»Das Dschungelgesetz, unter dem wir alle standen«
Der Erfolg von »Nackt unter Wölfen« und die unerzählten Geschichten der Buchenwalder Kommunisten
Ein Roman macht Geschichte
Als »Nackt unter Wölfen« im Frühsommer 1958 im Mitteldeutschen Verlag Halle (MDV) erschien, war die erste Auflage von 10 000 Exemplaren sofort vergriffen. Noch im gleichen Jahr wurde ein Vertrag über die fünfte Auflage (41.–62. Tausend) geschlossen, da war die dritte Auflage noch gar nicht gedruckt, jedoch die vierte durch Vorbestellungen bereits vergriffen. Bis Ende 1959 waren 200 000 Exemplare verkauft. Binnen eines Jahres avancierte der Titel zum sozialistischen Bestseller.1
Bruno Apitz hat mit der anrührenden Geschichte einer Kindesrettung das KZ Buchenwald zum Schauplatz seines Romans gemacht. Allerdings erzählte er den Kampf gegen die Lager-SS als Erfolgsgeschichte, was dem erinnerungspolitischen Konzept der SED-Führung entsprach. In der Phase der Frontstellung der beiden deutschen Staaten legitimierte sie ihren Führungsanspruchs aus der Tradition antifaschistischer Auseinandersetzungen und untermauerte dies am 14. September 1958, nur wenige Monate nach Erscheinen des Romans, als in einem feierlichen Staatsakt die Nationale Mahn- und Gedenkstätte (NMG) Buchenwald mit ihrer zentralen Figurengruppe von Fritz Cremer vor dem Glockenturm eingeweiht wurde.2
Wie der Roman erzählt auch die seit Anfang der fünfziger Jahre außerhalb des ehemaligen Lagerkomplexes neu errichtete Mahnmalsanlage vom Miteinander solidarisch verbundener Häftlinge aus vielen Nationen, die unter der politischen Führung von deutschen Kommunisten in ihrem Leiden wie im Kampf gegen ihre Peiniger vereint sind und siegen. Vor allem mit den in Stein gehauenen szenischen Darstellungen der Reliefstelen, die den antifaschistischen Widerstandskampf im KZ Buchenwald in bildhaft-symbolischer Weise deuten sollten, scheinen Roman und Mahnmal einander gleichsam zu bestätigen: Auf einer Stele (»Ankunft der Häftlinge« von Waldemar Grzimek) ist ein kleines Kind zu sehen, das von einem Häftling aus einer Gruppe Neuangekommener einem anderen in die fürsorglich ausgebreiteten Arme gegeben wird. Auf zwei anderen Stelen (»Thälmann-Feier und Vorbereitung zum Widerstand« sowie »Befreiung« von René Graetz) sind Häftlinge zu erkennen, die aus Verstecken Gewehre herbeiholen und im Triumph ihres Sieges gefangene SS-Männer durch das geöffnete Lagertor abführen.3
Genauso lieferte der Roman eine literarische Deutung für die erhalten gebliebenen baulichen Überreste des zu Beginn der fünfziger Jahre geschleiften Lagergeländes: die Effektenkammer, den Krematoriumskomplex und das Torgebäude. Er verlieh dem Leidens- und Verbrechensort eine heroische Prägung. Das von den Häftlingen gerettete Kind von Buchenwald wurde zum Inbegriff für ein ethisch hochstehendes Engagement des politischen Widerstands. Es steht für die Motive »Kampf« und »Sieg«, die in der DDR den Kern der antifaschistischen Botschaft bildeten.5 Mit der dramaturgisch überaus geschickten Fabel einer geglückten Kindesrettung feierte der Roman gemäß dem »Schwur von Buchenwald«6 seine Helden als Kämpfer für kommende Zeiten.4
Bald schon nach Erscheinen begannen Lehrer im Unterricht mit dem Roman zu arbeiten. Seit 1960 war er Bestandteil des Lehrplans für den Deutschunterricht der 9. und 10. Klassen. Neben Werken von Heinrich Mann, Arnold Zweig, Friedrich Wolf, Anna Seghers und Johannes R. Becher gehörte er wie selbstverständlich zum Kanon klassischer Lesestoffe, die eindeutige Botschaften gegen Militarismus und Faschismus hatten.
Die schulische Lektüre wurde oftmals durch eine Klassenfahrt in die NMG Buchenwald ergänzt. Nach solch einem Besuch, der in Vorbereitung der alljährlichen Jugendweihe7 erfolgte, schrieb eine vierzehnjährige Schülerin aus Karl-Marx-Stadt: »Unsere erste Jugendstunde verlebten wir in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald. Viele Dinge sahen wir dort, die uns zum Nachdenken, zum Mahnen und zum Handeln anregten. Besonders beeindruckt hat mich der ›Caracho-Weg‹ und der Appellplatz.« Der Gedenkstättenbesuch sollte den Jugendlichen genau jene Geschichtsbilder über das KZ einprägen, wie sie auch durch den Roman lebendig gehalten wurden. Allerdings ist es fraglich, ob solch eine Formulierung der Erwartung des Lehrers entsprach und ob sie tatsächlich die Gefühle der Schülerin wiedergab. Der Aufsatz endet mit den Worten: »Jeder Besucher dieser Stätte des faschistischen Grauens sollte sich dem Schwur von Buchenwald anschließen! ›Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!‹«8
Am Vorabend der Denkmalseinweihung hatte der Rundfunk der DDR eine von Bruno Apitz bearbeitete Hörspielversion des Romans ausgestrahlt. Bald darauf entstand ein Fernsehspiel (1960), und schließlich verfilmte ihn 1962 die DEFA unter der Regie von Frank Beyer mit prominenten Schauspielern wie Armin Mueller-Stahl und Erwin Geschonneck in den Hauptrollen. Bruno Apitz, der am Drehbuch mitgeschrieben hatte und bei den Dreharbeiten dabei war, wurde überredet, in einer kleinen Rolle mitzuspielen. Die Filmbilder verstärkten wie der Roman eine visuell eindringliche Verknüpfung zwischen historischem Ort und künstlerischer Deutung, zumal die Außenaufnahmen auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald gedreht wurden; Kulissen ließen einen Großteil des Barackenlagers auferstehen, selbst aus dem Schlot des Krematoriums stieg kurzzeitig wieder Rauch auf. Der Film wurde zum umjubelten Beitrag der Moskauer Filmfestspiele von 1963, Autor und Filmschöpfer wurden enthusiastisch gefeiert.9
Nicht nur die DEFA-Verfilmung, auch der Roman war inzwischen über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden: Schon 1960 lagen Übersetzungen vor ins Tschechische, Polnische, Russische, Ungarische, Bulgarische sowie ins Englische und Schwedische. 1961 gab es Ausgaben in Albanisch, Slowakisch, Rumänisch, Italienisch, Französisch, Holländisch, Finnisch und Japanisch. Und 1961 kam im Rowohlt Taschenbuch Verlag eine westdeutsche Ausgabe heraus. »Nackt unter Wölfen« war damit der erste in der DDR publizierte Roman, der in der BRD erscheinen konnte. Das war nur möglich, weil ausgerechnet im Jahr des Mauerbaus die Lizenzbedingungen für belletristische Literatur aus dem Osten gelockert wurden! Bis 1961 war neben Johannes Bobrowski und Peter Huchel Bertolt Brecht der einzige DDR-Autor, dessen Werke in der BRD gedruckt wurden.
Die gesetzlich verankerte politische Strafverfolgung hatte sich während der fünfziger Jahre insbesondere gegen den Import von Literatur aus der DDR gerichtet. So konnten nach § 93 StGB »verfassungsverräterische Publikationen« verboten werden, »durch deren Inhalt Bestrebungen herbeigeführt oder gefördert werden sollen, die darauf gerichtet sind, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen«10.
Der Roman erschien in der Folge in sechs weiteren DDR-Verlagen; bis Oktober 1989 lag allein die Auflage des Mitteldeutschen Verlags bei 1 105 000 Exemplaren. In der DDR wurden alles in allem an die 2 Millionen Exemplare verkauft. Damit ist »Nackt unter Wölfen« vermutlich das meistverkaufte Buch der DDR. Insgesamt wurde der Roman in über dreißig Sprachen übersetzt. Die Weltauflage wird auf beinahe 3 Millionen geschätzt.11
Was ließ einen völlig unbekannten Autor einen Roman schreiben, der zum Weltbestseller werden sollte?
Die symbolträchtige Verquickung von Romanlegende und Buchenwald-Gedenken, der strategisch günstige Zeitpunkt der Veröffentlichung und die breite Publikumswirkung könnten die Vermutung aufkommen lassen, dass »Nackt unter Wölfen« als Auftragswerk entstanden ist: einem Autor abverlangt, den die Nationalsozialisten wegen seiner politischen Gesinnung und als Mitglied der KPD fast zwölf Jahre gefangen hielten, davon allein acht im KZ Buchenwald. Das Gegenteil war der Fall. Die Entstehungsgeschichte war mit Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten behaftet, die in ihrer Dimension erst nach dem Ende der DDR allmählich deutlich wurden.12
Das beschädigte Gedächtnis der
Buchenwalder Kommunisten
Nach 1990 traten im Prozess der historischen Aufarbeitung von Geschichte und Nachgeschichte des KZ Buchenwald Dokumente zutage, die zeigten, dass in der Nachkriegszeit die gefeierten »Helden« des kommunistischen Widerstands in parteiinternen Verfahren mit Vorwürfen wegen ihrer Rolle in der von der SS initiierten »Häftlingsselbstverwaltung« konfrontiert waren.
Die SED-Führungsriege um Walter Ulbricht zweifelte an, dass führende Buchenwalder Kommunisten, die im Lager im Parteiaktiv der KPD waren oder Häftlingsfunktionen bekleidet hatten, innerhalb der KZ-Strukturen Widerstand geleistet hatten. Die Beschuldigten, die nach der Befreiung zunächst ranghohe Ämter im Regierungs- oder Verwaltungsapparat innehatten, wurden bis Mitte der fünfziger Jahre auf weniger einflussreiche Posten abgeschoben, politisch entmachtet oder erhielten Parteistrafen. Ihre langjährige Hafterfahrung und die unbestreitbaren Erfolge ihres Überlebenskampfes im Widerstand gegen die Lager-SS sahen sie von der eigenen Partei in Frage gestellt.13
Im Einzelnen geschah Folgendes:
Bereits 1946/47 hatte eine interne Untersuchungskommission der SED-Führung sich mit dem Verhalten kommunistischer Funktionshäftlinge in Buchenwald befasst. Anlass dafür war der Dachauer Buchenwald-Prozess, bei dem US-amerikanische Militäranwälte u. a. gegen ehemalige ranghohe kommunistische Funktionsträger der Häftlingsverwaltung ermittelten. Vorwürfe waren aber auch innerhalb der Buchenwalder Kommunisten laut geworden.
Zu den damals Belasteten gehörte Ernst Busse, ein führendes Mitglied der illegalen KPD-Leitung in Buchenwald und Kapo des Häftlingskrankenbaus. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war er nicht nur Mitglied der Bezirksleitung der SED in Thüringen, sondern sogar Innenminister des Landes und 1. stellvertretender Landespräsident. In Einzelvernehmungen befragte die Untersuchungskommission mehrere SED-Genossen zum Verhalten ihrer Führungsfunktionäre als Funktionshäftlinge. Die Untersuchungen bezogen sich auf fünf Komplexe: »1. Allgemeine politische Haltung – 2. Übernahme von Funktionen im Lager – 3. Todesspritzen – Bedrohungen von Genossen – 4. Anschuldigungen betreffend konkreter Fälle im Lager – 5. Moralische Haltung einzelner Genossen«.14
Im Ergebnis der Befragungen wurden alle Betroffenen entlastet. Im Untersuchungsbericht der Kommission heißt es, dass die Übernahme von Funktionen in der Häftlingsverwaltung richtig gewesen sei, um dem Terror der SS und der Willkür der kriminellen Häftlinge entgegenzuwirken. In Bezug auf die Vorwürfe, Parteimitglieder seien von ihren Genossen mit dem Tode durch Giftinjektionen bedroht worden, kommt der Bericht zu dem Schluss, dass die Todesspritzen von SS-Ärzten verabfolgt worden seien, die Kapos aber so manchen »durch das Unterschieben von Nummern bereits Verstorbener oder auch durch das Auswechseln von Todeskandidaten« hätten retten können. Nur sehr selten und nur »auf besonderen Beschluss der Parteileitungen der einzelnen Nationen« im Lager hätten diese selbst »Gestapoagenten, Verräter und sonstige gefährliche Elemente mittels Todesspritze liquidiert«15. Obwohl also im Verlaufe der Untersuchung durchaus widersprüchliche und problematische Geschehnisse zutage traten, in welche Kommunisten als Funktionshäftlinge verwickelt waren, gab es keine wirkliche Auseinandersetzung dazu.
