DIE GESCHICHTE VON MATS ISRAELSON
Vor der Kirche, in der sich ein geschnitzter, im Dreißigjährigen Krieg aus Deutschland hierher gebrachter Altar befand, standen sechs Pferdeboxen in einer Reihe. Sie waren aus Fichtenholz, das nur einen Möwenschrei von der Straßenkreuzung der Stadt geschnitten und abgelagert worden war, und nicht verziert, nicht einmal nummeriert. Doch ihre Schlichtheit und augenscheinliche Verfügbarkeit täuschte. In den Köpfen derer, die zur Kirche ritten, wie auch derer, die zu Fuß kamen, waren die Boxen von links nach rechts mit den Zahlen eins bis sechs nummeriert und den sechs bedeutendsten Männern der Gegend vorbehalten. Sollte ein Fremder sich das Recht herausnehmen, sein Pferd hier anzubinden, während er sich im Centralhotellet am Brännvinsbord gütlich tat, so würde er sein Tier bei der Rückkehr unten an der Anlegestelle herumwandern und auf den See hinausblicken sehen.
Der Besitz der einzelnen Boxen wurde durch persönliche Entscheidung geregelt, sei es per Schenkung oder per testamentarische Verfügung. Doch während im Innern der Kirche gewisse Bänke von einer Generation zur anderen gewissen Familien vorbehalten waren, und das ungeachtet ihrer jeweiligen Leistungen, galt es draußen die staatsbürgerlichen Verdienste zu berücksichtigen. Ein Vater mochte seine Box wohl an seinen ältesten Sohn weitergeben wollen, doch ließ der Junge es an Ernsthaftigkeit fehlen, so warf die Schenkung ein schlechtes Licht auf den Vater. Als Halvar Berggren sich dem Akvavit, dem Lotterleben und der Gottlosigkeit ergab und sein Besitzrecht auf die dritte Box einem wandernden Scherenschleifer übertrug, traf die Missbilligung Berggren, nicht aber den Scherenschleifer, und nachdem ein paar Riksdaler von Hand zu Hand gegangen waren, wurde eine angemessenere Regelung gefunden.
Dass die vierte Box Anders Bodén zugesprochen wurde, löste keine Verwunderung aus. Der Generaldirektor des Sägewerks war für seinen Fleiß, seinen soliden Lebenswandel und seinen Familiensinn bekannt. Wenngleich nicht übermäßig fromm, war er doch mildtätig. Als die Jagd in einem Herbst gut gewesen war, hatte er eine der Sägegruben mit Holzabfällen angefüllt, einen Eisenrost darüber gelegt und ein Reh gebraten, dessen Fleisch er an seine Arbeiter verteilte. Obwohl er nicht hier geboren war, fühlte er sich berufen, anderen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen; häufig erklommen Besucher auf sein Drängen hin den klockstapel neben der Kirche. Dann lehnte sich Anders mit einem Arm an den Glockenstuhl und wies auf die Ziegelbrennerei, auf die Taubstummenanstalt dahinter und – schon außer Sichtweite – auf die Statue zur Bezeichnung der Stelle, an der Gustavus Vasa im Jahre 1520 seine Rede an die Dalekarlier gehalten hatte. Bisweilen schlug Anders, ein stattlicher, bärtiger und schwärmerischer Mann, sogar eine Wallfahrt auf den Hökberg vor, um den Stein zu besichtigen, der dort vor kurzem zum Andenken an den Rechtsgelehrten Johannes Stiernbock aufgestellt worden war. In der Ferne zog ein Dampfschiff seine Bahn über den See; unten wartete Anders’ Pferd friedlich in seiner Box.
Der Klatsch behauptete, Anders Bodén halte sich so lange mit den Besuchern der Stadt auf, weil das seine Rückkehr nach Hause verzögerte; der Klatsch wusste beharrlich zu berichten, Gertrud habe ihm bei seinem ersten Heiratsantrag in das bärtige Gesicht gelacht und seine Vorzüge erst entdeckt, nachdem ihre Liebe zu dem jungen Markelius mit einer Enttäuschung endete; der Klatsch vermutete, als Gertruds Vater dann mit dem Vorschlag zu Anders ging, er möge sein Werben erneuern, seien die Verhandlungen nicht einfach gewesen. Der Sägewerksdirektor hatte vordem den Eindruck gewonnen, es sei unverschämt von ihm, sich um eine derart begabte und künstlerisch veranlagte Frau wie Gertrud zu bemühen – immerhin hatte sie einst mit Sjögren vierhändig Klavier gespielt. Doch soweit der Klatsch das beurteilen konnte, war das Glück dieser Ehe hold gewesen, selbst wenn Gertrud ihren Mann bisweilen in aller Öffentlichkeit einen Langweiler nannte. Sie hatten zwei Kinder, und der Spezialist, der das zweite zur Welt gebracht hatte, riet Frau Bodén von weiteren Schwangerschaften ab.
Als der Apotheker Axel Lindwall mit seiner Frau Barbro in die Stadt zog, führte Anders Bodén die beiden auf den klockstapel und erbot sich, mit ihnen auf den Hökberg zu wandern. Bei seiner Heimkehr fragte Gertrud, warum er nicht das Abzeichen des Schwedischen Fremdenverkehrsverbands trage.
»Weil ich ihm nicht angehöre.«
»Man sollte dich zum Ehrenmitglied ernennen«, erwiderte sie.
Anders hatte gelernt, dem Sarkasmus seiner Frau mit Pedanterie zu begegnen und ihre Fragen so zu beantworten, als bedeuteten sie nicht mehr als die darin enthaltenen Worte. Das brachte seine Frau in der Regel nur noch mehr auf, doch für ihn war es ein notwendiger Schutz.
»Sie scheinen ein nettes Paar zu sein«, bemerkte er sachlich.
»Du magst alle Menschen.«
»Nein, meine Liebe, ich glaube nicht, dass das stimmt.« Damit meinte er, dass er sie zum Beispiel in diesem Moment nicht mochte.
»Bei Baumstämmen bist du wählerischer als bei Angehörigen des Menschengeschlechts.«
»Bei Baumstämmen, meine Liebe, gibt es sehr große Unterschiede.«
Die Ankunft der Lindwalls in der Stadt rief kein besonderes Interesse hervor. Wer Axel Lindwalls professionellen Rat suchte, fand alles, was er sich von einem Apotheker erhoffen konnte: einen langsamen, ernsthaften Menschen, der schmeichelhafterweise alle Beschwerden als lebensbedrohlich ansah und sie zugleich für heilbar erachtete. Er war ein kleiner, flachshaariger Mann; der Klatsch wollte wetten, er werde bald Fett ansetzen. Über Frau Lindwall gab es weniger zu bemerken, da sie weder bedrohlich schön noch verachtenswert reizlos war, sich weder ordinär noch allzu gewählt kleidete, sich weder aufdringlich noch reserviert gab. Sie war einfach eine neue Ehefrau und sollte sich daher im Abwarten üben. Als Zugereiste blieben die Lindwalls für sich, was nur schicklich war, und gingen regelmäßig zur Kirche, was gleichfalls nur schicklich war. Der Klatsch wollte wissen, Barbro habe Axel, als der ihr zum ersten Mal in das Ruderboot half, das sie in jenem Sommer erwarben, ängstlich gefragt: »Bist du sicher, Axel, dass in dem See keine Haifische sind?« Doch der Klatsch konnte ehrlicherweise nicht dafür geradestehen, dass Frau Lindwall sich damit keinen Scherz erlaubt hatte.
