Harmoniebedürftig oder die Angst, mit der Kritik
anzuecken
Als Harmoniebedürftige möchten wir das, was uns
stört, am liebsten loswerden, ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Wir möchten über das, was uns nervt, nicht reden. Jedenfalls nicht
direkt mit denen, die uns nerven. Sich hintenrum bei Dritten
beklagen, das geht noch. Aber den Nervbolzen direkt konfrontieren?
Nein, bitte nicht.
Wir wollen, dass alle sich gut verstehen und dass
nichts diesen Frieden stört. Wir wollen uns nicht streiten. Wir
wollen nichts kritisieren und auch nicht kämpfen. Wir wollen nur
eins: mit allen unseren Mitmenschen gut auskommen.
Manchmal werden wir auch harmoniesüchtig
genannt, aber der Begriff der Sucht erscheint mir zu hart. Das
friedliche Miteinander in netter Atmosphäre – das ist ein wichtiges
Bedürfnis für uns. Ein dringendes Bedürfnis. Aber sind wir deshalb
schon süchtig? Nein, wir sind nicht süchtig. Wir sind Könner. Wir
haben eine große Kompetenz.
Als Harmoniebedürftige sind wir wahre
Meister/innen in der Kunst der Entspannungspolitik. Wir können
Frieden schaffen ohne Waffen. Mit ein paar humorvollen Worten
besänftigen wir beispielsweise die Streithähne am Frühstückstisch.
Mit einer einfühlsamen Ansprache beruhigen wir den gereizten Chef.
Unsere gute Laune überdeckt die muffelige Stimmung im Büro. Wir
finden nette Worte, um anderen aus einer peinlichen Situation zu
helfen.
Wir sind die wandelnden emotionalen Klimaanlagen.
Wir filtern
ständig dicke Luft und verbreiten Wohlgefallen. Und dabei fallen
wir niemandem zur Last. Was für eine Leistung!

Für einen harmoniebedürftigen Menschen ist es
wichtig, Folgendes zu lernen: dicke Luft auszuhalten, ohne gleich
alles wieder auszubügeln. Nein zu sagen, ohne sich dafür zu
entschuldigen.
Ich meine, jedes Büro, jede Firma braucht solche
wandelnden Klimaanlagen. Wenn die fehlen, wird es eisig. Und ich
bin auch der Meinung, dass die harmoniebedürftigen Mitarbeiter
/innen für ihre täglichen Entspannungsbemühungen einen
Sonderzuschlag auf ihr Gehalt verdienen.
Ja, ich finde, Harmoniebedürftigkeit ist keine
Schande, sondern ein Vermögen.
Das explosive Hobby der Rabattmarkensammler
Jetzt schauen wir uns das leichte Defizit an, das
wir leider auch haben: Wir können schlecht sagen, was uns stört.
Nein, das stimmt nicht ganz. Wir können sagen, was uns
stört. Wir können andere kritisieren. Wir tun es nur nicht. Wir
fürchten, mit unserer Kritik anzuecken. Wir glauben, die schöne
Stimmung sei hinüber, wenn wir laut aussprechen, was uns stört. Für
uns ist ein kritisches Feedback die Vorstufe zum Streit. Die
Zerstörung der Harmonie. Der Beginn der Trennung.
Wir glauben, dass wir uns mit einer direkten
Kritik auf jeden Fall unbeliebt machen. Und deshalb halten wir
lieber den Mund. Unser Schweigen wäre kein Problem, wenn da nicht
eine einfache Tatsache wäre. Und die lautet: Wir sind nicht
mit allem und jedem einverstanden. Wir sind von bestimmten Leuten
genervt. Uns stört etwas.

Sprechen Sie eine Störung frühzeitig an. Wenn Sie
das zu lange vor sich her schieben, wird es für Sie immer
schwerer.
Unser tiefes Bedürfnis nach Harmonie macht uns zu
potenziellen Rabattmarkensammlern. Rabattmarken sammeln – das
klingt vielleicht harmlos, ist aber ein durchaus explosives
Hobby.
Wenn Sie, wie ich, ein wenig harmoniebedürftig
sind, kennen Sie das, was jetzt kommt.
Beim Rabattmarkensammeln geht es nicht um die
Bonuspunkte, die wir beim Einkaufen bekommen und die wir irgendwann
in ein Salatbesteck umtauschen können. Nein, hier geht es um
seelische Rabattmarken. Das sind all die kleinen Störungen, die uns
nerven, die wir aber nicht ansprechen.