Ernst Busse wurde Anfang 1947 seiner Thüringer Regierungsämter enthoben und in Berlin auf eine zwar leitende, aber politisch einflusslose Funktion in der Hauptverwaltung Land- und Forstwirtschaft gesetzt. Drei Jahre später gerieten er und ein weiterer prominenter Buchenwalder Kapo ins Visier sowjetischer Machtorgane. Im März 1950 wurde zunächst Busse von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) verhaftet und wegen seiner Tätigkeit im Buchenwalder Häftlingskrankenbau verhört. Zusammen mit dem kommunistischen Lagerältesten und späteren Kommandeur der Deutschen Volkspolizei Erich Reschke, der im Juni 1950 als Direktor der Haftanstalt Bautzen suspendiert worden war, wurde er im Februar 1951 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen »Kriegsverbrechen« zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt und in den Gulag verschleppt.16 Über ihren Verbleib schwiegen die Behörden. Erich Reschke kehrte schließlich 1955 in die DDR zurück und wurde von der SED stillschweigend rehabilitiert. Busse starb 1952 in den Minen von Workuta. Nach Berichten von diesen Verhören und einem zusammenfassendem Geständnis Busses von Januar 1951, in dem er sich und auch Reschke schwer belastete, soll es in den Verfahren u. a. um den Vorwurf gegangen sein, als Aufseher im KZ mit den Faschisten zusammengearbeitet und andere Häftlinge misshandelt zu haben bzw. Mitschuld an ihrem Tod zu tragen.17
Indes hatte die moskautreue Funktionärsgruppe um Walter Ulbricht ab 1948 ihren Machtkampf gegen die während der Nazi-Herrschaft in Deutschland gebliebenen und in Zuchthäusern und KZ inhaftierten Kommunisten forciert. Die sowjetische Remigranten-Fraktion nutzte dabei die schwelenden Konflikte der Buchenwalder, um die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrten Genossen zu diskreditieren, an den Rand zu drängen und ihre eigene Macht zu festigen. Ab 1950 wurden Parteiverfahren gegen nahezu alle führenden Kommunisten aus Buchenwald eingeleitet.18
Walter Bartel, Kopf der illegalen KPD-Leitung im KZ Buchenwald, ab 1943 Vorsitzender des illegalen Internationalen Lagerkomitees, wurde von der Zentralen Parteikontrollkommission der SED nun mit einem für ihn völlig überraschenden Vorwurf konfrontiert, nämlich dass es von Anfang an vollkommen falsch und unvertretbar gewesen wäre, dass deutsche Kommunisten im KZ Funktionen in der Häftlingsverwaltung übernahmen. Dadurch hätten sie ohne nähere Kenntnisse über Leben und Tod von Mithäftlingen zu entscheiden gehabt. Dabei sei die Rettung ihrer Genossen kein Argument gewesen, da sie an ihrer statt andere, vor allem ausländische Häftlinge preisgaben, über deren Wichtigkeit sie gar nicht hätten befinden können.19 Im Zuge dieser Anschuldigungen wurde Walter Bartel im Juni 1953 von seiner Funktion als Leiter der Amtsgeschäfte des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck enthoben.20
Auch danach sammelte die SED-Führung weiterhin belastendes Material über das Verhalten kommunistischer Lagerfunktionäre, das im Falle erneuter Säuberungsprozesse ins Feld geführt werden konnte. In den fünfziger Jahren verlor die Gruppe der Buchenwalder Kommunisten zudem den Einfluss auf die Konzeption der Gedenkstätte. Unter anderem wurde ein Vorschlag abgelehnt, Bruno Apitz mit der inhaltlichen Gestaltung der Stelenbeschriftung für den geplanten Rundweg durch die Denkmalsanlage zu betrauen.21
Bruno Apitz, obwohl nicht persönlich in diese Verfahren verwickelt, dürften diese Vorgänge nicht verborgen geblieben sein, zumal mit Busse und Reschke zwei prominente Kommunisten aus dem Kreis des Buchenwaldkollektivs einfach verschwunden waren. Außerdem hatten ihm nahestehende Kameraden Parteistrafen erhalten.
Zu der traumatischen Erfahrung der Buchenwalder Kommunisten, ein menschenverachtendes Terror- und Zwangssystem erlebt zu haben, war die Demütigung durch ihre Partei getreten, als deren Mitglied sie oft mehr als zehn Jahre in nationalsozialistischen Zuchthäusern und Lagern inhaftiert waren.
Kommunisten in der Buchenwalder Häftlingsverwaltung
Deutsche Kommunisten gehörten zu den ersten Häftlingen des KZ Buchenwald, die ab Sommer 1937 das Lager zunächst aufbauen mussten. Am Nordhang des Ettersbergs unweit von Weimar errichtet, war es bei Kriegsende das größte Hauptlager des noch bestehenden KZ-Komplexes.22 Buchenwald war Einweisungslager für die Gestapo- und Kriminalpolizeistellen u. a. von Thüringen, Sachsen, Hessen und Oberschlesien.23 Bis zu seiner Versetzung Ende 1941 nach Lublin oblag Karl Otto Koch und seinem SS-Führerstab die Lagerkommandantur.
Von Beginn an rekrutierte die SS unter den Häftlingen Personal, das stellvertretend die tägliche Routine und das Lagerregime durchsetzen sollte. Darüber hinaus delegierte sie einen beträchtlichen Teil der Versorgungs- und Verwaltungsaufgaben an Häftlinge. Die Auswahl für die herausgehobenen Ämter des Lagerdiensts (Lagerälteste, Blockälteste) oder für ein Arbeitskommando (Kapo) erfolgte in aller Regel aus der Gruppe der »reichsdeutschen« (Deutsche, Österreicher), nichtjüdischen Häftlinge.24 Blockälteste waren dem SS-Blockführer für alles, was in der jeweiligen Häftlingsunterkunft geschah, verantwortlich; ihnen waren zwei oder drei Stubendienste unterstellt. Kapos, denen berufliche Fachkräfte, sogenannte »Vorarbeiter«, zugeordnet waren, arbeiteten selbst nicht und sollten die Aufsichtsfunktion der SS-Wachmannschaften unterstützen.25 Lagerfunktionen versprachen für Einzelne und für ganze Gruppen eine privilegierte Versorgung, Unterbringung, Arbeitszuteilung und Freiräume.
Die SS-Lagerführung übertrug die Positionen der Häftlingsverwaltung zunächst den »Kriminellen«, die mit einem grünen Winkel auf der Brusttasche ihrer Sträflingskleidung, über dem die Häftlingsnummer stand, gekennzeichnet waren. Dazu gehörten ehemalige SA-Männer, Fremdenlegionäre, verurteilte Kriminelle sowie »befristete Vorbeugehäftlinge« (BV), sogenannte gewohnheitsmäßige Verbrecher, die nach verbüßter Justizhaft »vorbeugend« ins KZ eingewiesen wurden. Den politischen Häftlingen, die einen roten Winkel trugen, gelang es während der Amtszeit Kochs, nach und nach sämtliche ranghohe Lagerfunktionen mit ihren Leuten zu besetzen.
Nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Pakts und dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 ging die Vorherrschaft über die Lagerfunktionsstellen für mehrere Monate wieder auf die »Grünen« zurück. Im November 1941 wurden auf Befehl des Lagerkommandanten Koch die beiden Kapos des Häftlingskrankenbaus, Walter Krämer und Karl Peix, ermordet.26 Anfang 1942 richtete die SS ein sogenanntes »Sonderkommando« als eine besonders verschärfte Strafkompanie für 51 »rote« Funktionshäftlinge ein.27
Als 1943 das KZ Buchenwald in das Wirtschaftsimperium der SS, d. h. in die Rüstungsproduktion, eingegliedert wurde, griff die neue SS-Führungsriege unter dem Lagerkommandanten Hermann Pister wieder auf deutsche Kommunisten als Funktionsträger der inneren Lagerverwaltung zurück. Buchenwald wurde als Durchgangs- und Stammlager zu einer Zentrale, durch die Tausende aus von deutschen Truppen besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit in KZ-Außenlager geschleust wurden. Zu den zwei größten Häftlingsgruppen gehörten ab 1943 die Zwangsarbeiter sowjetischer und polnischer Herkunft und politische Häftlinge aus dem besetzten Europa. Mitte 1944 kamen als dritte bedeutende Gruppe ungarische und polnische jüdische Häftlinge hinzu.28 Im März 1944 arbeitete jeder Zweite der insgesamt 42 000 Häftlinge in einem System von 22 Außenlagern für die Kriegswirtschaft. Im Februar/ März 1945 war dieses System auf 89 Männer- und Frauenlager angewachsen.29 Der Anteil ausländischer Häftlinge war bis Kriegsende auf über 90 Prozent angestiegen.30
Für die gestiegenen Anforderungen an die Häftlingsverwaltung empfahlen sich in den Augen der SS die deutschen Kommunisten aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation, ihrer Erfahrung bei der Organisation, Anleitung und Disziplinierung von Menschengruppen sowie ihrer Sprachkenntnisse. Ab 1943 hatten deutsche Kommunisten wieder alle wesentlichen Lagerfunktionen inne. Später gelangten zunehmend auch deutschsprachige Ausländer in untergeordnete Positionen, nicht zuletzt, weil man ihre Sprachkenntnisse für Organisationsaufgaben benötigte. Von den insgesamt 245 Kapo-Stellen der Arbeitskommandos in Buchenwald und seinen Außenlagern waren 19 mit ausländischen Häftlingen (8 Polen, 10 Tschechen, einem Belgier) besetzt; von den 226 »Reichsdeutschen« waren 156 politische Häftlinge.31
In der Besetzung der Funktionsstellen erblickten die Kommunisten zum einen die Chance, die Arbeits- und Überlebensbedingungen vor allem für die im Hauptlager untergebrachten Genossen und ausländischen Bündnispartner kalkulierbarer zu machen und vor schweren Arbeitskommandos oder vor Vernichtungslagern und medizinischen Experimenten der SS-Ärzte zu bewahren. Zum anderen versuchten sie, die Anordnungen und Absichten der SS zu ihren eigenen Gunsten zu unterlaufen. Als einer Art »politische Gegenmacht«32 hat der Buchenwald-Häftling Jorge Semprún in seinen poetischen Autobiographien die Bedingungen widerständigen Handelns deutscher Kommunisten in Buchenwald geschildert: »die Gesamtstrategie der illegalen kommunistischen Organisation zielte darauf ab, das Produktionssystem […] mit einem doppelten Ziel zu unterlaufen: ein Maximum an Arbeiterkadern, im allgemeinen antifaschistischen Kämpfern, zu schützen, indem man ihnen die besten Plätze in der Produktionsanlage verschaffte; und sich zweitens auf eben diese Kader zu stützen, um die systematische Verlangsamung und, punktuell, die Sabotage der Rüstungsproduktion zu organisieren.«33 Darüber hinaus hatten kommunistische Häftlinge den sogenannten »Lagerschutz«, eine Art Häftlingspolizei, unter ihre Kontrolle gebracht. Dies hatte zur Folge, dass die Präsenz der SS im Häftlingslager und in den -baracken erheblich reduziert und der willkürliche Terror im Alltag abgefedert wurde. Das 1942 von der SS genehmigte Häftlingskommando beaufsichtigte tagsüber die Sauberkeit des Lagers, ermittelte bei Diebstählen und erhielt Ordnungsaufgaben bei ankommenden Transporten, nachts bewachte es die Magazine und Kammern. Von der kommunistischen Widerstandsorganisation wurde es auch zu Sicherungsaufgaben herangezogen.34
Als Imre Kertész im Sommer 1944 aus dem KZ Auschwitz kommend in das KZ Buchenwald kam, gehörte Buchenwald »schon zu den ›milderen‹ Lagern. […] Da die Innenverwaltung gänzlich durch Häftlinge erledigt wurde, hatte der die Macht, der die Verwaltung innehatte. Und da die ›roten‹ Häftlinge intelligenter, geschickter und besser organisiert als die ›grünen‹ waren, […] konnten sie sich allmählich von den Kriminellen befreien: Sie steckten sie in die Transporte, die in die Nebenlager gingen, und teilten sie zu den unangenehmsten Arbeitskommandos ein – die Einzelheiten wollen wir besser nicht wissen. Aber auf diese Weise konnten die politischen Häftlinge eine Menge bewirken und taten das auch, vor allem für die Kinder, die 1944 in den Typhusbaracken des sogenannten Kleinlagers […] der sichere Tod erwartet hätte. Ihr langer Arm reichte wahrscheinlich sogar bis an die Rampe, wo sie versuchten, aus den Transporten ein paar Glückspilze unter den Menschenwracks herauszuholen und ins Großlager hinüberzuretten.«35
Die dominierende Position deutscher Kommunisten in der Häftlingsverwaltung ermöglichte in Buchenwald in der zweiten Kriegshälfte den Aufbau der größten kommunistischen Untergrundorganisation im SS-Lagersystem. Ab Sommer 1943 kam es unter dem Vorsitz der Deutschen zu illegalen Treffen von ausländischen Mitgliedern der verschiedenen kommunistischen Parteien. Der als Internationales Lagerkomitee (ILK) illegal konstituierte Personenkreis trug in der Folgezeit vor allem dazu bei, Konflikte zwischen den nationalen Gruppen nicht offen ausbrechen zu lassen, Hilfsaktionen zu organisieren und Schutzmaßnahmen für bedrohte Parteimitglieder und Widerstandskämpfer abzustimmen.