Alle zwei Wochen nahm Anders Bodén dienstags den Dampfer über den See, um die Holzlagerplätze zu inspizieren. Er stand an der Reling vor den Kabinen der ersten Klasse, als er plötzlich spürte, dass jemand neben ihn getreten war.
»Frau Lindwall.« Sofort musste er an die Worte seiner Frau denken. »Sie hat weniger Kinn als ein Eichhörnchen.« Verlegen blickte er zum Ufer hin und sagte: »Das ist die Ziegelbrennerei.«
»Ja.«
Einen Augenblick später: »Und die Taubstummenanstalt.«
»Ja.«
»Natürlich.« Ihm wurde bewusst, dass er sie schon auf dem klockstapel auf beides hingewiesen hatte.
Sie trug einen Strohhut mit blauem Band.
Zwei Wochen darauf war sie wieder auf dem Dampfer. Sie hatte eine Schwester, die nicht weit von Rättvik wohnte. Er wollte sich vor ihr interessant machen. Er fragte, ob sie mit ihrem Mann schon den Keller besichtigt habe, in dem man Gustavus Vasa vor seinen dänischen Verfolgern verborgen hatte. Er erläuterte ihr den Wald mit seinen jahreszeitlichen Veränderungen von Farbe und Beschaffenheit und erklärte, selbst von diesem Schiff aus erkennen zu können, wie er bewirtschaftet werde, während ein anderer nur eine Ansammlung von Bäumen sehe. Sie folgte höflich seinem ausgestreckten Arm; vielleicht traf es zu, dass ihr Kinn im Profil ein klein wenig schwach entwickelt und ihre Nasenspitze seltsam beweglich war. Er merkte, dass er nie gelernt hatte, wie man mit Frauen spricht, und dass ihn das bisher nie beunruhigt hatte.
»Verzeihen Sie«, sagte er. »Meine Frau meint, ich sollte das Abzeichen des Schwedischen Fremdenverkehrsverbands tragen.«
»Ich mag es, wenn ein Mann mir erzählt, was er weiß«, antwortete Frau Lindwall.
Ihre Worte verwirrten ihn. War das eine Kritik an Gertrud, eine Ermunterung für ihn oder eine bloße Feststellung?
Abends fragte seine Frau beim Essen: »Worüber sprichst du mit Frau Lindwall?«
Er wusste nicht, was er antworten sollte, oder vielmehr, wie er antworten sollte. Doch wie gewohnt nahm er Zuflucht zu der einfachsten Bedeutung der Worte und zeigte sich nicht überrascht von der Frage. »Über den Wald. Ich habe ihr den Wald erläutert.«
»Und zeigte sie Interesse? An dem Wald, meine ich.«
»Sie ist in der Stadt aufgewachsen. Sie hatte noch nie so viele Bäume gesehen, bevor sie in diese Gegend zog.«
»Nun ja«, sagte Gertrud, »es sind wirklich furchtbar viele Bäume in einem Wald, nicht wahr, Anders?«
Er wollte sagen: Sie hat mehr Interesse am Wald gezeigt als du in deinem ganzen Leben. Er wollte sagen: Du urteilst sehr unfreundlich über ihr Aussehen. Er wollte sagen: Wer hat gesehen, wie ich mit ihr sprach? Er sagte nichts von alldem.
Während der nächsten zwei Wochen sann er darüber nach, dass Barbro ein Name von lieblicher Bedeutsamkeit war und einen weicheren Klang hatte als … andere Namen. Er dachte auch, dass ihm von einem blauen Band an einem Strohhut froh ums Herz wurde.
Als er am Dienstagmorgen aufbrach, sagte Gertrud: »Grüß doch die kleine Frau Lindwall von mir.«
Auf einmal wollte er sagen: »Und wenn ich mich nun in sie verliebe?« Stattdessen antwortete er: »Das werde ich tun, falls ich sie sehe.«
Auf dem Dampfer brachte er kaum die üblichen gemessenen Höflichkeiten zustande. Noch ehe sie abgelegt hatten, begann er ihr zu erzählen, was er wusste. Über Nutzholz und wie es angebaut, transportiert und geschnitten wird. Er erläuterte Scharfschnitt und Quartierschnitt. Er sprach über die drei Teile eines Stamms: Mark, Kernholz und Splintholz. Bei Bäumen, die das Stadium der Reife erreicht haben, nimmt das Kernholz den größten Anteil ein, und das Splintholz ist fest und biegsam. »Ein Baum ist wie ein Mann«, sagte er. »Er braucht siebzig Jahre, um das Stadium der Reife zu erlangen, und nach hundert Jahren ist er nutzlos.«
Er erzählte ihr, wie er einmal in Bergsforsen, wo eine eiserne Brücke die Stromschnellen überspannt, vierhundert Männern bei der Arbeit zugeschaut hatte: Sie fingen die Stämme ein, die aus dem Fluss auftauchten, und fassten sie je nach den Markierungen ihrer Besitzer in sorteringsbommar zusammen. Wie ein Mann von Welt erläuterte er ihr die verschiedenen Kennzeichnungssysteme. Schwedisches Holz wird mit roten Lettern gestempelt, mindere Qualitäten blau. Norwegisches Holz wird an beiden Seiten blau mit den Initialen des Verschiffers gestempelt. Preußisches Holz wird in der Mitte seitlich gekerbt. Russisches Holz wird an den Enden trocken gestempelt oder gehämmert. Kanadisches Holz wird schwarz-weiß markiert. Amerikanisches Holz wird seitlich mit roter Kreide gekennzeichnet.
»Haben Sie das alles gesehen?«, fragte sie. Er räumte ein, bislang habe er nordamerikanisches Holz noch nicht mit eigenen Augen gesehen; er habe lediglich darüber gelesen.
»So erkennt also jeder Mann sein eigenes Holz?«, fragte sie.
»Natürlich. Sonst könnte ja einer des anderen Holz stehlen.«
Er konnte nicht sehen, ob sie über ihn – ja, über die ganze Männerwelt lachte.
Plötzlich blitzte ein Licht vom Ufer herüber. Sie drehte sich davon fort und wieder zu ihm hin, und als er ihr Gesicht von vorn sah, formten sich die Eigentümlichkeiten des Profils zu einer harmonischen Einheit: Das kleine Kinn ließ ihre Lippen hervortreten, ihre Nasenspitze, ihre offenen, graublauen Augen … keine Beschreibung, nicht einmal Bewunderung wurde dem gerecht. Er fand es klug von sich, dass er die Frage in ihren Augen erriet.
