftlingen überrascht, die aus den Zweiglagern des Harzes und Thüringens auf der Flucht vor den Amerikanern nach Buchenwald unterwegs waren. Umheult von den Sirenen aus Weimar und den umliegenden Dörfern, kroch der graue Elendszug die Landstraße entlang. Auf dem offenen Gelände gab es keine Deckung. Obwohl die hochfliegenden Geschwader keine direkte Gefahr bedeuteten, war die Begleit-SS durch den Alarm wild geworden. Wie brüllende Viehtreiber jagten die staubbedeckten Scharführer an den Kolonnen hin und her, die von Posten mit dem Karabiner im Anschlag eskortiert waren, und prügelten mit schnell von den Bäumen abgerissenen Ästen die erschöpften, dreckverkrusteten und zerlumpten Menschen zum Laufschritt an. Einer verängstigten, in sich zusammengedrängten Herde gleich, Brust an Rücken, war die Masse den zuschlagenden Rohlingen umbarmherzig preisgegeben. Aber der Zug kam nicht schneller vom Fleck.
»Lauft! Lauft! Wollt ihr wohl laufen!«
Die Füße hatten keinen Platz und auch keine Kraft mehr, nur die hüpfenden Köpfe zeigten, dass die schleppenden Beine einen Laufschritt versuchten. Über dem wogenden Strom der Köpfe brummten die Geschwader und tanzten die Knüppel. Stofffetzen schlenkerten um die nackten, blutig aufgelaufenen Füße. Die marternden Holzschuhe waren auf dem langen Marsch verloren oder weggeworfen worden. Das Gedröhn der Bomber und das Gebrüll der Scharführer vereinten sich zu einem schaurigen Duett.
»Lauft, lauft!«
Voller Wut hetzten die Scharführer umher.
Schüsse knallten, auf der Straße wälzten sich Zusammengebrochene und Zusammengeschossene, wurden von den Posten an den Straßenrand geschleift und liegengelassen.
»Lauft, lauft!«
Prügel, Schüsse, Schreie, Wimmern, Blut, Staub, trampelnde Füße, hüpfende Köpfe … Was zusammenbrechen wollte, wurde hochgerissen, mitgeschleift; was unter den Tausendfüßler geriet, zertreten.
Neun Kilometer Marsch war es von Weimar bis zum Lager. Bauern drückten sich vorsichtig zur Seite, wenn sie dem Zug begegneten. Zwei Polizisten auf Rädern kamen herangefahren und stellten die Scharführer zur Rede. »Ihr legt die Leute um und lasst sie liegen. Wenn die Amerikaner kommen, dann machen sie uns dafür verantwortlich.«
»Schnauze! Das ist unsere Sache. Haut ab!«
Acht Kilometer noch bis zum Lager. Die Straße stieg an, der Berg war erreicht.
»Lauft, lauft!«
»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr …«
»Halte durch, Kumpel, halte durch, wir sind bald da …«
Nach einer Stunde Marsch begann der Wald. Höher ging es den Berg hinauf. Das Ächzen der Erschöpfung wurde lauter. Die wild gewordene SS ließ im Prügeln nicht nach.
Schüsse!
Wieder einer, oder zwei, oder drei …
Längst war aus dem Laufschritt wieder der taumelnde Trott geworden. Der Zug hatte sich gedehnt, die Füße hatten mehr Raum. Mit dem Kopf nach vorn, dumpf und stumpf, schwanken und torkeln die Menschen dahin … Einer im Zug strauchelt, streckt im Stürzen schützend die Hände aus …
»Lauf zu, du Aas!«
Wer zurückbleibt, stirbt …
Lieber Gott, lass mich nicht liegenbleiben!
Mit letzter Kraft versucht sich der Erschöpfte aufzurichten, aber schon wird er von dem Posten aus der Menschenschlange herausgerissen, kriechend will er sich fortbewegen, ein Scharführer zieht die Pistole, tritt auf den Wurm ein: »Hund, verfluchter!« Ein Schuss peitschte, noch einer!
Weiter, weiter, immer höher ging es den Berg hinauf.
Weimar ist schon weit zurückgelassen. Alle witterten sie schon die Nähe des Lagers. Vorbei ging es an den kalkigweißen Schildern mit der schwarzen Schrift »Achtung, Kommandanturbereich …« und dem Totenkopf mit den sich kreuzenden Knochen als Signum.
Dem Zug voran stapften einige höhere SS-Chargen. Sie stutzten und blieben stehen. Der Zug geriet ins Stocken.
Vier stahlhelmbedeckte Häftlinge mit Gasmasken und Verbandskästen standen vor ihnen.
»Was seid ihr denn für Kerle?«
Stramme Haltung, Meldung: »Sanitätstrupp. Auf Befehl des Kommandanten bei Fliegeralarm außerhalb der äußeren Postenkette.«
Die Chargen sahen sich belustigt an. »Was es hier nicht alles gibt … He, ihr komischen Vögel, wie weit ist es bis zum Lager?«
»Noch zehn Minuten, Untersturmführer.«
Ein Wink und die Schlange begann wieder zu kriechen, vorbei an Splittergräben und Schützenlöchern, in denen die Posten der dreifach gestaffelten Kette hockten.
Da heulte die Sirene auf, bis ihr der lange Atem ausging und sie brummend verlöschte: Entwarnung. Am Schlagbaum regte es sich. Die Posten krochen aus den Splittergräben. Die SS-Chargen langten an.
»Wie viel wir von dem Gerümpel mitbringen? Das wissen wir nicht. Vielleicht sind es dreiundeinhalbtausend? Vielleicht sind es auch nur dreitausend, was wissen wir, wie viel unterwegs krepiert sind? Über eine Woche sind wir auf den Beinen. Wir kommen aus Ohrdruf, aus Mühlhausen, aus Berlstedt und Abderode.«
Einer von den Posten telefonierte nach Reineboth. Die vier vom Sanitrupp meldeten sich ins Lager zurück und liefen im Eilschritt die gerade Zugangsstraße entlang, trafen sich mit den Übrigen, und der Sanitrupp marschierte auf das Tor zu. An ihm vorbei raste bereits Reineboth auf dem Motorrad zum Schlagbaum.
Im Lager war es nach der Entwarnung lebendig geworden. Überall trafen vor den Blocks die Häftlinge aufeinander. Mit dem Stock hatte das Schicksal in den Ameisenhaufen hineingestochert und ihn durcheinandergebracht. Gespräche flogen von Gruppe zu Gruppe. Die Vermutungen und Befürchtungen {wirrten} hin und her.
»Wohin werden sie uns schaffen?« – »Wir gehen nicht raus aus dem Lager.« – »Wenn wir uns weigern, schießen sie das ganze Lager zusammen.« – »Schwahl soll schon Bombenflieger vom Flugplatz Nohra angefordert haben.« – »Mensch, quatsche nicht so dämlich. Die brauchen ihre paar Flugzeuge für die Front.« – »Und wenn sie Gasbomben werfen?« – »Blödsinn! Damit gefährden sie sich doch selber.«
Inzwischen liefen die Verbindungsleute, von den einzelnen Mitgliedern des ILK losgeschickt, von Block zu Block und instruierten die Vormänner der Widerstandsgruppen. Diese brachten in das Gewirr der Gespräche eine gewisse Richtung hinein.
»Wir müssen die Evakuierungen hinauszögern. Jeden Tag können die Amerikaner hier sein. Sie sollen schon vor Eisenach und Meiningen stehen.« –
{Zuerst mussten die neuen Zugänge ins Lager, ehe die Juden abtransportiert werden konnten.
»Ihr habt auch nichts Besseres zu tun, als uns den Dreck heranzuschleppen«, schimpfte Reineboth. Die Chargen höhnten: »Daheim ist daheim. Lasst den Abfall von der Straße auflesen, die Leute knurren schon.«
»Auch das noch«, stöhnte Reineboth, »wie viel liegt davon herum?«
»Also rin mit dem Gelumpe! Nach uns die Sintflut …«}
Wieder jagte Reineboth ins Lager zurück. Wieder wurde ein Schwall ausgemergelter Menschen zum Tor getrieben. Wieder schrie Reineboth durchs Mikrophon: »Sämtliche Blockältesten und der Lagerschutz zum Tor!« Wieder scheuchte der Ruf die Gemüter auf. Was ist los? – Die Blockältesten stürzten zur Schreibstube und sammelten sich hier. Schon spie das Loch am Torgebäude die brodelnde Masse ins Lager hinein.
Unflätig hatte Kluttig gekreischt, als sich das Getümmel heranwälzte: »Leckt mich am Arsch, ich habe es satt!« Und Reineboth hatte ihn angeschrien: »Mir überlässt du es, damit fertigzuwerden. Ich bin nur Rapportführer, es ist immerhin deine Dienstpflicht …«
»Meine Dienstpflicht? Schließlich bin ich nur Zweiter! Soll sich Weisangk darum kümmern! Der Hund säuft sich bei Schwahl das Loch voll!« Tatsächlich hatte es Kluttig dem Jüngling überlassen, sich mit der Flut herumzuschlagen, und war zum Offizierskasino gelaufen.
Einige schnell herangerufene Lastautos hielten vor dem Tor. SS-Posten sprangen von den Wagen. Reineboth machte sich nicht die Mühe, den Appellplatz durch Blockführer abzusperren, er ließ die Masse durchs Tor quellen und schrie Krämer an, der mit den Blockältesten angelangt war: »In die Blocks mit dem Zeug, aber schnell!«
»Die Blocks sind überfüllt, Rapportführer. {Wir haben keine Betten, keine Decken.«
»Wünschen Sie sonst noch was?«
»Wo sollen wir die Menschen unterbringen?«}
Reineboth überschrie sich: »Das ist mir egal! Machen Sie den Appellplatz sauber!« Er jagte den angetretenen Lagerschutz auf: »25 Mann auf die Autos. Marsch, marsch! Auf den Straßen die Toten einsammeln!« Es ging im Hetztempo.
Die Autos rasselten fort. Krämer musste schnell handeln. Durch die Blockältesten und den verbliebenen Lagerschutz ließ er die Zugänge in großen Trupps vom Appellplatz führen und dirigierte alles nach dem Bad. Die Häftlinge aus dem Lager strömten herbei, mischten sich unter die Neuangekommenen. »Wo kommt ihr her? Wie sieht es draußen aus?«
Blockälteste und Lagerschutz wehrten die Neugierigen ab, drängten sie von den Zugängen zurück. Es gab ein Gewimmel und Durcheinander, als schiene alle Ordnung aufgelöst. Vor dem Bad staute es sich. Krämer durfte nicht die Nerven verlieren. In den zum Brechen überfüllten Blocks musste Platz geschaffen werden. {Der Zwang der} Not ließ keine Auseinandersetzungen zu, Krämer musste befehlen. Irgendein Blockältester schrie verzweifelt los: »Wo soll ich die Leute noch unterbringen? In meinem Block biegen sich schon die Wände!« Krämer schrie zurück: »Das ganze Lager ist zum Brechen voll und nicht nur dein Block! Hier, nimm dir fünfzig Mann und hau ab damit!« Das Kleine Lager musste aufnehmen, was es nur konnte. Die durch die Aussonderung entstandenen Lücken in den Blocks der übriggebliebenen {Juden} ließ Krämer mit den Zugängen auffüllen. Die sonst so reinlich nach Nationalitäten geschiedenen Blocks wurden so zu einem Völkergemisch. {Egal}, nur weg mit den Menschen. Wer weiß, wie lange wir noch hier sind? Das Lager summte und kam nicht mehr zur Ruhe. Der Nachmittag ging hin, ehe es gelungen war, den Zustrom zu bewältigen. Indessen fuhren die Lastautos mit den zusammengelesenen Toten ein. Die 25 Mann vom Lagerschutz marschierten zu ihrem Block. Die Autos verschwanden hinter der Planke des Krematoriums. Die polnischen Leichenträger kletterten auf die Wagen, balancierten über die Toten und warfen sie hinunter. Die Leichen flogen im Schwung, mit dem Kopf zuerst, mit den Beinen zuerst. Dumpf prallten die Körper auf. Die nachfolgenden Leichen überkollerten den anwachsenden Haufen, blieben sitzen, sahen Betrunkenen ähnlich, die man aus der Kneipe geworfen hat. Manche der Toten schlugen Purzelbäume, blieben mit ausgegrätschten Gliedern auf dem Kopfe stehen. Mancher Tote kugelte sich mit seinem Nachbarn vom Wagen herunter, in letzter Umarmung. Manche führten die komischsten Verrenkungen aus, die zum Lachen reizten, manche Toten lachten mit. Mit aufgerissenen Augen und lachverzerrtem Mund flogen sie hinunter … und der Haufen türmte sich.
Krämer wurde zu Reineboth befohlen. Der Jüngling hatte all seine Schnoddrigkeit verloren. Zwar lag sie noch in seinem Ton, doch von dem zynischen Gehabe war nichts übriggeblieben.
»Haben Sie das Zeug untergebracht?«, fuhr er Krämer an, als dieser eintrat.
»Jawohl.«
»Na also! – Herhören! Bis morgen früh machen Sie einen Transport von 10 000 fertig. Marschfähige Leute, verstanden?«
»Jawohl.«
Reineboth trat dicht an Krämer und funkelte böse: »Wenn es wieder solche Fisimatenten gibt wie bei den Juden, dann hänge ich Sie eigenhändig am Tor auf, verstanden?«
»Jawohl.«
»Morgen früh, das heißt um acht Uhr, steht der Transport. Wegtreten!«
Kluttig, der auf Reineboths Tisch saß, stellte sich Krämer in den Weg: »Wo sind die 46?«
Krämer lag es auf der Zunge, mit einem »Ich weiß es nicht« zu antworten, doch er sagte: »Es geht im Lager alles drunter und drüber. Der Lagerschutz hat gesucht und nichts gefunden.«
Kluttig packte Krämer hart an der Brust. »Bursche«, knirschte er, »dich hebe ich mir bis zuletzt auf. {Glaube nicht, dass du hier den General spielen kannst.} Glaube nicht, dass du davonkommst! Du, Höfel und der Pole … für euch drei habe ich noch was im Magazin.« Er hielt Krämer die Pistole vor die Nase. Krämer nahm die Drohung schweigend an, es durchfuhr ihn: Höfel und Kropinski leben noch …
»Auch dein verstecktes Judenbalg entgeht uns nicht! Bis zum letzten Mann räumen wir auf!« Reineboth trat dazwischen. »Sie wissen Bescheid«, schnitt er ab, schickte Krämer fort und fuhr zu Kluttig herum, als er mit diesem allein war. »Du Idiot! – Ich erzähle ihm, dass der Pole und Höfel schon längst verreckt sind, und du …«
»Wie sprichst du mit mir, deinem Hauptsturmführer?«
Reineboth lachte schief: »Den Hauptsturmführer gewöhne dir ab, mein Sohn. Wir müssen möglichst schnell zu höflichen und – bescheidenen Menschen werden.«
Um rasch über alle Vorgänge informiert zu sein, wartete Bochow in der Schreibstube auf Krämers Rückkehr und ging in dessen Raum hinüber, als er Krämer über den Appellplatz kommen sah. Er merkte ihm das Besondere an, als Krämer mit kräftigem Schwung die Mütze auf den Tisch warf: »Was ist los?« Krämer lachte mit breiter und grimmiger Fröhlichkeit. »Wie er mir mit dem Schießeisen vor der Nase herumfuchtelte …«
»Wer?«
»Kluttig.«
Krämer setzte sich an seinen Tisch und lachte gallig. »Und wie der Reineboth mich nicht schnell genug loswerden konnte, weil der Schafskopf von einem Hauptsturmführer zu viel quatschte.«
»Was ist?«, drängte Bochow.
Krämer hob in sattem Triumph die Arme über den Kopf, wollte losschreien, vom Lachen durchtränkt, lag der Schrei schon auf seinem Gesicht, aber in plötzlicher Mattheit verwelkte das viel zu starke Triumphgefühl. Das Blut floss aus den kraftgespannten Muskeln zurück, Krämer ließ die Arme sinken und stand auf. »Lass, Herbert, lass. Ich muss erst fertigwerden mit dem da drinnen«, sagte er warm und strich sich mit breiten Händen über die Brust. Er ging um den Tisch herum und legte Bochow still die Hände auf die Schultern. »Unsere beiden im Bunker … sie leben noch. – Ich weiß es. Ich weiß noch mehr. Wir können die 46 Kumpels aus ihren Löchern herausholen, nach ihnen sucht keiner mehr.«
»{Weißt du es} Bestimmt?«
»Bestimmt.«
Krämer atmete tief, und die Falte über der Nase grub sich hart ein: »Jetzt geht es rund! – Bis morgen früh muss ich einen Transport von 10 000 Mann fertig machen. Vielleicht gelingt es mir, den Abmarsch bis zum Mittag-Alarm hinzuziehen. Dann haben wir Stunden gewonnen.«
»Tu, was du kannst, Walter.«
Plötzlich aber fragte Krämer übergangslos: »Wo ist das Kind? Wo ist es, Herbert?«
»Ich weiß es nicht.«
Krämer prüfte in Bochows Gesicht die Echtheit der Versicherung.
»Such nach ihm!«, herrschte er finster.
»Warum?«
»Warum?«, warf Krämer die Frage gereizt zurück. Er setzte sich an den Tisch, schaute auf seine übereinandergelegten Hände und wurde leise: »Zu viel schon hat uns das Wurm gekostet. Nun soll es bei uns sein, wie die anderen auch, wie Höfel, Kropinski, die 46, du, ich … Es soll mit uns marschieren oder mit uns verrecken. Aber es soll her!« Hart schlug er mit der Faust auf. »Her soll es! Such es!«
Bochow schwieg. Er verstand den Freund, und der fordernde Ton widerhallte ihm im Herzen.