In der Forschungsliteratur zu den Konzentrationslagern36 wie auch in den literarischen Werken von Jorge Semprún ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass Funktionshäftlinge, wollten sie ihre einflussreiche Position nicht verlieren, zur Kollaboration mit der SS genötigt waren. Insbesondere an den zentralen Schaltstellen der inneren Verwaltung wie Arbeitsstatistik und Häftlingskrankenbau bedeutete dies, in Entscheidungen über Leben und Tod von Mithäftlingen verstrickt zu werden. Primo Levi, selbst Auschwitz-Überlebender, hat den Standort der Funktionshäftlinge in jenem Zwischenraum zwischen der Lager-SS und der Häftlingsgesellschaft als »Grauzone« beschrieben.37 In diesem Bereich waren »die Grenzen zwischen Schuld und Zwang, Widerstand und Kollaboration verwischt«38. Die drastischen Konsequenzen dieser prekären Situation für das Miteinander der Häftlinge hat H. G. Adler eindrücklich geschildert:
»Als unmittelbare Folge der Selbstverwaltung erreichten die sozialen Gegensätze im Lager Ausmaße, wie sie eine normale Gesellschaft nie aufzuweisen hat. Alle sonst in einer Gesellschaft gültigen Rechtsnormen und für verbindlich gehaltenen sittlichen Prinzipien waren hier aufgehoben, die Lebensbedingungen standen im Zeichen grenzenloser Not, maßlosen Terrors und uferloser Korruption, die den Kampf aller gegen alle in nie geahnter Weise förderten […]. Im Konzentrationslager herrschte also das Gesetz des Dschungels. Anders konnte es nach den gegebenen Voraussetzungen gar nicht sein. Die hohe und berechtigte Anerkennung, die dem unter schwierigsten Bedingungen organisierten Widerstand der Häftlinge gebührt, darf darüber nicht hinwegtäuschen.«39
Als man Bruno Apitz am 4. November 1937 ins KZ Buchenwald einlieferte, lag bereits eine Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten im Zuchthaus Waldheim hinter ihm. Dass er die folgenden acht Jahre überlebt hat, verdankte er wohl nur zum geringeren Teil der Funktionsübernahme von Kommunisten im System der Häftlingsverwaltung. Zwar war er Funktionär der KPD-Bezirksleitung Leipzig gewesen, jedoch bestand seine individuelle Überlebensstrategie maßgeblich darin, sich inmitten des KZ-Terrors Nischen einer gewissen Alltagsnormalität einzurichten. Bruno Apitz wurde im KZ Buchenwald zum Laienkünstler und Dichter und gelangte damit in eine den Kapos vergleichbare herausgehobene Stellung mit Vergünstigungen und Privilegien. Er fand Freiräume, in denen er Mitmenschlichkeit erleben und überlebenswichtige soziale Beziehungen pflegen konnte. Kontakte zu SS-Führern, die sich zwangläufig entwickelten, hoben ihn aus der Masse der Häftlinge heraus.
In den ersten sechs Monaten musste der damals 37-Jährige zunächst eine ihm ungewohnte, körperlich schwere Arbeit in verschiedenen Baukommandos verrichten und war den Schikanen der SS-Bewacher ausgeliefert.40 Seine persönlichen Erlebnisse im Aufbaulager hat er der Figur August Rose in »Nackt unter Wölfen« eingeschrieben. (Vgl. S. 281 ff.)
Ab Frühjahr 1938 kam er in die Künstler-Werkstätte, die der Lagerkommandant Koch als Privatunternehmen betrieb. Dort ließ Koch einen professionellen Bildhauer sowie verschiedene Kunsthandwerker für sich arbeiten. Eugen Kogon beschreibt, wie diese Häftlinge für die Wohnungen der SS-Führer »die künstlerische Inneneinrichtung« und »unzählige Geschenke, die sich die Clique gegenseitig spendete«, herstellen mussten. Sie schufen »die Prunkfassade des Lagers, hinter der sich das Elend ausbreitete«41.
Apitz war Autodidakt. Seine erste Auftragsarbeit war vermutlich einer der Wegweiser, von denen es im Lagerbereich mehrere gab. Sein Schild »Carachoweg« war an der Zufahrtsstraße zum Lagertor aufgestellt, auf der die Häftlinge in das Lager getrieben wurden. Seine Idee sei es gewesen, über den geschnitzten Buchstaben rennende Figuren anzubringen, die die typische gestreifte Häftlingsbekleidung trugen. Ihre aufgemalten Häftlingsnummern wiesen sie als ranghohe kommunistische Kapos aus. Apitz schilderte, dass seine Plastiken überwiegend »nach eigenen Ideen, nach eigenen Vorstellungen, nach eigenen Einfällen«42 entstanden seien. Selten handelte es sich um Aufträge.
Apitz schuf mit seinen Arbeiten Begehrlichkeiten unter den SS-Führern: Gefragt waren offensichtlich geschnitzte Tischlampen (von denen er mindestens zwei anfertigte) und figürliche Plastiken. Anlässlich der Geburt des zehnten Kindes des Thüringer NSDAP-Gauleiters Fritz Sauckel wurde er auch mit der Herstellung einer Kinderwiege beauftragt.
Die in der Werkstatt arbeitenden Häftlinge profitierten von Sonderregelungen, die ihre Motivation und Leistung anregen sollten. Damit die Arbeit nicht unterbrochen werden musste, waren sie von den abendlichen Zählappellen ausgenommen, sie durften während der Arbeitszeit rauchen und essen, und sie nutzten diese ihnen zugestandenen Privilegien. Koch forderte als Gegenleistung eine solche Menge kunstgewerblicher Gegenstände, dass die Häftlinge oftmals nächtelang durcharbeiten mussten, um den Anforderungen nachzukommen.
Die Bildhauerei-Werkstatt blieb dem Häftlingsarzt Fritz Lettow als Zufluchtsort vor den Belastungen, die das gedrängte Zusammenleben in den Häftlingsunterkünften mit sich brachte, in Erinnerung: »Ich konnte am Abend in dem Gesumme des Blocks oft nicht zur Ruhe kommen und suchte häufig die Bildhauerei auf. Da gab es die Gespräche über Kunst und Musik, da war ein wenig Kultur und Aufatmen, und die kleine, kümmerliche, enge, verstaubte Bude der Bildhauerei wußte gar nicht, welch große kulturelle Mission sie inmitten des öden Lagerdaseins erfüllte.«43 Dort war ihm auch Bruno Apitz begegnet.
»Bruno Apitz war der Talentierteste von ihnen. Buchhändler von Beruf, Dichter aus Neigung und zum Zeitvertreib, hatte er sich auch mit dem Meißel versucht, und nach einigen Anfängen war ihm der Durchbruch gelungen. Er war ein echter Autodidakt, und seine Holzskulpturen wurden von Mal zu Mal kühner und besser, bis er schließlich wirkliche Ausstellungsreife erlangte. Und wie lebte er mit seinem Werk! Tage und halbe Nächte an der Arbeit, sah er seine Figuren plastisch vor sich, an dem Werk Georg Kolbes sich begeisternd, studierte er nach einigen Büchern und Bildern Anatomie. Ohne Modelle, ohne Vorbilder waren seine Akte von wunderbar realer Wirklichkeit, und alles, was er verloren hatte und jetzt entbehrte, legte er in die Anmut und die Bewegtheit seiner modellierten Körper. Er war stolz auf seine Plastiken, aber nie hochmütig, nur froh.«44
Nach der Absetzung des Lagerkommandanten Koch und der Auflösung der Werkstatt Ende 1941 fertigte Bruno Apitz auch für dessen Nachfolger Hermann Pister eine größere Schnitzarbeit an.45 Jahre später, im September 1944, schnitzte Bruno Apitz in einem von Mithäftlingen abgesicherten Winkel in den Räumen der Pathologie aus einem Holzkloben der sogenannten »Goethe-Eiche« das Antlitz eines Sterbenden im Halbrelief. Der Baum unweit des Kammergebäudes war gefällt worden, nachdem er am 24. August bei einem USamerikanischen Bombenangriff auf den SS-Wohn- und Verwaltungsbereich in Brand geraten war. Die Plastik fertigte er nach Vorlagen von Totenmasken aus Gips. Er erinnerte sich auch daran, dass sie schon im Prozess ihrer Entstehung von Mithäftlingen »Das letzte Gesicht« genannt wurde.46 Sie wurde aus dem Lager geschmuggelt und bei einer Familie in Apolda versteckt.47 Diese Schnitzarbeit unterscheidet sich fundamental von den Auftragswerken, die Apitz für die SS schuf. Sie steht für »die Beharrung auf der Würde der Entwürdigten«, für »die haarfeinen Risse im Ordnungssystem des Terrors«.48
Bis zu seiner Befreiung war Apitz als Häftling des Kommandos »Pathologie« registriert, die auch wegen besserer Verpflegung als »willkommene Zuflucht für manchen politischen Kumpel«49 diente, wie Fritz Lettow berichtete. Die dort beschäftigten Häftlinge mussten unter anderem medizinische Lehrmodelle herstellen. Dabei habe es sich um einen »ruhigen Posten« gehandelt, wie sich 1947 ein anderer Mithäftling, Karl Schnog, erinnerte. Er habe Bruno Apitz »als Modelleur für plastische medizinische Modelle« erlebt, die dieser in einem abgelegenen Raum aus Holz und Gips herstellte.50
Durch diese Arbeit wurde der Anblick ermordeter Häftlinge für Apitz zu einer täglichen Erfahrung. In diesem Kommando erfuhr er auch aus erster Hand von den Verbrechen der SS-Lagerführung, als ab Mitte 1941 mit der systematischen Ermordung von Kranken durch Gift-Injektionen begonnen wurde. Nach dem Krieg belastete er mit eidesstattlichen Zeugenaussagen mehrere Buchenwalder SS-Lagerärzte.51 Von Ende 1941 bis 1943 fanden Massenexekutionen von russischen Kriegsgefangenen statt, für die ein Pferdestall außerhalb des Häftlingsbereichs mit einer Genickschussanlage versehen wurde. Ab 1942 wurden spezielle Versuchsstationen für medizinische Versuche an KZ-Häftlingen zur Entwicklung eines neuen Massenimpfstoffes gegen Fleckfieber errichtet.52
In den Räumen der Pathologie standen Apitz ein Schreibtisch sowie eine Schreibmaschine samt Schreibpapier zur Verfügung. Zwischen 1941 und 1944 verfasste er hier Reime und revueartige Szenen, die er vor einem kleinen Kreis seiner Lagerkumpel, bei offiziellen Lagerkonzerten und »Bunten Abenden« zur Aufführung brachte. Auch die Novelle »Esther« begann er 1944 zu schreiben.53 Der Umfang, den in dieser Zeit seine schriftstellerische Beschäftigung54 neben seiner Arbeit als »Modelleur« einnahm, blieb der SS vermutlich verborgen. Allerdings, so erinnerte sich Fritz Lettow, habe er auf Kameradschaftsabenden für ihre Unterhaltung sorgen und satirische Verse nach ihren Vorgaben verfassen müssen.55 Durch den persönlichen Umgang mit SS-Führern, die ihm offensichtlich ungewöhnlich intime Einblicke gewährten, lernte er die SS-Führungsriege näher kennen, was ihm später bei der Gestaltung seiner SS-Figuren in »Nackt unter Wölfen« zugutekommen sollte.
Bei dem »Bunten Abenden«, die ab Sommer 1943 in der Kinohalle veranstaltet wurden, trat Bruno Apitz als Conférencier auf. Auch SS-Männer waren anwesend, wenn ein ganzer Kreis von schriftstellerisch und musisch begabten Laien kleine Szenen und Gesangs- und Instrumentalstücke darbot. Mit dem polnischen Bergbauingenieur und Trompeter der Buchenwalder Lagerkapelle Kazimierz Tyminski hatte er sich dabei besonders angefreundet.
»Zu jener Zeit gehörte der deutsche politische Häftling Bruno Apitz zu den populärsten Personen im Lager. Dieser allerliebste Mensch, von großer und schlanker Gestalt mit einem ehrlichen Lächeln im Gesicht, arbeitete mit jedem zusammen, der etwas mit Kultur zu tun hatte. Er selbst schrieb Gedichte, zeichnete Karikaturen und trat mit einem eigenen originellen Repertoire vor Häftlingen aller Nationen auf. Sein im Lager bekanntestes satirisches Gedicht ›Na ja‹ schrieb er mir in mein Album und verzierte es mit einer Karikatur. Ich suchte seine Gesellschaft, und wir verbrachten im Lager viel Zeit miteinander.
