2
Der Friseur schaute mit höflicher Verachtung nach unten und fuhr Gregory probehalber mit dem Kamm durch die Haare: als wäre tief unten im Gestrüpp vielleicht noch ein längst vergessener Scheitel zu finden, wie ein Pilgerpfad aus dem Mittelalter. Nach einer resignierten Drehung des Kamms klatschte ihm ein Großteil der Haare nach vorn über die Augen und bis zum Kinn hinunter. Hinter dem jähen Vorhang dachte er, Ach, leck mich am Arsch. Er war nur hier, weil Allie ihm nicht mehr die Haare schnitt. Im Moment jedenfalls nicht. Die Erinnerung traf ihn mit voller Wucht: Er war in der Badewanne, sie wusch ihm die Haare und schnitt sie dann, während er im Wasser saß. Er zog den Stöpsel raus, und sie spritzte ihm die abgeschnittenen Haare mit der Brause ab, spielte mit dem Strahl, und wenn er dann aufstand, lutschte sie ihm oft gleich noch den Schwanz, einfach so, und zupfte ihm dabei die letzten abgeschnittenen Haare ab. Yeah.
»Wünschen Sie eine bestimmte … Stelle … Sir?« Der Typ gab sich bei seiner Suche nach einem Scheitel scheinheilig geschlagen.
»Einfach glatt nach hinten.« Gregory rächte sich mit einer ruckartigen Kopfbewegung, sodass die Haare über seinen Kopf zurückflogen und wieder da waren, wo sie hingehörten. Er streckte die Hand unter dem wichszeltartigen Nylonfrisiermantel hervor, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bis sie wieder richtig lagen, und lockerte sie auf. So, wie sie waren, als er hereingekommen war.
»Wünschen Sie eine bestimmte … Länge … Sir?«
»Acht Zentimeter über den Kragen. Und an den Seiten bis zum Knochen, etwa hier.« Gregory zeigte die Stelle mit den Mittelfingern an.
»Und wünschen Sie auch eine Rasur, wo wir schon dabei sind?«
Unverschämtheit. So sieht ein gut rasierter Mann heutzutage aus. Nur Anwälte und Ingenieure und Förster tauchen jeden Morgen in ihren kleinen Kulturbeutel und fallen über die Stoppeln her wie die Calvinisten. Gregory drehte sich seitlich zum Spiegel hin und schielte zu seinem Ebenbild zurück. »Sie mag es so«, sagte er leichthin.
»Also verheiratet, ja?«
Pass bloß auf, du Schleimscheißer. Komm mir ja nicht so. Die Kumpeltour zieht bei mir nicht. Aber vielleicht bist du ja bloß schwul. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Ich bin da ganz liberal.
»Oder sparen Sie noch, um sich unter dieses Joch zu begeben?«
Gregory würdigte ihn keiner Antwort.
»Hab’s selbst siebenundzwanzig Jahre ertragen«, sagte der Typ und fing an zu schnippeln. »Hat seine Höhen und Tiefen wie alles andere auch.«
Gregory grunzte etwas annähernd Aussagekräftiges, so wie beim Zahnarzt, wenn der ganze Mund voll Metallteilen war und der Mechaniker unbedingt einen Witz erzählen musste.
»Zwei Kinder. Na, eins ist jetzt schon erwachsen. Das Mädchen ist noch zu Hause. Ehe man sich’s versieht, ist die auch ausgeflogen. Am Ende verlassen sie alle das Nest.«
Gregory sah in den Spiegel, aber der Typ schaute ihn nicht an, er hatte den Kopf gebeugt und schnippelte drauflos. Vielleicht war er doch nicht so übel. Mal abgesehen davon, dass er ein Schwätzer war. Und natürlich psychisch hoffnungslos deformiert durch jahrzehntelange Unterwerfung unter die ausbeuterische Herrschaftsordnung.