Wir Rabattmarkensammler kennen die inneren
Verrenkungen, die wir machen, um uns nicht anmerken zu lassen, wie
sehr wir genervt sind. Und wir wissen auch, was sich in uns
aufstaut.
Als Rabattmarkensammler/in wirken wir nach außen
hin beinahe feuerfest. Alle glauben, wir seien so strapazierfähig
wie ein alter Steinfußboden.
Wir zicken nicht gleich herum. Wir sind nicht
launisch. Wir verbreiten eine optimistische Freundlichkeit. Aber
wie es in unserer Seele wirklich aussieht, das wissen nur wir
allein.
Innerlich sind wir Harmoniebedürftigen sehr
empfindsam und keinesfalls so robust und strapazierfähig, wie wir
wirken. Wir registrieren jede kleine Störung sehr genau. Wir spüren
sehr deutlich, was uns ärgert. Wir fühlen sehr intensiv jede
Enttäuschung und jede Kränkung.
Wir sagen nichts, weil wir keinen Aufruhr
veranstalten wollen. Und jetzt kommt das Aber: Wir vergeben
und vergessen die Ärgerpunkte auch nicht. Also sammeln wir still
und heimlich unsere Rabattmarken. Wir merken uns die Vergehen
unserer Mitmenschen. Wir führen genau Buch über all die Opfer, die
wir bringen, damit die Harmonie nicht gestört wird.
Szenen einer Partnerschaft oder wie Rabattmarken gesammelt werden
Schauen wir uns an, wie das Rabattmarkensammeln im
Alltag abläuft. Hier eine Geschichte aus dem Leben einer
Rabattmarkensammlerin.
Schatz ist der liebste Mensch auf der Welt. Aber
der Mann hat so seine Angewohnheiten. Als gute
Rabattmarkensammlerin akzeptiert sie (scheinbar) die
Schrulligkeiten ihres geliebten Partners. Schließlich will sie den
liebsten Menschen auf der Welt nicht vergraulen mit kleinlichen
Streitereien um Ordnung und Sauberkeit.
Nein, Schatz ist nicht ganz perfekt. Zum Beispiel
hinterlässt er jeden Abend kleine Spritzer auf dem
Badezimmerspiegel, nachdem er seine Zähne vorbildlich mit Zahnseide
gereinigt hat. Gut, er könnte natürlich diese Spritzer schnell
wegwischen, bevor sie auf dem Spiegel antrocknen. Macht er aber
nicht.
Und was tut jetzt unsere Rabattmarkensammlerin?
Sie wischt Abend für Abend den Spiegel wieder sauber. Zu ihm sagt
sie nichts, denn es ist doch wunderbar, einen Partner zu haben, der
seine Zähne so gut pflegt. Warum sich aufregen über ein paar
Spritzer auf dem Badezimmerspiegel?
Dass sie den Spiegel immer wieder sauber macht,
ist Schatz nie aufgefallen. Das muss ihm auch nicht auffallen, denn
er bekommt von ihr jedes Mal klammheimlich eine Rabattmarke
geklebt.
Schatz bekommt von ihr auch eine Rabattmarke, wenn
er nach Hause kommt und seine Jacke einfach irgendwo in der Wohnung
fallen lässt. Stumm räumt sie seine Jacke für ihn weg. Er hört von
ihr höchstens eine kryptische Bemerkung, wie etwa »Glaubst du, wir
hätten einen Butler?«. Das ist eine von diesen Andeutungen, die er
sowieso nie ganz verstanden hat und die er deshalb mit einem
Brummen beiseitelegt.
Dann bekommt er noch eine Rabattmarke im
XXL-Format, weil er die neue, teure Edelstahlpfanne versaut hat. Er
wollte in einem Anfall von Kochkreativität ein Risotto darin
zubereiten. Sie hat ihn mehrfach darauf hingewiesen, dass man ein
Risotto im Topf kocht und zwar unter ständigem Rühren. Aber er hat
unbeirrt mit seinem Bratpfannen-Risotto weitergemacht und das auch
noch ohne ständiges Rühren. Ergebnis: Alles ist angebrannt.