Fünfzehn Jahre älter, stimmte er mich optimistisch, denn er selbst liebte das Leben und er stärkte meinen Charakter. Er stellte für mich eine tadellose Persönlichkeit dar. Bruno konnte mich überzeugen, dass Freundschaft zwischen Menschen unabhängig ist von ihrer Nationalität, ihrem Alter oder ihrer Hautfarbe. Oft sagte er scherzhaft zu mir: ›Such nur gut, und du findest auch unter den Deutschen ehrliche, wertvolle und ordentliche Menschen.‹ Mit der Zeit überzeugte ich mich, dass er die Wahrheit sagte. Doch das fiel mir nicht leicht. Zu viel Böses hatte ich von Menschen dieser Nationalität erfahren.«56
Mit den von der SS zugestandenen Freiräumen gelang es Bruno Apitz nicht nur seine eigene Haut zu retten, sondern auch die Haftsituation zeitweilig als sozial intakte Ordnung wahrzunehmen. Allerdings brachte auch diese Überlebensstrategie Verstrickungen in die Machtstrukturen mit sich. Apitz’ Erfahrungswelt ist darin derjenigen der Kapo-Oberschicht des Lagers ähnlich, ohne dass er jedoch vergleichbar belastende Kompromisse eingehen musste. Er lebte eine privilegierte Existenz, die auf seinen ganz eigenständigen, sogar von der SS als originell anerkannten künstlerischen Fähigkeiten beruhte. Diese Künstlerexistenz war konkurrenzlos, sie hatte etwas Singuläres und war nicht austauschbar wie die von der SS an die Häftlingsfunktionäre verliehene Macht.
Bruno Apitz hat persönliche Lagererfahrungen in die Gestaltung der Romanhandlung einfließen lassen, ohne dass er seine Tätigkeiten als Laienkünstler in ihrer Differenziertheit und Bedingtheit konkret beschreiben konnte. An einzelnen Figuren jedoch wie beispielsweise bei Erich Köhn, einen Pfleger im Häftlingsrevier, lassen sich autobiographische Bezüge vermuten: »Der hagere Vierziger hatte seinen Freunden vom Revier manche gute Stunde aus dem unversiegbaren Quell seiner Theatererinnerungen geschenkt und im Krankensaal, aus der Fröhlichkeit seines starken Herzens heraus, manchen verglimmenden Funken Lebenskraft wieder angeblasen.« (S. 87)
Über Apitz’ Tätigkeit in der Bildhauerei hat man erst spät etwas erfahren können, als er wenige Jahre vor seinem Tod in einem Interview darüber ausführlich berichtete. Von seinen Erfahrungen in der Pathologie hingegen war offiziell nie die Rede.
Das Versteck zur Freiheit
Am 11. April 1945 erreichte die 6. Panzerdivision der 3. US-Armee das KZ Buchenwald. Nach der Flucht der SS besetzten Häftlinge des Lagerwiderstandes noch während der Frontkämpfe die Türme und übernahmen die Verwaltung des Lagers. 21 000 Häftlinge erlebten ihre Befreiung und die Ankunft der US-Armee. Bruno Apitz befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Schacht, wo er lediglich Geräusche und Stimmen wahrnehmen konnte und darauf hoffen musste, von seinen Genossen und nicht von der SS heraufgeholt zu werden. Sein Name war neben denen anderer, in der Mehrzahl deutscher Kommunisten und Funktionshäftlinge, auf einer von der SS erstellten Liste der Lagerführung aufgetaucht, was den politischen Führungszirkel der KPD veranlasste, die Betreffenden zu verstecken.57 Die Liste ließ vermuten, dass die SS Enthüllungen über die Misshandlungen, Giftmorde, medizinischen Experimente und Korruption befürchtete.58
Von einem Mithäftling, Alfred Ott, ist eine detaillierte Beschreibung des Verstecks überliefert:
»Bruno Apitz versteckte ich in einem Kanalschacht zwischen Block 53 und 54.59 Dieser senkrechte Schacht war 1m mal 1m und etwa 3 bis 4m tief. Er war mit einem Schleusendeckel abgedeckt. Apitz erhielt eine Kiste als Sitzgelegenheit auf dem Grund des Schachtes, außerdem mehrere Decken zum Schutz gegen Kälte und Nässe. Er war drei Tage und drei Nächte in diesem Versteck und wurde von mir jeden Morgen und Abend mit Essen und Getränken versorgt. Über den Schleusendeckel hatte ich zum Schutz gegen Sicht und Witterung der Suchhunde einen großen Strohsack gelegt.«60
Am 7. April, einen Tag nach dem Verschwinden der von der SS-Lagerkommandantur angeforderten Häftlinge, begann die SS mit der Räumung des Stammlagers, die bis zum 10. April andauerte. In dieser Phase spitzte sich die Lage der Häftlinge dramatisch zu. Die Räumung wurde häufig durch alliierte Fliegerangriffe in der Region unterbrochen und vom passiven Widerstand der damit beauftragten politischen Lagerfunktionäre verzögert.
Evakuierungsziele waren die Lager Theresienstadt, Dachau und Flossenbürg. Auf insgesamt 60 Marschrouten, teilweise per Bahn, oft zu Fuß, waren – ungenügend bekleidet und kaum mit Nahrungsmitteln versorgt – im April 1945 etwa 28 000 Häftlinge des Stammlagers und mindestens 10 000 Häftlinge der Außenlager in Märschen unterwegs. Bei diesen als »Todesmärsche« zutreffend beschriebenen Evakuierungen61 starb ein Drittel von ihnen an Entkräftung oder wurde von der SS erschossen. Als die Amerikaner das Lager befreiten, nahmen sich bewaffnende Häftlinge flüchtende SS-Leute gefangen. Bis zur Übernahme des Lagers durch die US-amerikanische Verwaltung am 13. April blieben die wesentlichen Ordnungs- und Versorgungsstrukturen der vormaligen Häftlingsverwaltung bestehen.62
Mitte der siebziger Jahre schilderte Apitz dem Regisseur Gerhard Jentsch im Vorfeld von Dreharbeiten zu dem Einführungsfilm für Gedenkstättenbesucher »… und jeder hatte einen Namen« in einem Interview seine widersprüchlichen Empfindungen zu den Tagen der Befreiung.63 Diese Schilderungen machen deutlich, dass ihn der Umstand, die Befreiung als Ereignis verpasst zu haben, nicht losgelassen hatte:
»Und ich musste mich, wie die anderen, verstecken, so dass ich also von der Befreiung gar nichts mitbekam, ich kam raus aus meinem Versteck, als wir schon frei waren. Natürlich habe ich Kulleraugen gemacht, als ich auf der Lagerstraße Häftlinge marschieren sah mit Karabinern über der Schulter, aber da waren die Kämpfe schon zu Ende. Ich war in meinem Versteck und glaubte, es ist ein Angriff aufs Lager. […] ich wurde befreit, und zwar durch meine Kumpels.
Es ist natürlich schwierig, jetzt nach 23/24 Jahren sich an die Empfinden [sic!] zurückzuerinnern, die man in diesem Augenblick gehabt hat, ich kann dir nur sagen, ich hab’s nicht geglaubt. Wieso soll ich denn so was glauben, ja. Auf einmal, ich komme raus aus dem Versteck, heißt es, wir sind frei. Da hat man doch gar keine Vorstellung nach 11 Jahren, ist doch unmöglich. Ich hab mich dann erst langsam daran gewöhnt, ich habe jeden Augenblick gewartet, jetzt kommt die SS wieder.«64
Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Leipzig stellte sich Bruno Apitz wieder in den Dienst seiner Partei. 1946 wurde er Mitglied der SED und war wie viele aus dem Exil zurückkehrende Künstler und Schriftsteller davon überzeugt, dass der Aufbau einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung die Antwort auf die deutschen Nazi-Verbrechen sein müsse. Er fühlte sich als Schriftsteller, der an dem herbeizuführenden Bewusstseinswandel der deutschen Bevölkerung beteiligt sein wollte.65 Zunächst arbeitete er als Korrespondent für die »Leipziger Volkszeitung« und verfasste Hörspiele sowie Bühnenstücke für Laientheatergruppen, die unter seiner Leitung in Großbetrieben zur Aufführung kamen. In Anlehnung an den Agitprop-Stil der zwanziger Jahre entwickelte er sogenannte »Referate in Versen«, mit denen er in seiner Geburtsstadt Leipzig zu einiger lokaler Berühmtheit gelangte. Seine Stoffe fand er in aktuellen, tagespolitischen Ereignissen.
Nachdem er noch im Jahr seiner Befreiung zusammen mit anderen Leipziger Kommunisten mehrere Erinnerungsberichte über Buchenwald verfasst und in einem kleinen Band publiziert hatte,66 trat das Aufschreiben von Erinnerungen an das KZ zunächst hinter diesen publizistischen und propagandistischen Aktivitäten zurück.
Schreiben und Tilgen
Die Entstehung von »Nackt unter Wölfen«
Bruno Apitz begann seinen Roman unter dem Eindruck der moralischen und politischen Diskreditierung der Buchenwalder Kommunisten zu schreiben. Die Infragestellung ihres Widerstands und das Verdrängen und Verschweigen ihrer Überlebenserfahrung wurden für ihn zum Auslöser, mit der Gestaltung eines Stoffes zu beginnen, den er vermutlich schon seit längerer Zeit mit sich herumgetragen hatte. Allerdings stieß er mit seiner Stoff-Idee zunächst auf Vorbehalte und sah sich überdies mit Zweifeln an seinem schriftstellerischen Vermögen konfrontiert.
Die gescheiterte Offensive bei der DEFA
Der Entscheidung, einen Roman zu schreiben, war die Enttäuschung darüber vorausgegangen, dass das DEFA-Spielfilmstudio seinen Stoffvorschlag für einen »KZ-Film« über Buchenwald und die Rettung eines Kindes abgelehnt hatte. Bruno Apitz hatte zu diesem Zeitpunkt der DEFA vier Jahre lang als Autor und zeitweilig als Dramaturg zur Verfügung gestanden, freilich relativ erfolglos.
Daher hatte er den damaligen Leiter des DEFA-Spielfilmstudios Hans Rodenberg um ein Gespräch gebeten und ihm im Voraus auf vier eng mit der Schreibmaschine beschriebenen Seiten ein Ereignis skizziert, das sich im KZ Buchenwald zugetragen hätte. Er berichtete, dass im Februar oder März 1945 ein dreijähriger Waisenjunge mit einem Häftlingstransport aus Auschwitz nach Buchenwald gekommen sei. Häftlinge hätten den Knaben in einer Wolldecke gefunden und zu sich genommen. Das Kind erhielt eine Häftlingsnummer und konnte mit Duldung eines SS-Mannes namens »Tommy« bei den Häftlingen leben. Sie versorgten es mit Nahrung, einem maßgeschneiderten Häftlingsanzug und Stiefeln. Als eines Tages das Kind auf Anweisung der Lager-SS mit einem Transport das Lager wieder verlassen sollte, hätten Buchenwalder Häftlinge dies zu verhindern gewusst und das Kind »wochenlang mit den gewagtesten Methoden« vor der SS versteckt gehalten, bis bei Herannahen der amerikanischen Truppen die illegal organisierten Häftlinge sich »mit Waffengewalt« selbst befreit hätten.67
Apitz stellte seinen Stoff in einen aktuellen politischen Bezugsrahmen, wenn er schrieb: »Die Geschichte des polnischen Kindes, die Geschichte des Kampfes internationaler Solidarität der antifaschistischen Kämpfer, die Geschichte der Menschenliebe inmitten der Hölle möchte ich schreiben zu einem Film, der gerade heute, in der Zeit des neu aufkommenden Faschismus im Westen unserer Heimat und des drohenden Krieges in sieghaft leuchtender Weise das Heldentum jener Menschen sichtbar macht, die heute wieder in vorderster Front stehen, um die Menschheit vor dem Angriff der Barbarei zu schützen.«68 Diesen Film sollten »Menschen, besonders in Westdeutschland, unter deren Augen der Faschismus neu entsteht«69, sehen. Hintergrund für dieses Anliegen war, dass Ende November 1954 beim Bundesverfassungsgericht das Verbotsverfahren gegen die KPD eingeleitet worden war. Apitz erklärte, mit dem Buchenwald-Stoff propagandistisch auf die Militarisierung Westdeutschlands und das sich abzeichnende Verbot der KPD reagieren zu wollen.
Zudem war er sich sicher, dass sein Stoff einen spannenden Film erwarten ließ. Umso heftiger musste ihn die Absage treffen, die ihm in den ersten Januartagen 1955 die Dramaturgin Eva Seemann überbrachte. Ihrem Protokoll von diesem Gespräch ist zu entnehmen, dass die DEFA einen Film, der »nur im K. Z. spielt«, in der Wirkung auf »Zuschauer von heute« für problematisch halte. Weiterhin heißt es: »Ein dreijähriges Kind im Mittelpunkt einer Filmhandlung – so rührend die Tatsachen an sich sind –, scheint uns nicht geeignet zu sein.« Man glaubte, »den Kampf gegen die westdeutsche Refaschisierung wirksamer an einem Stoff aus unseren Tagen«70 abzuhandeln.