Rau und voller Grimm zerstörte Krämer Bochows Schweigen: »Einer von euch hat es doch weggeschleppt. Einer vom ILK! Wer?«
{Bochow hob die Schultern.
»Suche! Schaffe das Kind herbei. Holen wir unsere Kumpels aus ihren Löchern, dann soll auch das Kind} nicht länger … wer weiß, wo es haust.«
Bochow seufzte und nickte: »Du hast recht, Walter. Warum soll es nun nicht mit uns marschieren oder … Du hast recht, Walter. Ich will versuchen herauszubekommen, wo es steckt.«
Krämer erhob sich langsam, um vieles milder und versöhnt.
Als wuchtiger Schlag ging der Befehl zum Abtransport auf die davon betroffenen Blocks nieder. Die Blockältesten brachten ihn von der Schreibstube mit, in die sie Krämer hatte rufen lassen. »Wir müssen uns für morgen fertig machen, Kameraden … 10 000 Mann! Das bedeutet die Räumung ganzer Blocks!«
Immer fester wurde der Griff, immer starrer und unausweichbarer die letzte Strecke des Weges.
Schnell verwandelte sich die Lähmung, die der Befehl hervorgerufen hatte, in wilde und verwirrende Erregung. »Wir gehen nicht! Wenn wir schon sterben sollen, dann sterben wir hier im Lager!« Mancher Blockälteste hatte Worte zu sprechen, die in ihrer Bitterkeit das Herz zum Schrumpfen brachten. »Überlegt es euch, Kameraden. Wenn die SS in die Blocks kommt, dann wird sie nicht zu euch sprechen wie ich. Ich kann euch nicht zum Bleiben auffordern, denn ich will nicht schuld an eurem Tode sein.«
Allerorts im Lager gab es unterdessen heimliche Unterredungen. Die Verbindungsleute des Apparates brachten Instruktionen zu den Vormännern der Widerstandsgruppen. »Von jeder Gruppe geht ein Teil der Genossen mit dem Transport: Freiwillige! Sprecht mit euren Leuten. Sie nehmen Waffen mit, Stichwaffen. Sie müssen versuchen, unterwegs die Bewachung zu erledigen und den Transport zu befreien.« {Ob es gelingen würde? Es gab nur Achselzucken.}
Bochow und Bogorski hatten die Anweisung herausgegeben, es war nicht Zeit gewesen, das ILK zusammenzurufen. Die Vormänner holten sich die Mitglieder ihrer Gruppen einzeln heraus, zu einem kurzen Gang zwischen den Blocks oder in einer Ecke des Schlafsaals. »Willst du mitgehen?« Ein Schweigen, ein Zusammenpressen der Lippen, ein schattenhaftes Gleiten der Gedanken in eine Ferne hinein, wo es eine Frau gab, Kinder oder eine Mutter oder ein Mädchen … ein Nicken schließlich oder ein Schütteln des Kopfes. Manche gaben eine schnell entschlossene Antwort, weil es keine Ferne gab, die von den huschenden Gedanken vor der Entscheidung erst abgetastet werden musste: »Selbstverständlich gehe ich mit.« Die Freiwilligen nahmen den Tod auf sich. –
Als sie sich nach ihrer kurzen Besprechung trennen wollten, hatte Bochow den Freund festgehalten. »Sag mir die Wahrheit, Leonid, hast du das Kind fortgeschafft? Sag die Wahrheit.«
»Warum fragst du? Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und ich sage dir noch einmal, ich habe das Kind nicht fortgeschafft.«
»Einer von uns muss es aber gewesen sein.«
Bogorski bestätigte mit eifrigem Kopfnicken.
»Weißt du, wo sich das Kind befindet?«
{»Wie ich wissen, wenn ich nicht habe fortgebracht?«}
Bochow seufzte. Er glaubte Bogorski nicht. »Nur du und kein anderer hat das Kind versteckt. Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?«
Bogorski hatte nur ein bedauerndes Achselzucken für den Misstrauischen übrig. »Wenn du mir nicht glauben: nun gutt. Ich kann nicht hineinprügeln in dich die Wahrheit.«
Dabei blieb es.
Überraschend wurde an diesem Abend seit langer Zeit wieder einmal ein deutscher Wehrmachtsbericht durchgegeben.
Schwahl hatte dazu bereits am Nachmittag den Befehl erteilt, als er mit Kamloth den Abtransport besprach.
»Wollen Sie noch immer evakuieren, Standartenführer?«
Schwahl, mit auf dem Rücken verkrampften Händen, ging um den Schreibtisch herum und antwortete Kamloth nicht.
»Sehen Sie sich die Front an, verdammt noch mal! Mit Ihrer Gehorsamsduselei schicken Sie uns alle noch in die Hölle. Wir verlieren nur Zeit.«
»Wir haben noch Zeit!«, fuhr Schwahl hysterisch auf. »Unsere Truppen halten ihre Stellungen!«
Kamloth lachte trocken. »Wie lange?«
Schwahls schwammiges Gesicht zerfloss wie Teig. »Machen Sie mir nicht auch noch das Leben schwer. Morgen schaffen Sie 10 000 Mann nach Dachau, basta!«
Wieder lachte Kamloth trocken. »Die Dachauer werden uns herzlich willkommen heißen! Vielleicht sind die gerade dabei, ihr eigenes Lager leer zu machen, vielleicht in Richtung auf Buchenwald? Ein nettes Ringelspiel, das wir da veranstalten. – Schießen Sie die Brut hier zusammen, und Sie sind den Dreck mit einem Mal los.«
Schwahl wollte auffahren, er fuchtelte schon mit den Händen auf Kamloth ein, lief dann aber wieder um den Schreibtisch herum. »Sie sind doch ein vernünftiger Mann, Kamloth. Glauben Sie, dass Sie sich auf Ihre Truppe noch verlassen können? Sie ist nicht mehr der alte Kern, da ist viel Krampfadergeschwader darunter.«
»Ein Befehl genügt!«, protzte Kamloth.
Schwahls Gesicht lief breit aus. »Meinen Sie? Ich weiß was anderes. Kluttig hat Ihrer Hundestaffel mit meiner Erlaubnis den Befehl gegeben, nach den 46 zu suchen. Nicht einen davon haben sie gefunden.«
»Weil sie keinen finden konnten.«
»Oder wollten … Vielleicht kenne ich Ihre Truppe besser als Sie? – Der Krieg ist verloren. Oder wie bitte?« Schwahl blieb vor Kamloth stehen. »Das Loch, auf dem wir pfeifen, ist das letzte. Oder wie bitte? – Wer verliert, wird vorsichtig, ob General oder Soldat. Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken?«
Kamloth widerlegte störrisch die ihm unangenehme Wahrheit:
»Lassen Sie uns erst unterwegs sein, dann werden meine Jungens ballern, als hätten sie Hasen vor sich.«
Schwahl spießte diese Versicherung schnell mit dem Finger auf:
»Das ist etwas ganz anderes! – Aber hier in der Mausefalle, mein Lieber …«
»An was Sie alles denken.«
Feldherrneitel entgegnete Schwahl: »Ich denke an viel. Zum Beispiel …« Er ging zum Telefon und gab Reineboth den Auftrag, den heutigen Wehrmachtsbericht im Lager bekanntzugeben. »Wer verliert«, sagte er darauf, seine Sentenz wiederholend, »wird vorsichtig, das gilt auch für die da drinnen. Wenn sie hören, dass wir die Amerikaner aufhalten, sinkt das Barometer, und sie marschieren morgen früh wie die Hammel durchs Tor.«
Voller Spannung wurde der Bericht in den Blocks abgehört. Seine Wirkung war, wie es Schwahl erwartet hatte.
Im Raum von Eisenach, Meiningen und Gotha war der Vormarsch der Amerikaner zum Halten gebracht worden. Angstvoll sahen sich die Häftlinge an. Was wird nun werden? – Noch immer bestand die Alarmstufe 2 für die Widerstandsgruppen. Sie durften die Blocks nicht verlassen und mussten sich bereithalten. Außer der Anweisung, mit dem Transport zu gehen, war von der Leitung keine neue gegeben worden. War der Operationsplan, für den die Gruppen schon seit Monaten eingeteilt waren, über den Haufen geworfen? Wie unklar und verworren war die Lage, und sie verwirrte sich an diesem Abend noch mehr, als Parolen durchs Lager liefen, dass beiderseits von Erfurt amerikanische Fallschirmtruppen gelandet seien. Die Kommandierten, die heute früher als sonst eingerückt waren, hatten diese Neuigkeit mitgebracht. Süchtig wurde die Parole weitergegeben und aufgenommen, stand sie doch im krassen Gegensatz zu dem niederschmetternden Wehrmachtsbericht. Hatte sie ihre Richtigkeit, dann konnte der Transport unmöglich abgehen. {Strohhalm der Hoffnung auf den Wellen der Verzweiflung.} Wie aber konnten Fallschirmjäger bei Erfurt landen, wenn die Front zum Stehen gebracht worden war? – War das möglich? Gewiss, im Krieg war alles möglich. Doch wenn der Wehrmachtsbericht der tatsächlichen Lage entsprach, dann war für die Evakuierung noch ein Zeitraum gegeben, und deutete der Transport solcher Massen nicht geradezu darauf hin? Wo lag die Wahrheit? Wer wusste Genaues? Wer konnte Licht in die Wirrnis bringen? –
Über das Lager senkte sich der Abend. Im Kohlenkeller des Bades, im Kartoffelbunker der Küche wühlten Häftlinge fieberhaft nach den Versteckten. Auch der Blockschreiber im Kleinen Lager, von Krämer dazu aufgefordert, holte Pröll aus dem Kanalschacht heraus. Die Befreiten huschten in die Blocks, deren Blockälteste durch Krämer vorbereitet waren, und tauchten in der Masse unter. Andere der Verborgenen aber blieben, wo sie waren, so Runki, der in der Fundamentgrube besser aufgehoben war. Krämer hatte viel zu tun und viel zu laufen, bis alles geschafft war. Als er nach seinem Block ging, traf er mit Bochow zusammen, der von Riomand kam, um sich von diesem die Bestätigung der hoffnungsvollen Parole von der Landung bei Erfurt geben zu lassen. Der Franzose hatte jedoch nur berichten können, dass sich die SS im Kasino darüber unterhalten hatte, ausländische Sender sollten angeblich die Meldung gebracht haben. Das war nichts Zuverlässiges, und es gab keine Möglichkeit, sich ein exaktes Bild von der augenblicklichen militärischen Lage zu machen.
»Es lässt sich nichts unternehmen«, sagte Bochow daher zu Krämer, »wir müssen den Transport gehen lassen.«
»Und was ist mit dem Kind?«
Bochow hatte nicht den Mut, Krämer zu enttäuschen, darum log er: »Ich erfahre bald, wo es sich befindet. Dann hole ich es.«
Krämer nickte. »Gut, Herbert, gut. Das Kind muss zu uns zurück, wir sind es den beiden im Bunker schuldig und … Pippig.«
Bochow schwieg.
Nach unruhigem Schlaf war Krämer schon im Morgengrauen auf den Beinen. In den Blocks machten sich die für den Transport bestimmten Häftlinge fertig. Die Freiwilligen der Gruppen nahmen stillen Abschied von ihren Genossen, am Körper die selbstgefertigten Waffen verborgen. Würde es gelingen, den Transport zu befreien und sich zum Amerikaner durchzuschlagen? Wie viel SS würde den Transport begleiten? Wohin ging es?
Krämer ging von Block zu Block. »Wenn Reineboth ruft, dann tretet an. Macht Gewimmel, versteht ihr, vielleicht kommt heute bald Alarm, und wir können den Abmarsch hinausziehen.«
Doch es kam anders, überraschend und unvorhergesehen! Alle Verzögerungspläne wurden über den Haufen geworfen. Eine halbe Stunde vor der festgesetzten Zeit marschierten einige Hundertschaften SS vor dem Tor auf. Sie formierten sich zum Spalier, Karabiner im Anschlag, Handgranaten am Koppel. Das schmiedeeiserne Tor wurde aufgetan und blieb offen. Über den menschenleeren Appellplatz rannten Blockführer ins Lager, Knüppel und Revolver in der Faust. Wahllos stürzten sie in die Blocks und prügelten die Insassen hinaus, als wollten sie das ganze Lager zum Tor treiben. In wildem Aufruhr jagte alles durcheinander, brüllende Blockführer und schreiende und flüchtende Häftlinge. {Nichts mehr von Einteilung für den Transport. Nur Panik und Schreien und Flucht!} Aus den Seitenwegen wurden die Menschen zusammengetrieben, die Hauptwege zum Appellplatz hinauf und durchs offene Tor! Zurück ins Lager hetzten die Treiber, fegten neue Haufen zum Tor hinaus.
Die aufgejagte Masse verlor Denken und Verstand, sie war nur noch ein brodelndes Gewirr von Angst, Flucht und dem unerhörten Trieb, vor den prügelnden Treibern davonzulaufen, zum offenen Tor hinaus, als ob da draußen die Erlösung wäre. Wie eine Windhose jagte es über das Lager hinweg. Das SS-Spalier hatte sich zu beiden Seiten des riesenhaften Zuges, zu dem die Masse der Herausgejagten angewachsen war, ausgedehnt, und als es genug war mit dem Treiben, schlug das Tor zu, und im Laufschritt – Gebrüll und Kolbenstöße – wimmelte die fiebernde Masse auf der Zugangsstraße dahin. Bis zum Schlagbaum brauchte die SS, um eine ungefähre Marschordnung in die Menschen hineinzuprügeln.
Keine Stunde hatte das Tosen des Sturmes gedauert. Was in den Blocks zurückgeblieben war, mochte nicht denken, nicht sprechen, weil das aufgejagte Blut Herz und Hirn überschwemmte. Auf Tische und Bänke, auf die Betten im Schlafsaal sanken die Menschen nieder, bedeckten die Augen mit den Händen und zwangen den abgehetzten Atem zur Ruhe.
Eine Stunde nach dem Furchtbaren heulte die Sirene. Heulte wie ein {kreischendes} Frauenzimmer, das man bei den Haaren hatte. Neuer Fliegeralarm!
Die Häftlinge der Effektenkammer arbeiteten schon seit Tagen nicht mehr. Die Kammer war ihnen willkommene Zufluchtsstätte. Hier waren sie vor Transporten sicher. Als der Sturm über das Lager dahinbrauste, hatte auch sie die Erregung gepackt. Erst während des Alarms kamen sie wieder zur Ruhe, und auf einmal entdeckten sie, dass Wurach verschwunden war. – Hatte er sich verkrochen, der Lump? War er überhaupt noch auf der Kammer? {Am Morgen war er mit dem Kommando angetreten.}
Sie suchten nach ihm, fragten die Häftlinge der Bekleidungskammer im ersten Stock, die Häftlinge der Gerätekammer im Parterre. »{Der Zinker ist verschwunden.} Habt ihr ihn gesehen?«
Keiner vermochte Auskunft zu geben. Vielleicht war der Zinker während der Austreibung im Lager gewesen und mit hinausgeprügelt worden? Vielleicht hatte er sich freiwillig dem Transport angeschlossen, um der Abrechnung zu entgehen, die auf ihn wartete. Die Häftlinge gingen wieder nach oben. Sollten sie Zweiling das Verschwinden melden? Manche rieten davon ab. Lasst die Finger weg, das ist ein heißes Eisen. Vielleicht hat Zweiling selber dafür gesorgt, dass der Zinker abhandengekommen ist. Sie beschlossen zu schweigen.
In den Widerstandsgruppen gärte es. Sie forderten Waffen. Unruhe und Ungeduld bedrohten die Disziplin. Die Verständigung mit den Gruppen durch die Verbindungsleute reichte nicht mehr aus. In der Not der Stunde mussten die Genossen des ILK immer mehr aus ihrer Verborgenheit hervortreten. Kurz entschlossen setzten sie daher eine Besprechung mit den Führern der Widerstandsgruppen an.
Nach Einbruch der Dunkelheit kamen über hundert Mann von ihnen in einem durch die Austreibung leer gewordenen Block zusammen. Auch Krämer nahm an der Besprechung teil.
Kaum dass Bochow sie eingeleitet hatte, kam aus den Reihen der Versammelten die Forderung nach bewaffnetem Widerstand gegen die weiteren Evakuierungen. Am ungeduldigsten war wiederum Pribula. Seine Freunde von den polnischen Gruppen schlossen sich ihm an. Aber auch andere Führer verlangten die Aufgabe der passiven Haltung.
Lieber wollen wir kämpfend untergehen als länger zusehen, wie unsere Kameraden in den Tod gejagt werden. Heute sind es zehntausend, morgen werden es vielleicht dreißigtausend sein. Die Unruhe stieg an. »Lasst uns zu den Waffen greifen! Morgen schon!«
Krämer, der abseits stand, konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er rief in das Rumoren hinein: »Zuerst einmal: Schreit hier nicht so rum! – Wir sind auf keiner Streikversammlung, sondern im Lager! Wollt ihr mit eurem Lärm noch die SS anlocken?« Es wurde augenblicklich still. »Zu den Waffen wollt ihr greifen und das morgen schon? – Na, so was.« Krämers Spott reizte. Viele lärmten erneut auf.