»Aber vielleicht sind Sie nicht für die Ehe geschaffen, Sir.«
Also Moment mal. Wer bezichtigt hier wen, schwul zu sein? Friseure waren ihm schon immer zuwider gewesen, und der da war keine Ausnahme. Ein beschissener Provinzheini mit 2 Komma 4 Kindern, der seine Hypotheken abzahlt, sein Auto wäscht und wieder in die Garage fährt. Hübscher kleiner Schrebergarten unten an den Bahngleisen, Ehefrau mit Mopsgesicht, die ihre Wäsche an so einem eisernen Karusselldings aufhängt, yeah, yeah, ich seh’s direkt vor mir. Vielleicht spielt er samstagnachmittags in irgendeiner Gurkentruppen-Liga den Schiedsrichter. Nein, nicht mal den Schiedsrichter, höchstens den Linienrichter.
Gregory merkte, dass der andere schwieg, als erwartete er eine Antwort. Der erwartet eine Antwort? Woher nimmt er sich eigentlich das Recht? Okay, dem werd ich’s zeigen.
»Die Ehe ist das einzige Abenteuer, das auch dem Feigling offen steht.«
»Tja, also, Sie sind bestimmt sehr viel klüger als ich, Sir«, antwortete der Friseur in einem Ton, der nicht unbedingt Hochachtung verriet. »Wo Sie doch an der Universität sind.«
Gregory grunzte nur wieder.
»Ich kann das natürlich nicht beurteilen, aber mir kommt es immer so vor, als ob man den Studenten an den Universitäten mehr Verachtung beibringt, als ihnen zusteht. Wird schließlich alles von unserem Geld bezahlt. Ich bin froh, dass mein Junge aufs Technikum gegangen ist. Hat ihm nichts geschadet. Verdient jetzt gutes Geld.«
Yeah, yeah, genug, um die nächsten 2 Komma 4 Kinder zu ernähren und sich eine etwas größere Waschmaschine und eine etwas weniger mopsgesichtige Frau zu leisten. Tja, wer’s mag. Scheiß-England. Na, bald würde das alles hinweggefegt sein. Und diese Läden wären als Erstes weg, verknöcherte alte Institutionen auf der Basis von Herrschaftsverhältnissen, nichts als gespreizte Konversation, Klassenbewusstsein und Trinkgelder. Gregory hielt nichts von Trinkgeldern. Er betrachtete sie als Zementierung gesellschaftlich bedingter Unterwürfigkeit, gleichermaßen erniedrigend für Geber und Nehmer. Eine Korrumpierung sozialer Beziehungen. Und er konnte es sich auch gar nicht leisten. Außerdem war er doch nicht bescheuert und gab einem Heckentrimmer, der ihn beschuldigte, ein warmer Bruder zu sein, auch noch ein Trinkgeld.
Diese Burschen würden sich sowieso nicht mehr lange halten. In London gab es Läden, die von Architekten gestaltet waren und wo auf topmodernen Anlagen die neuesten Hits gespielt wurden, während dir lässige Typen einen Stufenschnitt verpassten, sodass die Frisur der Persönlichkeit entsprach. Kostete offenbar ein Vermögen, war aber besser als das. Kein Wunder, dass der Laden leer war. Oben auf einem Regal stand ein kaputtes Bakelit-Radio und spielte Tanzteeschmus. Die sollten hier Bruchbänder und Stützkorsetts und Kompressionsstrümpfe verkaufen. Den Markt für Prothesen komplett übernehmen. Holzbeine, Stahlhaken für abgerissene Hände. Und Perücken, natürlich. Warum verkauften Friseure nicht auch Perücken? Zahnärzte verkauften doch auch falsche Zähne.