Am Ende war sie es, die versucht hat, die teure
Edelstahlpfanne durch langes Schrubben zu retten. Ja, sie hat
geflucht, aber nur leise in der Küche. Dafür hat er von ihr eine
dicke Marke bekommen. Und dann sind da noch diese teuren
Fachzeitschriften, die er immer kauft und die nur in der Wohnung
herumliegen. Und dann noch sein nächtliches Schnarchen, das er
immer abstreitet.
Die beiden sind wirklich ein harmonisches Paar –
das sagen alle Freunde und die ganze Verwandtschaft. Auch Schatz
glaubt, dass die Beziehung gut läuft, denn sie beklagt sich
nicht. Irgendwie ist er ganz glücklich. Seine Frau ist keine von
diesen anstrengenden Meckertanten, die ständig an ihrem Partner
herumnörgeln. Er hat eine Frau, die gutmütig und ausgeglichen
ist.
Was passiert, wenn das Rabattmarkenheft voll ist
Und dann kommt es, wie es kommen muss: Der Tag, an
dem ihr inneres Rabattmarkenheft voll ist. Der Tag der Abrechnung.
Es beginnt mit dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
bringt.

Aufgestauter Ärger: Wenn das Rabattmarkenheft
voll ist,
wird es explosiv
wird es explosiv
Ihre Mutter feiert einen runden Geburtstag. Aber
er will unbedingt Fußball gucken und weigert sich, mit ihr zu der
Familienfeier zu gehen. Er findet, sie könne dort auch allein
hingehen. Aber sie will unbedingt, dass ihr Schatz mitkommt.
Wozu hat man schließlich einen Partner? Ja, um auf
den Familienfeiern nicht mehr allein aufzukreuzen.
Schatz sagt Nein und hat es sich auf der Couch
bereits gemütlich gemacht. In zehn Minuten beginnt das
Länderspiel.
Da platzt ihr der Kragen.
Sie hat diesem Mann alles hinterhergetragen. Sie
hat für ihn geputzt und gewischt und dazu noch jede Nacht sein
Schnarchen ertragen. Und jetzt bittet sie ihn um diesen kleinen
Gefallen. Er soll doch nur mit zu der Geburtstagsfeier kommen. Und
was macht dieser Egoist? Er will lieber Fußball gucken.
Das kann doch nicht wahr sein!!!
Sie schreit ihn an, beschimpft ihn mit den
übelsten Ausdrücken. Und er? Er sitzt auf dem Sofa und versteht die
Welt nicht mehr.
Was ist los? Hat sie einen Nervenzusammenbruch?
Oder sind das schon die Wechseljahre? Ist sie noch ganz dicht? Er
hat überhaupt nichts gemacht und wird von ihr so angebrüllt! Sie
löst derweil ihr ganzes inneres Rabattmarkenheft auf.
Er kapiert überhaupt nicht, was die Tatsache, dass
er lieber das Fußballspiel sehen will, mit den Zahnpastaspritzern
auf dem Badezimmerspiegel zu tun hat. Und wieso beschwert sie sich
darüber, dass er seine Jacke nicht ordentlich aufhängt? Und jetzt
kommt sie auch noch mit dem verunglückten Risotto. Dieses kleine
Malheur ist vor über einem Jahr passiert! Was hat das alles
miteinander zu tun? Und wieso behauptet sie jetzt, er wäre
rücksichtslos und egoistisch.
Für ihn ist sie einfach nur hysterisch. Das sagt
er ihr auch in einem energischen Tonfall. Woraufhin sie sofort
kontert, dass er nicht zuhört und sie auch nicht ernst nimmt.
Kann man mit so einem Mann unter einem Dach leben?
Sie hat die Nase gestrichen voll. Und er? Er findet sie einfach nur
schrecklich. Scheinbar muss er jetzt der Sündenbock für ihren
gesamten Frust sein. Aber das lässt er nicht auf sich sitzen.
Die beiden haben den heftigsten Streit seit Beginn ihrer
Partnerschaft.

Warnung
Das Runterschlucken von Kritik kann zu einem
echten Beziehungskiller werden.
Das Rabattmarkensammeln beschränkt sich
keinesfalls nur auf Paarbeziehungen. Wer stumm bleibt, obwohl ihn
etwas stört, der wird dieses Muster auch am Arbeitsplatz, im
Freundeskreis, mit den Nachbarn, den eigenen Kindern oder Eltern
praktizieren. Wobei es bei den meisten Harmoniebedürftigen einen
Bereich gibt, in dem sie besonders viel unter den Teppich kehren
und einen anderen Bereich, in dem sich die Betreffenden eher
trauen, eine Störung zumindest vage anzudeuten.