»Lasst mich sprechen, gottverdammmich! – Schließlich {schleppe ich als Lagerältester den größten Brocken und habe} darum auch was zu sagen. – Wie viel Waffen wir eigentlich besitzen, das weiß ich nicht so genau. Ihr werdet es besser wissen. Aber eines weiß ich! Es werden nicht so viele und so gute Waffen sein, dass wir es mit 6000 SS-Leuten aufnehmen können. Ich weiß auch, dass sich der Kommandant hüten wird, hier ein Leichenfeld zurückzulassen, wenn wir ihn nicht durch unsere eigene Dummheit dazu zwingen!«
»Durch unsere eigene Dummheit?«
»Was bist du für ein Lagerältester?«
»Hört nur, er nimmt den Kommandanten noch in Schutz!«
Bochow griff ein: »Lasst den Lagerältesten zu Ende sprechen.«
Krämer schnaufte.
»Ich weiß nicht, ob ihr alle Kommunisten seid. Ich bin einer! – Hört mir gut zu, damit ihr begreift, wie ich es meine.«
Er machte eine knappe Pause.
»Wir haben hier im Lager ein kleines Kind versteckt. Sicher wisst ihr davon. Wegen dieses Kindes haben wir viel durchmachen müssen. Seinetwegen sitzen zwei von uns im Bunker, ihr kennt sie. Wegen des Kindes hat sich unser Pippig totschlagen lassen. Wegen des Kindes haben viele andere Kumpels ihren Arsch riskiert. Ihr selbst, wie ihr hier sitzt, seid des Kindes wegen in großer Gefahr gewesen. Manchmal hing es für das ganze Lager am seidenen Faden. Was war das für eine Dummheit von uns, ein kleines Kind zu verstecken! – Hätten wir es, als wir das Wurm fanden, lieber am Tor abgegeben, dann lebte unser Pippig noch, und dann säßen nicht Höfel und Kropinski im Bunker und warteten jetzt auf ihren Tod! Dann wäre auch über euch und das Lager keine Gefahr gekommen. Allerdings hätten sie dann das Kind totgeschlagen, doch das wäre nicht so schlimm gewesen, was?«
{Es war merkwürdig still geworden.}
Eine sonderbare Aufmerksamkeit füllte den Raum.
»Hättest du das Kind bei der SS abgegeben?«, fragte Krämer Pribula, in dessen Nähe er stand.
Der junge Pole antwortete nicht. Krämer sah das heimliche Glitzern in dessen Augen.
»Siehst du, so schwer ist die Entscheidung über Leben und Tod! – Meinst du, dass es mir leichtfällt, Todestransporte zum Tor zu schicken?«
Krämer wandte sich allen zu. »Was soll ich tun? – Soll ich zu Kluttig gehen: Ich verweigere den Befehl, schieß mich über den Haufen? … Großartig von mir, was? … Ihr würdet mir bestimmt ein Denkmal setzen … Aber ich verzichte auf die Ehre und schicke dafür Menschen in den Tod, um … Menschen zu retten, nämlich nur, damit Schwahl nicht schießt.«
Krämer sah in die Gesichter hinein, die ihn anstarrten. »Begreift ihr das? … Es ist nicht so leicht, das zu begreifen. Es ist überhaupt nicht leicht. Denn alles, was wir jetzt tun müssen, ist nicht nur eine einfache Entscheidung! Wir haben nicht einfach zu wählen zwischen Leben und Tod! Wäre es so, dann würde ich sagen: Jawohl, her mit den Waffen, ab morgen schießen wir! Sagt mir: Haben wir Pippig in den Tod getrieben, weil wir das Kind gerettet haben? Sagt mir: hätten wir das Wurm umbringen lassen sollen, um Pippig zu retten? – Na, sagt es doch! Wer gibt mir die richtige Antwort?«
Krämer war in tiefe Erregung geraten. Er musste noch viel sagen. Doch die Gedanken wurden für ihn immer komplizierter, er formte sie mit den Händen, fand aber keinen Ausdruck mehr und kapitulierte vor dem Schwierigen.
Die Männer schwiegen. Es war, als hätte Krämer jedes einzelne seiner schweren Worte von der Waagschale genommen und sie in die Hände der Männer gelegt: da, wägt selbst!
Die Männer waren zur Besinnung gekommen. Disziplinierter, als sie begonnen, wurde die Besprechung zu Ende geführt.
Gemeinsam mit den Führern der Gruppen konnten die Genossen des ILK die Taktik für die nächsten Tage festlegen. Der Antrag zum bewaffneten Widerstand wurde als verfrüht abgelehnt. Durch die Aussprache gelangten die Männer zu der Überzeugung, dass der Stillstand der Front nur ein vorübergehender sein konnte und die Tage der Lagerfaschisten gezählt waren. Es blieb bei der Taktik des Verzögerns und des passiven Widerstands, so bitter es auch war, noch Tausende in den Tod gehen lassen zu müssen.
Brendel vom Lagerschutz kam. Er sprach leise mit Bochow. Auf dessen Gesicht zeichnete sich starke Anteilnahme ab. »Kameraden«, rief er, »die Front bewegt sich weiter! Soeben erhielten wir sichere Nachrichten! Östlich von Mühlhausen sind heftige Kämpfe im Gange! Langensalza und Eisenach sind gefallen!«
»Ruhe! Schreit nicht! Seid ihr verrückt geworden?«, sprang Krämer dazwischen und dämpfte den Lärm der Männer, die es von den Bänken hochgerissen hatte. –
Schon am frühen Morgen des folgenden Tages erhielt Krämer neue Befehle. Binnen weniger Stunden sollten wiederum 10 000 Mann abgehen, denen weitere 10 000 zu folgen hatten. Für den gleichen Tag war der geschlossene Abmarsch der 800 sowjetischen Kriegsgefangenen angeordnet worden.
In den Kasernen schrie und kommandierte es schon. Die Begleitmannschaften für die großen Transporte wurden eingeteilt. Der Fall von Eisenach machte die Eile des Aufbruchs zur Flucht. Tausende der Häftlinge waren seit Tagen schon marschbereit. Im Lager wimmelte es. Während Krämer mit den Blockältesten und einem Teil des Lagerschutzes den ersten Transport zusammenstellte, während bereits lange Züge der SS von den Kasernen her zum Lager marschierten, fand sich das ILK im Block 17 zu einer eiligen Besprechung zusammen.
Der Abmarsch der Kriegsgefangenen bedeutete den Verlust starker Widerstandsgruppen. Es wurde beschlossen, dass die Kriegsgefangenen dem Befehl Folge leisten sollten. Da mit Sicherheit anzunehmen war, dass der Vormarsch der Amerikaner von Stunde zu Stunde weitere Fortschritte machen werde, sollten die Kriegsgefangenen unterwegs, dort, wo sie amerikanische Vorhuten vermuteten, die Begleitmannschaften überwältigen und sich zu den Amerikanern durchschlagen. Mit Stichwaffen und einigen wenigen Pistolen konnten die Gruppen ausgerüstet werden. Bochow erhielt den Auftrag, die Waffen herbeizuschaffen. Es war ein Entschluss auf Leben und Tod. {Bogorski war entschlossen, das Wagnis zu unternehmen.} Die Genossen des ILK trennten sich so eilig, wie sie zusammengekommen waren.
Franzosen, Polen, Russen, Deutsche, Holländer, Tschechen, Österreicher, Jugoslawen, Rumänen, Bulgaren, Ungarn und viele andere der nationalen Einheiten mussten Menschen hergeben. Das schwirrte, wirrte, lärmte und schrie von den einzelnen Blocks, wo sich die Massen drängten, in allen Sprachen durcheinander.
Mitten in diese von hektischer Hast betriebenen Vorbereitungen hinein schrie plötzlich die Sirene: Fliegeralarm! Alles stürzte jubelnd in die Blocks zurück. Die angetretene SS jagte in die Kasernen. Über den Appellplatz rannten die 16 vom Sanitrupp. Reineboth schrie ihnen durch das verschlossene Eisentor zu: »Zurück mit euch!« Einen Augenblick stutzten die 16, dann machten sie kehrt und liefen den Appellplatz wieder hinunter. Die Häftlinge an den Fenstern der ersten Blockreihen riefen sich zu: »Sie lassen den Sanitrupp nicht mehr raus!«
Köhn ließ ihn zum Revier laufen, bog ab, lief zur Schreibstube, riss die Tür zu Krämers Raum auf und schrie in wilder Freude: »Halali, die Jagd ist aus!« {Schlug die Türe wieder zu} und rannte seinen Leuten nach.
In kurzer Zeit war innerhalb und außerhalb des Lagers alles wie reingefegt. In der Ferne waren dumpfwetternde Einschläge zu hören. Die Wände der Blocks vibrierten, und die Häftlinge saßen und standen eingepfercht wie Menschen, die, vom Gewitter überrascht, unter einem Dach Schutz gesucht hatten. Noch mit der zusammengerollten Decke schräg über dem Oberkörper, mit einem Trinkbecher, einer Essschüssel am Bindfaden um den Leib, einem verschnürten Paket, einem Karton unterm Arm standen sie und lauschten in das Wunderbare hinaus. Befanden sich die Amerikaner näher, als zu hoffen und zu glauben war? Wo kam es her, das Bumsen und Rollen? Aus Erfurt oder gar schon aus Weimar?
In den Betonbunkern vor dem Lager hockten Schwahl, Kluttig, Weisangk, Reineboth, Kamloth und Offiziere der Truppe zusammen. Die Schützenlöcher und Splittergräben waren vollgestopft mit SS. Das Rumoren der Einschläge duckte ihnen das Genick, eine stärkere Gewalt hielt sie unter eisernem Druck.
Eine Stunde schon dauerten Schweigen und Furcht und noch eine Stunde dazu. Als endlich dann die Sirene ihre Entwarnung schrie, kroch es aus der Erde hervor wie verscheuchtes Getier, wild durcheinanderrennend. Signalpfeifen schrillten, Befehle wurden geschrien. Die SS-Züge formierten sich aufs Neue. Schwahl und sein Anhang liefen ins Dienstgebäude zurück. Reineboth eilte ins Rapportzimmer, und schon kam seine Stimme durch den Lautsprecher:
»Lagerältester, sofort aufmarschieren lassen! Sofort aufmarschieren lassen!«
Noch während des Alarms hatten sich Tausende geschworen, das Lager nicht mehr zu verlassen. Jetzt ließen sie sich zu Tausenden vom Zwang des Befehls durchs Tor treiben. Gezählt wurde nicht, so groß war die Hast. Krämer, der sich mit dem Lagerschutz zwischen den Blocks befand, ließ laufen, was fortlaufen wollte. »Haut ab, vielleicht habt ihr Glück.« Aber es kamen keine Blockführer, sie hatten auf dem Platz mit den Massen zu tun und fegten sie zum Tor hinaus, mit dem letzten Schub schlug es zu. –
Etliche von den Blockältesten hatten sich, ihren Blocks folgend, freiwillig dem Transport angeschlossen. Die Übrigen rief Krämer, nachdem der neue Sturm vorüber war, in einem der leer gewordenen Blocks zusammen.
»Es sollen heute nochmals 10 000 auf Transport gehen«, gab er bekannt, und auf seinem Gesicht waren die Spuren von Ermattung zu sehen. Auch auf den Gesichtern der Blockältesten hatten die seelischen Strapazen ihre Furchen gezogen.
»Müssen wir es noch zulassen? Können wir uns nicht zur Wehr setzen? Wer weiß, wie nahe die Amerikaner schon sind?«
»Wer weiß es?«, nickte Krämer müde. »Hört zu. Ich stelle den Transport nicht zusammen, das sollt ihr wissen. Der Alarm hat uns wertvolle Stunden geschenkt. Vielleicht gibt es heute noch einen zweiten Alarm, und sie evakuieren nicht mehr. Vielleicht aber veranstalten sie wieder eine Treibjagd {wie gestern}. – Solange wir uns noch in der Gewalt der SS befinden, {bin ich durch meine verfluchte Funktion als Lagerältester gezwungen,} die Befehle auszuführen. Ich gebe euch darum den Befehl für den zweiten Transport bekannt, aber ich stelle ihn nicht mehr zusammen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie uns jagen werden. Habt ihr mich verstanden?«
Krämer wartete nicht auf Antwort, er las sie sich von den Gesichtern ab. »Durchhalten, standhalten! Sagt es euren Kumpels.«
Auf dem Weg nach ihren Behausungen wurden die Blockältesten von erregten Häftlingen aufgehalten. Wilde Gerüchte hatten die Gemüter erhitzt. Bei Buttstädt sollten amerikanische Fallschirmjäger abgesprungen sein, Vorhuten sollten auf Erfurt marschieren.
»Wisst ihr Genaues? Habt ihr was erfahren? Stimmt es, dass heute noch ein Transport gehen soll?«
Fragen, Hoffnungen, Bangen …
Die harte Lagerdisziplin, die die Häftlinge in all den Jahren unter Druck gehalten hatte, war im allgemeinen Durcheinander der letzten Tage untergegangen. Keiner kümmerte sich mehr um Vorschriften und Verbote. Die Faschisten hatten die Gewalt verloren, und es gab für die Häftlingsmassen nur noch die Gefahr der Evakuierung und die der Vernichtung in letzter Stunde. In Begleitung von Krämer betrat Bochow den Block der sowjetischen Kriegsgefangenen. Bogorski und einige Führer der Widerstandsgruppen zogen sich mit den deutschen Kameraden auf die Latrine des Blocks zurück. Fünf der vorhandenen Pistolen hatte Bochow mitgebracht, sie verschwanden schnell unter der Kleidung der Soldaten.
Bogorski hatte sich einen einfachen Plan zurechtgelegt. Die sowjetischen Widerstandsgruppen sollten an den Flügeln des Zuges marschieren und die Flanken abschirmen. {Bogorski und ein Trupp seiner Leute machten den Schluss. Er rechnete mit einer Begleitung durch 200 SS-Leute. Auf einen SS-Mann kamen demnach vier Rotarmisten.} Das Ziel musste sein, schlagartig so viel SS-Leute wie nur möglich wehrlos zu machen und zu entwaffnen. Das war die Aufgabe der Flankendeckung. Die übrigen Rotarmisten würden sofort in den Kampf eingreifen. Gelang der Überfall, sollte sich der Zug in die Höhen des Thüringer Waldes durchschlagen und von hier aus die Verbindung mit dem nahen Amerikaner aufnehmen. Schlug der Plan fehl … »Nun gutt«, sagte Bogorski einfach, »wir haben dann unsere Pflicht getan.« Er schickte die Führer fort, sie sollten die Waffen verteilen. Jetzt war er mit seinen deutschen Kameraden allein. Es galt, Abschied zu nehmen.
Sie sprachen kein Wort miteinander. Bogorski streckte Krämer die Hand entgegen, und wie schon einmal sagte er nur: »Kamerad …« Dann lagen sie sich stumm in den Armen. – In Bochow stieg es heiß empor, als ihm Bogorski schweigend die Hände auf die Schultern legte. Durch das Kristall der Tränen hindurch verschwisterten sich ihre Blicke und die brüderliche Liebe, die sie immer füreinander empfunden hatten. Sie lächelten sich zu.
Als sie wieder zu sich selbst zurückgefunden hatten, sprachen sie in der Heiterkeit des Schmerzes miteinander.
»Ich muss euch noch etwas geben. – Kleines Kind.«
»Ist es bei euch?«, fragte Krämer überrascht.
Bogorski verneinte.
»Also hast du es doch fortgeschleppt«, rief Bochow, »und hast mir nicht die Wahrheit gesagt …«
»{Ich haben dir gesagt immer die Wahrheit, und ich sie dir sagen nun} Zum letzten Mal: ich haben das Kind nicht fortgeschafft.«
Er eilte hinaus, kam aber sogleich wieder zurück, mit ihm ein junger Rotarmist. »Der«, zeigte Bogorski auf den jungen Soldaten.
Dieser nickte strahlend. Ehemals dem Kommando des Schweinegeheges der SS zugehörig, das sich im Lager hinter dem Häftlingsrevier befand, hatte der junge Soldat auf Bogorskis Geheiß dem Zidkowski das Kind aus dem Bett »gestohlen« und es in der Auslaufhütte einer trächtigen Muttersau versteckt. Dort befand sich das Kind noch immer. Kein Häftling des Kommandos wusste davon …
Wenig später begab sich Krämer dorthin. Mit Bochow hatte er sich abgesprochen. Das Kind sollte auf dessen Block 38 untergebracht werden.
Auch das Kommando des Schweinegeheges war durch die Evakuierung stark dezimiert, und es befanden sich nur noch wenige Häftlinge in der primitiv zusammengezimmerten Bude, die Krämer betrat. Ohne Umschweife machte er sie mit dem Zweck seines Kommens bekannt. Überrascht erfuhren sie, dass das Kind bei ihnen verborgen gehalten wurde. Krämer überließ sie nicht lange ihrem Erstaunen. »Komm mit«, forderte er einen polnischen Schweinepfleger auf und ging mit diesem ins Gehege.
Vor der von dem jungen Soldaten bezeichneten Hütte blieb er stehen: »Hier drinnen ist es.«
An der aufgestört grunzenden Sau vorbei kroch der Pole in die Hütte. Im Hintergrund unter einem Haufen hochaufgeworfenen Strohs entdeckte er tatsächlich das Kind. Krämer wickelte es in eine mitgebrachte Decke.
