Zwei
Die drei Meter hohe Tür quietschte laut in den Angeln, als er die Kirche betrat. Der weiche Stoff des zugeknöpften Mantels verursachte beim Gehen kein Geräusch, lediglich der dumpfe Schlag seiner Absätze auf dem polierten Granit hallte leise bis unter die zwanzig Meter hohe Decke. Der Duft von Weihrauch hing wie eine verblassende Erinnerung noch in der Luft und durch die Heiligenbildnisse in den Buntglasscheiben drang dämmriges Licht.
Vincent tippte sich beim Anblick des Jesuskreuzes, das über dem Altar hing, kurz zum Gruß gegen die Stirn. Er schritt an den akkurat aufgestellten Holzbänken, die von den unzähligen Gesäßen über die Jahrzehnte blank poliert waren, entlang und rechter Hand zu dem kleinen Marienschrein, wo die ewigen Lichter brannten.
Eine andere in einen dunklen Mantel wie seinen gekleidete Person kniete auf dem kleinen Gebetsbänkchen und hielt die gefalteten Hände vors Gesicht. Der Mann, der für Vincent alles andere als ein Fremder war, senkte das Haupt und sein schwarzes Haar fiel ihm in dünnen Strähnen auf die Schultern.
»Du hast es nicht vergessen«, grüßte der Mann Vincent, als der sich neben ihm auf dem Gebetsbänkchen niederließ.
Vincent nahm eine der Kerzen und entzündete sie an der Flamme eines der ewigen Lichter. »Wie könnte ich«, antwortete er und stellte die Kerze auf dem sechsreihigen Ständer auf. Die kleine Flamme warf ihr Licht auf das Gesicht der Heiligen Maria und ließ ihr gütiges Lächeln in mattem Glanz erstrahlen.
»Sie liebte Kerzenschein, weißt du noch?«
Vincent blickte den Mann düster von der Seite an. »Hör auf damit!«
Der Mann seufzte schwer. »Es hat sich also nichts geändert …«
»Wie denn auch, Nathaniel? Celine ist tot. Und es ist deine Schuld.«
Nathan nickte bedächtig. Dann blickte er Vincent traurig in die Augen. »Denkst du, das wüsste ich nicht? Was denkst du wohl, warum ich hier bin?«
»Weil Er es so will«, antwortete Vincent knapp. »Deine ewige Verbannung.«
Nathan atmete hörbar aus. »So viele Jahre schon gefangen unter ihnen …«
Vincent legte den Kopf schief und musterte den Mann. »Du hasst die Menschen, nicht wahr?«
Nathan schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich, wo Er sie doch so liebt?«
»Du lügst, Gefallener«, sagte Vincent verächtlich. »Wie du schon damals gelogen hast.«
Wieder seufzte Nathan. »Willst du wirklich darüber sprechen? Ich wollte ihren Tod nicht, das musst du mir endlich glauben.«
»Die Menschen glauben, Nathan«, sagte Vincent trocken. »Wir Engel wissen.«
»Dann wisse, Bruder, dass ich diese Welt bald verlasse. Ich ertrage die Trostlosigkeit nicht länger.«
»Du kannst jederzeit ein sterbliches Leben wählen«, sagte Vincent. »Werde einer von ihnen, genieße deine kurze Lebensspanne und stirb in Frieden. Er wird dich dann wieder empfangen.«
»Es gibt Dinge, die ich als Sterblicher nicht tun kann«, hielt Nathan dagegen.
»Umgibst du dich deshalb mit Luzifers Lakaien?«, fragte Vincent direkt.
Nathan lächelte schmal. »Du irrst auf so viele Weisen, Vincent. Vielleicht lebst du auch schon zu lange unter den Menschen.«
»Ich werde so lange unter ihnen leben, wie es dauert, sie vor dir zu schützen.«
Nathan nickte. »Und wie viele von ihnen hast du in den letzten Jahrhunderten bereits gerichtet? Wie viele sind durch deine Hand gestorben?«
Vincent zuckte die Achseln. »Ich habe ihre Seelen vor Dämonen gerettet. Ich habe ihnen die Ewigkeit an Seiner Seite ermöglicht.«
Wieder nickte Nathaniel. »Eine gelungene Rechtfertigung … Aber, sag mir, Bruder, waren sie denn alle Sünder?«
Vincent schnaubte verächtlich. »Durch Luzifers Makel hatten sie gar keine andere Wahl. Ergreift ein Dämon einmal Besitz von seinem Wirt, ist die Seele verloren.«
Nathan lächelte traurig. »Du bist hart geworden in deinem Hass, Bruder.«
»Hart gegen dich, ja«, fuhr Vincent dazwischen.