»Dort ist ein Belvedere. Wahrscheinlich hat jemand ein Perspektiv. Wir stehen unter Beobachtung.« Doch bei dem letzten Wort verlor er das Selbstvertrauen. Es klang wie etwas, das ein anderer Mann sagen würde.
»Warum?«
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er sah fort, zum Ufer hin, wo wieder das Belvedere aufblitzte. In seiner Verlegenheit erzählte er ihr die Geschichte von Mats Israelson, aber er erzählte sie in der falschen Reihenfolge und zu schnell, und sie schien kein Interesse daran zu haben. Sie schien nicht einmal zu erkennen, dass es eine wahre Geschichte war.
»Es tut mir Leid«, sagte sie, als habe sie seine Enttäuschung gespürt. »Ich habe nur wenig Phantasie. Mich inter essiert nur, was tatsächlich geschieht. Legenden erscheinen mir … albern. Wir haben zu viele davon in unserem Land. Axel macht mir diese Meinung zum Vorwurf. Er sagt, ich erweise meinem Land keine Ehre. Er sagt, man wird mich für eine neumodische Frau halten. Doch das ist beides nicht der Grund. Ich habe nur wenig Phantasie.«
Anders fand diese jähe Rede beruhigend. Es war, als weise Barbro ihm den Weg. Während er weiter zum Ufer sah, erzählte er ihr, wie er einst das Kupferbergwerk von Falun besucht hatte. Er erzählte ihr nur, was wirklich geschehen war. Er erzählte ihr, dass es das größte Kupferbergwerk der Welt nach denen am Oberen See war; dass es seit dem dreizehnten Jahrhundert in Betrieb war; dass der Eingang sich neben einer Bodensenke befand, Stöten genannt, die sich am Ende des siebzehnten Jahrhunderts aufgetan hatte; dass der tiefste Schacht beinahe 400 Meter unter die Erde reichte; dass der jährliche Ertrag inzwischen bei 400 Tonnen Kupfer lag, dazu kleine Mengen an Silber und Gold; dass der Eintritt zwei Riksdaler kostete; dass man für Kanonenschüsse einen Aufpreis zahlte.
»Einen Aufpreis für Kanonenschüsse?«
»Ja.«
»Wozu dienen die Kanonenschüsse?«
»Um das Echo zu wecken.«
Er erzählte ihr, dass Besucher gewöhnlich vorher aus Falun im Bergwerk anriefen, um ihre Ankunft anzukündigen; dass sie eine Bergmannskluft bekamen und von einem Bergmann begleitet wurden; dass beim Abstieg die Stufen mit Fackeln beleuchtet wurden; dass es zwei Riksdaler kostete. Das hatte er ihr bereits erzählt. Ihre Augenbrauen waren, wie ihm auffiel, stark ausgeprägt und dunkler als das Kopfhaar.
Sie sagte: »Ich würde gern nach Falun fahren.«
An jenem Abend spürte er deutlich, dass Gertrud zornig war. Endlich sagte sie: »Eine Ehefrau hat ein Anrecht darauf, dass ihr Mann Diskretion walten lässt, wenn er mit seiner Geliebten ein Rendezvous ausmacht.« Jedes Hauptwort hallte wie ein dumpfer Glockenschlag vom klockstapel.
Er sah sie nur an. Sie fuhr fort: »Jedenfalls sollte ich dankbar sein für deine Naivität. Andere Männer würden wenigstens warten, bis der Dampfer außer Sichtweite des Anlegers ist, ehe sie mit ihrer Schmuserei anfangen.«
»Du täuschst dich«, sagte er.
»Wenn mein Vater nicht so ein guter Geschäftsmann wäre«, gab sie zurück, »würde er dich erschießen.«
»Dann sollte dein Vater dankbar sein, dass der Mann von Frau Alfredsson, die hinter der Kirche in Rättvik die konditori hat, ein ebenso guter Geschäftsmann ist.« Der Satz war zu lang geraten, meinte er, aber er tat seine Wirkung.
In der Nacht zählte sich Anders Bodén alle Beleidigungen auf, die er von seiner Frau gehört hatte, und schichtete sie so säuberlich übereinander wie einen Holzstapel. Wenn sie dies glauben kann, dachte er, dann kann dies auch geschehen. Nur wollte Anders Bodén keine Geliebte, er wollte keine Frau in einem Konditorladen, der er Geschenke machte und mit der er in Räumen protzte, wo Männer miteinander Zigarillos rauchten. Er dachte: Natürlich, jetzt begreife ich, Tatsache ist, dass ich sie seit unserer ersten Begegnung auf dem Dampfer liebe. Ich wäre nicht so bald darauf gekommen, wenn Gertrud mir nicht geholfen hätte. Ich hätte nie gedacht, dass ihr Sarkasmus zu etwas nütze sein könnte; aber diesmal war er es.
Die nächsten zwei Wochen erlaubte er sich nicht zu träumen. Er brauchte nicht zu träumen, denn jetzt war alles klar und real und entschieden. Er tat seine Arbeit, und in freien Momenten dachte er darüber nach, dass Barbro nicht auf die Geschichte von Mats Israelson eingegangen war. Sie hatte geglaubt, es sei eine Legende. Er hatte die Geschichte schlecht erzählt, das wusste er. Und darum begann er zu üben, wie ein Schuljunge, der ein Gedicht auswendig lernt. Er würde ihr die Geschichte noch einmal erzählen, und diesmal würde sie erkennen, allein daran, wie er sie erzählte, dass es eine wahre Geschichte war. Sie war nicht sehr lang. Aber es war wichtig, dass er sie so zu erzählen lernte, wie er von seinem Besuch in dem Bergwerk erzählt hatte.
Im Jahre 1719, begann er mit einer gewissen Furcht, dass das weit zurückliegende Datum sie langweilen könnte, aber zugleich voller Überzeugung, dass es der Geschichte Authentizität verlieh. Im Jahre 1719, begann er, während er am Kai stand und auf den Dampfer nach Hause wartete, wurde im Bergwerk von Falun ein Leichnam gefunden. Der Leichnam, fuhr er fort, den Blick auf das Ufer gerichtet, war der eines jungen Mannes, Mats Israelson, der neunundvierzig Jahre zuvor in dem Bergwerk umgekommen war. Der Leichnam, erklärte er den Möwen, die mit heiserem Krächzen das Schiff inspizierten, war tadellos konserviert. Der Grund dafür war, legte er dem Belvedere, der Taubstummenanstalt, der Ziegelbrennerei eingehend dar, dass die Kupfervitrioldämpfe die Verwesung verhindert hatten. Man wusste, dass dies der Leichnam von Mats Israelson war, raunte er dem Hafenarbeiter zu, der am Anleger das Tau auffing, weil er von einem alten Weib identifiziert wurde, das ihn einst gekannt hatte. Neunundvierzig Jahre zuvor, schloss er, nunmehr im Flüsterton, in heißer Schlaflosigkeit, während seine Frau neben ihm leise knurrte und ein Windstoß den Vorhang flattern ließ, neunundvierzig Jahre zuvor, als Mats Israelson verschwand, war dieses alte Weib, damals ebenso jung wie er, seine Braut gewesen.