Mit Ungeduld hatten die durch Bochow vorbereiteten Insassen des Blocks auf die Ankunft des Kindes gewartet. Jetzt folgten sie Krämer in den Tagesraum. Bochow nahm Krämer das Bündel ab und legte es auf einen Tisch. Behutsam schlug er die Decke auseinander. –
Völlig verwahrlost und verdreckt lag das zitternde, in sich verkrümmte Kind vor ihnen. Erschüttert starrten sie es an. Es machte nicht den Eindruck des Verhungertseins, der junge Soldat hatte für Nahrung gesorgt, aber es stank im Schmutz der eigenen Exkremente. Krämer richtete sich schnaufend hoch. »Seht zu, dass ihr aus dem da wieder einen Menschen macht …« Einige Beherzte griffen zu. Sie zerrten dem Kind die schmutzigen Lumpen vom Leib. In der Waschkaue säuberten sie es. Ein Pole war mit dabei. Liebevoll tröstete er in seiner Muttersprache und frottierte mit einem Tuch den kleinen fröstelnden Körper. Dann trugen sie das Kind in den Schlafsaal und steckten es ins wärmende Bett. In betretenem Schweigen umstanden die Häftlinge das Lager. Bochow nickte gedankenvoll vor sich hin. »Es hat uns viele bittere Stunden gekostet. Immer waren Kluttig und Reineboth hinter ihm her. Wie ein Paket ist es von Hand zu Hand gegangen. Nun ist es bei uns, und hier wird es bleiben bis zum Schluss.«
Vielleicht verstanden manche nicht, was Bochow sprach. Es waren viele Neue unter den Alteingesessenen, Franzosen, Polen, Tschechen, Holländer, Belgier, Juden, Ukrainer, buntgemischt. – Bochow blickte auf und schickte ein Lächeln rundum, und es kam von den Gesichtern zu ihm zurück. –
Ein zweiter Alarm legte das Lager wieder still. Er dauerte über viele Stunden, in denen nichts zu hören war, weder ferne Einschläge noch Motorengebrumm am Himmel. Die Lautsprecher in den Blocks schwiegen. Leer und starr lag der Appellplatz, auf dem vor wenigen Stunden noch wüstes Getümmel gewesen war. Selbst die Posten auf den Türmen standen reglos. In toter Bewegungslosigkeit lag alles da wie ein abgestorbenes Stück der Natur. Wo war der Krieg in dieser Stille? –
Bis in die späten Stunden des Tages blieb es so. Als endlich die Sirene zu röhren begann und in den Diskant des Entwarnungsschreis hinaufstieg, erholte sich alles nur schwer von der Lähmung.
Krämer, der die Zeit des Alarms in der Schreibstube verbracht hatte, blickte unruhig durchs Fenster. Oben am Tor blieb es noch immer still, unheimlich still! – Und 10 000 sollten noch marschieren. – Für jede Minute erwartete Krämer die Durchsage. Dann würde wieder eine Treibjagd beginnen, denn er hatte nichts getan, um den Transport zusammenzustellen. Aber es kam nichts.
Um seine Unruhe vor sich selbst zu beschwichtigen, meinte Krämer: »Der Alarm war gut, einen Tag haben wir gewonnen, sie können nicht mehr evakuieren.«
Dann aber regte es sich doch da oben. Die Häftlinge der Schreibstube sprangen an die Fenster. Eine SS-Kolonne, von den Kasernen kommend, marschierte am Zaun entlang zum Tor.
»Was ist?«
Schon kam Reineboths Stimme: »Lagerältester, mit den Kriegsgefangenen zum Tor!«
Krämer sah zum Lautsprecher hinauf, nickte sich zu, er hatte es geahnt. Mit schweren Schritten ging er in seinen Raum hinüber und zog den Mantel an.
Der Ruf hatte das Lager lebendig werden lassen. Aus allen Blocks rannten Häftlinge, und als Krämer hinzukam, stand die Menge vor dem Block der Kriegsgefangenen. Bochow, Kodiczek, Pribula, van Dalen zwängten sich durch den Haufen nach vorn. Still und schweigend standen sie nebeneinander, auch als die Menge in Bewegung geriet, da Krämer mit den ersten der Gefangenen aus dem Block herauskam. Der Zug formierte sich. {Mit den Letzten} erschien Bogorski. Er trug nicht mehr das Häftlingsdrillich, sondern wie die übrigen seiner Kameraden eine abgeschabte Felduniform der Roten Armee.
In Gliedern zu zehn Mann stellten sich die Gefangenen auf.
Krämer musste das Zeichen zum Abmarsch geben, an der Spitze des Zuges ging er dann. Bogorski ließ den Zug an sich vorbei. Er prüfte die geheime Einteilung. Dann drehte er sich zu der Menge um. »Auf Wiedersehen, Kameraden«, rief er auf Deutsch. Die Häftlinge winkten. Unbedeckten Hauptes standen die Genossen des ILK. Bogorski grüßte sie mit einem stillen letzten Blick.
In militärischer Ordnung, mit dem typischen, ein wenig schaukelnden Schritt marschierten die 800 den Appellplatz hinauf. Aus den Zwischengassen der Blocks blickten die Häftlinge ihnen nach. Die Flügel des schmiedeeisernen Tores öffneten sich. Der Zug musste anhalten und marschierte auf der Stelle, dann bewegte er sich wieder vorwärts, bis der letzte Mann durchs Tor marschiert war. Es schloss sich.
Krämer, die Mütze noch in der Hand, setzte sie auf und ging langsam über den wieder einsam gewordenen Platz ins Lager zurück. –
Der zweite Transport wurde nicht mehr angefordert, und der Tag ging in sonderbarer Ereignislosigkeit zu Ende.
In den folgenden Tagen geriet der Evakuierungsplan immer mehr in Unordnung. Eine vollständige Räumung des Lagers, wie sie vom Kommandanten vorgesehen, war nicht mehr möglich. Oft retteten die häufiger werdenden Alarme die zum Abmarsch befohlenen Transporte über Stunden hinweg. Oftmals kam es gar nicht mehr zur Zusammenstellung von Transporten. In den Pausen zwischen den Alarmen wurden die Häftlinge wahllos und regellos aus den Blocks hinaus- und auf dem Appellplatz zusammengetrieben und, wenn genug beisammen waren, zum Tor hinausgejagt. Trotz der Taktik des Verzögerns, trotz der oft rettenden Fliegeralarme, die die Evakuierungen {ins Stocken brachten}, waren es noch Zehntausende, die in diesen Tagen zusammengetrieben und aus dem Lager gejagt werden konnten. Von 50 000 blieben zuletzt noch 21 000 Menschen übrig. Ordnung und Kontrolle gab es nicht mehr. Größer mit jedem Tag wurde das Gewirr der Auflösung. Verbissener kämpften die übriggebliebenen Häftlinge gegen ihre Austreibung. Nachrichten, unprüfbare, versetzten sie in einen Zustand dauernder Erregung. Bald hieß es, dass die Amerikaner Kahla südöstlich von Weimar erreicht hätten, bald sollten nordöstlich von Erfurt amerikanische Panzerspitzen gesehen worden sein. Andere Nachrichten wollten wissen, dass die Amerikaner schon in Buttstädt eingedrungen wären. In das Wirrwarr der unkontrollierbaren Nachrichten und Parolen verfitzte sich das Gerücht, dass die Evakuierungen eingestellt würden und der Kommandant das Lager dem Amerikaner übergeben wolle.
Eines frühen Morgens erschienen, ohne dass es Alarm gegeben hatte, zwei amerikanische Jäger über dem Lager. Die Häftlinge stürzten aus den Blocks, schrien: »Sie sind da, sie sind da!«
Aber die Flugzeuge, nachdem sie einige Male über dem Gelände gekreuzt hatten, flogen wieder ab.
Manchmal war es während der Alarme totenstill, manchmal wieder, kaum dass sich die Sirene ausgeschrien hatte, zitterten die dünnen Wände der Baracken im Lärm des Kampfes da draußen, als fänden die Bombeneinschläge und Artillerieduelle in unmittelbarer Nähe statt. Die Häftlinge fieberten der Befreiung entgegen. Der Krieg schickte seine Wehen über das Lager und schüttelte es. Und noch immer vergingen die Tage. Die hin und her getriebene Masse glich einem Riesenleib, der sich, selbst aus tausend Wunden blutend, gegen die mörderischen Pranken eines angeschlagenen Raubtieres zur Wehr setzt. Inmitten dieses verzweifelten Kampfes standen Krämer, die Blockältesten und der Lagerschutz. –
Das Getümmel einer der Austreibungen benutzend, verbargen sich Bochow, Pribula und einige Mitglieder der polnischen Widerstandsgruppen im Operationsraum des Häftlingsreviers. Damals, als der Kommandant auf Drängen Kluttigs nach dem geheimen Radiosender hatte suchen lassen, musste das tatsächlich existierende Gerät vernichtet werden. Jetzt hatten einige polnische Häftlinge aus den sorgfältig aufbewahrten Einzelteilen den Apparat neu zusammengesetzt. Im Operationsraum befand sich noch die am Blitzableiter gut getarnte Antenne für den Sender.
Während durch das Lager die Furie der Austreibung raste, gaben die Mutigen Hilferufe durch das primitive Gerät.
»SOS! SOS! Hier Lager Buchenwald! Hier Lager Buchenwald! Hilfe dringend notwendig! SOS! Hier Lager Buchenwald!« Würden die Rufe aufgefangen werden?
In der gleichen Nacht noch riefen die Genossen des ILK erneut die Führer der Widerstandsgruppen zusammen. Wieder trafen sie sich in einem der leer gewordenen Blocks. Durch den Verlust der sowjetischen Gruppen musste eine Umstellung vorgenommen werden. Die Gruppen der Deutschen, Franzosen, Tschechen und Holländer, die für den Kommandanturbereich eingeteilt waren, mussten die Aufgabe der sowjetischen Gruppen mit übernehmen, denen der Sturm auf die SS-Kasernen zugedacht worden war.
Sichere und zuverlässige Nachrichten über den Stand der Front fehlten, trotzdem lag es wie eine Witterung in der Luft, dass die Tage, ja die Stunden des Lagers gezählt waren, dass täglich, stündlich mit dem Abzug der Faschisten zu rechnen war. Die Front war nah, sehr nah! Darüber gab es keinen Zweifel. Die überhasteten Evakuierungen, die bis zur Siedehitze getriebene Nervosität und Gereiztheit der SS, die unzähligen Gerüchte und Parolen, die immer häufiger werdenden Alarme, die zunehmende Fliegertätigkeit und nicht zuletzt der deutlich vernehmbare Lärm der Kämpfe, das alles fügte sich zu einem Bild zusammen, das die Situation klar erkennen ließ. Die Stunde der letzten Entscheidung war gekommen.
Bochow sprach es aus. Sein Blick traf auf Pribula, und übergangslos sagte er zu dem jungen Polen: »Du hast es uns durch deine ewige Ungeduld oft schwer gemacht, aber du hast sie trotzdem immer der Disziplin untergeordnet. Dafür danke ich dir, Genosse und Kamerad.«
Bochow ging in die Mitte der Versammelten hinein und setzte sich auf einen Tisch, um von allen gleichmäßig gehört zu werden.
»Bewaffneter Aufstand«, sagte er knapp. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wird die Flucht der Faschisten so überstürzt sein, dass sie nicht mehr dazu kommen, das Lager zu liquidieren, dann brauchen wir nicht zu kämpfen. Oder sie versuchen in letzter Stunde, uns zu vernichten, dann müssen wir kämpfen! In jedem Fall ist die Front nah genug, um unter ihrem Schutz den Aufstand zu wagen. Klar?«
Keiner antwortete, einige nickten, aber alle rückten näher an Bochow heran. Noch leiser fuhr dieser fort: »Die Faschisten sind auf sich allein gestellt. Weder vom Militär noch von den Fliegern werden sie Hilfe erhalten. Wir kennen die Gründe und wissen, warum Schwahl bisher das Lager nicht liquidiert hat. Das schließt nicht aus, dass es in letzter Stunde nicht doch geschehen kann. Vielleicht morgen schon. – Darauf müssen wir uns vorbereiten.«
Die Männer reckten die Köpfe vor.
»Morgen, Kameraden, kann zu jeder Stunde unsere Alarmstufe zwei in Stufe drei verwandelt werden. Das heißt, alle Gruppen beziehen ihre Ausgangsstellungen, und die Waffen werden freigegeben. Außer Hieb- und Stichwaffen haben wir 90 Karabiner, 200 Brandflaschen, 16 Handgranaten, 15 Pistolen und Revolver und ein leichtes Maschinengewehr. Das ist nicht viel.«
Bochow betrachtete sich die schweigenden Gesichter.
»Zwei Faktoren helfen uns im Kampf: die Nähe der Front und die Kopflosigkeit der Faschisten. Ihre Flucht wird in jedem Falle eine überstürzte sein, auch dann, wenn sie vorher noch schießen. Klar?«
Bochow drückte sich beide Hände vor die Stirn.
»Wir wissen nicht, wie es vor sich gehen wird. Vielleicht schießen sie nur rundum von den Türmen? Vielleicht kommen sie ins Lager und brennen die Blocks mit Flammenwerfern nieder …«
»Vielleicht kommen sie überhaupt nicht mehr dazu, die Arschlöcher«, brummte der Führer einer deutschen Gruppe.
Die sarkastische Bemerkung strich Bochows Gedanken durch. Er ließ die Hände sinken.
»Gleich, auf welche Weise sie uns zu vernichten suchen, unser Kampf muss offensiv sein. Innerhalb des Zaunes sind wir ihnen ausgeliefert, nur im schnellen Ausbruch liegt unsere Chance.«
»Und wenn die dreifache Postenkette noch steht?«, warf einer ein.
Bochow schüttelte den Kopf. An seiner Stelle antwortete Pribula.
»Sind Faschisten doch in Flucht! Es muss gehen alles schnell. Kaputtschießen und abhauen. Was können sie dann erst noch Postenkette beziehen?«
»Richtig«, bestätigte Bochow. »Sie schießen und fliehen zugleich, da gibt es keine Postenkette mehr.«
Das erkannten alle.
»Wir müssen schnell aus dem Lager heraus. Die Bresche dafür zu schlagen ist Sache der polnischen und jugoslawischen Gruppen.«
Die Führer dieser Gruppen nickten, sie kannten ihre Aufgabe.
Plötzlich kam vom Fenster her ein Warnruf der Wache. Sofort wurde das Licht gelöscht.
»Was ist?«
»Ein Lastwagen fährt durchs Tor.«
»Auf uns zu?«
»Er hält an.«
»Licht!«, rief Bochow. Die Glühbirne flammte wieder auf. »In den Schlafsaal, schnell! Legt euch in die Betten!«
Über Tisch und Bänke hinweg stürzten die Männer in den Schlafsaal, rissen sich die Kleider herunter, kletterten in die dreifach gestaffelten Betten, zogen sich die Decken über.
»Noch ein Auto kommt. Sie biegen links ein.«
Das Licht ging wieder aus. Bochow blieb bei der Wache.
{Im Lastwagen fuhren zwei SS-Leute. Im Auto saßen Schwahl, Wittig und Weisangk.} Die Wagen fuhren nach dem Krematorium. {Wie stets, wenn sich Besonderes abspielte, wurde das Kommando des Krematoriums im Schlafsaal eingeschlossen.} Der Scharführer des Krematoriums öffnete den hinteren Zugang. Die Wagen bogen ein. Schwahl ging mit seiner Begleitung in den Verbrennungsraum. »Drei Öfen unter Feuer?«, vergewisserte er sich.
»Wie befohlen«, meldete der Scharführer.
»Los dann.«
Die SS-Leute entluden den Lastwagen. Berge von Akten schleppten sie in den Verbrennungsraum und warfen sie in die Öfen.
»Sie verbrennen«, flüsterte die Wache.
Bochow drückte das Auge ans Guckloch des Verdunklungsrahmens. Der schwarze Schornstein des Krematoriums sprühte eine mächtige Funkengarbe zum Himmel hinauf. Unzählige schwarze Fetzen schwammen und schaukelten im roten Schein. –
Stapel um Stapel brachten die SS-Leute herbei. Schwahl stand mit seinen Begleitern schweigend daneben. Nervös zog er an der Zigarette. Wenn die schwere Feuerungsklappe geöffnet wurde, wurden sie gespenstisch angeglüht. Mit dem Schürhaken rührte der Scharführer die Glut. Nur einmal meckerte Schwahl vor sich hin. Er blickte zu Wittig.
»Klug von mir?«
Die Ordonnanz stimmte zu.
»Nun kann uns koaner was beweisen«, grunzte Weisangk zufrieden. –
Fast zwei Stunden hockte Bochow am Fenster. Endlich sah er die Autos zurückkommen. Sie fuhren durchs Tor, die schmiedeeiserne Tür schloss sich.
Die Funkengarbe war in sich zusammengesunken, nur manchmal noch stiebte der Schornstein mit letztem Atem eine Lohe aus.
»Was mögen sie verbrannt haben?«
Bochow hob die Schultern. »Es waren keine Leichen …«
Mit Unruhe begann der Tag. Die zur Bedienung der SS Kommandierten wurden nicht mehr aus dem Lager gelassen und kehrten nach ihrem Block 3 zurück. Die Neuigkeiten, die sie am Abend vorher noch mit hereingebracht hatten, verbreiteten sich mit Windeseile im Lager und versetzten es in höchste Erregung. Erfurt sollte gefallen sein und die Amerikaner nur noch 12 km vor Weimar stehen. Von Stunde zu Stunde konnte sich die Lage verändern. Kein Häftling mochte glauben, dass die Faschisten, wenn sie fliehen mussten, das Lager unbehelligt zurücklassen würden. Jeder hielt eine weitere Evakuierung für unmöglich. Dafür war der Amerikaner sicher schon zu nah, aber noch nicht nah genug, um rechtzeitig einen Massenmord im Lager verhindern zu können. Die Ungewissheit lief mit der Zeit um die Wette, und jede Stunde, in der das Gefährliche noch ausblieb, war der ständigen Bedrohung abgerungen.