»Hart gegen die Menschen«, berichtigte Nathan.
Vincent schüttelte schnaubend den Kopf. »Ich tue, was immer nötig ist, um sie zu beschützen.«
Nathan lächelte gutmütig. »Wirst du mich verfolgen, wenn ich dich jetzt verlasse, um Celines Grab noch einen Besuch abzustatten?«
Vincent seufzte. »Nicht heute. Nicht an diesem Tag, das weißt du.«
»Dann leb wohl, Bruder«, sagte Nathaniel leise und stand auf. »Du solltest ihr Blumen bringen, das würde sie freuen.«
Er schenkte Vincent noch ein trauriges Lächeln, doch seine makellosen Züge konnten den Engel nicht täuschen. Vincent packte Nathan am Arm. »Wenn du endlich Buße für ihren Tod leisten willst, dann triff mich hier um Mitternacht.«
»Ich büße bereits jeden Tag«, sagte Nathan und ging.
Vincent tippte mit der Linken gegen das Ohrmikro: »Lasst ihn gehen.«
»Aber … Vincent?«, ertönte Shanes Stimme. Der Paladin schien überrascht und enttäuscht.
Vincent seufzte. »Ihr könnt ihn nicht aufhalten. Und ich werde ihn heute nicht jagen. Also lasst ihn gehen.«
»Verstanden.«
So viele Jahre schon, dachte Vincent und zog sich das kleine Mikrofon aus dem Ohr. Die Technik ändert sich, aber wir bleiben dieselben, nicht wahr? Er blickte beinahe Hilfe suchend zu der kleinen Marienstatue. »So viele Jahre …«, flüsterte er.
Einige Minuten später hörte er, wie das Kirchentor erneut geöffnet wurde. Schwere Stiefelabsätze traten in rascher Folge auf dem Granit auf, und Vincent begrüßte die Person, ohne den Blick von der Marienstatue abzuwenden. Er konnte ihren Herzschlag deutlich fühlen und auch, dass sie in seiner Gegenwart zunehmend nervöser wurde. Ihr Atem beschleunigte sich und sie geriet ganz leicht ins Schwitzen.
Noriko schwärmte für ihn, das war für Vincent kein Geheimnis. Doch er würde sich solche Gefühle niemals wieder gestatten. Zum Glück für die Frau legte sie ihre Nervosität bei der Jagd ab, sonst wäre sie im Kader der Paladine nicht von Nutzen.
»Weshalb störst du mich, Noriko?«, fragte Vincent tonlos. Er blickte sie noch immer nicht an, wusste aber, dass seine Worte ihr einen Stich versetzten.
»Alfred hat sich gemeldet«, sagte sie mit kontrollierter Stimme. »Der Neue ist schon angekommen und wartet im Nest.«
»So früh also«, bemerkte Vincent. »Er sollte Rom doch erst in zwei Tagen verlassen.«
»Anscheinend wollte man das Team möglichst rasch wieder ergänzen«, vermutete Noriko.
Vincent stand auf und verbeugte sich ehrfürchtig vor der Marienstatue. Dann wandte er sich zu Noriko um. In Straßenkleidung war von der harten Kämpferin, die er vier Jahre zuvor in Japan rekrutiert hatte, nichts mehr zu erkennen. Die Kurzhaarfrisur ließ sie auf den ersten Blick jungenhaft wirken.
»Shane wartet im Van«, sagte sie, um ihr Unbehagen zu kaschieren. Dass er sie so ansah, verunsicherte sie immer wieder.
»Dann zurück zum Nest«, stimmte Vincent zu.
Vor der Kirche stand ein unscheinbarer Minivan, wie sie mittlerweile jeder Hersteller für kleine bis große Familien anbot. Früher hatten Vincents Paladine einen Kleinbus benutzt, aber ein Minivan mit getönten Scheiben war einfach viel unauffälliger. Abgesehen vom Fahrer, denn Shane war ein rothaariger Riese aus den schottischen Highlands. Die Locken hatte er auf Schulterlänge gestutzt und eine große Sonnenbrille verdeckte den Großteil seines Gesichts – mit Ausnahme seines strahlenden Lächelns. Er saß einfach nur entspannt auf dem Fahrersitz und trommelte mit den Fingern zum Takt der Musik aufs Lenkrad. Vincent kannte das Lied, es war »Something To Believe In« von Bon Jovi.