Er erinnerte sich, wie sie ihn angesehen hatte, mit der Hand auf der Reling, sodass ihr Ehering nicht verborgen war, und leichthin gesagt hatte: »Ich würde gern nach Falun fahren.« Er stellte sich vor, wie andere Frauen zu ihm sagten: »Ich sehne mich nach Stockholm.« Oder: »Nachts träume ich von Venedig.« Das wären aufreizende Frauen in Stadtpelzen, und sie wären an keiner anderen Antwort interessiert als an hutziehender Verehrung. Sie aber hatte gesagt: »Ich würde gern nach Falun fahren«, und die Schlichtheit dieser Worte hatte ihm eine Antwort unmöglich gemacht. Er übte, mit ähnlicher Schlichtheit zu sagen: »Ich bringe dich dorthin.«
Er redete sich ein, wenn es ihm gelänge, die Geschichte von Mats Israelson richtig zu erzählen, würde sie noch einmal zu ihm sagen »Ich würde gern nach Falun fahren.« Und dann würde er antworten: »Ich bringe dich dorthin.« Und alles wäre entschieden. Darum feilte er an der Geschichte, bis er sie in eine Form gebracht hatte, die ihr gefallen würde: schlicht, nüchtern, wahr. Er würde sie ihr zehn Minuten nach dem Ablegen erzählen, an der Stelle, die er im Geiste bereits ihre Stelle nannte, an der Reling vor der Kabine erster Klasse.
Als er am Anleger ankam, ging er die Geschichte noch ein letztes Mal durch. Es war der erste Dienstag im Monat Juni. Mit Daten musste man genau sein. Zunächst 1719. Und am Ende: der erste Dienstag im Juni in diesem Jahre des Herrn 1898. Der Himmel strahlte, der See war klar, die Möwen verhielten sich unaufdringlich. Der Wald auf dem Hügel hinter der Stadt stand voller Bäume, die so aufrecht und ehrlich waren wie ein Mann. Sie kam nicht.
Der Klatsch vermerkte sehr wohl, dass Frau Lindwall ihr Rendezvous mit Anders Bodén nicht eingehalten hatte. Der Klatsch meinte, es habe Streit gegeben. Der Klatsch meinte aber auch, man habe Heimlichkeit ausgemacht. Der Klatsch überlegte, ob ein Sägewerksdirektor, der das Glück hatte, mit einer Frau verheiratet zu sein, die ein aus Deutschland importiertes Klavier ihr Eigen nannte, es wahrhaftig wagen würde, ein Auge auf eine äußerst gewöhnliche Apothekersfrau zu werfen. Dem hielt der Klatsch entgegen, Anders Bodén sei schon immer ein Einfaltspinsel mit Sägemehl im Haar gewesen und habe sich lediglich eine Frau gleichen Ranges gesucht, wie Einfaltspinsel das so an sich hätten. Der Klatsch fügte hinzu, im Hause Bodén seien die ehelichen Beziehungen seit der Geburt des zweiten Kindes nicht wieder aufgenommen worden. Der Klatsch fragte sich kurz, ob vielleicht der Klatsch die ganze Geschichte erfunden hätte, doch der Klatsch entschied, in der Regel sei die hässlichste Interpretation der Ereignisse die sicherste und letzten Endes auch die wahrste.
Der Klatsch verstummte oder wurde doch leiser, als sich herausstellte, dass Frau Lindwall ihre Schwester deshalb nicht besucht hatte, weil sie mit dem ersten Lind-wall-Kind schwanger war. Der Klatsch sah darin eine glückliche Fügung zur Rettung von Barbro Lindwalls gefährdetem Ruf.
Und damit ist es erledigt, dachte Anders Bodén. Eine Tür geht auf und schließt sich wieder, noch ehe man Zeit hat, hindurchzugehen. Ein Mensch hat sein Schicksal nicht besser in der Hand als ein mit roten Lettern gestempelter Baumstamm, den mit Nagelstöcken bewaffnete Männer in den reißenden Strom zurückwerfen. Vielleicht war er selbst nicht mehr, als die Leute meinten: ein Einfaltspinsel, der das Glück gehabt hatte, eine Frau zu heiraten, die einst mit Sjögren vierhändig Klavier gespielt hatte. Aber wenn dem so war und sein Leben sich von nun an nie mehr ändern würde, dann würde auch er, wie er erkannte, sich nie mehr ändern. Er würde in diesem Moment eingefroren und konserviert bleiben – nein, in dem Moment, der in der vergangenen Woche beinahe geschehen wäre, hätte geschehen können. Nichts auf der Welt, nicht seine Frau, die Kirche oder die Gesellschaft konnte ihn an der Entscheidung hindern, dass sein Herz sich nie wieder regen würde.
Barbro Lindwall war sich ihrer Gefühle für Anders Bodén nicht sicher gewesen, bis sie erkannte, dass sie nun den Rest ihres Lebens mit ihrem Ehemann verbringen würde. Erst kam der kleine Ulf und dann, ein Jahr später, Karin. Axel liebte die Kinder abgöttisch, ebenso wie sie.
Vielleicht sollte das genügen. Ihre Schwester zog in den fernen Norden, wo Multbeeren wuchsen, und schickte ihr jedes Jahr zur Erntezeit Töpfe voll gelber Marmelade. Im Sommer ruderte sie mit Axel auf den See hinaus. Er setzte, wie vorauszusehen war, Fett an. Die Kinder wuchsen heran. Eines Frühlings schwamm ein Arbeiter aus dem Sägewerk vor den Dampfer und wurde von ihm erfasst; das Wasser färbte sich, als sei der Mann von einem Haifisch zerrissen worden. Ein Fahrgast auf dem Vorderdeck sagte aus, der Mann sei bis zum letzten Moment unbeirrt weitergeschwommen. Der Klatsch behauptete, man habe die Frau des Opfers mit einem seiner Arbeitskameraden in den Wald gehen sehen. Der Klatsch fügte hinzu, der Mann sei betrunken gewesen und habe eine Wette abgeschlossen, dass er direkt am Bug des Dampfers vorbeischwimmen könne. Der Leichenbeschauer befand, er müsse durch Wasser in den Ohren das Gehör verloren haben, und entschied auf Tod durch Unglücksfall.
Wir sind nichts als Pferde in einer Box, sagte Barbro sich oft. Die Boxen sind nicht nummeriert, aber wir kennen dennoch unseren Platz. Ein anderes Leben gibt es nicht.
Doch hätte er nur in meinem Herzen lesen können, bevor ich es tat. Ich rede nicht so mit Männern, höre ihnen nicht so zu, schaue ihnen nicht so ins Gesicht. Warum hat er das nicht erkannt?