Wie alt mochte der Mann sein? Gregory sah ihn sich an: knochig, gehetzter Blick, Haare absurd kurz geschnitten und mit Brylcreme angeklatscht. Hundertvierzig? Gregory rechnete nach. Siebenundzwanzig Jahre verheiratet. Also: Fünfzig? Fünfundvierzig, wenn er ihr gleich ein Kind gemacht hatte, als er sich zum ersten Mal die Hose aufknöpfte. Wenn er je so kühn gewesen war. Haare schon grau. Wahrscheinlich waren seine Schamhaare auch grau. Ob Schamhaare grau wurden?
Der Friseur beendete die Heckentrimmphase, steckte die Schere beleidigend in ein Glas mit Desinfektionsmittel und zog eine andere, stummelartige hervor. Schnipp, schnipp. Haare, Haut, Fleisch, Blut, alles so verdammt nahe beieinander. In früheren Zeiten, als jeder ärztliche Eingriff noch eine Metzelei war, fungierten Barbiere auch als Bader und Wundärzte. Der rote Streifen an der traditionellen Barbierstange stand für den Stofffetzen, den der Barbier einem beim Aderlass um den Arm band. Sein Ladenschild zeigte auch ein Becken, das war die Schale, in der das Blut aufgefangen wurde. Das hatten sie nun alles aufgegeben und waren zu Friseuren herabgesunken. Zu Schrebergärtnern, die auf die Erde einstachen statt auf den ausgestreckten Unterarm.
Er konnte immer noch nicht begreifen, warum Allie Schluss gemacht hatte. Angeblich war er zu besitzergreifend, angeblich nahm er ihr die Luft zum Atmen, angeblich kam sie sich vor wie mit ihm verheiratet. Lächerlich, hatte er erwidert: Er kam sich vor, als wäre er mit einer Frau zusammen, die gleichzeitig auch mit einem halben Dutzend anderer Männer ging. Genau das meine ich, hatte sie gesagt. Ich liebe dich, hatte er in jäher Verzweiflung gesagt. Es war das erste Mal, dass er das zu irgendwem sagte, und er merkte gleich, es kam nicht richtig an. So etwas sollte man sagen, wenn man sich stark fühlt, nicht schwach. Wenn du mich liebtest, würdest du mich verstehen, hatte sie erwidert. Na, dann verpiss dich doch und atme, hatte er gesagt. Es war einfach nur ein Krach, ein blöder, beschissener Krach, mehr nicht. Hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Es bedeutete nur, dass sie jetzt nicht mehr zusammen waren.
»Noch was ins Haar, Sir?«
»Was?«
»Noch was ins Haar?«
»Nein. Man soll der Natur nicht ins Handwerk pfuschen.«
Der Friseur seufzte, als hätte er die letzten zwanzig Minuten nichts anderes getan, als der Natur ins Handwerk zu pfuschen, und dieser nur allzu notwendige Eingriff hätte in Gregorys Fall mit einer Niederlage geendet.
Das Wochenende stand bevor. Neuer Haarschnitt, sauberes Hemd. Zwei Partys. Heute Abend gemeinschaftliches Bierchenstemmen. Stockbesoffen werden und abwarten, was dann passiert: Das ist meine Vorstellung davon, der Natur nicht ins Handwerk zu pfuschen. Autsch. Nein. Allie. Allie, Allie, Allie. Bind mir den Arm ab. Ich biete dir meine Handgelenke dar, Allie. Die Stelle kannst du dir aussuchen. Nichtmedizinische Gründe, aber stich nur zu. Tu, was du nicht lassen kannst. Lass mein Blut fließen.
»Was haben Sie da eben über die Ehe gesagt?«
»Äh? Ach, das einzige Abenteuer, das auch dem Feigling offen steht.«
»Tja, wenn Sie mir eine Bemerkung gestatten, Sir, die Ehe hat mir immer sehr gut getan. Aber Sie sind bestimmt sehr viel klüger als ich, wo Sie doch an der Universität sind.«
»Das war ein Zitat«, sagte Gregory. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass die fragliche Autorität klüger war als wir beide zusammen.«
»So klug, dass er nicht an Gott glaubte, nehme ich an?«
Ja, so klug, wollte Gregory sagen, ganz genau so klug. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Nur wenn er unter Mitskeptikern war, hatte er den Mut, Gott zu leugnen.