Strategie: Erkennen Sie sich selbst oder
sammeln Sie auch heimlich Rabattmarken?
Hier kommt eine Liste der typischen
Verhaltensweisen von Rabattmarkensammlern. Prüfen Sie, ob einer
oder mehrere dieser Punkte auf Sie zutreffen.
• Es kommt vor, dass ein vertrauter Mensch etwas
tut oder sagt, das Sie stört. Aber um die Stimmung nicht zu
verderben, lassen Sie sich nichts anmerken.
• Die Fehler, Unhöflichkeiten und Grobheiten
anderer Menschen können Sie sich gut merken. Andere bekommen gar
nicht mit, dass Sie dieses Fehlverhalten innerlich
abspeichern.
• Statt eine Störung direkt mit dem Betreffenden
zu besprechen, beschweren Sie sich darüber bei anderen
Leuten.
• Das Wort harmoniebedürftig trifft durchaus auf
Sie zu.
• Sie wirken auf andere Leute meistens
ausgeglichen und Sie sind auch ein wenig stolz darauf, dass Sie
nicht zu den Meckerfritzen oder Zimtzicken gehören.
• Sie merken immer wieder, dass Sie innerlich
sehr empfindsam sind, obwohl Sie das nach außen hin nicht
zeigen.
• Wenn Sie etwas nervt, machen Sie ironische
Bemerkungen, um damit indirekt zu sagen, dass Sie nicht
einverstanden sind.
• Tief in Ihrem Inneren sind Sie manchmal
verdammt wütend, weil Sie häufig zurückstecken und sich
anpassen.
• Es gibt Situationen, da nervt Sie das Verhalten
Ihres Gegenübers so sehr, dass Sie auf der Stelle ausrasten
könnten. Sie fangen an, dieser Person aus dem Weg zu gehen.
Falls Sie zwei oder mehr Treffer haben, könnten
Sie zur Spezies der Rabattmarkensammler gehören.

Der Zündfunke und der große Knall
Vielleicht fangen Sie jetzt an, Ihre freundlichen
Mitmenschen mit anderen Augen zu betrachten. Könnten all diese
lieben Leute in Ihrer Umgebung in Wirklichkeit Rabattmarkensammler
sein?
Was geht in dem netten Pförtner vor, der immer so
freudestrahlend »Guten Morgen!« ruft und der jeden Tag die
Zigarettenkippen vor der Eingangstür klaglos wegfegt? Wird er
irgendwann mit einer abgesägten Schrotflinte in der Firma Amok
laufen?
Und was ist mit Ihrer zuvorkommenden Nachbarin?
Die Frau, die sich nie über das Kindergeschrei beschwert, die gern
bei Ihnen die Blumen gießt, wenn Sie im Urlaub sind,
und die immer ein paar nette Worte für Sie hat. Wird diese Frau
irgendwann vor Wut explodieren und die Briefkästen
demolieren?
Das Problem ist, dass Sie ein volles
Rabattmarkenheft bei anderen Leuten nicht erkennen können. Nur von
innen her kann der Betreffende selbst fühlen, wie sich in ihm all
die kleinen Frustrationen zu einem großen Klumpen Wut
zusammenballen.
Es gibt Rabattmarkensammler, die vor dem großen
Knall leicht gereizt sind. Aber die meisten Rabattmarkensammler
können bis zum Schluss eine nette Fassade aufrechterhalten. Und
dann kommt diese berühmte Kleinigkeit, die das Fass zum Überlaufen
bringt.
Wenn nette Menschen plötzlich durchdrehen und aus
heiterem Himmel die Scheidung einreichen, spontan kündigen, einen
Schlussstrich ziehen oder alles in Grund und Boden stampfen, dann
hat das oft nur eine Ursache: Sie haben jahrelang das Störende
unter den Teppich gekehrt.
Für die Umwelt ist so ein plötzlicher Ausbruch oft
ein Rätsel. Es war doch nur eine Kleinigkeit. Wie kann man da so
aufbrausend reagieren?
Und genau das bereut der Rabattmarkensammler auch.
Der Betreffende fühlt sich nach der Explosion doppelt schlecht.