Als sie ihn das erste Mal wiedersah, waren sie beide Teil eines Paares, das nach der Kirche am See entlang spazieren ging, und sie war erleichtert, dass sie schwanger war, denn zehn Minuten später wurde sie von einer Übelkeit befallen, deren Anlass sonst offensichtlich gewesen wäre. Sie erbrach sich ins Gras und konnte an nichts anderes denken, als dass die Finger, die ihren Kopf hielten, dem falschen Mann gehörten.
Sie sah Anders Bodén nie wieder allein; dafür sorgte sie. Einmal erblickte sie ihn, wie er vor ihr auf den Dampfer ging, und machte auf dem Anleger kehrt. In der Kirche erhaschte sie bisweilen einen Blick auf seinen Hinterkopf und bildete sich ein, sie könne seine Stimme aus allen anderen heraushören. Wenn sie ausging, schützte sie sich durch Axels Gegenwart; zu Hause hielt sie die Kinder in ihrer Nähe. Einmal schlug Axel vor, sie könnten die Bodéns zum Kaffee einladen; sie erwiderte, Frau Bodén würde sicher Madeira und Biskuitkuchen erwarten, und selbst wenn sie das auftischen könnten, würde sie noch die Nase rümpfen über einen bloßen Apotheker und seine Frau, die beide Zugereiste waren. Der Vorschlag wurde nicht wiederholt.
Sie wusste nicht, was sie von dem halten sollte, das hier geschehen war. Sie konnte niemanden fragen; sie dachte an ähnliche Beispiele, doch die waren alle anrüchig und schienen auf ihren eigenen Fall nicht zuzutreffen. Für ständigen, stummen, heimlichen Schmerz war sie nicht gewappnet. Einmal, als wieder die Multbeeren-Marmelade ihrer Schwester eintraf, betrachtete sie einen Topf, das Glas, den Metalldeckel, das runde Musselintuch, das handgeschriebene Etikett, das Datum – das Datum! – und den Grund für dies alles, die gelbe Marmelade, und dachte: Genau das habe ich mit meinem Herzen getan. Und jedes Jahr, wenn die Töpfe aus dem Norden eintrafen, dachte sie dasselbe.
Anfangs erzählte Anders ihr weiterhin flüsternd, was er wusste. Manchmal war er ein Fremdenführer, manchmal ein Sägewerksdirektor. Zum Beispiel hätte er ihr von den Mängeln im Holz erzählen können. »Eiskluft« ist ein natürlicher Riss in der Stammmitte zwischen zwei Jahresringen. Bei einem »Sternriss« breiten sich Fissuren strahlenförmig in mehrere Richtungen aus. Ein »Herzriss« tritt oft bei alten Bäumen auf und erstreckt sich vom Mark oder Kern des Baums bis zur Rinde.
In späteren Jahren, wenn Gertrud schimpfte, wenn der Akvavit seine Wirkung tat, wenn höfliche Blicke ihm sagten, dass er nun tatsächlich ein Langweiler geworden war, wenn der See am Rande zufror und der Eislaufwettbewerb nach Rättvik ausgetragen werden konnte, als seine Tochter als verheiratete Frau aus der Kirche trat und er in ihren Augen mehr Hoffnung las, als es seines Wissens überhaupt gab, wenn die langen Nächte begannen und sein Herz sich gleichsam im Winterschlaf verschloss, wenn sein Pferd plötzlich innehielt und zu zittern begann vor etwas, das es spürte, aber nicht sah, als das alte Dampfschiff eines Winters ins Trockendock kam und einen neuen Anstrich in frischen Farben erhielt, als Freunde aus Trondheim baten, er möge ihnen die Bergwerke von Falun zeigen, und er einwilligte und dann eine Stunde vor dem Aufbruch im Badezimmer stand und sich die Finger in den Hals steckte, damit er sich erbrechen konnte, wenn der Dampfer ihn an der Taubstummenanstalt vorbeifuhr, wenn sich in der Stadt etwas änderte, wenn in der Stadt jahrein, jahraus alles beim Alten blieb, wenn die Möwen ihren Posten am Anleger verließen und in seinem Schädel kreischten, als ihm der linke Zeigefinger am zweiten Glied amputiert werden musste, nachdem er auf dem Lagerplatz ohne jeden Grund an einem Holzstapel gezogen hatte – bei all diesen Gelegenheiten und vielen anderen mehr dachte er an Mats Israelson. Und während die Jahre vergingen, verwandelte sich Mats Israelson in seiner Vorstellung aus einer Folge klarer Tatsachen, die man als Liebesgabe darreichen konnte, in etwas Verschwommeneres und doch Machtvolleres. In eine Legende vielleicht – etwas, an dem sie kein Interesse gehabt hätte.
Sie hatte gesagt: »Ich würde gern nach Falun fahren«, und er hätte nur zu antworten brauchen: »Ich bringe dich dorthin.« Wenn sie wirklich gesagt hätte, flirtend, wie eine dieser ausgedachten Frauen: »Ich sehne mich nach Stockholm« oder »Nachts träume ich von Venedig«, hätte er ihr vielleicht sein Leben zu Füßen geworfen, am nächsten Morgen Fahrkarten gekauft, einen Skandal ausgelöst und wäre nach Monaten betrunken und winselnd zurückgekommen. Aber das war nicht seine Art, denn das war nicht ihre Art. »Ich würde gern nach Falun fahren« war eine viel gefährlichere Bemerkung gewesen als »Nachts träume ich von Venedig«.
Während die Jahre vergingen und ihre Kinder heranwuchsen, wurde Barbro Lindwall bisweilen von einer furchtbaren Ahnung heimgesucht: dass ihre Tochter den jungen Bodén heiraten würde. Das, dachte sie, wäre die schlimmste Strafe der Welt. Doch dann tat sich Karin mit Bo Wicander zusammen und ließ ihn sich auch nicht ausreden. Bald waren alle Kinder der Bodéns und der Lindwalls verheiratet. Axel wurde fett und kurzatmig und fürchtete insgeheim, er könnte in seiner Apotheke versehentlich einen Menschen vergiften. Gertrud Bodén wurde grau und spielte nach einem Schlaganfall nur noch einhändig Klavier. Barbro selbst zupfte erst emsig, dann färbte sie. Dass sie ihre Figur mit nur wenig Unterstützung durch Korsetteriewaren halten konnte, erschien ihr wie ein Hohn.
»Da ist ein Brief für dich«, sagte Axel eines Nachmittags. Sein Verhalten war neutral. Er reichte ihn ihr. Die Handschrift war ihr fremd, der Poststempel Falun.
»Liebe Frau Lindwall, ich bin hier im Krankenhaus. Es gibt etwas, das ich sehr gern mit Ihnen besprechen würde. Wäre es Ihnen möglich, mich an einem Mittwoch zu besuchen? Mit freundlichen Grüßen, Anders Bodén.«
Sie gab ihm den Brief und sah zu, wie er las.
»Nun?«, sagte er.