Noriko öffnete die Tür und kletterte auf den Beifahrersitz. Vincent machte es sich auf der Rückbank bequem.
»Zurück zum Nest«, sagte er kurz angebunden.
Shane startete den Motor. »Warum haben wir Nathan wieder ziehen lassen?«, wagte er zu fragen.
Vincent wandte den Blick zum Fenster, durch das er den Friedhof sehen konnte. »Weil ich ihn heute nicht verfolge.«
»Okay, damit kann ich leben«, lachte der Hüne und trat aufs Gas. Der Van machte einen Satz nach vorn, schnurrte dann aber wie ein Kätzchen, als Shane den dritten Gang einlegte und es gemütlicher angehen ließ.
Heute verfolge ich dich nicht, Nathaniel, dachte Vincent, während er aus dem Fenster blickte.
*
Antonio saß steif auf der vordersten Holzbank, keine zwei Meter vom Altar entfernt. Die Kirche war klein. Es gab nur noch fünf weitere Holzbänke und die standen akkurat hintereinander aufgereiht. Einen Mittelgang gab es nicht, aber die Bänke waren auch nur zehn Meter breit. Was kann es hier schon Wichtiges geben, das es um jeden Preis zu beschützen gilt?, fragte er sich unentwegt. Man hatte ihm nicht viel über seinen neuen Auftrag erzählt, lediglich, dass diese kleine Kirche mitten in Deutschland für den Vatikan von unschätzbarem Wert war.
Pfarrer Markwart hatte ihn zwar freundlich begrüßt, hielt sich über die Aufgaben, die hier auf Antonio warten mochten, jedoch ebenso bedeckt.
Außerdem war der Pfarrer schon seit Tonis Ankunft damit beschäftigt, einen kleinen Setzling in einem großen Blumentopf zu pflegen und zu bewundern. Toni hatte ihn eine Weile beobachtet, bevor er sich ihm vorgestellt hatte. Alfred Markwart war ohne Unterlass mit einem Schössling beschäftigt. Der Größe des Blumentopfes nach zu urteilen, mochte es sich dabei vielleicht sogar um einen Baum handeln, den er für den Winter lieber in der Kirche wusste, um ihn vor Bodenfrost zu schützen.
Toni wischte die Gedanken um den Pfarrer beiseite und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Rest der Kirche. Das Jesuskreuz über dem Altar war schlicht und aus Holz. Nicht so protzig wie in anderen Kirchen, dachte Toni erfreut. Er mochte den Pomp, mit dem sich katholische Kirchen bisweilen schmückten, nicht. Nach seiner Auffassung sollte die Kirche ihr Vermögen einzig und allein dazu nutzen, um denen zu helfen, die nichts hatten.
Er faltete die Hände zum Gebet. »Herr, du hast mich entsandt, um dir hier zu dienen. Auch wenn man mir nicht gesagt hat weshalb, so weiß ich doch, dass es nach deinem Willen geschah.« Er blickte wieder zum Jesuskreuz empor. »Gib mir die Kraft, diese Prüfung zu bestehen.«
Die Tür der kleinen Kirche wurde geöffnet und das Geräusch von drei Paar Stiefeln, deren Absätze auf den Stein schlugen, erfüllte die kleine Halle. Toni drehte den Kopf, um einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen. Zwei Männer und eine Frau, gekleidet in lange dunkle Mäntel, schritten entschlossen auf ihn zu.
Rasch hatten sie die Sitzbänke umrundet und bauten sich im Halbkreis vor ihm auf, wobei die Frau und der rothaarige Hüne den blonden Mann flankierten. Toni starrte ihm wie gebannt in die strahlend blauen Augen, die beiden Begleiter verschwammen neben ihm fast. Dabei stand der Mann einfach nur da, das linke Bein einen halben Schritt weiter nach vorn geschoben, die Hände in den Taschen seines Mantels. Er hielt den Kopf leicht schräg, wodurch die Haare auf der rechten Schulter auflagen. Sein Blick war wach und beobachtend, jedoch nicht bedrohlich … eher … beruhigend.
»Seid ihr der Grund, weshalb ich hier bin?«, platzte Toni mit einer Frage heraus, um die Stille zu durchbrechen.