Einmal, weil er das zerstört hat, was ihm so wichtig war: die gute
Beziehung. Und zum anderen, weil er sich so verhalten hat, wie er
eigentlich nie sein wollte: aggressiv und unbeherrscht.
Was wirklich hilft: Ändern Sie Ihre Denkweise
Lassen Sie uns an dieser Stelle realistisch sein.
Einfach so, aus dem Nichts heraus, ändern wir Rabattmarkensammler
uns nicht. Jedenfalls nicht, solange wir unseren inneren
Überzeugungen treu sind. Denn es sind unsere inneren Überzeugungen,
die uns dazu veranlassen, lieber zu schweigen, als unseren Unmut
laut auszusprechen. Deshalb ist es für uns Rabattmarkensammler sehr
wichtig, uns bewusst zu machen, woran wir im tiefsten Herzen
glauben. Hier kommt jetzt eine Übersicht, die Ihnen dabei
hilft.
Raus aus den Hemmungen!
Ändern Sie Ihre Überzeugungen und trauen Sie sich,
anderen Leuten zu sagen, was Sie stört.
Alte Überzeugungen, die das Ansprechen von Störungen erschweren | Neue Überzeugungen, die das Ansprechen von Störungen erleichtern |
Sie reden nicht gern lange herum. Bevor Sie Ihre Mit menschen auf einen Fehler hinweisen, bügeln Sie die Sache schnell selbst aus. | Reden lohnt sich. Nur wenn Sie deutlich sagen, was Sie stört, wissen Ihre Mitmen schen, was mit Ihnen los ist. Und erst dann können die anderen auf Sie Rücksicht nehmen. |
Sie wollen nicht negativ sein und ständig an allem und jedem herummeckern. | Das Störende anzusprechen ist nicht negativ, sondern positiv. Damit steuern Sie auf eine Verbesserung zu. |
Alte Überzeugungen, die das Ansprechen von Störungen erschweren | Neue Überzeugungen, die das Ansprechen von Störungen erleichtern |
Sie sind überzeugt davon, dass man sich mit Kritik keine Freunde machen kann. | Freundschaften und Beziehungen gehen nicht kaputt, weil ehrliche Worte gesagt werden. Sie sterben am unheilvollen Schweigen. |
Sie möchten auf keinen Fall eine keifende Meckerziege oder ein nörgelnder Miesepeter sein. | Sie meckern und nörgeln nicht, wenn Sie anderen Menschen klar sagen, was Sie stört. Ihre sachliche Kritik ist aufbauend und hilft Ihrem Gegenüber. |
Kritik ist in jedem Fall unan genehm für den, der sie einstecken muss. | Ihre Kritik kann eine echte Aufbauhilfe sein, die andere Leute weiterbringt. Sach liche Kritik ist niemals verletzend oder respektlos. |
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Zu jeder
guten Beziehung gehört auch das Nein. Also nicht nur Ja sagen,
sondern auch Grenzen setzen. Zeigen Sie Ihren Mitmenschen, was
Ihnen gefällt, aber drücken Sie auch deutlich aus, was Sie nicht
mögen.
Aber wie schafft man das als jahrelanger
Rabattmarkensammler? Wie kriegt man den Mund auf und spricht eine
Störung an? Wie bricht man mit der Gewohnheit, das eigene Unbehagen
unter den Teppich zu kehren?
Ich selbst war eine geübte Rabattmarkensammlerin
und brauchte einige Zeit, um aus diesem Verhaltensmuster
auszusteigen. Nein, was bei mir passierte, war kein großer Umbruch,
keine plötzliche Drehung um 180 Grad. Tatsächlich waren es viele
kleine Schritte, durch die ich aufhörte, Rabattmarken
zu sammeln. Es waren einfache, manchmal winzige Änderungen, die
mir leicht fielen.
Als Rabattmarkensammler fürchten wir, mit unserer
Kritik andere Leute zu verletzen und womöglich sogar die Beziehung
zu diesen Leuten zu zerstören. Deshalb sind für uns alle Tipps
unbrauchbar, die da lauten: Hau auf den Putz! Sag schonungslos
deine Meinung und kämpfe für dich. Nein, das ist für uns viel zu
viel Lärm. Zu viel Härte, zu viel Trennung. Die Frage, vor der
jeder Rabattmarkensammler steht, lautet: Wie kann ich das, was mich
stört, ansprechen, ohne dass es dabei böses Blut gibt? Die besten
Tipps, wie Sie und ich das hinbekommen, habe ich für Sie hier
aufgelistet.