»Ich würde gern nach Falun fahren.«
»Natürlich.« Er meinte: Natürlich würdest du das, der Klatsch hat dich seit jeher seine Geliebte genannt; ich war mir dessen nie sicher, aber natürlich hätte ich es erraten sollen, darum warst du plötzlich so kühl und über Jahre hinweg geistesabwesend; natürlich, natürlich. Doch sie hörte nur: Natürlich musst du fahren.
»Danke«, sagte sie. »Ich werde den Zug nehmen. Vielleicht ist es notwendig, über Nacht zu bleiben.«
»Natürlich.«
Anders Bodén lag im Bett und überlegte, was er sagen sollte. Endlich, nach all den Jahren – dreiundzwanzig Jahren, um genau zu sein – hatten sie schließlich einer des anderen Handschrift gesehen. Dieser Briefwechsel, dieses erste neue Lebenszeichen brachte sie einander nahe wie sonst nur ein Kuss. Ihre Schrift war klein, säuberlich, schulmädchenhaft; sie trug keine Anzeichen des Alters. Für einen kurzen Moment dachte er an all die Briefe, die er von ihr hätte bekommen können.
Zuerst stellte er sich vor, er könnte ihr einfach noch einmal die Geschichte von Mats Israelson erzählen, in der Version, die er zur Perfektion gebracht hatte. Dann würde sie wissen und verstehen. Aber wenn nicht? Dass ihn die Geschichte über zwei Jahrzehnte lang tagein, tagaus begleitet hatte, hieß doch nicht, dass sie sich zwangsläufig daran erinnerte. Darum würde sie das vielleicht für einen Trick oder für ein Spiel halten, und alles würde fehlschlagen.
Doch war es wichtig, sie nicht wissen zu lassen, dass er im Sterben lag. Das wäre eine unnötige Belastung für sie. Schlimmer noch, sie könnte ihm aus Mitleid eine andere Antwort geben. Er wollte gleichfalls die Wahrheit, keine Legende. Er erzählte dem Pflegepersonal, eine liebe Cousine komme ihn besuchen, doch wegen einer Herzschwäche dürfe sie auf keinen Fall von seinem Zustand erfahren. Er bat, man möge ihm den Bart schneiden und die Haare kämmen. Als alle fort waren, rieb er sich ein wenig Zahnpulver ins Zahnfleisch und schob die verkrüppelte Hand unter die Bettdecke.
Als der Brief kam, schien er ihr unkompliziert; und wenn nicht unkompliziert, so doch unstrittig. Zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren hatte er sie um etwas gebeten; darum musste ihr Mann, dem sie immer treu geblieben war, die Bitte gewähren. Das hatte er getan, doch danach verlor sich die Klarheit. Was sollte sie auf die Reise anziehen? Anscheinend gab es keine Kleider für einen solchen Anlass, der weder ein Urlaub noch eine Beerdigung war. Am Bahnhof hatte der Schalterbeamte das Wort »Falun« wiederholt, und der Stationsvorsteher hatte ihre Reisetasche gemustert. Sie kam sich durch und durch verletzlich vor – der kleinste Stoß hätte genügt, und schon hätte sie ihr Leben, ihre Absichten, ihre Tugend erläutert. »Ich besuche einen Mann, der im Sterben liegt«, hätte sie gesagt. »Ohne Zweifel hat er eine letzte Botschaft für mich.« So musste es sein, nicht wahr – dass er im Sterben lag? Sonst ergab es keinen Sinn. Sonst hätte er die Verbindung aufgenommen, als das letzte ihrer Kinder aus dem Haus gegangen war, als sie und Axel nur mehr ein Paar waren.
Sie stieg im Stadshotellet nicht weit vom Marktplatz ab. Wieder spürte sie, wie der Mann an der Rezeption ihre Reisetasche, ihren Familienstand, ihre Motive begutachtete.
»Ich besuche einen Freund im Krankenhaus«, sagte sie, obwohl man ihr keine Frage gestellt hatte.
In ihrem Zimmer starrte sie das geschwungene eiserne Bettgestell an, die Matratze, den nagelneuen Schrank. Sie war nie zuvor allein in einem Hotel gewesen. Hier kamen Frauen her, wurde ihr klar – gewisse Frauen. Sie meinte, der Klatsch könne sie jetzt sehen – allein in einem Zimmer mit einem Bett. Es schien verwunderlich, dass Axel sie hatte gehen lassen. Es schien verwunderlich, dass Anders Bodén sie ohne jede Erklärung hatte kommen lassen.
Ihre Verletzlichkeit hüllte sich langsam in den Mantel der Gereiztheit. Was wollte sie hier? Was hatte er mit ihr vor? Sie dachte an Bücher, die sie gelesen hatte, Bücher, die Axel missbilligte. In Büchern gab es Anspielungen auf Szenen in Hotelzimmern. In Büchern rissen Paare miteinander aus – aber nicht, wenn einer von beiden im Krankenhaus lag. In Büchern gab es bewegende Trauungen auf dem Sterbebett – aber nicht, wenn beide Parteien noch verheiratet waren. Was also sollte geschehen? »Es gibt etwas, das ich sehr gern mit Ihnen besprechen würde.« Besprechen? Sie war eine Frau in den späten mittleren Jahren, die einem Mann, den sie vor dreiundzwanzig Jahren ein wenig gekannt hatte, einen Topf Multbeeren-Marmelade mitbrachte. Nun, es war seine Aufgabe, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er war der Mann, und sie hatte durch ihr bloßes Kommen mehr als ihren Teil getan. Sie war nicht nur zufällig all die Jahre eine ehrbare verheiratete Frau geblieben.
»Sie haben abgenommen.«
»Man sagt, es steht mir«, antwortete er lächelnd. »Man«: Offenbar meinte er »meine Frau«.
»Wo ist Ihre Frau?«
»Sie besucht mich an anderen Tagen.« Das würde für das Krankenhauspersonal eindeutig sein. Ach, seine Frau besucht ihn an jenen Tagen, und »sie« besucht ihn hinter dem Rücken der Ehefrau.
»Ich dachte, Sie sind sehr krank.«
»Nein, nein«, erwiderte er fröhlich. Sie wirkte sehr nervös – ja, um ehrlich zu sein, ein wenig wie ein Eichhörnchen mit furchtsamen, schreckhaften Augen. Nun, er musste sie beruhigen, beschwichtigen. »Ich bin gesund und munter. Ich bin bald wieder gesund und munter.«
»Ich dachte …« Sie hielt inne. Nein, zwischen ihnen musste Klarheit herrschen. »Ich dachte, Sie lägen im Sterben.«
»Ich werde so alt wie die Fichten auf dem Hökberg.«
Grinsend saß er da. Sein Bart war frisch gestutzt, sein Haar elegant gekämmt; er lag doch nicht im Sterben, und seine Frau war in einer anderen Stadt. Sie wartete.