Bochow hielt es an der Zeit, Runki aus seinem Versteck herauszuholen. Was sollte dieser noch in dem Verlies, wenn jede Stunde die Entscheidung über Leben und Tod bringen konnte? Unter dem Jubel seiner Kameraden kroch Runki – bartstoppelig und abgemagert – aus dem Loch am Fußboden. Auf seinem Blockältestentisch saß das Kind, in einer zurechtgestutzten und eilig zusammengeflickten Häftlingsmontur. Sie hielten Runki das Menschenbündel entgegen: »Unser jüngster Kumpel!«
Spezialtrupps vom Lagerschutz holten Ausbruchswerkzeuge, Brechstangen und isolierte Zangen für den elektrisch geladenen Zaun aus den Verstecken. Andere Trupps vom Lagerschutz stiegen am Nordhang des Lagers im freien Gelände umher. Sie kontrollierten die seit Wochen schon getroffenen Vorbereitungen für die Stunde des Ausbruchs. Im Gelände mit seinen vielen natürlichen Bodenwellen und vereinzelten Sträuchern zwischen Baumstümpfen lagen Bretter, Bohlen und einige alte ausrangierte Türen: vergessene Bauhölzer und Gerümpel. Niemand kümmerte sich darum, und niemand ahnte den heimlichen Zweck des wie zufällig liegengelassenen Holzes: künftige Laufstege über die spanischen Reiter der neutralen Zone …
In den Blocks hielten sich die Widerstandsgruppen befehlsbereit. – Plötzlich jagte Motorengebrumm die Häftlinge aus den Blocks. Zu Tausenden standen sie auf den Wegen und starrten zum Himmel hinauf. Da waren sie wieder, die amerikanischen Bomber. Zwei, drei, vier … Sie zogen ihre Kreise über dem Lager und bogen nach Westen ab, in Richtung Weimar. – Wieder gab es keinen Alarm. Später waren Detonationen in der Ferne zu hören. Fielen in Weimar Bomben? Der Kampflärm verstärkte sich. Dumpf und wild rollten die Abschüsse.
Krämer hielt sich mit Bochow und einigen Führern der Gruppen in dessen kleinem Raum auf. Mit unerhörter Anspannung der Nerven lauschten sie auf das Getöse. – Täuschte der Kampflärm nur Nähe vor? – Die Totenstarre rings um das Lager war unheimlich und unerträglich. Die Männer sprachen kein Wort miteinander. Sie starrten über den leeren Appellplatz. Auf den Türmen standen die Posten, steif und still. Auf dem Hauptturm über dem Tor waren die Panzerfäuste zu erkennen. Die Läufe der Maschinengewehre ringsum auf den anderen Türmen lauerten auf den Daumendruck. Und alles war reglos, starr, unheimlich …
Bochow sah bleich aus. Er konnte es nicht mehr ertragen. Schroff wandte er sich vom Fenster weg und lief hin und her. Ein Führer der deutschen Gruppen hielt es ebenfalls nicht mehr aus, er schlug mit der Faust auf die Fensterbank. »Verflucht! – Es muss doch was passieren.«
Krämer brummte.
Bochow blieb stehen und lauschte gespannt. Deutlich waren die Abschüsse zu vernehmen.
{Plötzlich sprang einer der Führer auf und wies nach einer Richtung am Zaun. »Da!«
SS, kompaniestark, in voller Ausrüstung, rannte im Eilmarsch den Zaun entlang. Bochow stürzte hinaus. Die anderen folgten. Zwischen den Baracken standen die Häftlinge und sahen der davonjagenden SS nach. Ihr plötzliches Erscheinen und Verschwinden war wie ein aufgescheuchter Windstoß. Wieder versank rings um das Lager alles in die unerträgliche Starre. Nur das Rollen, Donnern und Knattern war zu hören. Nah, nah, verflucht, so nah …}
Auf einmal, etwa um die zehnte Morgenstunde, wurde die ereignislose Stille durch Reineboths Stimme zerrissen.
»Der Lagerälteste und sämtliche Blockältesten sofort zum Tor!«
Die Häftlinge wimmelten durcheinander, riefen, schrien! Vor der Schreibstube sammelten sich die noch übriggebliebenen Blockältesten, bleiche Erregung auf den Gesichtern. Krämer kam aus seinem Raum.
»Gehen wir …«
Oben am Tor standen sie dann eine Weile. In den Seitengängen der Blocks starrten die Häftlinge nach dem Tor. Der diensttuende Blockführer öffnete die schmiedeeiserne Tür, Reineboth kam. Nur er, niemand sonst mit ihm. Ein sonderbar verkrampftes Lächeln um die Mundwinkel.
Krämer trat ihm entgegen, meldete. Reineboth ließ sich Zeit. Umständlich zog er die schweinsledernen Handschuhe über und strich sie an den Fingern glatt. Legte die Hände auf den Rücken, lauschte interessiert in die Richtung des Geschützdonners, blickte über die strammen Reihen der Blockältesten hinweg und sagte endlich: »Meine Herren …«, er lächelte voller Zynismus, »wir müssen gehen. – Bis 12 Uhr muss das Lager leer sein.«
Er fasste Krämer am Knopf seines Rockes. »Bis 12 Uhr! Haben Sie mich verstanden, Herr General? Pünktlich auf die Minute steht das Lager. Marschbereit, sonst …« Mit dem Finger schnippte Reineboth elegant gegen den Knopf und ging durch das Tor zurück. –
Während Krämer mit den Blockältesten ins Lager zurückmarschierte, jagten sich in seinem Kopf die Kombinationen. Die Front war da! Stunden der Verzögerung konnten das Leben retten. Reineboths schnippender Finger aber signalisierte Gefahr. Eine viel größere Gefahr als alle bisherigen … Zwischen dieser und der Hoffnung, die mit dem Geschützdonner über das Lager rollte, galt es zu wählen. –
Vor der Schreibstube wurden die Blockältesten von den Häftlingen umringt. Im Nu jagte die Neuigkeit durchs Lager. »Um 12 Uhr wird das ganze Lager evakuiert!«
Alles schrie durcheinander. »Wir gehen nicht! Wir gehen nicht! Wir gehen nicht!«
Bochow blieb bei Krämer.
»Und nun? Was nun? Alarmstufe drei?«
Bochow zerrte sich die Mütze vom Kopf und fuhr sich mit den Händen über den Schädel. Die Entscheidung war schwer, schwer …
Alarmstufe drei? – Noch nicht, nein, noch nicht! Abwarten. –
Höher stieg die Sonne. Der blaue Himmel zärtelte mit der milden Luft, und das Licht des Frühlings machte Nähe und Ferne schön. –
Menschenleer war das Lager, wie ausgestorben. Auf weichen Raubtiertatzen umschlich die Stille die Blocks. Drinnen saßen die Häftlinge, schweigend und wartend.
Viele von ihnen waren marschfertig. Auf den Latrinen standen Gruppen zusammen. Eine Zigarette ging unter ihnen von Mann zu Mann …
Auf Block 17 hatten sich die Führer der Widerstandsgruppen versammelt, während die Genossen des ILK bei Krämer waren. Die Mitglieder der Gruppen saßen in den Blocks, verteilt unter die Häftlinge, mit ihnen schweigend und wartend …
An den geheimsten Orten des Lagers hockten Angehörige des Lagerschutzes, bereit, die Waffen aus ihren Verstecken zu reißen …
Noch eine halbe Stunde war es bis 12 Uhr.
Riomand verteilte Zigaretten. Krämer wies das Angebot kopfschüttelnd ab, er rauchte nicht.
»Sie müssen noch einen Fluchtweg offen haben«, meinte Bochow, »sonst würden sie nicht evakuieren.«
Plötzlich kamen ihm Bedenken. War es richtig gewesen, die Führer der Gruppen auf Block 17 zu konzentrieren? Was nun, wenn der Weigerung des Lagers eine Austreibung folgen würde? Bestand dann nicht die Gefahr, dass die Führer in die Hände der SS fielen? Bochow beriet sich mit den Genossen des ILK. Noch war es Zeit, die Konzentration aufzulösen. Bochow änderte die Disposition. Er schickte einen Genossen nach Block 17. Die dort Versammelten kehrten in ihre Blocks zurück. Beantwortete die SS die Weigerung aber mit Waffengewalt und musste es deshalb zum Aufstand kommen, so lautete die neue Weisung, dann galt der erste Schuss als Signal. Schlagartig mussten dann die Waffen verteilt werden, und schlagartig hatten die einzelnen Gruppen von ihren Ausgangsstellungen den Kampf aufzunehmen. Die Besprechung war beendet, das ILK ging auseinander.
Auch Bochow begab sich auf seinen Block. Krämer blieb allein.
12 Uhr. –
Die Spannung wuchs ins Ungeheuerliche.
12.05 Uhr! Noch nichts. Oben am Tor blieb es still.
Krämer, die Hände tief in den Taschen vergraben, ging in seinem Raum auf und ab. In den Blocks war tiefes Schweigen. –
12.10 Uhr!
Auf einmal – erwartet und dennoch überraschend und peitschend – ertönte Reineboths Stimme im Lautsprecher:
»Lagerältester! Aufmarschieren lassen!«
Krämer blieb stehen, mit gebeugtem Nacken, als erwarte er einen Schlag ins Genick. Der Ruf wiederholte sich, schärfer, schneidender: »Aufmarschieren!«
»Ruhe, Kumpels, Ruhe!«
12.15 Uhr!
Die Sonne strahlte. Freundliche Federwölkchen schwammen am blauen Himmel. –
12.20 Uhr!
Aus den Lautsprechern schrie es: »Wo bleibt das Lager? – Sofort aufmarschieren!«
Krämer stand noch auf demselben Fleck. Jetzt drehte er sich schwer um und setzte sich an den Tisch. Die Ellenbogen breit ausladend, drückte er die Stirn auf die Fäuste. –
In den Blocks war das Rumoren erstarrt. Die Häftlinge standen an den Fenstern. Sie sahen nichts als Leere …
Plötzlich gerieten die Häftlinge in den Blocks der vordersten Reihen am Appellplatz in Bewegung. Einer über die Schulter des anderen, blickten sie mit aufgerissenen Augen zum Tor hinauf.
Auch Krämer war aufgesprungen und zum Fenster geeilt.
Zwei Autos fuhren auf den Appellplatz und hielten an. Aus dem ersten Wagen sprangen zwei Personen. Krämer erkannte Kluttig und Kamloth. Dem zweiten Auto entstiegen Schwahl, Weisangk und Wittig.
Und jetzt rückte es heran! Einige hundert SS-Leute marschierten durchs Tor. Kamloth erteilte Befehle. Maschinengewehre wurden in Stellung gebracht, Patronengurte eingelegt. Hinter den Maschinengewehren postierte sich eine Kette SS mit MPis und Panzerfäusten. –
Krämer fühlte das stechende Schlagen des Pulses in den Schläfen. –
Wenn das Feuer eröffnet wurde, waren die vorderen Blockreihen die ersten, die es treffen musste. In Panik stürzten die Häftlinge von den Fenstern weg.
»Es geht los, es geht los!«
Sie wollten fliehen, sich unter Tischen und Bänken verkriechen!
Einige Mutige waren an den Fenstern verblieben und riefen: »Der Kommandant fährt ins Lager!«
Mit hastenden Blicken überflog Krämer das Bild, das sich ihm bot. Auf dem Hauptturm und den übrigen Türmen gab es Bewegung. Die Posten brachten die Maschinengewehre in Stellung und richteten die Läufe auf die Blocks.
Krämer stürzte hinaus.
Die Wagen waren bis zu den letzten Blockreihen hinuntergefahren. Jetzt hielten sie. Krämer lief auf sie zu. Als Erster sprang Kluttig aus dem Wagen und rannte in den nächstliegenden Block hinein. Es war der Block 38! –
Schwahl kletterte aus seinem Auto.
»Warum treten die Häftlinge nicht an?«, schrie er Krämer zu.
Kluttig riss die Tür auf und stürzte in den Tagesraum des Blocks. Seine Augen stachen durch die dicken Brillengläser, mit einem raschen Blick überflog er den Raum. Alle Häftlinge hatten sich bei seinem plötzlichen Erscheinen erhoben. Runki verbarg sich schnell im Hintergrund. Kluttig drückte den Unterkiefer vor und musterte einen nach dem anderen der schweigenden Männer. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er schob zwei vor ihm stehende Häftlinge beiseite und trat einen Schritt vor. Auf dem Tisch des Blockältesten hatte er das Kind entdeckt! Es klammerte sich angstvoll an Bochow, der seine Arme um das Zitternde legte. Kluttig öffnete den Mund, sein Adamsapfel stieg. Bochow stand unbeweglich. Das Schweigen der Häftlinge war zur Starre geworden: Plötzlich kreischte Kluttig auf: »Ach, so ist das?!«
Mit einem wilden Griff riss er die Pistole aus der Tasche.
Da geschah etwas Unerwartetes. In Sekundenschnelle war um Kluttig ein leerer Raum entstanden. Vor dem Kind hatte sich eine Mauer von Häftlingen aufgebaut. Kein Wort, kein Ruf war gefallen. Stumm standen die Männer, ihre Augen waren auf Kluttig gerichtet.
Der fuhr jäh herum, als spüre er etwas hinter sich. Auch hinter ihm waren sie zusammengerückt, dicht auf dicht. Die Tür war verstellt. –
Kluttig stand isoliert.
Ringsum schweigende Gesichter, hängende Arme, Fäuste. Augen verfolgten aufmerksam jede seiner Bewegungen … Kluttig benahm sich wie eingefangen. Er spürte das Abwartende, Sprungbereite um sich, witterte Gefahr. Schießen? – Ruckartig riss er die Pistole zum Anschlag.
Da geschah noch etwas Unerwartetes. Die Häftlinge an der Tür – Mitglieder der geheimen Gruppen – traten zur Seite. Die Tür war frei … Das war eine schweigende Aufforderung. – Auf Kluttigs harten Backenknochen brannten Flecke. Die Sprache verschlug sich ihm, der Gaumen war ihm trocken. »Ach – so – ist – das …«, fauchte er. Mit einem Satz war er an der Tür. –
Einige Blockälteste waren, als sie Krämer beim Kommandanten sahen, hinzugekommen.
»Warum treten die Häftlinge nicht an?«, schrie Schwahl erneut.
Krämer trat vor. »Sie fürchten sich vor den Tieffliegern, die Eisenbahnen und Kolonnen beschießen.«
Schwahl ruckte sich in den Schultern und stemmte die Fäuste ein: »Ihr steht unter unserem Schutz. Ich gebe noch eine halbe Stunde. Wenn das Lager nicht angetreten ist, dann lasse ich es mit Waffengewalt räumen.«
Im gleichen Augenblick, als Kluttig herbeistürzte, begann die Sirene zu röhren, so unerwartet, dass Schwahl erschrocken ins Auto sprang. Auf und nieder mahlte die Sirene ihren Heulton.
»Hauptsturmführer!«, schrie Kamloth aus dem Wagen.
Noch vom Geifer der Wut übergossen, warf sich Kluttig auf Krämer, schlug ihm die Faust ins Gesicht, schrie: »Hund, verfluchter!«
Krämer taumelte rückwärts.
Kluttig sprang ins Auto, hob die Pistole, ein Blockältester schrie auf, da drückte Kluttig ab, zweimal, dreimal. Die Schüsse krachten schnell hintereinander. Krämer griff mit beiden Armen in die Luft, als wolle er dem davonjagenden Auto nach, fiel vornüber und wälzte sich. Die Sirene schrie noch immer.
Aus den umliegenden Blocks waren Häftlinge herbeigestürzt. Bochow drängte sich durch den Haufen und beugte sich über Krämer. »Schnell, ins Revier.«
Eine umgekehrte Bank als Tragbahre benutzend, brachten sie Krämer zu Köhn. –
In den vorderen Blockreihen waren die Schüsse nicht gehört worden. Die Häftlinge an den Fenstern sahen die Autos zurückkommen. Im Vorbeijagen rief Kamloth der unruhig gewordenen SS Befehle zu.
Die Sirene sank in sich zusammen.
Die Häftlinge an den Fenstern jubelten, als sie sahen, wie die SS die Waffen aufnahm und im Eilschritt durchs Tor verschwand.
»Sie hauen ab, sie hauen ab!«
In bangem Schweigen umstanden Bochow und die Blockältesten, die Krämer gebracht hatten, den Tisch, auf dem der Verwundete lag.
Sicher und ruhig hantierte Köhn. Mit der Sonde entfernte er die Kugeln aus zwei dicht nebeneinanderliegenden Einschüssen auf der Brust. Er säuberte die Wunden, und zwei Pfleger legten die Verbände an.
»Lebensgefahr?«
Köhn ging wortlos zur Wasserleitung, wusch sich die Hände, wandte sich zu Bochow, der ihn gefragt hatte, und schüttelte den Kopf. »Den legt uns kein Kluttig um …«
Schon zwei Stunden währte diesmal der Alarm. Mit Frohlocken saßen die Häftlinge beisammen. Draußen musste ein mörderischer Kampf entbrannt sein. Es rumorte ununterbrochen. Abschüsse, Einschläge waren zu hören, so als ob es immer näher kommen wollte …
Sie hatten Krämer im Aufenthaltsraum der Pfleger auf ein Bett gelegt. Köhn saß neben ihm und wartete auf das Erwachen. Endlich rührte sich der Verwundete und öffnete die Augen.