Die DEFA verkannte die ideologische Bedeutung, die Buchenwald wenige Jahre später für den SED-Staat einnehmen sollte. Sie hatte jedoch insofern recht, als an Geschichten über Konzentrationslager schon seit Beginn der fünfziger Jahre bei den Kulturbehörden kein sonderliches Interesse mehr bestand. Als Orte des Leidens und des Überlebens wurden Konzentrationslager weitgehend ausgeblendet. Ein Film wie »Buchenwald – Vermächtnis und Verpflichtung« (1951) und die darin verwendeten filmischen Dokumente war für eine öffentliche Präsentation nicht mehr erwünscht.71
Bruno Apitz hatte sich vermutlich erhofft, an Film-Produktionen mit antifaschistischen Stoffen anknüpfen zu können, die in jenen Jahren einen neuen Schwerpunkt im Programm der DEFA eingenommen hatten. Dazu gehörten die beiden Thälmann-Filme, »Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse« (1954) und »Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse« (1955), die mit großem filmtechnischem Aufwand Leben und Kampf des KPD-Führers in Szene setzten, der im August 1944 von der SS im KZ Buchenwald ermordet worden war. Im September 1954 hatte der Film »Stärker als die Nacht« Premiere gefeiert. Er beleuchtete die kommunistische Widerstandsarbeit als eine auf »verlorenem Posten« stehende, jedoch historisch und moralisch vorbildhafte nationale Tat angesichts eines übermächtigen NS-Apparats, einer massenhaften Mitläuferschaft und der verschwindend geringen Zahl aktiver NS-Gegner.72
»Ich war jede meiner Figuren«. Die erste Romanfassung
Es waren ehemalige Mitgefangene, Schriftstellerkollegen und Künstlerfreunde wie Herbert Sandberg, Karl Schnog, Berta Waterstradt und Jan Koplowitz, die Bruno Apitz dazu ermunterten, den Stoff einer Kindesrettung in Buchenwald zu einem Roman auszuarbeiten. In den ersten vier Monaten des Jahres 1955 schrieb er ca. 60 Seiten des Anfangs, die er beim Berliner Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbands (DSV) einreichte, um ein Darlehen zu erhalten. Im Mai 1955 wurde der Antrag abgelehnt; man zweifelte an der Befähigung des Autors, den vorliegenden Stoff zu einem Roman gestalten zu können, und teilte ihm das auch umstandslos mit.73 Jedoch noch im gleichen Monat sollte Fritz Bressau, Lektor des Mitteldeutschen Verlags Halle (und später zeitweilig Verlagsleiter), dieses Typoskript lesen und Bruno Apitz bestärken, weiterzuschreiben.
Inwieweit die Darstellung von Kommunisten und ihres Widerstands im Kontext einer KZ-Thematik die Absage des DSV provoziert hatte, ist nicht nachweisbar. Apitz hatte in dieser Ersten Teilfassung die Rolle der kommunistischen Kapos als Akteure eines illegal organisierten Widerstands deutlich herausgestellt. Darüber hinaus hatte er die prekäre Zwangslage politischer Funktionshäftlinge während der Selektion und Ermordung von Häftlingen mit Giftinjektionen geschildert, bei denen sie einem SS-Arzt assistierten. Ebenso dürften Passagen als problematisch empfunden worden sein, in denen das Leiden und Sterben im Kleinen Lager von Buchenwald in drastischen Bildern beschrieben wird, das Ende 1942 abgesondert als Quarantäne- und Durchgangslager errichtet und Anfang 1945 zu einem überfüllten Sterbelager geworden war. Sie passten Mitte der fünfziger Jahre nicht in das DDR-offizielle Erinnerungsprogramm an die KZ, das auf die Darstellung des heroischen Kampfes einer international verbündeten antifaschistischen Widerstandsbewegung ausgerichtet war.
Im Laufe des Jahres legte Bruno Apitz seine Erste Teilfassung beiseite und entwickelte eine neue und inhaltlich veränderte Fassung. Am 5. Oktober 1956 unterzeichnete er einen Vorvertrag über seinen Roman, von dem bereits zwei Drittel geschrieben waren.74 Er entschied sich für den Arbeitstitel »Der Funke Leben«, der zweifelsohne eine direkte Bezugnahme auf Erich Maria Remarques gleichnamigen KZ-Roman bedeutete, der im Oktober 1952 in Westdeutschland erschienen war. Apitz kannte diesen Roman vermutlich über Westberliner Studenten, die er in dieser Zeit gelegentlich bei sich zu Hause empfing, um aus seinem Romanmanuskript vorzulesen und die Wirkung einzelner Szenen zu testen. Diese Treffen waren über eine Westberliner Bekannte zustande gekommen, die beim Berliner Friedensrat tätig war.
Ende 1956 war die Verlagsbetreuung von Bruno Apitz auf den dreißigjährigen Lektor Martin Gustav Schmidt übergegangen, der Apitz im Laufe des Jahres 1957 mehrmals in Berlin aufsuchte. Er las als Erster die vollständige Rohfassung des Romans, und in seiner Hand bündelte sich die Koordination der Berichtigungen und Korrekturen, bevor Anfang 1958 die Druckgenehmigung bei der zuständigen Hauptverwaltung Verlagswesen beim Ministerium für Kultur beantragt wurde. Der überaus respektvolle und freundschaftliche Umgangston ihrer Korrespondenz lässt auf eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung schließen. Noch vor der Veröffentlichung des Romans sah sich Martin G. Schmidt allerdings gezwungen, die DDR zu verlassen.75 Unter dem Namen Martin Gregor-Dellin wurde er in Westdeutschland später als Autor und Vorsitzender des westdeutschen PEN bekannt. Seine Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit Apitz veröffentlichte er 1987 in der Süddeutschen Zeitung.76 Darin kommt er auch auf seine Rolle als »literarischer Berater« zu sprechen, den Apitz »sofort« akzeptiert habe, und er berichtet von Schreibproblemen des Autors und dem Werdegang des Buches.
»Die Geschichten, die Apitz erzählte, waren erschütternd, weil sich ihre Wahrheit auch in einfachen Worten unmittelbar mitteilte. Deshalb ließ sich auch gegen einige heikle Szenen literarisch schwer etwas einwenden. Apitz sprach viel und verteidigte seinen Text, indem er ihn noch einmal erzählte. Passte man genau auf, so ergab sich daraus eine Verbesserung. Der eigentlich schwierige Teil der Arbeit am Manuskript setzte jeweils ein, wenn mir nach einem Vierteljahr ein neuer Manuskriptstoß vorlag und es ans Sprachliche ging, an die Streichung von Adjektiven, an die Beseitigung stilistischer Unmöglichkeiten. Manchmal mussten ganze Sätze fallen. Die Gefahr, dass hier der Lektor entweder versagte oder Opernhaftes stehen blieb oder dass es zum Bruch mit dem Autor kam, lag immer nahe. Blind geworden, überließ ich die Gegenlektüre zeitweilig einem Kollegen, der mich auch zwei- oder dreimal mit nach Berlin begleitete. Apitz empfing uns gewöhnlich auf der Straße: Er hatte gerade um die Ecke Schrippen gekauft.«77
Das literarische Urteil wie der Respekt des um eine Generation Jüngeren – »und obendrein aus dem Bürgertum stammenden Lektors« (Gregor-Dellin) – ermutigte Bruno Apitz, teilweise auch traumatisch lastende Erinnerungen literarisch zu verdichten und dafür Handlungs- und Erzählzusammenhänge zu finden. Gregor-Dellin bestätigt in seinen Erinnerungen, dass Apitz nach seiner Kündigung bei der DEFA völlig verarmt war. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit einer kleinen Rente, die ihm als »Verfolgter des Naziregimes« zuerkannt worden war. Der Roman entstand in bedrückender Mittellosigkeit:
»Im Norden Berlins in einer geräumigen, aber fast leeren Wohnung im obersten Stockwerk eines nicht ausgebombten Mietshauses [lebte er] damals allein. Wir saßen uns meistens, Kaffee trinkend, an einem großen Holztisch gegenüber, hinter ihm an der Wand ein beinahe leeres Regal, eine Tischlampe zwischen uns, mehr ist mir nicht in Erinnerung«.78
Zudem belasteten gesundheitliche Probleme die Arbeit am Roman. Wie die Textauswahl der Ersten Teilfassung zeigt, hatte das Schreiben Bruno Apitz auch mit konflikthaft beladenen Erlebnissen der KZ-Haft konfrontiert. Das führte zu neurologischen Störungen wie Krämpfen in der Schreibhand. Apitz versuchte zwar, auf Tonband zu sprechen, um den Gedankenfluss nicht stoppen zu lassen, jedoch kam er davon wieder ab. Er benötigte die schreibende Hand, und einige seiner Manuskriptseiten zeigen, wie akribisch er in mehreren Anläufen nach einer »richtigen« Formulierung suchte.
Während des Schreibens bahnten sich die traumatischen Erfahrungen der Lagerhaft durch das Eintauchen in die Erinnerungen ihren Weg an die Oberfläche. Apitz betäubte sie in Alkohol und, als zeitlebens starker Raucher, mit einem erheblichen Zigarettenkonsum. In Gregor-Dellins Erinnerung sah Bruno Apitz »spitz aus, grau, unglücklich, oft war er nervös […]. Aber er hatte keine Allüren. Er litt offenbar immer noch an den Folgen der langen Haft«79.
Eine andere Methode, sich seinen Erinnerungen anzunähern und sie in einen Gestaltungsprozess zu überführen, bestand darin, dass er sich aktiv in seine Figuren hineinversetzte, worin ihn eine Schauspielausbildung, die er als Zwanzigjähriger absolviert hatte, unterstützt haben dürfte. Seine zweite Ehefrau Marlis Apitz, die er während der Arbeit am Roman kennenlernte, erinnert sich, wie Bruno Apitz die Redeweise und den Gestus seiner Figuren – sowohl der SS als auch der Häftlinge – nachspielte. Bruno Apitz erläuterte später den Vorgang folgendermaßen: »Ein Schriftsteller muss auch ein Schurke sein können. Ich war auch der Reineboth, ich war auch der Kluttig. Wie soll ich denn einen Schurken darstellen, wenn ich nicht das schurkische Erlebnis in mir habe? Dann wird es ja nur Papier. Ich habe auch versucht, die Faschisten als Menschen darzustellen. Bloß als was für Menschen!« Und: »Wenn ich an die Szene ›Höfel im Bunker‹ denke, da war ich im Bunker, da war ich Höfel. Ich weiß noch, als ich diese Szene schrieb, dass ich sie während des Schreibens gespielt habe. Oder ich denke an die große Erzählung des Rose im Gestapo-Gefängnis zu Weimar, als er dem vorgestellten, dem fiktiven Gestapo-Kommissar von seinem Lagererlebnis erzählt, als er ihm das Lied vorsang ›Es steht ein Dörflein mitten im Wald‹. Da habe ich das Lied nicht nur gesungen, sondern bin im Zimmer umhergelaufen und habe das Lied gesungen. Da war ich Rose. Ich war jede meiner Figuren.«80
Die Einflussnahme von Buchenwalder Kommunisten
Mitte Februar 1957 hatte Apitz angekündigt, den Roman nicht vor Juni oder Juli 1957 abschließen zu können, da er das bisher Geschriebene »aus zwingenden Gründen« habe überarbeiten müssen.81 Um die Jahreswende 1956/57 war aus dem Kreis der ehemaligen Buchenwalder Häftlinge Kritik an der Darstellung der Hauptfigur, des Lagerältesten Walter Krämer, laut geworden. Dies veranlasste Apitz dazu, einige Eigenschaften dieser Figur auf eine neue zu übertragen, die er Herbert Bochow nannte. Das vorliegende Manuskript musste in diesem Sinn überarbeitet und erweitert werden.
Ende April äußerte Apitz, dass »die Geschichte dem Ende entgegengeht« und er »höchstens nur noch 50 bis 60 Seiten zu schreiben [habe], um das Buch abschließen zu können«82. Als er am 14. September 1957 dem Verlag weitere Manuskriptseiten zusandte, offenbarte er Schmidt gegenüber grundsätzliche Zweifel über das Ergebnis seiner Arbeit:
»Anbei Manuskript. Was ich noch zu schreiben habe, ist das letzte Kapitel, darüber sitze ich noch. Es war mir nicht möglich, früher zu beenden, da wieder so viel Störungen in den letzten Wochen dazwischen gekommen waren. Ich gebe mir trotzdem Mühe, die letzten – die allerletzten Seiten – bald abzuschließen. Ohne Ihrem Urteil vorgreifen zu wollen, muß ich sagen, daß mir nicht gefällt, was ich geschrieben habe. Es ist alles viel zu breit. [Herv. S. H.] Doch überlasse ich es der künftigen Überarbeitung. Hoffentlich sind Sie mir nicht bös, daß ich die letzten Seiten noch nicht fertig habe und hoffentlich überschreite ich nicht allzusehr Ihre Verlagstermine.«83
Das »letzte Kapitel«, mit dem Apitz kämpfte, betraf offensichtlich die Ereignisse rund um die Befreiung des Lagers. Dabei musste er zwar wenig erfinden, da der Ausgang der Handlung feststand – auch wenn ihm seine Erinnerungen an das Aussitzen der Befreiung im Schacht dabei kaum weiterhelfen konnten –, aber es war doch geraten, die Handlung auf eine Weise zum Abschluss zu bringen, die mit der Abfolge der Ereignisse, wie sie mit den bis dahin vorliegenden Publikationen von kommunistischer Seite wie dem »Bericht des Internationalen Lagerkomitees« von 1945 festgeschrieben war, nicht in Widerspruch geriet. Mit rotem Buntstift arbeitete er die betreffenden Seiten dieser Schrift durch, unterstrich dabei einzelne Sätze und notierte an den Rand eine Abfolge von Datumsangaben. Dasselbe tat er auf einigen Typoskriptseiten. Offensichtlich war er darauf bedacht, die Abfolge lagergeschichtlicher Ereignisse mit der bereits geschilderten Handlung in Übereinstimmung zu bringen. In der offiziellen Geschichtsschreibung zu Buchenwald galt der 11. April 1945 als der Tag der Selbstbefreiung der Häftlinge. Letztlich verzichtete Apitz aber darauf, die Handlung genau auf dieses Datum hin zu konstruieren, denn nach einigen Episoden »versandet« dieses Prinzip. Sein Unmut könnte sich auf die »Breite« bezogen haben, die ihm der Stoff auf diese Weise noch abzuverlangen drohte. Es scheint, dass Apitz sich zu einem Kompromiss durchrang und die Handlung zwangsläufig abkürzte.