Der Blonde verzog keine Miene. »Durchgefallen.«
Toni runzelte die Stirn. »Wie?«
Der rothaarige Hüne ergriff das Wort. »Durch den ersten Test«, sagte er fröhlich, aber ohne jede Form von Spott.
»Zeigt ihm alles«, warf der Blonde ein und wandte sich zum Gehen, »und dann bringt ihn wieder zu mir.«
»Die große Tour?«
Der Blonde war bereits an einer Seitentür angelangt. »Alles.« Dann war er hinter ihr verschwunden und ließ sie in der Halle zurück.
Der Hüne seufzte tief. »Die große Tour also … Gott weiß, wie sehr ich die hasse.«
Die Asiatin bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Du solltest nicht so abfällig reden.« Toni vermutete, dass sie aus dem Osten Japans stammte, möglicherweise hatte es in ihrer Familie sogar einmal abendländische Vorfahren gegeben. In einem Abendkleid wäre sie bestimmt eine Wucht, versank er in Gedanken.
»Was denn?«, warf der Rothaarige zurück. »Gott weiß, dass ich die Tour hasse. Zwischen dem Herrn und mir gibt es keine Geheimnisse.«
Tonis Blick wanderte interessiert zwischen dem Hünen und der Frau hin und her. Den Mann schätzte er auf knapp zwei Meter und damit einen Kopf größer, als er selbst war. Seine roten Locken umrahmten sein Gesicht wie ein Feuerkranz. Die Frau hatte schwarze Haare und trug die gleiche Frisur wie er selbst, einen modischen Kurzhaarschnitt mit angedeutetem Irokesen. Toni versuchte ihre Figur unter dem langen Mantel zu erahnen, kam aber über eine vage Vermutung nicht hinaus.
Der Hüne seufzte erneut. »Na schön, dann fangen wir mal an. Wie heißt du?«
»Antonio Lucina«, antwortete er rasch.
»Okay, Toni … Ich darf doch Toni sagen?«, fragte der Rotschopf, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. »Ich bin Shane und das hier ist Noriko.«
»Alfred kennst du ja schon«, warf Noriko ein. »Und Vincent … ihn lernst du später kennen.«
Tonis Blick wurde zunehmend verwirrter. »Das ist ja schön, aber … was soll ich hier?«
»Wenn man uns sagen würde, wer unser Team verstärkt und wann, dann hätten wir dich selbst abgeholt«, lachte Shane und steuerte auf eine Tür an der Rückseite der Kirche zu. »Aber in Rom hält man sich seit Neuestem gerne bedeckt.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Toni.
»Jetzt öffnen wir dir erst einmal die Augen.«
Noriko stand noch immer bei Toni und zog ihn auf die Füße. »Willkommen bei der Truppe.«
»Los, suchen wir dir mal die passende Kleidung«, sagte Shane und winkte Noriko und Toni zu sich heran. Dann verschwand er durch die offene Tür, hinter der eine Treppe nach unten führte.
Toni traute seinen Augen nicht, als sie den Keller der Kirche betraten. Er hatte mit einer gewöhnlichen eisenbeschlagenen Holztür gerechnet, nicht mit einem Bollwerk aus Stahl, das mit einem Netzhautscan und einer Stimmenanalyse gesichert war.
Der Hüne brachte ein Auge in Position vor den Scanner, baute sich danach vor der Tür auf und sagte mit ruhiger Stimme: »Shane MacRath.«
»Was für eine Truppe seid ihr?«, entschlüpfte es Toni.
Noriko lachte trocken. »Man könnte sagen, wir sind der verlängerte Arm der Inquisition.«
Toni runzelte die Stirn. »Die Inquisition … ja klar.«
Shane öffnete die Tür und trat hindurch. »Glaubst du an Gott?«, fragte er aus dem Inneren des Raumes.
Noriko blickte Toni fragend an und folgte Shane durch die Tür hindurch.
»Ja, natürlich glaube ich an den Herrn«, antwortete Toni und trat ebenfalls ein.
»Dann solltest du auch die Konsequenzen kennen.« Shane begrüßte ihn mit ausgebreiteten Armen in einem Raum, der Toni an eine geheime Militärbasis erinnerte, aber ganz gewiss nicht an einen Kirchenkeller.
»Wo bin ich hier gelandet?«, hauchte Toni fassungslos.