»Na? – Was ist denn?«, fragte er grob und verwundert, als er über sich das Gesicht des Schauspielers sah.
»Alarm«, antwortete Köhn freundlich.
»Was mit mir los ist, will ich wissen.«
»Nichts Besonderes. Kleiner Schreck in der Mittagsstunde. – Komm, alter Junge, trink was.«
Köhn schob den Arm unter und führte Krämer den Becher an den Mund.
»Vorsichtig, heiß«, mahnte er.
Krämer nahm einen Schluck, schmeckte, sah Köhn erstaunt an. Der kniff spitzbübisch ein Auge zu: »Sauf.«
Gierig nahm Krämer Schluck um Schluck und sank, vor Wonne stöhnend, zurück. »Mensch, woher hast du das Gesöff?«
»Nie sollst du mich befragen«, antwortete Köhn geheimnisvoll.
Der belebende Bohnenkaffee tat sichtlich seine Wirkung.
»Erzähle, was ist mit mir?«, forschte Krämer.
»Kluttig hat dir ein paar Löcher in die Tapete geschossen. Aber in drei Tagen brüllst du wieder rum, so wie ich dich kenne.«
Die Erwähnung Kluttigs brachte Krämer vollends zur Besinnung. »Was ist draußen los?«
»Alarm, ich sagte es doch. – Hörst du es nicht?« Sie lauschten auf das ferne – nahe Gedröhn …
»Ist noch was passiert?«
»Ja.«
»Was?«
»Die SS hat ihre Requisiten eingepackt und ist wieder abgehauen.«
Blinzelnd sah Krämer den lächelnden Schauspieler an und bekam plötzlich ein böses Gesicht. »Was sagst du da? In drei Tagen erst? Ausgeschlossen? Ich will aufstehen. Los.« Stöhnend sank Krämer wieder zurück, nachdem er den Versuch gemacht hatte, sich aufzurichten. Köhn feixte ihn liebenswürdig an: »Na, na, sachte, mein Sohn, sachte, sachte …«
Es kam keine Entwarnung. Stunden vergingen, und immer noch brütete der Alarm über dem Lager. Als der Nachmittag zum Abend wurde, heulte die Sirene erneut auf. Ein zweiter Alarm, und der erste war noch nicht zu Ende. Es wurde dunkel, und mit der Finsternis kroch das Unheimliche ins Lager und umlauerte die Blocks. Kein Häftling dachte an Schlaf. Im Tagesraum, im Schlafsaal hockten sie herum und wagten kein Licht zu machen. Hier und da in einem Block brannte die kaltblaue Birne der Notbeleuchtung. Manchmal schreckten sie auf in den Blocks und suchten sich im Dunkeln mit den Augen. Draußen rumorte es. Fliegergebrumm war in der Luft, mit Schnelligkeit anwachsend und greifbar nahe über dem Lager. Die Köpfe reckten sich hoch nach den Balkenverstrebungen des Blockdaches, starr und lauschend. Das Gebrumm wuchs zum Gedröhn, und es dröhnte und brauste über die Blocks hinweg, flügelstark, von Finsternis und Ferne so schnell aufgeschluckt, wie es gekommen war.
Und wieder unheimliche Stille. Kamen sie zurück, die Flieger? Waren es etwa deutsche? Suchten sie sich im Dunkeln ihre Ziele? Machten sie die Blocks aus? – Jede Minute war wie mit Sprengstoff geladen. Ist noch Alarm? Ist keiner mehr? –
Und aus dem Abend wurde die Nacht.
Vor dem abgedunkelten Dienstgebäude des Kommandanten standen die Autos. Kluttigs Wagen war mit dabei. Er selbst befand sich in Schwahls Zimmer zusammen mit Kamloth, Weisangk, Wittig. Hinter dem Konferenztisch in der Ecke stand Reineboth, in Erregung blass, denn was sich hier abspielte, war die letzte Phase der Auflösung. Eben hatte das schrille Geschrei des Telefons den heftigen Streit durchschnitten, in den sie sich alle verbissen hatten. Schwahl riss den Hörer zum Ohr, die Hand zitterte ihm. Er meldete sich, schrie: »Ich verstehe nicht, wiederholen Sie.« Er horchte mit dem ganzen Gesicht. Kluttig stieß wütend auf Reineboth zu, fauchte ihn an: »Du Drecksack, du erbärmlicher Rückversicherer!« Kamloth zerrte Kluttig am Ärmel von Reineboth weg.
»Na bitte«, kreischte Kluttig, als er sah, dass Schwahl den Hörer auf die Gabel knallte, »was habt ihr Schlappschwänze mir sonst noch zu sagen?«
Der körperlich überlegene Kamloth riss Kluttig zu sich herum, funkelte ihn gefährlich an. »Wir sind keine Schlappschwänze, verstehst du? Schwahl hat recht.« Kluttig zerrte sich aus Kamloths Griff, zog sich die Uniform zurecht, zitterte am ganzen Körper und keuchte: »Hat recht, der Diplomat, der Beamte, der Zuchthausbulle …« Er sah von einem zum andern, die er alle gegen sich hatte, schrie los: »Gesindel seid ihr, feiges Gesindel!«
»Hältst du deine Verbohrtheit etwa für Mut?« Schwahl, mit dem Schutz seiner Verbündeten im Rücken, trat Kluttig entgegen. »Ich bin froh, dass uns der Alarm dazwischengekommen ist … Meine Herren, soeben erhalte ich die letzten Meldungen. Im Thüringer Wald stehen die Besatzungen zahlreicher Stützpunkte im Kampf mit dem überlegenen Feind. Tiefflieger haben auf dem Weimarer Bahnhof die Lokomotiven der Transportzüge zerschossen – Na bitte! Was nun?«
»Was nun?«, trompetete Kluttig. »Nun sitzt uns das Gesindel des Lagers wie Läuse im Pelz!«
Schwahl wackelte infantil mit dem Kopf: »Immerhin sind die Läuse mein bestes Alibi.« Mit breiten Händen wandte er sich zu den anderen: »Wir sind human, meine Herren, oder wie bitte?«
»Ein feiger Hund bist du. Abknallen muss man dich!«
Kluttig riss die Pistole aus der Tasche. Kamloth sprang dazwischen und schlug Kluttig den Arm hoch. Kluttig keuchte, die Augen flackerten hinter den dicken Gläsern. Mit einem Ruck steckte er die Waffe in die Tasche zurück, und ehe die andern zur Besinnung kamen, war Kluttig zur Tür hinausgestürzt.
»Na dös hat uns grade noch gefehlt«, atmete Weisangk auf.
Schwahl, wieder zum Kommandanten geworden, setzte zu seinem gewohnten Gang an: »Meine Herren, dies ist die letzte Nacht. Machen wir uns für morgen bereit.«
Mit abgeblendeten Scheinwerfern jagte Kluttig durchs Gelände zur Siedlung. Vor Zweilings Haus hielt er. Hortense kam heraus, einen Mantel über das Nachthemd geworfen.
»Ihr Gepäck«, zischte Kluttig und ging an ihr vorbei ins Haus.
Zweiling stand am Tisch und packte einen Koffer.
»Fertigmachen, los«, herrschte Kluttig den Überraschten an. »Wo ist das Gepäck?«
Hortense, die hereingekommen war, begriff schneller als Zweiling. »Hier steht es. – Ich ziehe mir schnell etwas über.« Sie verschwand im Schlafzimmer.
»Raus damit!«
Zweiling, noch völlig überrascht, blinzelte, aber Kluttig zerrte schon an der Geschirrkiste. »Los, los, anpacken!«
Sie schleppten die Kiste zum Auto. Hortense brachte noch einen Koffer. Kluttig jagte Zweiling ins Haus zurück: »In zehn Minuten bin ich wieder hier und hole Sie ab.« Er schob Hortense in den Wagen.
Mit einem scharfen Ruck hielt er vor seinem eigenen Haus, stürzte hinein, brachte zwei Koffer und verstaute sie im Gepäcksitz des Autos. »Wir müssen fort, steig ein!«, drängte er.
»Und Zweiling?«
Kluttig sprang in den Wagen{. »Wenn du auf den Schlappschwanz warten willst, dann bleib zurück.« Er} warf den Motor an.
{»Und sein Gepäck?«}
»Scheiß auf {sein Gepäck«, zischte Kluttig. »}Na, was wird?«
Da sprang Hortense zu ihm in den Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Kluttig wollte lachen, aber er krächzte nur. Er zog die Frau über das Lenkrad und umgriff sie gierig. Er keuchte: »Na also, warum nicht?«
Hortense ließ sich willig abtasten.
Kluttig riss sich aus seiner Gier, stieß die Frau auf ihren Sitz zurück, warf den Gang ein und gab Gas. –
An einem Tisch im Kasino, zusammen mit Meisgeier und Brauer, soff der Mandrill. Die betrunkene Meute der übrigen Block- und Kommandoführer machte Kehraus und bediente sich selbst mit allem, was an Flaschen in den Regalen stand und was noch aus dem Zapfhahn lief. Es ging wüst zu. Sie grölten und randalierten. Meisgeier und Brauer, nicht weniger betrunken, schimpften auf den feigen Kommandanten und auf Kamloth, der vor ihm zu Kreuze gekrochen war. Das von Pusteln überzogene Gesicht des hageren Meisgeier war käsig, mit seiner gequetschten Stimme fistelte er: »Arschlöcher sind sie alle! Wenn es nach mir ginge, bliebe hier kein Schwanz am Leben. Morgen müssen wir abhauen, vielleicht schon heute Nacht.«
Brüllend knallte der robuste Brauer mit der Flasche auf den Tisch. »Ich sage dir, morgen kriegst du vom Zuchthausbullen noch den Befehl, deinen Bunker leer zu machen. Flieg, Vogel, flieg …«
Die Augen des Mandrill waren glasig, aber er hielt sich aufrecht. »Was in meinem Bunker sitzt, das gehört mir.«
»Bravo!«, schrie Meisgeier. »Mandrill, du bist ein Kerl! Bist du ein Kerl? – Wir haben alle Angst gehabt vor dir. Du bist ein Kerl!«
Die Hände des Mandrill lagen auf dem Tisch wie zwei Bretter. »Was in meinem Bunker ist, lasse ich mir von niemandem nehmen. Von Schwahl nicht und sonst wem!«
Meisgeier stieß den Mandrill mit der Faust an und machte die Geste des Halsumdrehens: »So ’n Kerl bist du?«
Brauer beugte sich komplicenhaft vor: »Morgen?«
Der Mandrill blickte ihn aus den Augenwinkeln an: »Jetzt!«
{»Meisgeier!«, schrie Brauer, »wir machen mit!«
Der Mandrill} zog Brauer mit hartem Griff zu sich heran: »Nüchtern muss man sein für so was.« Brauer nickte: »Ich bin ganz nüchtern.« Meisgeier stippte sich die Mütze aus der Stirn. Der Mandrill stand auf.
Förste hörte sie kommen. Er sprang von der Pritsche, auf der er angekleidet gelegen hatte, und presste sich lauschend gegen die Tür seiner Zelle.
Meisgeier hatte die Waffe gezogen. Der Mandrill steckte sie ihm in die Pistolentasche zurück. »Im Bunker wird nicht geschossen.«
Er ging mit den beiden in seinen Raum. Einer Kiste entnahm er einen schweren Schraubenschlüssel und ein starkes Vierkanteisen, die er an die beiden verteilte. »Ich kann kein Blut sehen«, sagte er mit einem fahlen Zug um den Mund. Sie gingen auf den Bunkergang und öffneten eine der Zellen.
Förste stand hinter seiner Tür mit hochgedrückten Armen wie ein Gekreuzigter, lauschte mit bebendem Atem.
Die vier in der Zelle befindlichen Häftlinge waren aufgesprungen, als sich die Tür geöffnet hatte und sie im geisterbleichen Licht der blauen Notbeleuchtung den Mandrill und die beiden Scharführer sahen.
Brauer und Meisgeier schlugen zwei der Häftlinge nieder, und ehe die anderen das Geschehen begriffen, sanken auch sie unter den wuchtigen Schlägen zu Boden. Die beiden vollendeten ihr Werk und hieben so lange zu, bis das letzte Röcheln verstummt war. Die Insassen der anderen Zellen hörten das Trampeln, das Ächzen, Gestöhn und Geröchel. Plötzlich hob einer neben der Zelle Nummer 5 zu schreien an. Unnatürlich grell und gellend. Ein zweiter schrie mit.
Höfel und Kropinski starrten mit vorgerecktem Kopf in das Dunkel, das Schreien flatterte in ihre Zelle herein.
Fluchend riss der Mandrill die Zelle auf und zerrte den Schreienden heraus. Die beiden Scharführer stürzten sich auf den anderen Insassen und schlugen ihn mit mörderischen Hieben nieder.
Mit wüster Kraft hatte der Mandrill den Schreienden gepackt und schleppte ihn zur Gittertür, die den Bunkergang absperrte. Er presste den Kopf des Schreienden an den eisernen Rahmen und drückte die Tür zu, die den Hals des Opfers abquetschte. In erstickendem Gurgeln erschlaffte der Körper. Dann zerrte der Mandrill den Erwürgten in die Zelle zurück und warf ihn auf den Erschlagenen. »Ich mag kein Geschrei hören«, sagte er und schloss die Tür.
Meisgeiers Lippen flatterten im Durst des Mordens. Brauer wollte die Verriegelung der Zelle Nummer 5 zurückschlagen, doch der Mandrill hinderte ihn daran. »Die gehen auf meine Rechnung.« Mit einem Satz war er schon an einer anderen Zelle. »Aufpassen, hier sind sechs Stück drinnen.« Er horchte an der Tür, dahinter war es still.
Meisgeier und Brauer postierten sich schlagbereit. Der Mandrill zögerte noch einen Moment, dann riss er die Tür auf. Eine Gestalt schoss aus der Zelle, vier, fünf folgten. Brauer brüllte. Der Mandrill war zu Boden gerissen worden, einen Knäuel Menschen über sich. Brüllend schlugen die Scharführer auf den Knäuel ein. Die Kraft der Verzweifelten reichte nicht aus. Der bärenstarke Mandrill hatte seinen Angreifer abgeschüttelt, kniete auf ihm, presste die Gurgel und schlug den Kopf des Überwundenen krachend auf den zementenen Fußboden.
Nur wenige Minuten hatte der grauenvolle Kampf gewährt, dann lagen die ausgemergelten Menschen erschlagen umher.
Der unerwartete Widerstand hatte Brauer wild gemacht. Trunken vom Mord und Alkohol torkelte er den Bunkergang entlang und schrie: »Wo sind die anderen Schweine!«
Höfel und Kropinski hatten sich in die Ecke ihrer Zelle geflüchtet. Sprungbereit standen sie, mit vom Grauen entstellten Zügen.
Sprungbereit auch Förste in seiner Zelle. Wenn sie zu mir kommen, dachte er, wenn sie zu mir kommen … Doch der Gedanke stockte vor einem Entschluss, der aus der Lebensangst geboren war, die es ihn wissen ließ, dem Ersten, der in die Zelle kam, an die Gurgel zu springen. Aber seine Zelle blieb verschlossen. –
Unheimlich finster kroch der Morgen aus der Nacht heraus. Träge färbte er sich vom Schwarz zum trüben Grau. Auf der Pritsche in seiner Zelle saß Förste. Er hatte die ganze Nacht auf den Tod gewartet, denn er wusste, dass der Mandrill ihn, den Zeugen, nicht lebend zurücklassen würde.
Der graue Morgen kroch auf ihn zu. Das fahle Licht gab den Zellenwänden Augen. Grau und schweigend sahen ihn die Wände an. Kahl und hilflos war Förste. So schattenhaft, wie er im Bunker gelebt, würde er sterben. Der letzte Rest menschlichen Widerstandes war in dieser furchtbaren Nacht in ihm vernichtet worden. Dennoch glomm unter der Asche seines Wesens noch ein heimlicher Funke. Die Hoffnung blies den Funken an, und Förste suchte verzweifelt nach Möglichkeiten seiner Rettung. Es blieb ihm nicht viel Zeit dazu. Je weiter der Morgen an den Wänden entlangkroch, desto kürzer wurde die Spanne. Konnte er sich in der Zelle verkriechen? Musste er dem Mandrill an die Gurgel springen? Oder gab es im Bunker einen Winkel, in dem er sich verstecken konnte? Angstvoll jagten sich die Gedanken.
Ähnlich wie ihm erging es Höfel und Kropinski. Die Todesnacht war über sie hinweggeschauert. Sie wussten von sich, dass sie noch die einzig Lebenden im Bunker waren, denn sie sollten die letzten Toten sein. Sie standen eng zusammen, Schutz suchend einer am andern. Im Schimmer des durch das Zellenfenster hereingeisternden Morgens sahen sie ihre Gesichter, und einer sah im Ausdruck des anderen das seine, mit krankhaft großen, aufgerissenen Augen und gehetzter Lebensangst in den Zügen. Kropinski flüsterte:
»Vielleicht Mandrill gar nicht mehr da? Vielleicht er haben alles umgebracht und ist fort?«
Höfel verneinte heftig. »Er ist noch da. Ich weiß es, ich fühle es. Wenn sie alle schon geflohen wären, dann hätten sie uns mit den anderen umgelegt. Er kommt noch zu uns. Heute kommt er …«
Höfels gehetzter Blick irrte durch die kahle Zelle und blieb an der Tür hängen. Sie füllte fast die Breite der Zelle aus.