Nur vierzehn Tage später, am 2. Oktober 1957, eine Stunde nach Mitternacht, erklärte er die Arbeit an seinem Manuskript für beendet. Wie nahe er sich dabei seinem Lektor fühlte, offenbart die handschriftliche Notiz:
»Lieber Kollege Schmidt. Es ist ein Uhr morgens. Eben habe ich das letzte Wort an meinem Buch geschrieben. 2½ Jahre harter Arbeit sind in dieser Stunde zu Ende gegangen. Mir ist das so unwirklich, dass ich es noch gar nicht begreife. Lassen Sie mich verschnaufen, bald schicke ich Ihnen den Rest. Ihr Bruno Apitz.«84
Wenige Tage später erreichte den Verlag die »letzte Sendung«: »Damit ist mein Buch nun endlich abgeschlossen.«85
In den folgenden fünf Monaten bis März 1958 wurde die Fassung durch weitere Überarbeitungsschritte nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich verändert. Apitz hatte die vom Verlag vorgenommenen Korrekturen zu bestätigen und konnte selbst eigene vornehmen. Am 7. Januar 1958 schreibt er: »Ich war bemüht, die Sprache vom Unkraut zu säubern. Es wird mir nicht in allem gelungen sein. Sicher wird sich später beim Korrekturlesen manches verbessern lassen. Hoffen will ich, dass das Verlagskollektiv mir keine großen Veränderungen abverlangt. Ich habe mich mit Abschluss des Buches bereits von ihm gelöst. Das ist ein Vorgang, der Ihnen als schöpferischem Menschen bekannt sein wird und Sie wissen, wie schwer es ist, zurückzukehren.«86
Jahre später verfasste Apitz über die Zusammenarbeit mit dem MDV eine handschriftliche Skizze. Sie lässt vermuten, dass er mit den abverlangten inhaltlichen Änderungen an seinem Manuskript nur schwer hatte leben können.
»Solange ich schrieb, war ich Gott meiner Welt, in die ich mir nicht hereinreden ließ. Aber, aber, nachdem der Gott die Welt erschaffen hatte, bemächtigten [sich] die Lektoren seiner Schöpfung und am 6. Tage sahen sie, dass sie – nicht gut war.
Das heißt, jeder Lektor sah die Schöpfung anders und daraus entsteht dann eine gefährliche Vielgötterei. Der gestürzte Gott wird zum armen Häschen, auf freier Wildbahn umstellt von seinen Häschern. Ihre Fangzähne und die gestreckten Zeigefinger: das stimmt nicht und jenes ist falsch, und dies musst du so schreiben, und das hier ist überhaupt unmöglich. Und wenn dann das arme Häschen wieder zurückverwandelt wird in Gott Autor, dann sitzt er dumpfbrütend vor den Trümmern seiner zerstörten Welt und denkt mit seinen Gedanken – nein, er denkt eben nicht mehr mit seinen Gedanken, sondern mit tausend fremden Gedanken, die die spitzen Zeigefinger [unleserl., S. H.] ins Gehirn gestochen.«87
Wie die Verlagskorrespondenz zeigt, protestierte Bruno Apitz in einigen Fällen gegen Streichungen des Verlags und beharrte auf liebgewonnenen Passagen: »Einigen Ihrer Vorschläge für Textänderungen konnte ich nicht folgen, da sie in meine inneren Bezirke vorstießen und hier dulde ich keine fremden Götter neben mir. (z. B. ›… auf das einst so fröhliche Herz gelegt …‹). Bitte, Kollege Schmidt, das bleibt!«88
Apitz war aber auch selbst noch mit der Überarbeitung ganzer Szenen beschäftigt. Zu den markantesten Eingriffen gehört die inhaltliche Umkehrung einer Szene über die Befreiung des Lagers. Ursprünglich hieß es, dass die auf den Wachtürmen befindlichen »Posten im ersten Schreck nach dem nahen Wald geflohen waren« (S. 474), als Pribula mit einem »Trupp« in einen der Türme eindrang. Allerdings musste somit die »Selbstbefreiung« der Häftlinge fragwürdig erscheinen, weshalb er die Aussage kurzerhand in ihr Gegenteil verkehrte: »Mit einem Trupp war Pribula in einen der Türme eingedrungen, im kurzen Handgemenge wurden die Posten überwältigt, und Pribula riss das Maschinengewehr herum und jagte wild jubelnde Salven auf die noch besetzten Türme.« Damit ließ sich freilich viel eindrücklicher das Kämpferische eines Häftlingsaufstands hervorheben. In diesem Sinne strich Apitz auch eine längere Passage, die flüchtende SS-Leute beschreibt (S. 447 f.).
Eine weitere einschneidende Veränderung betrifft die Streichung eines konkreten Zielorts für den Häftlingstransport, mit dem das Kind weitergeschickt werden sollte: Bergen-Belsen symbolisiert für Apitz den Ort, wo es kaum eine Überlebenschance für die Häftlinge gab. Von Walter Bartel hatte er sich jedoch dazu aufgefordert gesehen, diese Aussage zu glätten. In einem Brief vom 5. Februar 1958 an seinen Lektor schreibt er dazu:
»Prof. Bartel, der ehemalige Vorsitzende des ILK, macht folgenden Einwand gegen das Buch:
Die Parteiorganisation des Lagers bezieht in meiner Darstellung eine falsche politische Linie. Herbert Bochow, als markanter Vertreter der Partei, verlangt, dass das Kind nach Bergen-Belsen auf Transport und damit in den evtl. Tod geschickt wird. Die Partei also opfert das Kind.
Diesen Einwand habe ich mir überlegt. Er ist zum Teil berechtigt. Trotzdem belasse ich es bei der bisherigen Version, weil es mir darauf ankam, das Dschungelgesetz deutlich zu machen, unter dem wir ja schließlich alle standen und das uns zwang Handlungen zu begehen, die wir unter normalen Umständen vermieden hätten. [Herv. S. H.] Ich werde mir aber das Ms. (sobald ich es von Ihnen zurückerhalte) daraufhin noch einmal vornehmen und meine Aussage dahingehend abändern, dass ich die Gefahr einer missverständlichen Haltung des Herbert Bochow entschärfe.«89
Bruno Apitz tilgte in der Folge all jene Passagen, die auf den Lagerort Bergen-Belsen verwiesen. Hatte er bereits während der Arbeit an der Rohfassung mit anderen ehemaligen Häftlingen in Kontakt gestanden, dann war es nun vor allem der 1953 von seiner Partei gemaßregelte Walter Bartel, der in der Endphase des Schreibens zu einem Ratgeber wurde. Es war ganz in Bartels Sinne, dass ein Werk entstand, das den »roten« Kapos von Buchenwald ihr moralisches Ansehen zurückgab und in dem die schmerzlichen und beunruhigenden Aspekte der Vergangenheit überdeckt wurden.
Seit Winter 1956/57 – wenige Jahre nach jener als schmählich empfundenen politischen Ausgrenzung der Buchenwalder – fand sich um Walter Bartel eine Gruppe von Buchenwalder Kommunisten in dem Bemühen zusammen, eine gemeinsame Form ihrer Erinnerung an das KZ zu finden, das »Gedächtnis« an Buchenwald gewissermaßen in Gestalt eines Erinnerungs- und Dokumentenbands zu »homogenisieren«.90 Bruno Apitz und ein Kreis befreundeter Buchenwalder Künstler und Schriftsteller wirkten mit eigenen Beiträgen an dieser Dokumentation mit. Beide Werke – Roman und Dokumentation – hatten die Eröffnung der NMG Buchenwald im Herbst 1958 im Blick. Während der Roman sich so gut wie auf dem Weg zur Drucklegung befand, sollte die Dokumentation unter dem Titel »Buchenwald – Mahnung und Verpflichtung«91 erst 1960 verzögert erscheinen, da die SED-Führung um Ulbricht die ehemaligen kommunistischen KZ-Häftlinge weiterhin als potentielle Konkurrenz wahrnahm und deshalb das Projekt kurzerhand blockiert hatte.92
Die übliche Begutachtung des Manuskripts durch die Hauptverwaltung Verlagswesen beim Ministerium für Kultur hatte der Roman zügig durchlaufen, die Druckgenehmigung wurde am 3. April 1958 erteilt.93 Man war seitens der Kulturbehörden daran interessiert, den Roman zum V. Parteitag der SED erscheinen zu lassen. Zu einer Verzögerung kam es erst, als das »Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer« (KdAW) mit seinem Gutachten auf sich warten ließ.
Mit Robert Siewert und Richard Großkopf waren zwei ehemalige Buchenwalder mit der Begutachtung beauftragt worden. Siewert war Kapo eines Baukommandos gewesen und hatte 1950 nach einem Parteiverfahren wegen angeblicher Zugehörigkeit zur KPD-Opposition sein Amt als Innenminister von Sachsen-Anhalt verloren. Danach wurde er Abteilungsleiter im Ministerium für Aufbau (später Ministerium für Bauwesen). Großkopf war Funktionshäftling in der Pathologie gewesen und hatte im Lager die kommunistische Abwehrorganisation aufgebaut und geleitet. Nach 1945 war er in Berlin Inspekteur der Volkspolizei und Abteilungsleiter für das Pass- und Meldewesen, von 1951 bis 1961 beim Ministerium für Staatssicherheit im Range eines Obersts beschäftigt.94
Sie beabsichtigten zweifelsohne in ihren Stellungnahmen, den Roman zu befördern, waren aber vermutlich angehalten worden zu überprüfen, ob in Apitz’ Roman die Führungsrolle der KPD deutlich sichtbar herausgestellt worden war. Mit einigen Korrektur-Vorschlägen, die allerdings den Roman inhaltlich nicht mehr veränderten, fielen auch diese Gutachten positiv aus. Siewert bezog sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Streichung der Bergen-Belsen-Passagen, als er folgendes Urteil formulierte: »Mit den vorgesehenen Korrekturen zur Rolle der Partei wird es auch der Situation gerecht, wie sie in Buchenwald war.«95
Mit Blick auf die bevorstehende groß angelegte Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald im September 1958 gelang es dem Mitteldeutschen Verlag schließlich noch, die Erhöhung der Auflage von ursprünglich 8000 auf 10 000 Exemplare durchzusetzen. Ausgerechnet in der Neuen Deutschen Literatur, der Monatszeitschrift des Deutschen Schriftstellerverbands, der drei Jahre zuvor bezweifelt hatte, dass der Autor das Thema würde bewältigen können, erschien der erste umfangreiche Vorabdruck, der von einer biographischen Skizze eingeleitet wurde.96
Wie der Roman zu seinem Titel fand
Schwierig hatte sich bis zuletzt nur noch die Suche nach einem geeigneten Titel gestaltet. Bruno Apitz hatte sich bei Vertragsabschluss mit seinem Vorschlag »Du bist ein Mensch, beweise es!« nicht durchsetzten können, obwohl ihn auch sein Lektor Martin G. Schmidt favorisiert hatte. Den vom Verlag gefundenen Romantitel »Wall der Herzen« lehnte er als »süß und pathetisch« ab. Anfang Januar 1958 unterbreitete er dem Verlag entnervt eine Reihe reißerisch klingender Angebote:
»Ich suche krampfhaft nach dem Titel des Buches: ›Stunde des Zorns‹, ›Tag des Zorns‹, ›Geburt aus dem Tod‹, ›Das Bündel‹, ›Das Bündel Leben‹. Schmeckt irgendeiner davon?«97
Schließlich einigte man sich für die Beantragung der Druckgenehmigung auf einen weiteren seiner Vorschläge: »Steh gerade oder brich!«. Doch auch dieser Titel wurde von der Werbeabteilung des Verlags als »ungeeignet für den Verkauf« abgelehnt. In einer Dringlichkeitssitzung von Lektorat, Verlagsleitung und Werbeabteilung wurden zwei neue Titelvorschläge gefunden. Man überließ es dem Autor, zwischen »Wenn die Wölfe heulen« und »Nackt unter Wölfen« zu entscheiden. In einem Begleitschreiben hieß es, man hoffe nun einen Titel gefunden zu haben, »der einerseits hart und deutlich genug ist, um dem Inhalt zu entsprechen, und der andererseits eine gewisse Zugkraft besitzt, ohne ins Sentimentale abzugleiten«98. Bruno Apitz reagierte umgehend:
»Da ich aber weiß, wie schwer es ist und Sie sich auch in so großer Zeitnot befinden, meine ich, wir sollten – Nackt, wie wir unter Wölfen sind – die Diskussion abschließen.