Wieder erklang Norikos trockenes Lachen. »Keine Sorge, man gewöhnt sich schnell daran.«
Shane baute sich vor Toni auf. »Rom hat dich zu uns geschickt, weil man deine Fähigkeiten als nützlich für uns erachtet.« Er musterte Toni von Kopf bis Fuß. »Ich bin ganz ehrlich, denn Lügen ist eine Sünde«, sagte er augenzwinkernd. »Mir ist egal, was die sagen. Wir halten täglich unseren Kopf hin, um das zu schützen, was ihnen heilig ist. Also musst du unseren Anforderungen genügen, nicht dem theoretischen Geschwafel der Bischöfe, klar?«
Toni antwortete zögerlich. »Klar …«
Shane deutete auf ein Regal zu seiner Linken, in dem von Handfeuerwaffen bis zu leichten Sturmgewehren so ziemlich alle denkbaren Waffen verstaut waren. Sogar verschiedene Handgranaten ruhten in kleinen Kisten. »Kannst du damit umgehen?«
Toni nickte. »Ich war bei der Schweizergarde.«
»Was sagt dir der Hexenhammer?«, warf Noriko ein.
Toni blickte sie skeptisch an. »Dieses Sammelsurium an Halbwahrheiten, mit dem die Kirche in ihrer dunkelsten Stunde unzählige Unschuldige hingerichtet hat?«
Shane seufzte, schüttelte dann resignierend den Kopf. »Okay … wie sollst du es auch besser wissen.«
In der Zwischenzeit hatte Noriko aus einem anderen Regal einen silbernen Rosenkranz und ein kleines Buch hervorgeholt. »Trage ihn immer um den Hals«, wies sie ihn an, als sie ihm die Kette überreichte.
Toni wollte schon widersprechen, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass es klüger wäre, der Frau zu gehorchen. Er wog das Büchlein in der Hand. Es gab keinen Hinweis darauf, was es enthielt. »Und was ist das?«
Shane verzog die Lippen zu einem schelmischen Grinsen. »Die Spielregeln.«
Noriko stand vor einem geöffneten Schrank, doch die Sicht auf dessen Inhalt wurde Toni vom Türflügel versperrt. »Welche Kleidergröße hast du?«, fragte sie beiläufig und ließ ihren Blick suchend umherwandern. Sie hielt inne, musterte Toni von Kopf bis Fuß und griff dann in den Schrank. »Das hier sollte passen.« Sie hielt ihm eine Hose, ein Hemd und eine ärmellose Weste hin.
Toni nahm die Sachen zögerlich entgegen und fühlte, dass es sich bei dem dunklen Material um eine Art Kevlar handelte. »Gepanzerte Kleidung?« Er tauschte einige fragende Blicke mit den beiden. »Gepanzerte Kleidung, Waffen – was kommt als Nächstes?«
Shane grinste breit. »Wir erklären dir das Spiel.« Dann nahm er sich eine kleine 9-mm-Maschinenpistole aus dem Regal, prüfte, ob sie geladen war, und steckte sie in das Schulterholster. Noriko wählte eine einfache Pistole gleichen Kalibers. Offensichtlich, weil eine größere Waffe an ihrem zierlichen Körper leichter zu entdecken wäre.
Toni wusste nicht genau, was man von ihm erwartete, aber die ganze unwirkliche Situation sorgte schon allein dafür, dass er sich mit einer Waffe in der Hand wesentlich sicherer fühlte. Also nahm auch er eine halb automatische Pistole und ein passendes Holster aus dem Regal.
»Anziehen«, sagte Shane knapp. »Die Zeit drängt.«
Toni senkte den Blick.
»Kein Grund, kirchlicher als der Papst zu sein«, lachte Noriko. »Aber bitte, wenn du wirklich so verklemmt bist …«, fuhr sie fort und drehte sich um. »Besser so?«
Toni entledigte sich rasch seiner Kleidung und zog die neuen Sachen über. Je öfter er das Material berührte, desto sicherer war er, dass es sich dabei um kugelsicheren Stoff handelte. Shane bemerkte seinen prüfenden Blick und nickte ihm bestätigend zu.
»Wohin zuerst?«, fragte Shane, und es war klar, dass er mit Noriko sprach.
»Wie spät ist es?«, entgegnete sie. »Früher Abend?«
Shane sah auf die Uhr. »Ich denke, der Russe ist schon wach.« Er griff nach einer kleinen Tasche.
Toni machte sich nicht mehr die Mühe, die beiden um eine Erklärung zu bitten, stattdessen folgte er ihnen nach einem stummen Stoßgebet die Treppe hinauf und aus der Kirche hinaus.