Strategie: So finden Sie den Mut, eine
Störung anzusprechen
Ihre Störungsmeldung ist für alle eine Hilfe
Machen Sie sich Folgendes klar: Indem Sie deutlich
sagen, was Sie stört, tun Sie anderen Leuten einen Gefallen. Sie
lassen Ihre Mitmenschen nicht mehr im Dunklen herumtappen. Die
anderen kennen sich jetzt bei Ihnen aus. Das Rätselraten ist zu
Ende. Ihre Mitmenschen können jetzt auf Sie Rücksicht nehmen. Damit
verbessern Sie Ihre privaten und beruflichen Beziehungen.
Sprechen Sie die Störung an, solange sie noch
klein ist
Durch das Aufschieben wird aus einer kleinen
Störung ein riesiges Problem. Deshalb packen Sie die nächste
Gelegenheit beim Schopfe und reden Sie über das, was Sie
stört.
Machen Sie es einfach und undramatisch
Sie müssen nicht mit der Faust auf den Tisch
hauen. Sie können die Störung auch sanft ansprechen. Diese
Sanftheit ist nur für Sie selbst da – damit Sie sich dabei gut
fühlen. Hier ein paar Beispiele, wie Sie das praktisch hinbekommen:
• Bitten Sie Ihr Gegenüber, etwa so: »Könnten Sie
bitte drau ßen rauchen?« »Marlis, kannst du mir bitte das Geld
zurückgeben, das ich dir geliehen habe.«
• Drücken Sie nur Ihr Unbehagen aus: »Ich fühl
mich beengt, wenn Sie beim Reden so dicht vor mir stehen.« »Ich bin
sauer, weil ich schon eine halbe Stunde auf dich warte.«
• Sagen Sie einfach, was Sie lieber mögen: »Mir
wäre es lieber, wenn die Suppe noch heißer wäre. Könnten Sie bitte
die Suppe noch einmal aufwärmen lassen.« »Für mich ist es
einfacher, wenn du mir das Auto voll getankt übergibst.«
• Sagen Sie Ihrem Gegenüber, was Sie stört: »Mich
stört im Moment, dass du nur in die Zeitung schaust, während ich
dir etwas Wichtiges erzähle.« »Mich stört es, wenn Sie mich beim
Reden unterbrechen und mir ins Wort fallen.«
Versuchen Sie nicht vorherzusagen, was dann
passieren wird
Manche Rabattmarkensammler sind von vornherein
sehr pessimistisch. Sie glauben, dass das Reden nichts nützt oder
dass alles noch schlimmer wird. Deshalb mein Tipp: Denken Sie sich
nicht aus, was passieren wird, nachdem Sie eine Störung
angesprochen haben. Bleiben Sie einfach neugierig und schauen Sie,
was tatsächlich passiert, nachdem Sie etwas gesagt haben.

Wir Rabattmarkensammler brauchen diese leisen,
vielleicht sogar etwas unauffälligen Strategien, um zu Wort zu
kommen. Und je mehr Erfolg wir damit haben, desto mutiger können
wir werden. Aber zuerst wollen wir deutlich merken, dass unsere
Störungsmeldung keine Katastrophe auslöst.
Es ist Ihre Aufgabe, mit der Wahrheit rauszurücken
und zu sagen: »Das stört mich.« Darauf kommt es an. Selbst wenn Sie
im Moment noch denken, dass sich Ihr Gegenüber nie ändern wird –
sagen Sie es trotzdem. Drücken Sie das aus, was Ihnen auf der Seele
liegt. Raus mit der Sprache – das ist
für uns Rabattmarkensammler das Wichtigste. Das ist die
Veränderung, auf die es ankommt.
Mir ist aufgefallen, dass die allermeisten meiner
Störungsmeldungen bei meinem jeweiligen Gesprächspartner gut bis
sehr gut angekommen sind. Es gab keinen Streit. Es gab keine
Trennung. Manchmal gab es einen kleinen Wortwechsel. Und manchmal
war mein Gegenüber erstaunt, dass ich so lange nichts gesagt habe,
obwohl die Sache mich die ganze Zeit genervt hat. Wieso habe ich
das Ganze nicht schon viel früher angesprochen? Das frage ich mich
jetzt auch.