In Gottes Namen also: ich bin mit dem zweiten Vorschlag:
›N a c k t u n t e r Wö l f e n‹
einverstanden.
Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe,
ich tu’s der Werbung nur zuliebe!«99
Als die erste Auflage von »Nackt unter Wölfen« in die Buchläden ausgeliefert wurde, war sie binnen kurzer Zeit vergriffen. Der sensationelle Erfolg überraschte Autor, Verlag und Behörden gleichermaßen.
Plötzlich berühmt
Der Romanerfolg machte Bruno Apitz in der DDR binnen weniger Monate zu einer prominenten Persönlichkeit und erhob ihn offiziell in den Rang eines bedeutenden Schriftstellers. Mit den Jahren wurde er wohlhabend genug, um sich im Alter – bei Erscheinen war er immerhin schon 58 Jahre alt – ein paar Träume von Wohlstand erfüllen zu können. Noch im Erscheinungsjahr erhielt Bruno Apitz für sein Werk den Nationalpreis 3. Klasse, eine der höchsten staatlichen Anerkennungen. Weitere Auszeichnungen und Würdigungen folgten. Für den DEFA-Film von 1963 erhielt er mit dem Filmkollektiv sogar den Nationalpreis 1. Klasse. Noch zu seinen Lebzeiten wurden Schulen, Straßen und ein Fischfangtrawler nach dem Autor benannt.
Bruno Apitz absolvierte unzählige Lesungen und war ein gefragter Gast und Redner bei kulturpolitisch bedeutsamen Ereignissen. Er wurde Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin und des PEN-Zentrums Ost. Dass ihn die Erwartungen seiner ihm zugewachsenen Prominenz mitunter völlig überfordern mussten, vermitteln die Erinnerungen des Schriftstellers Stefan Heym, der mit Apitz im Februar 1959 die offizielle DDR-Delegation bei einem Internationalen Schriftstellertreffen in Indien gebildet hatte.100
Apitz’ Lebensweg als Proletariersohn, Kommunist, Verfolgter des Nazi-Regimes und Aktivist des kommunistischen Widerstandskampfs schuf zusammen mit seinem bescheidenen Auftreten und seiner hageren Gestalt ein Bild von besonderer moralischer Integrität und Glaubwürdigkeit. Es mag noch dadurch ergänzt worden sein, dass er kein hoher Funktionär der SED war und somit nicht als Vertreter der politischen Führungskaste galt. So berichtete das Leuna-Echo im Mai 1961 von einer Begegnung von Bauarbeitern mit dem Schriftsteller, der scherzend gesagt habe: »Ja, ich habe eine Bügelfalte, aber nur in der Hose, nicht aber in meinem Herzen.«101
Schließlich nahm er auch als DDR-Repräsentant an deutsch-deutschen Schriftstellertreffen teil.102 Mitunter ging es dabei turbulent zu. Als er im Oktober 1962 bei einer Lesung in Dortmund, die eine linke westdeutsche Jugendorganisation organisiert hatte, vom Podium weg verhaftet und über die deutsch-deutsche Grenze abgeschoben wurde, dürfte seine Überzeugung, es handle sich beim westdeutschen Staat um ein neofaschistisches Regime, einmal mehr bestätigt worden sein. Das Publikum habe, so wird berichtet, sich schützend um Apitz gestellt. Als man nicht verhindern konnte, dass er abgeführt wurde, sei ihm noch ein Strauß roter Nelken und eine Grubenlampe der Dortmunder Kohlekumpel überreicht worden.103 Der Verhaftung folgte der Protest des DSV, und die DDR-Berichterstattung bemühte fragwürdige Vergleiche mit Apitz’ Roman: der Autor sei »›nackt unter die Wölfe geraten‹«104. Auch Apitz sah sich durch solche Erlebnisse in seinem Urteil über den anderen deutschen Staat bestätigt und ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, die Art, wie die westdeutsche Polizei ihn behandelte, mit jener der Nazis zu vergleichen. Bereits 1958, anlässlich der Einweihung des Buchenwald-Denkmals, hatte er geschrieben: »Der Faschismus ist in der Welt noch nicht überwunden. Er dokumentiert sich nicht nur in den noch lebenden Mördern, von denen in allerneuester Zeit sogar einer durch die westdeutsche CDU [sic!] als ›Volksvertreter‹ für die kommende Landtagswahl nominiert wurde […],105 er dokumentiert sich besonders darin, daß der Restkapitalismus von Tag zu Tag immer offener die gleiche Fratze enthüllt, die schon einmal und in nackter Grausamkeit jenen sichtbar war, die ihr in den Konzentrationslagern ins Auge sehen mußten. Der Schwur, den die Buchenwalder Antifaschisten […] ablegten, gilt darum noch heute«106.
Der Roman machte Bruno Apitz zum offiziellen Akteur im geschichtspolitisch ausgetragenen Systemkonflikt: Neben namhaften Schauspielern wie Ernst Busch und Helene Weigel, Künstlern und Schriftstellern wie Fritz Cremer, Stephan Hermlin und Alexander Abusch wirkte er 1965 an der von der Ostberliner Akademie der Künste veranstalteten Lesung von Peter Weiss’ Dokumentarstück »Die Ermittlung« mit.107
Die Entdeckung des »Buchenwaldkindes«
Zur ungewöhnlichen Wirkungsgeschichte des Romans gehörte es, dass Bruno Apitz im Februar 1964 unter Blitzlichtgewitter im Weimarer Hotel Elephant mit einem dreiundzwanzigjährigen israelischen Staatsbürger namens Stefan Jerzy Zweig zusammentraf, der mit seinem Vater Dr. Zacharias Zweig im April 1945 im KZ Buchenwald befreit worden war. »Der Junge aus ›Nackt unter Wölfen‹ lebt«, titelte die »B.Z. am Abend« am 3. Februar 1964, die die Frage vieler Romanleser nach dem weiteren Schicksal des polnischen jüdischen Kindes aufgegriffen hatte.108
Eine Korrespondentin hatte schließlich in Tel Aviv den Vater Zacharias Zweig aufgespürt, der bestätigte, dass sein damals vierjähriger Sohn tatsächlich im KZ Buchenwald von deutschen Kommunisten beschützt worden war. »Nackt unter Wölfen« galt von nun an für Generationen von Lesern als die Beschreibung seiner Überlebensgeschichte im KZ Buchenwald. Stefan Jerzy Zweig wurde zum »Buchenwaldkind« der DDR. Im Zuge des DDR-Besuchs von Zweig veröffentlichte die »B.Z. am Abend« in einer Sonderausgabe den bis in die Halbsätze hinein bearbeiteten und gekürzten Erinnerungsbericht des Vaters über die Deportation der Familie Zweig, den er (ohne Kenntnis des Apitz’schen Romans) im Januar 1961 verfasst hatte. Getilgt waren jene Passagen und Formulierungen, die Fragen nach der sozialen Schichtung des Lagers, der Stellung der Häftlingsfunktionäre sowie nach dem Verhältnis zwischen Häftlingen und SS aufwarfen.109
Stefan Jerzy Zweig war am 5. August 1944 mit seinem Vater, aus einem Arbeitslager in Polen kommend, in das KZ Buchenwald eingeliefert worden; Mutter und Schwester wurden in ein Außenlager bei Leipzig gebracht und von dort nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Vater und Sohn waren offiziell registrierte Häftlinge, die nach ihrer Ankunft getrennt wurden. Unter den SS-Führern wie bei den politischen Inhaftierten habe das Eintreffen solch eines kleinen Kindes einiges Aufsehen erregt, berichtete Zacharias Zweig:
»Als unter den SS-Männern die Nachricht bekannt wurde, dass sich im Transport ein Kind befand, gab es bei ihnen Bestürzung. Ich schaute auf sie und sah ihre Verwunderung. Sofort verbreitete sich auch im Lager die Nachricht, dass sich unter den Angekommenen ein Kind befand. Die Häftlinge wollten das Kind sehen und schauten es durch die Stacheldrähte an.«110
Einige Wochen nach der Ankunft erhielt der Vater die Erlaubnis, seinen Sohn an Sonntagen in seiner Unterkunft bei deutschen Kommunisten zu besuchen.
»Ich traute meinen Augen nicht! Mein Kind war sehr schön angezogen. Es trug einen extra für ihn zugeschnittenen und in den Werkstätten für Häftlinge genähten Anzug. Es hatte eine gut zugeschnittene Bluse aus neuem Stoff, dunkelblau mit weißen Streifen, an. Es trug kurze Höschen und extra für ihn angefertigte neue Schühchen. Als ich kam, war es mit Spielzeug beschäftigt.«111
Mehrmals gelang es deutschen Kommunisten, Stefan aus gefährlichen Situationen zu retten. Seit August 1944 gab es einen Befehl der SS-Führung, alle nicht arbeitsfähigen Juden auszusondern und in die Vernichtungslager zu deportieren. Offensichtlich forderten einige SS-Führer, auch den Jungen wegzuschicken. Sein Name stand daraufhin mit 200 weiteren Kindern und Jugendlichen auf einer Liste für einen Transport nach Auschwitz, der das Lager am 26. September 1944 verlassen sollte. Stefan Jerzy Zweig wurde kurz vor Abfahrt des Zuges in den Häftlingskrankenbau beordert, wo ihn ein SS-Arzt erwartete. Dem Jungen wurde eine Fieber auslösende Spritze verabreicht, die ihn plötzlich krank werden ließ, womit er als »nicht transporttauglich« galt.112 »In letzter Minute«113 wurden insgesamt zwölf Jungen aus diesem Transport gerettet, unter ihnen war Stefan Jerzy Zweig der jüngste. An die Stelle ihrer Namen wurden zwölf andere Namen eingetragen. Der Historiker Harry Stein vermutet, dass diese Änderungen auf die Initiative von politischen Funktionshäftlingen zurückgehen, die einen SS-Lagerarzt, sehr wahrscheinlich Dr. August Bender, zu diesem Eingriff bewegen konnten. »Wer die Entscheidung dazu in letzter Instanz traf, die in diesem exponierten Fall bestimmt vor der SS-Lagerführung vertreten werden musste, ist nicht belegt – wahrscheinlich war es jener SS-Arzt, der das Kind am Krankenbau übernahm und der offensichtlich mit den kommunistischen Kapos zusammenarbeitete.«114 Besondere Fürsorge um dieses Kind entwickelte der deutsche Kommunist Willi Bleicher, der die Funktion eines Kapos der Effektenkammer ausübte.115
Dass Stefan Jerzy Zweig die Befreiung des KZ Buchenwald im April 1945 erlebt hat, verdankt er vor allem dem Mut und der Besonnenheit seines Vaters, der sich, in den letzten Tagen vor dem Eintreffen der amerikanischen Befreier weitgehend auf sich allein gestellt, mit seinem Sohn zunächst in dem überfüllten Lagerareal des Kleinen Lagers, später im Hauptlager in einer Unterkunft deutscher politischer Häftlinge versteckt hielt.
Stefan Jerzy Zweig kehrte in jenem Februar 1964 unter dem Geleit von Willi Bleicher, der inzwischen ein westdeutscher Gewerkschaftsführer und SPD-Mitglied geworden war, an den früheren Lagerort zurück. Eingerahmt von seinen »Lagervätern«, lief er durch das Lagertor, und auch Bruno Apitz wird ihm, der 1945 zu klein war, um sich an etwas zu erinnern, von der Fürsorge der Häftlinge um sein Leben erzählt haben.
Dabei ist es gar nicht sicher, ob Bruno Apitz in Buchenwald genau mit diesem Jungen Kontakt hatte, ja ob er ihn überhaupt wahrgenommen hat. Einmal habe er einen Jungen in seinen Armen getragen, hat er später berichtet, wie sich Marlis Apitz, die Witwe des Autors, erinnert. So ließe sich auch erklären, weshalb in der Erinnerung von Bruno Apitz eine konkrete Schilderung etwa an eine Begegnung mit dem kleinen Stefan Jerzy Zweig oder einem anderen Kind nicht existiert. Etwa 900 Kinder und Jugendliche erlebten die Befreiung im KZ Buchenwald. Von einigen entstanden Fotoaufnahmen, darunter auch vom Jüngsten, einem dreieinhalbjährigen Jungen.
Das Auffinden von Stefan Jerzy Zweig, die Präsentation seiner »Lagerväter« und die Manipulierung der wirklichen Geschichte führten zu einem »Rezeptionsschub« und beförderten eine dokumentarische Lesart des Romans.116 Dazu hatte auch die Bereitschaft von Bruno Apitz beigetragen, bei Lesungen den Roman als getreue, wenn auch literarisch überformte Wiedergabe der Ereignisse und Verhältnisse in Buchenwald darzustellen. So sah sich Bruno Apitz nun damit konfrontiert, seiner Leserschaft erklären zu müssen, weshalb er seine Kind-Figur namens Stefan Cyliak zu einer Waise stilisiert und damit den Vater aus der Romanhandlung verbannt hatte. Er betonte dabei das Recht als Autor, Zusammenhänge erfinden zu können, die den Aussagegehalt seines Romans erhöhten wie im Falle der Rettung einer Waise, um so den »humanen Gehalt dieser Tat«117 zu erhöhen.