»Das ist das Dach der Kristina-Kyrka.«
Sie drehte sich um, trat ans Fenster und sah zu der Kirche hinaus. Als Ulf klein war, musste sie ihm immer den Rücken zukehren, bevor er ihr ein Geheimnis anvertraute. Vielleicht brauchte Anders Bodén das auch. Darum sah sie hinaus auf das in der Sonne glänzende Kupferdach und wartete. Er war schließlich der Mann.
Ihr Schweigen und der ihm zugekehrte Rücken erschreckten ihn. So hatte er das nicht geplant. Er hatte es noch nicht einmal geschafft, sie Barbro zu nennen, leichthin, wie seit langem gewohnt. Was hatte sie einst gesagt? »Ich mag es, wenn ein Mann mir erzählt, was er weiß.«
»Die Kirche wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbaut«, begann er. »Ich weiß nicht genau, wann.« Sie reagierte nicht. »Das Dach besteht aus Kupfer aus dem hiesigen Bergwerk.« Wieder keine Reaktion. »Aber ich weiß nicht, ob das Dach zur selben Zeit gebaut wurde wie die Kirche oder ob es später hinzugefügt wurde. Ich werde es herausfinden.« Der letzte Satz sollte entschlossen klingen. Sie gab noch immer keine Antwort. Er hörte nur Gertruds Stimme, die flüsterte: »Das Abzeichen des Schwedischen Fremdenverkehrsverbands.«
Nun ärgerte sich Barbro auch über sich selbst. Natürlich hatte sie ihn nie gekannt, hatte nie gewusst, wie er wirklich war. Sie hatte sich all die Jahre nur einer mädchenhaften Phantasie hingegeben.
»Sie liegen nicht im Sterben?«
»Ich werde so alt wie die Fichten auf dem Hökberg.«
»Also sind Sie gesund genug, um in mein Zimmer im Stadshotellet zu kommen.« Sie sagte das so harsch sie konnte, voller Verachtung für die gesamte Männerwelt mit ihren Zigarren und Geliebten und Baumstämmen und eitlen, dummen Bärten.
»Frau Lindwall …« Alle Klarheit des Geistes wich von ihm. Er wollte sagen, dass er sie liebte, dass er sie immer geliebt hatte, dass er beinahe ständig – nein, ständig an sie dachte. »Ich denke beinahe ständig – nein, ständig an dich«, das hatte er sagen wollen. Und dann: »Ich liebe dich seit unserer ersten Begegnung auf dem Dampfer. Seit dem Moment gibst du mir die Kraft zum Leben.«
Doch angesichts ihres Ärgers verlor er den Mut. Sie glaubte, er sei einfach nur ein Verführer. Darum würden die Worte, die er vorbereitet hatte, wie die eines Verführers klingen. Und er kannte sie eigentlich gar nicht. Und er wusste auch nicht, wie man mit Frauen spricht. Es machte ihn wütend, dass es Männer gab, glattzüngige Männer, die immer wussten, was man sagen musste. Ach, bring es hinter dich, dachte er plötzlich, von ihrem Ärger angesteckt. Bald bist du sowieso tot, also bring es hinter dich.
»Ich dachte«, sagte er, und sein Ton war rau und aggressiv, wie der eines Mannes beim Feilschen. »Ich dachte, Frau Lindwall, dass Sie mich lieben.«
Er sah, wie sich ihre Schultern versteiften.
»Ah«, antwortete sie. Die Eitelkeit der Männer. Was für ein falsches Bild von ihm sie all die Jahre mit sich herumgetragen hatte, das Bild eines zurückhaltenden, taktvollen Menschen von beinahe tadelnswerter Unfähigkeit, sich auszudrücken. In Wahrheit war er wie alle Männer und benahm sich wie die Männer in den Büchern, und sie war wie alle Frauen, weil sie etwas anderes geglaubt hatte.
Sie kehrte ihm weiter den Rücken und antwortete ihm, als wäre er der kleine Ulf mit einem seiner kindlichen Geheimnisse. »Sie haben sich getäuscht.« Dann drehte sie sich wieder diesem erbärmlichen, grinsenden Dandy zu, diesem Mann, der offenkundig in Hotelzimmern ein und aus ging. »Aber ich danke Ihnen« – Sarkasmus lag ihr nicht, und sie überlegte kurz, wie sie den Satz zu Ende führen sollte –, »ich danke Ihnen, dass Sie mich auf die Taubstummenanstalt hingewiesen haben.«
Erst wollte sie die Multbeeren-Marmelade wieder mitnehmen, fand es dann aber ungehörig. An dem Abend fuhr noch ein Zug. Die Vorstellung, über Nacht in Falun zu bleiben, erfüllte sie mit Abscheu.
Lange Zeit konnte Anders Bodén nichts denken. Er sah zu, wie sich das Kupferdach dunkler färbte. Er zog seine verkrüppelte Hand unter der Bettdecke hervor und brachte damit seine Haare in Unordnung. Den Topf mit Marmelade gab er der ersten Schwester, die in sein Zimmer kam.
Er hatte in seinem Leben ein paar Dinge gelernt und hoffte, er könne sich darauf verlassen; eins davon war, dass ein größerer Schmerz einen geringeren vertreibt. Zahnweh lässt eine Muskelzerrung verschwinden, ein zerquetschter Finger lässt Zahnweh verschwinden. Er hoffte – dies war nun seine einzige Hoffnung –, dass der Schmerz des Krebses, der Schmerz des Sterbens die Schmerzen der Liebe vertreiben würde. Wahrscheinlich kam ihm das nicht vor.
Wenn das Herz bricht, dachte er, dann reißt es wie Holz durch das ganze Brett. In seinen ersten Tagen im Sägewerk hatte er gesehen, wie Gustaf Olsson einen massiven Holzklotz nahm, einen Keil hineintrieb und den Keil leicht drehte. Der Klotz brach im Kern von oben bis unten. Mehr brauchte man über das Herz nicht zu wissen: nur wo der Kern lag. Dann konnte man es mit einer Drehung, einer Geste, einem Wort zerstören.
Als die Nacht hereinbrach und der Zug an dem dunkler werdenden See entlangfuhr, an dem alles begonnen hatte, als ihre Scham und ihre Selbstvorwürfe nachließen, versuchte sie, klar zu denken. Anders war dem Schmerz nicht beizukommen: klar denken, sich nur für das interessieren, was wirklich geschieht, wovon man weiß, dass es wahr ist. Und sie wusste dies: dass der Mann, für den sie in jedem Augenblick der vergangenen dreiundzwanzig Jahre Ehemann und Kinder verlassen, für den sie ihren guten Ruf und ihre Stellung in der Gesellschaft aufgegeben hätte, mit dem sie Gott weiß wohin fortgelaufen wäre, ihrer Liebe nicht würdig war und nie gewesen wäre. Axel, den sie achtete, der ein guter Vater und Ernährer war, war dieser Liebe sehr viel würdiger. Und doch liebte sie ihn nicht, nicht wenn sie das, was sie für Anders Bodén empfunden hatte, zum Maßstab nahm. Dies also war das Unglück ihres Lebens, das sich aufteilte zwischen einem nicht geliebten Mann, der ihre Liebe verdiente, und einem geliebten Mann, der ihre Liebe nicht verdiente. Was sie für die Stütze ihres Lebens gehalten hatte, für einen ständigen Gefährten in einer möglichen Welt, treu wie ein Schatten oder eine Spiegelung im Wasser, war nicht mehr als eben dies: ein Schatten, eine Spiegelung. Nichts Reales.