»Pass auf, Marian, so machen wir es.«
Höfel presste sich in die Ecke an der Tür. »Hier werde ich stehen und du dort.« Höfel wies auf die gegenüberliegende Ecke. Kropinski drückte sich in sie hinein.
»Wenn er hereinkommt, packst du ihn sofort an der Kehle und drückst zu. Getraust du es dir?«
Der sanfte Kropinski veränderte sich. Er zog die Augen zusammen, der Unterkiefer schob sich vor, und die Hände schlossen und öffneten sich langsam.
»Ich ducke mich und reiße ihm die Füße weg. – Nein!«, sprudelte Höfel, »anders! Wenn er hereinkommt, dann gebe ich ihm mit aller Kraft einen Schlag gegen den Magen, das nimmt ihm die Luft, und du drückst ihm die Kehle zu.«
Sie sahen sich fiebrig an, prüften im Gesicht des anderen ihren Willen und ihre Kraft, drückten sich eng an die Wand{, als warteten sie in jedem Augenblick, dass sich die Tür öffnen würde} und warteten, warteten …
Es wurde hell. Die Nacht war wie keine zuvor aufgewühlt worden durch den Widerhall des Krieges, denn in dieser Nacht war Erfurt gefallen und somit der direkte Weg nach Weimar aufgetan, für den der vordringende Amerikaner zum entscheidenden Stoß ansetzte.
Das pausenlose Gedröhn verstärkte sich von Stunde zu Stunde. Das Land rings um das Lager war zum Kampfgebiet geworden.
Nichts jedoch wussten die 21 000 noch verbliebenen Häftlinge davon, dass in dieser unruhigen Nacht ein grauenvoller Mord durch den Bunker gerast, nichts davon, dass der gefährliche Kluttig als Erster geflohen und dass die anderen SS-Offiziere fieberhaft Fluchtvorbereitungen trafen und ihre Autos bereitstanden. Heute oder nie mussten die Faschisten fliehen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von den Amerikanern gefangen zu werden.
Noch aber waren sie da. Noch standen die Doppelposten auf den Türmen. Im steigenden Licht des Morgens traten ihre schwarzen Gestalten immer deutlicher hervor, drohend in ihrer Unbeweglichkeit, den breiten Mantelkragen gegen den nassen Frost aufgestülpt.
Ein Befehl, ein Ruck an den Maschinengewehren, den Panzerfäusten und Flammenwerfern – und zehn Minuten konzentriertes Feuer würde ausreichen, alles Leben innerhalb des Zaunes auszulöschen.
Dieser Katastrophe rechtzeitig durch den bewaffneten Aufstand zuvorzukommen war der letzte im Morgengrauen gefasste Beschluss des ILK gewesen. Von nun an galten nur noch die Befehle, die Bochow als militärischer Verantwortlicher zu erteilen hatte.
Auf seinen Befehl hin hielten sich in den Blocks die Gruppen aufbruchbereit, waren die Waffenverstecke erneut vom Lagerschutz besetzt worden. Unter möglicher Deckung gegen die Posten der umliegenden Türme hielten Beauftragte des Lagerschutzes das Tal am Nordhang des Lagers unter ständiger Beobachtung. Sie waren sogar mit Feldgläsern ausgerüstet.
In der Ferne rollte und grollte ununterbrochen der Donner. Manchmal waren die Einschläge schon so nah, als krepierten nur wenige hundert Meter vor dem Zaun die Granaten. Die Unruhe hatte die Häftlinge schon zeitig aus den Blocks getrieben. Sie standen auf den Wegen, beobachteten misstrauisch die Türme und das Tor. Plötzlich geriet alles in Bewegung. Am aufklarenden Himmel raste eine Kette amerikanischer Jabos über das Lager hinweg. Die Häftlinge jubelten: »Sie kommen, sie kommen!« Aber die Flugzeuge verschwanden in der Ferne. Auch Bochow war mit einigen Genossen hinausgelaufen und blickte den davonjagenden Flugzeugen nach. Neben ihm stand Pribula mit verkniffenen Lippen, die Hände in den Taschen.
»Warum du nur immer warten bis auf letzte Minute?«, sagte er finster.
Bochow antwortete nicht, in ihm zerrte die Spannung. In immer kürzer werdenden Abständen erfolgten die Einschläge. Maschinengewehrfeuer knatterte nah und fern. –
Um 9 Uhr kam Zweiling ins Lager. Müller und Brendel vom Lagerschutz, die sich in der Nähe der Effektenkammer aufhielten, da sie den Auftrag hatten, bei Freigabe der Waffen die von Pippig versteckten Pistolen zu holen, hatten Zweiling beobachtet. Was wollte der Kerl in der Kammer? –
Um 9.30 Uhr brachte, noch atemlos vom Lauf, ein {Beobachtungsposten} des Lagerschutzes die Meldung zu Bochow, dass vom Nordhang her auf einer weit entfernten Bergkuppe Panzerbewegungen zu sehen waren. Was für Panzer? Faschistische? Amerikanische? Waren es Bewegungen der Flucht oder des Angriffs? – Das hatte sich nicht feststellen lassen. Also hieß es weiter warten. –
Zweiling hatte vergeblich auf Kluttigs Rückkehr gewartet. Als es Morgen wurde, gab es für den Geprellten keinen Zweifel mehr, dass ihm die Frau mit dem Hauptsturmführer auf und davon gegangen war. In der Siedlung herrschte höllisches Durcheinander. Zwischen vollgepackten Autos drängten sich Scharführer, Frauen und Kinder mit Geschimpf und Geschrei. Sich selbst überlassen, stand Zweiling im Zimmer. Nun musste er auf eigene Flucht und Sicherheit bedacht sein. Ratlos blickte er sich um und fluchte sich seine Erbitterung vom Halse: »Gemeines Pack.« Mit böser Handbewegung wischte er die Wut hinweg, ihn kriegten sie nicht unter; ein Gedanke war ihm gekommen und hatte ihn nochmals nach der Effektenkammer getrieben. Im Schreibbüro wühlte er in den Personalpapieren der Häftlinge herum. Eine halbe Stunde schon suchte er mit zitternden Fingern in dem Wust von Dokumenten, die er auf den Tisch geschüttet hatte. –
Noch immer saß Förste in seiner Zelle auf demselben Platz. Er wagte sich nicht vom Fleck zu rühren. Für ihn gab es keinen Ausweg mehr und keine Rettung. Mit tiefer Wehmut im Herzen musste er sich eingestehen, dass ihn die Jahre des Lemurendaseins im Bunker nicht hart gemacht hatten und dass er alles andere war als ein Kämpfer. Dennoch blieb ihm eine Genugtuung: Er war ein guter Mensch geblieben, und in bescheidener Freude überdachte er, was er Höfel und Kropinski, die nun mit ihm sterben würden, Gutes getan. Mit seinem Tod würde er zu dem großen Heer zählen, das ohne Namen war und ohne Zahl, Humusboden, auf dem einstmals eine schönere Welt erblühen wird. Vielleicht lag darin der Sinn, nach dem er suchte. Wenn das Tor des Lagers gesprengt wurde, war er schon dahin …
Eine kurze Stunde nachdem die Jabos über das Lager hinweggerast waren, tauchte ein Flugzeug auf, das die Häftlinge noch niemals gesehen hatten. Langsam und in nur geringer Höhe zog es hin und her. Auf den Türmen blickten die Posten unruhig danach, sie riefen sich erregte Bemerkungen zu. Die Häftlinge zwischen den Blocks starrten auf die seltsame Erscheinung. Das amerikanische Flugzeug war ein Artilleriebeobachter, der die Ziele ausmachte. Er versetzte nicht nur die Häftlinge, sondern auch die SS in Aufruhr. Motorradfahrer der SS rasten um den Zaun, den Posten auf den Türmen Befehle zuschreiend, letzte Befehle, von Kamloth ausgegeben.
Zweiling hatte gefunden, wonach er gesucht. Doch nicht nur mit falschen Papieren wollte er sich tarnen. Aus einem Haufen alter Häftlingskleidung hatte er sich einen Anzug hervorgeholt und ihn mit der Uniform vertauscht.
Plötzlich fuhr er in tiefem Schreck zusammen. Hinter ihm stand ein Mensch. Wurach! Zweiling sträubten sich die Haare wie beim Anblick eines Gespenstes. »Was wollen Sie hier?«
Wurach, der aus seinem Versteck hervorgekrochen war und den Hauptscharführer in Häftlingskleidung sah, fauchte:
»So machst du es also, du Hund …« Zweiling sprang zurück: »Verschwinden Sie!«
Wurach zog drohend den Kopf ein. Da riss Zweiling die Pistole aus der Tasche.
Müller und Brendel hörten die Schüsse. Was war das? Sie sahen sich an. »Los, rein!«
Sie stürzten ins Gebäude, jagten die Treppen hinauf, die Kammer war verschlossen. Mit kräftigen Tritten wuchteten sie die Tür ein.
»Hände hoch!«
Noch mit der Pistole in der Hand hob der überraschte Zweiling die Arme. Die Lagerschutzler sprangen ihn an. Der erschossene Wurach lag am Boden.
In seinem Dienstzimmer schrie Schwahl fahlbleich und mit schlotternden Backen auf Kamloth ein: »Sind Sie wahnsinnig geworden?«
Kamloth hatte den Befehl gegeben, eine Viertelstunde vor Rückzug der Truppe das Feuer auf die Blocks zu eröffnen.
»Ziehen Sie sofort den Befehl zurück. Sie bringen uns damit an den Galgen!«
Kamloth fluchte wüst: »Leckt mich am Arsch, es ist sowieso alles futsch.«
»Saukerl, verfluchter!«, grölte Weisangk.
Er erhielt von Kamloth einen Stoß gegen den Bauch, dass er rückwärts torkelte. »Seht zu, wie ihr hier fertig werdet.« Kamloth zerrte sich die Mütze schief in die Stirn. »Ich haue ab.«
Schwahl sank vernichtet in einen Sessel. Draußen heulte der Motor von Kamloths Wagen auf. Drei, vier Einschläge dröhnten in der Nähe. Schwahl sprang hoch. Verstört blickte er zu Weisangk. »Und nun? Was nun?«
Weisangk wackelte hilflos mit dem Kopf. Schwahl stürzte zum Schreibtisch, riss die Fächer auf, stopfte Papiere, Dokumente in die Taschen, zerrte sich den Mantel über die Schultern, stülpte sich die Mütze auf. »Fort, los!«, keuchte er.
Reineboth sah von seinem Fenster aus den Wagen des Kommandanten davonjagen. »Schwahl haut ab!«, rief er dem Mandrill zu, der mit ihm im Zimmer war.
Zitternd stand Förste in der Zelle, er hörte die harten Schritte des Mandrill auf dem Gang. Die Verriegelung seiner Tür wurde zurückgeschlagen. »Raus hier!«
Förste sah in dem grauen Gesicht des Mandrill die kalte Erregung. Gehorsam schlüpfte der widerstandslose Mensch aus der Zelle. Auf dem Gang lagen die Toten der Nacht. Mit Fauststößen trieb der Mandrill Förste in den Aufenthaltsraum hinein, wies auf eine Kiste: »Alles einpacken!« Förstes flatterndes Herz duckte sich angstvoll. Folgsam begann er Fächer und Schränke auszuräumen. –
Müller und Brendel hatten Zweiling in eine Ecke gestellt. Jetzt schoben sie den Schreibtisch beiseite und schlugen den Teppich zurück. Während Brendel Zweiling mit der ihm abgenommenen Pistole bewachte, hob Müller mit einem mitgebrachten Stemmeisen den Fußboden auf. Zweiling bekam große Augen, als die Waffen zum Vorschein kamen.
»Da staunst du, was?«, lachte Brendel, verächtlich, stolz.
Zweilings Unterkiefer wackelte: »Das – habe ich nicht gewusst …« – »Wir haben dir auch nichts gesagt davon«, höhnte Brendel, und Müller wiegte vor Zweilings Nase die Pistolen in der Hand: »Aber der Arsch eines SS-Mannes ist noch immer der sicherste Verschlussdeckel …« Er steckte die Pistolen ein. »Wir haben die Pistolen zu früh rausgeholt, es ist noch kein Befehl da, was machen wir nun?«
Brendel hob die Schultern: »Warten wir, bis der Befehl kommt.«
»Und was fangen wir mit dem da an?«
»Der wartet mit, er ist unser erster Gefangener.«
Zweiling knickte in die Knie. Brendel packte ihn und zog ihn an der Wand hoch: »Steh gerade, du Scheißer.«
An den Fenstern der ersten Blockreihen beobachteten die Häftlinge das Tor. Sie gewahrten eine hastige Geschäftigkeit und sahen Scharführer, die aus dem Torgebäude Kisten schleppten und sie auf einem Lastauto verluden. Sie sahen Reineboth hin und her eilen, das nervöse Treiben dirigierend. Der Mandrill kam aus dem Bunker und warf Pakete auf den Wagen.
»Die packen ein«, flüsterten sich die Häftlinge erregt zu.
In Förstes Brust vollzog sich ein verzweifelter Kampf. Was er tat, war die letzte Arbeit, die er verrichten musste. Der Mandrill machte sich zur Flucht bereit. Förstes Sinne waren aufs äußerste konzentriert, die letzte Chance der Rettung aufzuspüren. Wo war sie, wo? Sobald er vom Mandrill für Augenblicke allein gelassen wurde, suchte Förste, wilde Geschäftigkeit vortäuschend, nach dem Ausweg. Konnte er sich in einer Zelle verbarrikadieren, sich irgendwo im Bunker verstecken oder davonlaufen? Da gewahrte er{, was er in fiebernder Erregung bisher noch nicht entdeckt hatte:} den Schlüssel an der Außenseite der Tür des Raumes. Ein Schreck, der wie ein erstickter Schrei war, durchfuhr Förste. War das die Rettung?
Mit zwei Scharführern hastete der Mandrill herbei. Sie brachten die Kisten auf den Wagen.
Sekunden entschieden über Förstes verzweifelten Entschluss. Mit einem Sprung war er an der Tür, riss den Schlüssel heraus, huschte in den Raum und schloss sich ein. Am ganzen Körper bebend, presste er sich neben der Tür an die Wand, das Blut raste{, gleich musste der Mandrill zurückkommen …} In dieser furchtbaren Minute geschah etwas! Ein dumpf-sonorer Röhrton schwoll plötzlich auf. Dröhnend und durchdringend wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Das war die Feindalarm-Sirene, das Warnungssignal an die SS beim Herannahen des Gegners. Ihr fürchterlicher Ton durchdrang alle. In den Blocks riss er den Häftlingen den Atem in die Kehle. Bochow und seine Genossen stürzten aus dem Block, standen im Freien, vom dumpfen Geheul der Sirene übergossen. Im Gelände der SS wirbelte die Posaune alles durcheinander. Aus den Kasernen fegte sie die Kompanien der SS heraus, in notdürftig zusammengetriebener Marschordnung rannten sie fort. Scharführer liefen kopflos davon. Das vollbeladene Lastauto am Tor drehte eine eilige Kurve und ruckerte in das Gewühl und Gewimmel auf der Straße hinein. Reineboth schrie! Der Mandrill sprang in den Bunker zurück, brüllte, rüttelte an der verschlossenen Tür und wuchtete mit den Stiefeln dagegen. Reineboth kam herbei. »Fort, fort!«, schrie er, ließ sich nicht Zeit, auf den rasenden Mandrill zu warten, fetzte wieder hinaus, warf das Motorrad an und schrie noch einmal zurück: »Mandrill!« Dann schwang er sich auf den Sitz, und eben, als der Motor aufheulte, lief dieser herbei, sprang auf den Sozius, und die Maschine heulte davon. –
In der Ecke des verschlossenen Raumes brach Förste in die Knie. Die letzte Kraft verströmte sich in einem hemmungslosen Weinen, von dem der erlöste Mensch noch nicht einmal wusste, dass es das köstlichste seines Lebens war. –
Mit lauschenden Sinnen standen Höfel und Kropinski hinter der Tür ihrer Zelle, sprungbereit, wie sie es in der Verzweiflung beschlossen. Sie hörten den Lärm und die Hast und den furchtbaren Posaunenton. Sie hörten das Schreien Reineboths und das Brüllen des Mandrill, hörten die krachenden Tritte gegen die Tür, und plötzlich war das Poltern und Schreien da draußen auf dem Gang wie weggeschluckt. Kropinski stand in der Ecke neben der Tür, seine Hände, wie zwei offene Klammern, lauerten in die undeutbare Stille hinein. Die beiden todgeweihten Menschen wagten nicht zu atmen und wagten es noch viel weniger, der winzigen Hoffnung in ihrem Herzen, die sich wie ein vorsichtiger Fühler in die Stille hineintastete, nachzugehen.
Noch während die Sirene in das Dröhnen und Knattern des Kampfes rundum im Land hineinschrie, waren die Führer der Gruppen nach Block 17 gejagt. Auf den Wegen wimmelte es von aufgescheuchten Häftlingen. In ihnen allen, in Bochow und den Männern des ILK, die ebenfalls nach Block 17 geeilt waren, loderte die Entscheidung.
Die Stunde war da!
Sie glich der Stunde zwölf, die übermächtig die erzene Glocke zum Schwingen bringt. {Ihre dröhnenden Schläge zertrümmerten die Wirklichkeit bisher, und aus den Trümmern stieg eine neue Wirklichkeit empor, die sich kündete in den knappen Befehlen, die Bochow nun gab.}
»Alarmstufe drei! Die Waffen werden freigegeben! Die Gruppen in ihre Ausgangsstellungen. Der Ausbruch erfolgt unmittelbar!«, befahl Bochow.