Mit der Zeit glaubte Apitz wohl selbst an die Wahrheit seiner erfundenen Geschichte, obgleich sie vieles von dem gar nicht mehr beinhaltete, was er tatsächlich erlebt und zunächst in einer frühen Schreibphase geschildert, aber im Laufe des Schreibens aus unterschiedlichen Gründen wieder getilgt hatte.
In den offiziellen Erinnerungen der kommunistischen Überlebenden blieben die Erfahrungen ihrer tragischen Verstrickung, der tatsächliche Preis des Überlebens, die Grenzen des Widerstands in einem willkürlichen Terrorsystem ausgeblendet. Man glaubte, auch in der Erinnerung und Vermittlung der Hafterfahrungen keine Schwäche zeigen zu können, das Heroische, Unbeugsame, Heldenhafte stand im Vordergrund. Die mit dem ideologisch geprägten antifaschistischen Geschichtsbild in der DDR vermittelte Vorstellung, dass deutsche politische und überwiegend kommunistische Häftlinge das Leben insbesondere ihrer ausländischen Mithäftlinge geschützt und gerettet haben, ist deshalb nur die halbe Wahrheit.
Die Tabuisierungen und Entkonkretisierungen im Geschichtsbild der DDR, von denen auch die offizielle Darstellung der Überlebensgeschichte von Stefan Jerzy Zweig geprägt war, blendeten im konkreten Einzelfall der Kindes-Rettung die realen Konflikte der Buchenwalder Kommunisten aus.
Verdrängendes Erinnern
Bruno Apitz hatte selbst einen Anteil daran, dass man ihm bzw. dem Roman verfälschende Tendenzen vorwerfen konnte, als nach 1990 jene Dokumente über die Buchenwalder Kapos ausgewertet werden konnten, von denen eingangs die Rede war.118 Dass er dennoch immer wieder versucht hatte, auch an die bitteren Konflikte, unter denen die kommunistischen Häftlinge agierten, zu erinnern, beweist u. a. jenes Interview, das er über fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des Romans im Zusammenhang mit dem Einführungsfilm der NMG Buchenwald »… und jeder hatte einen Namen« dem Regisseur Gerhard Jentsch gab. Apitz war der Einzige der befragten kommunistischen Buchenwald-Häftlinge, der auf existentielle Erfahrungen ihres Überlebenskampfes in der Lagerselbstverwaltung zu sprechen kam. Ausgerechnet er erzählte eingehend vom Nutzen der politischen Häftlinge für die SS-Lagerleitung, die auf den Sachverstand der Politischen setzte, um das »Lager immer schön in Ordnung zu haben«119. Er berichtete von elementaren Begegnungen mit dem Tod wie von den makabren Möglichkeiten, zusätzliche Brotrationen zu organisieren – »da kam es auf eine Scheibe Brot an, eine Scheibe Brot konnte einem Häftling das Leben retten. Wo nahmen wir die Scheibe her? Die nahmen wir von unseren Toten, d. h. bei der Bestandsmeldung, die wir ja täglich machen mussten, unterschlugen wir die Toten für den nächsten Tag. Die waren noch krank, aber waren eben schon tot. Und für sie bezogen wir dann die Brotration«120 –, und er erzählte von Mithäftlingen, die als Leichenträger im Auftrage der SS das Herausbrechen von Zahngold aus den Mündern der Leichname erledigen mussten. Weil solche Erinnerungsbruchstücke mit der Konzeption einer kommunistischen Widerstandsgeschichte kaum vereinbar waren, gelangten seine Schilderungen nicht in den Film.
Bereits in seinem frühen Lagerbericht »Leichen – 1945«121 hatte Apitz die Verwertung des Zahngolds von Häftlingsleichen detailreich beschrieben. Er sollte sie sinngemäß und teilweise sogar wortgetreu in seinen Roman aufnehmen. Jedoch wurde von solchen Stellen, z. B. bei der Behandlung des Romans im Deutschunterricht, ebenso abgelenkt wie von dem Dilemma der tragischen Verstrickung politischer Häftlinge in die innere Lagerverwaltung des KZ.
Episoden, die in der nun vorgelegten erweiterten Neuausgabe von »Nackt unter Wölfen« zum ersten Mal nachzulesen sind, wie jene über den SS-Lagerarzt »Papa Berthold« und den Lagerschutz (S. 19 ff.), verdeutlichen, dass der Widerstand deutscher Kommunisten im KZ zunächst viel ambivalenter dargestellt war.122
Apitz wollte nicht nur die Erfolge politischer Funktionshäftlinge bei widerständigen Aktionen herausstellen, sondern er wollte vor allem die zwiespältige Erfahrung ihrer Ohnmacht und ihres Ausgeliefertseins bei der Verrichtung der von der SS angeordneten Tätigkeiten zu einer Erzählung verdichten.
In den Berthold-Episoden wird die Kompromittierung der Lagerschutz-Häftlinge, die dem SS-Arzt bei einer Selektion und dem Giftmord an Häftlingen im »Block 61« zur Hand gehen müssen, als schamvoll erlebter Zwang durch ihre Lagerfunktion geschildert. Apitz hatte damit einem konkreten historischen Lagerort die reale Erfahrung namenlosen Sterbens und der Ohnmacht politischer Funktionshäftlinge eingeschrieben.
In der Buchfassung ist die Seuchenbaracke zum Zufluchtsort für das Kind geworden, ist ausschließlich sie das »Versteck im Fall der Gefahr«. (S. 261)
Wenn man bedenkt, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift der Berthold-Episoden die Aktivitäten des kommunistischen Widerstands in Buchenwald kritisch hinterfragt und sein moralischer Preis in parteiinternen Verfahren problematisiert wurde, lässt sich in dem Schreibimpuls, die Scham von in Zwangslagen verstrickter Funktionshäftlinge zu schildern, die Absicht zu einer emphatischen, »rettenden Kritik« erkennen. Allerdings waren gerade solche Schilderungen im offiziellen Geschichtsbild über den Buchenwalder Widerstand nicht erwünscht.
Noch während des Schreibprozesses entfiel darüber hinaus eine Häftlings-Figur: Der »Revierkapo« Karl Hellwig gehörte im ersten Entwurf ebenso wie der Lagerälteste der Widerstandsorganisation an – eine Konstellation, die in der Endfassung nicht mehr existiert. Es liegt die Vermutung nahe, dass Bruno Apitz mit dem Figurenpaar Hellwig und Krämer den beiden 1950 zu lebenslänglicher Haft im Gulag verurteilten Buchenwalder Kapos Ernst Busse und Erich Reschke ein literarisches Denkmal setzen wollte. Als er diese beiden Figuren schuf, war das Schicksal der aus dem Kreis der Buchenwalder Kommunisten Verschwundenen weitgehend unbekannt. Nachdem Reschke als gebrochener Mann 1955 in die DDR zurückgekommen war, musste selbst eine indirekte Bezugnahme auf einen im Gulag verschollenen Kommunisten problematisch erscheinen, und das könnte Apitz zur Streichung der Figur des »Revierkapos« bewogen haben. Im Laufe des Schreibens verschaffte er ihr in einer Nebenrolle und anonym dann doch noch einen kurzen Auftritt im Widerstandsgeschehen seines Romans.
Bei der Überarbeitung des ersten Entwurfs legte Bruno Apitz weiterhin den Akzent deutlich auf die Erfolge des Widerstands der Lagerfunktionäre. Dennoch zeigt der Roman noch immer die ethischen Konflikte von Funktionshäftlingen in der Schreibstube bei der Verschickung von Häftlingstransporten – wenn auch in abgeschwächter Weise gegenüber früheren Fassungen –, etwa wenn der Lagerälteste Krämer zu seinem Stellvertreter Pröll sagt: »manchmal denke ich, wir sind doch eine verdammt hartgesottene Gesellschaft geworden …« (S. 62) Ihre Lage ist als »schwere Last der Entscheidung zwischen zwei Pflichten« (S. 65) umschrieben: Krämer wehrt sich zunächst dagegen, die Transportliste zu manipulieren, damit das Kind zusammen mit dem Polen das Lager wieder verlässt. »Ich bin doch kein kalter Mörder!« (S. 68), entgegnet er dem deutschen ILK-Mitglied Herbert Bochow, der »die Partei in ihrer Lagerillegalität« (S. 42) verkörpert und damit politischer Leiter der deutschen Kommunisten ist. »Verlangt die Partei, dass ich ein Kind in den Tod schicke? Bergen-Belsen … Wer nach dort kam …«, ließ Bruno Apitz den Lagerältesten fragen. Wie die erweiterte Neuausgabe von »Nackt unter Wölfen« zeigt, sind diese deutlichen Worte von Krämers aufbegehrender Anklage vor der Drucklegung getilgt worden. Mit diesen Änderungen waren die prekären Erfahrungen der Lagerfunktionäre zwar geglättet, sie bleiben jedoch für die Gestaltung anderer Figuren und nicht zuletzt für den Handlungskonflikt der Geschichte, die Kindesrettung, bestimmend.
Während im frühen Entwurf ranghohe Lagerfunktionäre das Geschehen dominierten, stehen in der Druckfassung vielmehr die nichtorganisierten und untergeordneten Funktionshäftlinge im Mittelpunkt der Handlung. Eine differenzierte Analyse macht deutlich, dass der »effektive Widerstand« gerade von Häftlingen ausgeht, die dem ILK nicht angehören. Es ist »der systematische Disziplinbruch und nicht die Unterordnung unter die Gesetze der Partei«123, der zur Rettung des Kindes führt. Eigensinnigkeiten und Spezialkenntnisse verleihen diesen Häftlingsprotagonisten charakteristische Züge, sei es der findige Elektriker Schüpp, sei es der Krankenpfleger Erich Köhn oder Pippig mit seinem fröhlichen Mut. Apitz lässt sie Prüfungen bestehen und die SS überlisten. Es ist Pippig, der kurzerhand entscheidet, das Kind nicht wegzugeben, und der damit dem Zwiespalt seines Freundes Höfel ein vorläufiges Ende setzt. Apitz würdigte die politischen Lagerfunktionäre, indem er versuchte, sie zu individualisieren. Viele tragen die Namen von ermordeten Kommunisten wie Walter Krämer und Otto Runki.
In die schreibende Rückbesinnung auf die KZ-Haft hat Apitz seine eigenen unmittelbaren Erlebnisse in der Bildhauerei und der Pathologie nicht konkret einbezogen. Die dort gemachten Erfahrungen passten möglicherweise nicht in sein ursprüngliches Konzept, anhand der von der SS begangenen Verbrechen die kompromittierenden Erfahrungen wie auch den Widerstand von Funktionshäftlingen aufzuzeigen. Dennoch ließ er Aspekte seiner persönlichen Überlebensstrategie und die Erinnerung an bestimmte Begebenheiten und traumatisch wirkende Ereignisse in die Gestaltung seiner Figuren und der Geschehnisse einfließen.
So überrascht es nicht, dass gerade die eindringlichsten Romanszenen auf einer solchen Erfahrung basieren: Im Herbst 1944, als Apitz an der Plastik »Das letzte Gesicht« arbeitete, hatte er erlebt, wie über mehrere Wochen hinweg kommunistische Lagerfunktionäre teilweise mehrmals von der Weimarer Gestapo zu Verhören abgeholt wurden, weil man die Führung der illegalen KPD-Leitung aufspüren wollte. Ein Häftlings-Spitzel hatte Teilnehmer zweier konspirativer Gedenkfeiern verraten. Am 18. September hatte auch Apitz an einer Feier für den ermordeten KPD-Führer Ernst Thälmann teilgenommen: Hinter einem Vorhang stehend, hatte er feierliche Musik auf seiner Violine gespielt. Er muss die folgenden Wochen in Unruhe und Angst durchlebt haben, dass die Verhafteten – unter ihnen ihm nahestehende wie Willi Pippig – den Misshandlungen der Gestapo nicht standhalten könnten und so auch sein Name genannt würde. Ganz offensichtlich beruht seine Schilderung der Verhaftung von Effektenkammer-Häftlingen (Höfel, Kropinski, Pippig, Rose) wie auch der Befürchtung des politischen Leiters Bochow, Höfel könne den Qualen der Folterungen erliegen und die Mitglieder der Widerstandsorganisation verraten, auf diesem Geschehen.
Motivwahl und Figuren offenbaren damit – in der erweiterten Neuausgabe noch stärker als zuvor – die zentrale Schreibmotivation von Apitz: das Plädoyer für eine mitfühlende und einsichtsvolle Haltung gegenüber jenen Kommunisten, die im »Dschungel« des Überlebenskampfes im KZ Buchenwald Lagerfunktionen übernommen hatten und deren Widerstand auch er es letztlich verdankte, die Befreiung nach acht Jahren KZ-Haft erlebt zu haben.