Der oder die Harmoniebedürftige

Die Grundeinstellung der harmoniebedürftigen
Person
Kein böses Blut, keinen Streit, keine schlechte
Stimmung. Denn das tut weh. Harmoniebedürftige möchten, dass alle
Mitmenschen nett zu ihnen sind. Verbundenheit mit anderen Menschen
ist für sie das Wichtigste überhaupt. Denn sonst wäre der
Harmoniebedürftige ganz allein und das
wäre für ihn absolut schlimm. Die größte Angst der
Harmoniebedürftigen ist es, verlassen zu sein. Deshalb mögen sie
das Trennende nicht. Sie vermeiden, solange es geht, jeden Streit
und jede unfreundliche Auseinandersetzung. Dabei ist ihnen die
Freundlichkeit manchmal wichtiger als die Ehrlichkeit.
Die typische Körpersprache der
Harmoniebedürftigen
Lächeln und Liebenswürdigkeit ausstrahlen. Der
Kopf ist leicht zur Seite geneigt. Zum Blickkontakt gehört der
milde Gesichtsausdruck. Harmoniebedürftige wollen anderen Leuten
keinen Platz wegnehmen. Deshalb ist ihre Körperhaltung unauffällig.
Manche machen sich sogar kleiner als sie sind und bewegen sich mit
einer leicht gebückten Haltung. Sie gehen leise und geschmeidig,
gern auch um die Leute herum, die ihnen im Weg stehen.
So redet der oder die
Harmoniebedürftige
»Na, das ist doch nicht so schlimm.«
»Das kommt alles wieder in Ordnung.«
»Kein Grund, sich aufzuregen.«
»Nun streitet euch doch nicht! Wir wollen hier
nett zusammen essen und dabei vergnügt sein.«
»Ich mach das schnell weg und dann ist alles
wieder gut.«
»Ganz ruhig bleiben. Du wirst sehen, das ist kein
Problem. Ich hab das im Griff.«
»Ich will nur, dass es harmonisch zugeht und dass
sich alle gut verstehen.«
»Ach nein, darüber bin ich nicht sauer.
Schließlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.«
»Das kann jedem passieren. Lassen Sie es gut sein.
Ich werde das kurz auswaschen und dann sieht man nichts
mehr.«
Wie Sie mit einer harmoniebedürftigen Person am
besten umgehen
Harmoniebedürftige Menschen haben – genau wie Sie
– Wünsche, Grenzen und ein inneres Nein zu bestimmten Dingen. Sie
halten vieles davon zurück, weil sie fürchten, dass sie damit bei
Ihnen anecken. Bleiben Sie skeptisch, wenn Ihnen ein
harmoniebedürftiger Mensch erklärt, alles sei in Ordnung, nachdem
Sie ihm gerade eine heiße Tasse Kaffee auf seine Hose geschüttet
haben. Sagen Sie dem Harmoniebedürftigen, dass Sie es okay finden,
wenn er jetzt verärgert wäre. Wenn der Harmoniebedürftige Sie dann
immer noch nett anlächelt und sagt: »Ach, das macht nichts. Die
Hose muss sowieso in die Reinigung«, dann ist das ein schlechtes
Zeichen. Sehr wahrscheinlich haben Sie von ihm eine Rabattmarke
bekommen.
Ich kann Ihnen nur dringend empfehlen, den Schaden
wiedergutzumachen. Zahlen Sie die Reinigung, kaufen Sie einen
Blumenstrauß, schreiben Sie eine Entschuldigungskarte – am besten
machen Sie alles zusammen und zwar so bald wie möglich. Aber auf
keinen Fall lassen Sie die Sache ohne Wiedergutmachung auf sich
beruhen. Denn das tut der Harmoniebedürftige auch nicht. Spätestens
bei der Rabattmarkenabrechnung, die ganz sicher irgendwann kommt,
wird er Ihnen die bekleckerte Hose noch mal unter die Nase
reiben.
Zeigen Sie dem Harmoniebedürftigen immer wieder,
dass Sie klare Worte und ärgerliche Gefühle vertragen. Machen Sie
deutlich, dass Sie nicht gleich das Weite suchen, wenn jemand Sie
kritisiert. Und trauen Sie sich nachzufragen, wenn Sie den Eindruck
haben, dass hinter dem freundlichen Lächeln des Harmoniebedürftigen
eine Rabattmarke klebt.