Pribula riss die Fäuste über den Kopf. Er brachte keinen Ton heraus, obwohl sein ganzer Körper nach dem befreienden Schrei lechzte. Mit den Führern der Gruppen jagte er davon.
Plötzlich gab es in den Blocks laute Kommandos.
Noch ehe die überraschten Häftlinge begriffen, was hier geschah, formierten sich vor den Blocks geschlossene Abteilungen. Ohne von der Überraschung, die ihr Auftauchen verursachte, Notiz zu nehmen, liefen die Gruppen im Eilschritt fort, in bestimmte Blocks hinein, hinunter nach dem Revier und dorthin, wo es Heizungskanäle und Abwasserleitungen gab. Die in all diesen Stellen verteilten Angehörigen des Lagerschutzes warteten bereits. Fußböden wurden aufgerissen, Mauerwerk zerschlagen, mit Picken und Schaufeln verborgene Gruben freigelegt, und überall kamen Waffen zum Vorschein, Waffen, Waffen!
Pribula und seine Leute der polnischen Gruppen zerschlugen die Blumenkästen an den Fenstern der Revierbaracken und zerrten die ölgetränkten Lappen von den Karabinern.
Nach der Schreibstube eilte eine Gruppe mit einem Maschinengewehr. In Krämers Raum, der sich in gerader Richtung zum Torgebäude befand, wurde es aufgestellt. Bochow übernahm das Kommando.
Eine ungeheure Erregung brodelte durch das Lager.
In wenigen Minuten hatte sich die Bewaffnung vollzogen und die Gruppen ihre Ausgangsstellungen besetzt. Nicht eine Minute länger als notwendig wurde gezögert, und schon krachten am Nordhang die ersten Schüsse, und die Kugeln pfiffen um die Köpfe der erschrockenen Posten.
Der Sturm brach los!
Die Gruppen am Nordhang rannten im freien Gelände auf die neutrale Zone zu. Abteilungen der Deutschen und Jugoslawen sicherten mit gezieltem Feuer auf die Türme der Umgebung die Flanken. Schon hatten die Gruppen der Polen, von Pribula geführt, die Bretter und Türen über die spanischen Reiter geworfen. An fünf, sechs Stellen zugleich wurde der Draht durchschnitten, und mit wildem Siegesgeschrei krochen Pribula und seine Leute durch die Löcher. Von weiter abliegenden Türmen wurden sie mit Maschinengewehren beschossen, aber die Gruppen der Deutschen und Jugoslawen waren da, hielten die schießenden und wild mit Handgranaten um sich werfenden Posten in Schach. Brandflaschen wurden auf die Türme geschleudert, die mit hartem Knall zerbarsten. Die auflodernden Flammen trieben die Posten herunter. Mit einem Trupp war Pribula in einen der Türme eingedrungen, {deren Posten im ersten Schreck nach dem nahen Wald geflohen waren, er} riss das Maschinengewehr herum und jagte wild jubelnde Salven auf die noch besetzten Türme.
Gleichzeitig mit dem Ausbruch am Nordhang begann der Sturm auf das Tor.
Riomand am Maschinengewehr, der hinter schützender Fensterscheibe genau anvisiert hatte, fetzte mit knappen Strichen die Salve auf den Rundgang des Hauptturmes. Die zerschossene Scheibe umsplitterte ihn. Einer der Posten war getroffen. Er warf die Arme in die Luft und sackte zusammen. Die anderen Posten duckten sich, vom Feuerstoß überrascht.
Sekunden nur, und die Hinterhalte der ersten Blockreihen brachen berstend auf. Vom eigenen vielsprachigen Kampfgeschrei getrieben, stürmten die Bewaffneten über den Platz, Deutsche, Franzosen, Tschechen, Holländer.
Riomands Maschinengewehr spie zornwilde Atemstöße auf die Türme zu beiden Seiten des Tores, und unter dem Schutz dieser Flankendeckung erreichten die Sonderabteilungen des Lagerschutzes das Tor. Mit Brechstangen sprengten sie die schmiedeeiserne Tür.
»Feuer einstellen!«, schrie Bochow Riomand zu, und das Maschinengewehr verhielt augenblicklich seinen Zorn. Oben am Tor, fast gleichzeitig, hasteten die Männer der Sonderabteilung die Treppen zum Hauptturm hinauf, und stürmten Hunderte der anderen Gruppen durch die Bresche der aufgerissenen Tür nach links und rechts am Zaun entlang. Handgranaten wurden auf die Anstürmenden geworfen, Maschinengewehre ratterten, aber wie Hornissenschwärme fielen die Ausgebrochenen in die Türme ein. Ihr Kampfgeschrei und das Krachen und Knattern rings um den Zaun mischten sich mit dem Kriegsgetümmel draußen im Land. Hinter dem Berg stiegen braungelbe Rauchpilze zum Himmel hinauf. Das Beobachtungsflugzeug war wieder aufgetaucht, jetzt zog es fast unmittelbar über dem Lager seine langsamen Kreise. Tiefflieger schossen zur Erde nieder. Deutlich war das Knattern ihrer Maschinengewehre zu vernehmen, sie beschossen fliehende faschistische Panzer.
Die von ihren Führern im Stich gelassenen Posten, vom plötzlichen Überfall verwirrt, waren dem Ansturm nicht gewachsen. Die seit Jahren aufgespeicherte Wut der Häftlinge glich einer Explosion. Zwischen der sichtbar gewordenen Front und den Tausenden rasender Häftlinge eingekeilt, deren Kampfkraft mit jedem erbeuteten Karabiner, mit jedem abmontierten Maschinengewehr größer wurde, hatten die Posten nicht mehr die moralische Kraft, sich gegen den Sturm zur Wehr zu setzen.
Was nicht geflohen war, wurde gefangen genommen, was sich nicht ergeben wollte, niedergemacht. Turm um Turm wurde von den Kampfgruppen erobert und sofort besetzt.
Plötzlich war Krämer verschwunden. Köhn, der mit den Verwundeten zu tun hatte, die eingebracht wurden, hatte auf die herbeigestürzten Pfleger eingeschrien: »Ihr Idioten habt nicht aufgepasst. Zwei Lungenschüsse! Soll sich der Kerl verbluten? Lauft! Sucht ihn! Schleppt ihn her!«
Wie mochte es Krämer fertiggebracht haben, sich ohne Hilfe fortzuschleichen?
Nur mit Hose und Hemd bekleidet, den Mantel über die Schultern geworfen, hatte er sich in einem unbewachten Augenblick davongemacht. Er kam nicht weit. Keuchend torkelte er in Block 38 hinein. Ächzend sank er auf eine Bank nieder. Die im Block Verbliebenen und nicht zu den Kampfgruppen Gehörigen umringten ihn. »Wo kommst du her?«
Krämer atmete abgehetzt, das heiße Fieber glänzte ihm aus den Augen.
»Mensch, Walter, du musst sofort wieder ins Revier.«
Unwillig stieß Krämer Runki beiseite, der ihn stützen wollte. »Pfoten weg!« Doch Runki ließ sich nicht abdrängen. »Du bist auf den Tod verwundet.«
Andere wollten helfend zugreifen.
»Weg!«, knurrte Krämer. »Ich bleibe hier!«
Er blickte auf die Häftlinge, sah nicht deren Angst um ihn in ihren Gesichtern, horchte aufmerksam nach draußen, wo es knallte und rumorte.
»Verflucht! Dass es mich noch zuletzt erwischen musste …«
»Walter, du wirst wieder gesund, wenn du dich schonst.«
Vorsichtig legte ihm Runki die Hand auf die Schulter.
»Wo ist das Wurm, das Kind? Ich habe es euch doch gebracht. Wo habt ihr es?«
»Hier ist es doch, Walter, hier.«
Einige waren nach dem Schlafsaal gelaufen. Sie brachten ihm das Kind, stellten es ihm zwischen die Knie.
Krämers Züge entspannten sich. Er lachte warm und tief in sich hinein, strich über das Köpfchen. »Kleiner Maikäfer …«
Plötzlich wurde Krämer weich und bittend. »Lasst mich hier, Kumpels. Lasst mich bei euch bleiben. Mir geht es schon ganz gut.«
Sie brachten einen Strohsack herbei und bauten ihm eine Rückenlehne zwischen Tisch und Bank. Krämer lehnte sich dankbar zurück und lachte Runki zu, der ihn bemutterte: »Na, Otto, alter Junge …«
Runki lächelte, tätschelte.
Wie immer, wenn sich die Männer viel zu sagen hatten, wurden die Worte karg. Aber in Krämers rauherzigem Anruf und in Runkis ungeschickter Zartheit lag das Unaussprechbare, das sich jetzt draußen vollzog, und der Lärm und die Schüsse ums Lager gaben ihm die Deutung.
Krämer schloss die Augen.
Als Riomand die erste Salve hinaufgejagt hatte, der tausendfältige Schrei aufgebrochen und die Masse über den Platz raste, war Förste, der unter der Last der Erschöpfung noch immer am Boden gelegen hatte, aufgesprungen. Durch das Fenster des Bunkerraumes hatte er den Sturm gesehen, und sein Schrei über das Ungeheuerliche hatte ihm schier die Brust zerreißen wollen. Noch während draußen die Eisentür berstend aufsprang, war er hinausgestürzt und – über die Leichen stolpernd – zur Zelle Nummer 5 gerannt.
Wild trommelten Höfel und Kropinski gegen die Tür und schrien. Förste riss die Verriegelung zurück, doch die Zelle war verschlossen. Bochow, Riomand, Kodiczek, van Dalen tauchten plötzlich auf. Sie stockten beim Anblick der herumliegenden Leichen. Bochow schrie in das Halbdunkel des Ganges hinein: »Höfel, Kropinski! Wo seid ihr?«
»Hier! Hier!«
Förste stürzte ihnen entgegen. »Die Tür ist verschlossen, ich habe keinen Schlüssel!«
Bochow sprang an die Zelle. »Ich bin es, Bochow. Hört ihr mich?«
»Ja, ja, ja! – O mein Gott, Herbert! Ja, ja, ja, wir hören dich!«
»Geht von der Tür weg. Ich schieße das Schloss kaputt!«
Bochow zog die Pistole.
»Achtung, ich schieße!«
Die Schüsse krachten. Bochow schoss das Magazin leer. Mit vereinten Kräften rüttelten und zerrten sie an der Tür. Das geborstene Schloss wackelte und klapperte. Höfel und Kropinski warfen sich dagegen. Die Tür flog auf, und die beiden fielen taumelnd heraus. Die Männer fingen sie auf. Keuchend hing Höfel in Bochows Armen. –
Hunderte von Häftlingen waren auf die Dächer der Blocks geklettert, auf den Wegen wirrte und wimmelte alles durcheinander. Dort, wo der Zaun sichtbar war, sahen die wilderregten Häftlinge die Ausgebrochenen dahinjagen, in die Türme eindringen, sahen auf den Plattformen die Kämpfenden auftauchen.
»Sie besetzen die Türme!« Nach dem freien Gelände am Nordhang waren Hunderte gelaufen. Im Tal auf Hottelstedt zu brannte eine Mühle. In immer kürzeren Abständen erfolgten draußen die donnernden Einschläge. Rauch und Qualm stiegen zum Himmel auf. Mit Knüppeln, Steinen und Ästen bewaffnet, was sie im Gelände gerade aufraffen konnten, jagten die Häftlinge auf die neutrale Zone zu, überkletterten die spanischen Reiter und schlüpften mit Geschrei durch die Löcher. Den Kämpfenden wurden die gefangenen SS-Leute aus den Händen gerissen, durch die Zaunlöcher ins Lager gebracht und unter tosendem Schreien der Masse vorwärtsgetrieben, in den von einem Stacheldraht umgebenen Block 17 hinein. Hier standen bereits mit erbeuteten Karabinern bewaffnete Häftlingswachen. Müller und Brendel hatten den schlotternden Zweiling als ersten Gefangenen in diesen Block gesteckt.
Pribula und seine Gruppe waren in den Wald gestürmt, auf die Straße nach Hottelstedt zu.
Inzwischen hatten Bochow und die Genossen die Befreiten in den Raum des Mandrill gebracht. Der Bunker füllte sich mit Kämpfern an. Einige griffen zu und schleppten die {Ermordeten} vom Gang in den Waschraum des Bunkers. Höfel und Kropinski saßen auf dem Feldbett. Förste hatte ihnen einen Becher mit Wasser gebracht. Gierig tranken die Erschöpften das belebende Nass.
Ein Melder stürzte herbei, er überbrachte Bochow die Nachricht von der restlosen Besetzung der Türme.
In überströmender Freude presste Bochow Höfel und Kropinski an sich. »Frei, frei!«, schrie er und lachte, {lachte,} weil in diesen Minuten nichts anderes in seiner Brust Platz fand.
Mit den Genossen des ILK jagte er hinüber nach dem anderen Teil des Torgebäudes, in Reineboths Zimmer.
Oben auf dem Hauptturm riss einer der Kämpfenden die Hakenkreuzfahne herunter und zog ein weißes Tuch, irgendwo hergeholt, am Mast empor.
Schnell hatte sich Bochow am Radiogerät zurechtgefunden, das Mikrophon eingeschaltet, und über das Lager hinweg, in alle Blocks hinein drang sein Ruf:
»Kameraden! Der Sieg ist da! Die Faschisten sind geflohen! Wir sind frei! Hört ihr mich? Wir sind frei!«
{Sein gellender Ruf zersprang ihm in der Kehle.} Bochow schluchzte, presste die Stirn ans Gerät, und das übermächtige Glück schmolz ein in die Tränen, die er nicht länger zurückdrängen mochte.
In den Blocks aber riss es die eingepferchten Menschen hoch. Die Flamme des Rufs entzündete eine Feuersbrunst vieltausendstimmigen Schreies! Er nahm kein Ende und brauste, sich immer wieder neu gebärend, auf:
Frei! Frei!
Die Menschen lachten, weinten, tanzten! Sie sprangen auf die Tische, rissen die Arme hoch, schrien es sich in die Gesichter hinein, schrien, schrien, als wäre der Irrsinn unter sie gefahren. Es gab kein Halten mehr. Aus allen Blocks brach es hervor! Alles stürzte hinaus, und einer aufgepeitschten Sturmwelle gleich überschwemmte die trunkene Masse den Appellplatz.
Ein Schrei und eine Flut: zum Tor!
Nicht, um sinnlos irgendwo dahinzujagen. Nur dem Rausch verfallen, endlich, endlich, durch das verhasste furchtbare Tor zu strömen, jauchzend und taumelnd in die ausgebreiteten Arme der Freiheit hinein.
{Krämer, im Block 38, fand sich plötzlich allein mit dem Kind.} Der ungeheure Jubel hatte alle, die eben noch bei {ihm} waren, mit hinausgerissen. {Er hatte nur immer auf den Lautsprecher gestarrt, in Bochows Jubelruf hinein.} Frei! So groß war das Glück, dass sie ihn {alle} vergessen hatten und davongelaufen waren. {So groß aber war das Glück auch in ihm, dass er} lachte und schimpfte in einem: »Vergessen haben sie uns, die Kerle, die verdammten, vergessen mitzunehmen! {Na, hat sich was!}«
So ungestüm schrie er das Wurm an, dass es weinte, laut und voller Angst. »Brülle, ja, brülle! – Komm, brülle draußen mit den andern! Sie brüllen ja alle! Hörst du’s nicht?«
Seine Schwäche vergessend, packte er das schreiende Kind wie ein Bündel unter den gesunden Arm und torkelte hinaus.
Unterwegs wurde er von jubelnden Häftlingen abgefangen. Sie wollten ihn stützen und ihm die schreiende Last abnehmen.
»Pfoten weg!«, brüllte er eifersüchtig; glücklich keuchte er den Weg hinauf, der zum Appellplatz führte.
Da oben sah er sie schon alle stehen, unter ihnen Bochow, der hilflos war der Flut gegenüber, die er heraufbeschworen.
Und Krämer sah – und das Herz wollte ihm stocken in wilder Freude:
»André!«, schrie er. »André, André! Marian!«
Sein Geschrei durchdrang das Tosen nicht, aber sie hatten ihn schon entdeckt.
»Walter!«, jubelte Höfel auf und torkelte vorgestreckt auf ihn zu, der Strick baumelte ihm am Halse.
»Nimm mir das Wurm ab, es wird mir zu schwer.«
Da waren die andern schon bei Krämer. Riomand und van Dalen stützten den Zusammenbrechenden. Höfel riss ihm das Kind weg. Es schrie noch ängstlicher, als der wildbärtige Mann es an sich presste. Höfel taumelte vornüber, schien in die Knie brechen zu wollen. Kropinski fing das Kind ab. Lachend, schreiend, sprudelnd in wunderlichem Gemisch von Deutsch und Polnisch, wies er das geliebte Bündel allen entgegen. {Keiner verstand die Sprache des Polen, und doch verstanden ihn alle so gut.}
Plötzlich rannte Kropinski davon, das Kind vor sich gestreckt, zum Tor, in den tosenden Strom hinein.
»Marian!«, rief Höfel ihm nach, »wohin läufst du?«
Doch der Strudel hatte den Glücklichen schon in sich aufgenommen.
Kropinski hob das schreiende Bündel über sich, damit es nicht erdrückt werde von der brodelnden Flut.
Einer Nussschale gleich schaukelte das Kind über den wogenden Köpfen.
Im Gestau quirlte es durch die Enge des Tores, und dann riss es der Strom auf seinen befreiten Wellen mit sich dahin, der nicht mehr zu halten war.