»Und, verzeihen Sie die Frage, Sir, war er für die Ehe geschaffen?«
Hm. Gregory überlegte. Es hatte nie eine Madame gegeben, oder? Immer nur Mätressen, davon war er überzeugt.
»Nein, ich glaube nicht, dass er für die Ehe geschaffen war, wie Sie das nennen.«
»Dann war er vielleicht, Sir, kein Experte?«
In alten Zeiten, dachte Gregory, standen die Barbiere in üblem Ruf, weil bei ihnen die Müßiggänger zusammenkamen und den neuesten Klatsch austauschten, weil ihre Kunden mit Lauten- und Gambenspiel unterhalten wurden. Das kam jetzt alles wieder, zumindest in London. Salons voller Klatschgeschichten und Musik, von Stylisten geleitet, deren Namen man in den Gesellschaftsnachrichten lesen konnte. Da liefen Mädchen in schwarzen Pullovern rum und wuschen einem erst mal die Haare. Wow. Man brauchte sich nicht mehr die Haare zu waschen, ehe man loszog, um sie schneiden zu lassen. Man kam einfach fröhlich winkend hereinspaziert und machte es sich mit einer Illustrierten bequem.
Der Experte in Ehesachen holte einen Spiegel und zeigte Gregory eine doppelte Sicht seines Werks. Saubere Arbeit, das musste er zugeben, an den Seiten kurz, hinten lang. Nicht wie bei manchen Typen im College, die ihre Haare einfach in alle Richtungen zugleich wachsen ließen, Klobürstenbärte, altenglische Koteletten, fettige Wasserfälle über den Schultern und was sonst noch alles. Nein, man soll der Natur nur ein bisschen ins Handwerk pfuschen, das war sein wahres Motto. Der ewige Kampf zwischen Natur und Zivilisation, der hält uns in Schwung. Obwohl das natürlich die Frage der Definition von Natur und Zivilisation offen ließ. Es ging ja nicht nur um die Entscheidung zwischen einem Leben als Tier und einem Leben als Bourgeois. Es ging … ach, um alles Mögliche. Er hatte ein jähes, schmerzhaftes Verlangen nach Allie. Lass mein Blut fließen, dann verbinde mich. Wenn er sie zurückholen könnte, würde er nicht mehr so besitzergreifend sein. Dabei hatte er das nur als Nähe empfunden, als Zweisamkeit. Ihr hatte es zuerst auch gefallen. Zumindest hatte sie nichts dagegen gehabt.
Er merkte, dass der Friseur immer noch den Spiegel hochhielt.
»Ja«, sagte er gleichgültig.
Der Spiegel wurde aufs Gesicht gelegt und der wichszeltartige Nylonmantel weggezogen. Eine Bürste wutschte an seinem Kragen hin und her. Dabei musste er an einen Jazz-Schlagzeuger mit gefühlvollen Handgelenken denken. Wutsch-wutsch. Sein Leben war doch noch lange nicht vorbei, oder?
Der Laden war leer, und aus dem Radio kam immer noch ein klebriges Winseln, aber dennoch war die Stimme gedämpft, die nahe an seinem Ohr wisperte: »Noch etwas fürs Wochenende, Sir?«
Am liebsten hätte er gesagt, yeah, ein Fahrschein nach London, ein Termin bei Vidal Sassoon, ein Paket Grillwürstchen, ein Kasten Ale, was Anständiges zu rauchen, Musik zum Betäuben der Sinne und eine Frau, die mich wirklich mag. Stattdessen dämpfte er selbst die Stimme und antwortete: »Ein Päckchen Durex, bitte.«
Endlich zum Komplizen des Friseurs geworden, schritt er hinaus in den hellen Tag, und das Wochenende konnte beginnen.