Obwohl sie stolz darauf war, wenig Phantasie zu haben, und obwohl sie nichts auf Legenden gab, hatte sie sich gestattet, ihr halbes Leben in einem Traum aus Tand zu verbringen. Nur eins konnte sie sich zugute halten, dass sie ihre Tugend bewahrt hatte. Aber was besagte das schon? Wäre sie auf die Probe gestellt worden, sie hätte der Versuchung nicht einen Moment widerstanden.
Als sie das so bedachte, in Klarheit und Wahrheit, kehrten ihre Scham und ihre Selbstvorwürfe nur noch stärker zurück. Sie knöpfte sich den linken Ärmel auf und wickelte ein verschossenes blaues Band von ihrem Handgelenk. Sie ließ es auf den Boden des Eisenbahnwaggons fallen.
Axel Lindwall warf seine Zigarette in den leeren Kamin, als er den Einspänner kommen hörte. Er nahm seiner Frau die Reisetasche ab, half ihr hinunter und bezahlte den Kutscher.
»Axel«, sagte sie im Tonfall munterer Zuneigung, als sie im Haus waren, »warum rauchst du immer, wenn ich nicht da bin?«
Er sah sie an. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Er wollte ihr keine Fragen stellen, damit sie ihm keine Lügen erzählte. Oder damit sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Er hatte vor beidem gleichermaßen Angst. Das Schweigen dauerte an. Nun ja, dachte er, wir können nicht für den Rest unseres Lebens schweigend zusammenleben. Darum antwortete er schließlich: »Weil ich gern rauche.«
Sie lachte leise. Sie standen vor dem kalten Kamin; er hielt noch immer ihre Reisetasche in der Hand. Soweit er wusste, enthielt diese Tasche alle Geheimnisse, alle Wahrheiten und alle Lügen, die er nicht hören wollte.
»Ich bin früher zurückgekommen als gedacht.«
»Ja.«
»Ich habe beschlossen, nicht in Falun zu übernachten.«
»Ja.«
»Die Stadt riecht nach Kupfer.«
»Ja.«
»Aber das Dach der Kristina-Kyrka glänzt in der untergehenden Sonne.«
»So hat man es mir erzählt.«
Es war schmerzlich für ihn, seine Frau in diesem Zustand zu sehen. Es wäre nur menschlich, sie erzählen zu lassen, was sie sich an Lügen zurechtgelegt hatte. Darum gestattete er sich eine Frage.
»Und wie geht es … ihm?«
»Oh, ihm geht es sehr gut.« Erst als sie das ausgesprochen hatte, wusste sie, wie absurd es klang. »Das heißt, er ist im Krankenhaus. Es geht ihm sehr gut, aber ich glaube, das kann nicht sein.«
»Im Allgemeinen gehen Menschen, denen es sehr gut geht, nicht ins Krankenhaus.«
»Nein.«
Er bereute seinen Sarkasmus. Ein Lehrer hatte seiner Klasse einmal erklärt, Sarkasmus sei eine moralische Schwäche. Warum musste er gerade jetzt daran denken?
»Und …?«
Bis jetzt war ihr nicht klar gewesen, dass sie sich für ihre Reise nach Falun würde verantworten müssen; nicht für die näheren Umstände, sondern den Zweck. Als sie abreiste, hatte sie sich vorgestellt, bei ihrer Rückkehr wäre alles anders geworden und sie müsste nur diese Veränderung erklären, wie immer sie aussehen mochte. Als sich das Schweigen hinzog, geriet sie in Panik.
»Er möchte, dass du seine Box bekommst. Bei der Kirche. Sie hat die Nummer 4.«
»Ich weiß, dass sie die Nummer 4 hat. Geh jetzt zu Bett.«
»Axel«, sagte sie. »Im Zug habe ich gedacht, nun können wir alt werden. Je eher, desto besser. Ich meine, es muss alles einfacher werden, wenn man alt ist. Hältst du das für möglich?«
»Geh zu Bett.«
Allein geblieben, zündete er sich eine neue Zigarette an. Ihre Lüge war derart grotesk, dass sie sogar hätte wahr sein können. Aber es lief auf das Gleiche hinaus. Wenn es eine Lüge war, dann sah die Wahrheit so aus, dass sie unverhohlener als je zuvor ihren Liebhaber besucht hatte. Ihren ehemaligen Liebhaber? Wenn es die Wahrheit war, dann war Bodéns Geschenk eine sarkastische Entlohnung des betrogenen Ehemanns durch den hohnlachenden Liebhaber. Ein Geschenk, wie der Klatsch es liebte und nie vergaß.
Morgen begann der Rest seines Lebens. Und der war anders, ganz anders geworden durch das Wissen, dass in seinem bisherigen Leben vieles nicht so war, wie er gedacht hatte. Würde ihm eine Erinnerung, eine Vergangenheit bleiben, die nicht befleckt war von dem, was sich heute Abend bestätigt hatte? Vielleicht hatte sie Recht, und sie sollten versuchen, zusammen alt zu sein und darauf zu vertrauen, dass das Herz sich im Laufe der Zeit verhärtet.
»Was war das?«, fragte die Schwester. Dieser Patient redete allmählich wirr. Das war im Endstadium häufig so.
»Der Aufpreis …«
»Ja?«
»Der Aufpreis ist für Kanonenschüsse.«
»Kanonenschüsse?«
»Um das Echo zu wecken.«
»Ja?«
Er hatte Mühe, den Satz zu wiederholen. »Der Aufpreis ist für Kanonenschüsse, um das Echo zu wecken.«
»Tut mir Leid, Herr Bodén, ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Dann hoffe ich, Sie finden es nie heraus.«
Bei der Beerdigung von Anders Bodén stand sein Sarg aus Fichtenholz, das nur einen Möwenschrei von der Straßenkreuzung der Stadt geschnitten und abgelagert worden war, vor dem geschnitzten, im Dreißigjährigen Krieg aus Deutschland hierher gebrachten Altar. Der Pfarrer pries den Sägewerksdirektor als einen hohen Baum, der unter Gottes Axt gefallen war. Diesen Vergleich hörte die Gemeinde nicht zum ersten Mal. Vor der Kirche stand Box Nummer 4 zu Ehren des Toten leer. Er hatte in seinem Testament keine Verfügung darüber getroffen, und sein Sohn war nach Stockholm gezogen. Nach angemessenen Beratungen wurde die Box dem Kapitän des Dampfers zugesprochen, einem Mann von hervorragenden staatsbürgerlichen Verdiensten.