Shane steuerte zielsicher auf einen blauen Minivan mit getönten Scheiben zu.
»Okay …«, begann Toni, »klärt mich endlich mal auf. Geheime Waffenlager im Keller einer Kirche, Kevlaranzüge – und dann eine spießige Familienkutsche?«
Noriko wollte anscheinend zu einer Erklärung ansetzen, doch Shane fiel ihr ins Wort. »Du würdest es nicht glauben, also verderben wir dir nicht den Spaß.«
»Es ist ungefährlich«, versuchte Noriko ihn zu beruhigen, fügte dann aber achselzuckend hinzu: »Heute zumindest.«
Toni entfuhr ein genervtes Stöhnen.
»Keine Sorge, es wird sich lohnen!«, lachte Shane und entriegelte die Türen per Fernbedienung.
Nachdem sie eingestiegen waren – Toni hatte es sich im Fond bequem gemacht –, drehte Shane sich noch einmal zu ihm um. »Wir haben im Auto keine Waffen versteckt, für den Fall, dass es jemand klaut oder wir durchsucht werden. Ich gehe davon aus, dass du einen Waffenschein hast, sonst hätte man dich uns erst gar nicht zugeteilt.«
»Ja, hab ich«, antwortete Toni leicht gereizt. Er hatte dieses Spielchen allmählich satt.
»Anschnallen«, sagte Shane mit entwaffnendem Lächeln. Dann ließ er den Motor an und löste die Handbremse. »Auf zum Russen.«
Sie sprachen während der Fahrt kaum ein Wort. Toni war das Schweigen angenehm, da er sich so besser auf seine Umgebung konzentrieren konnte. Was für eine kleine Stadt im Vergleich zu Rom, dachte er. Shane hielt vor einem großen Wohnkomplex und führte sie in eine Art Hinterhof. Dort steuerte er einen der vielen Hauseingänge an. Toni überschlug anhand der Klingeln die Anzahl der Wohnungen und kam auf mehr als dreißig pro Gebäude. Shane drückte einen Klingelknopf. Auf dem dazugehörigen Schild prangten lediglich die Initialen »V. D.«
Nach einem kurzen Moment wurde die Gegensprechanlage betätigt. »Ja?« Die Stimme hatte einen osteuropäischen Akzent.
»D., mach schon auf«, sagte Shane. »Wir stören auch nicht lange.«
Aus dem Lautsprecher drang ein resignierendes Seufzen, dann gab der Summer die Tür frei. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock, folgten einem langen Gang und standen schließlich vor einer verschlossenen Tür.
Shane klopfte laut dagegen.
»Ist es dunkel?«, fragte die osteuropäische Stimme.
»Scheiße, ja. Du kennst den Hausflur«, entgegnete Shane. Dann öffnete er die Tasche und verteilte daraus kleine Geräte, die wie Stirnlampen aussahen. Erst auf den zweiten Blick stellte Toni fest, dass es sich dabei um Nachtsichtgeräte handelte.
Mehrere Sicherheitsschlösser wurden klackend geöffnet und die Tür schwang zur Hälfte auf.
Shane ging voran, gefolgt von Noriko. Beide trugen bereits die Infrarotsichtgeräte. Toni zögerte noch einen Augenblick und sah ihnen nach. Als er bemerkte, dass es in der Wohnung hinter der Tür stockfinster war, legte er kopfschüttelnd das Nachtsichtgerät an und folgte den beiden.
Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, das Bild war undeutlich und dunkel.
»Schalt die Infrarotlampe an der rechten Seite an«, riet ihm Noriko.
Toni suchte kurz nach einem Schalter und atmete erleichtert auf, als das Bild nach dessen Betätigung schlagartig besser wurde. Er befand sich in einem schmalen Flur, der in einen größeren Raum mündete. Als er den Raum betrat, erkannte er, dass es sich um ein geräumiges Wohnzimmer handelte. Noriko und Shane saßen auf einem Sofa gegenüber von einem hageren Mann in einem dicken Polstersessel.
»Setz dich«, wies Shane ihn an und deutete auf einen zweiten Sessel. Toni ging vorsichtig darauf zu – die ungewohnte Sicht machte ihn ganz schwindelig.
»Was wollt ihr?«, fragte der hagere Mann mit hartem Akzent.
Russisch? Slowenisch?, fragte Toni sich, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Moment.
Shane deutete auf ihn. »Er ist neu. Vince will, dass wir ihm alles zeigen.«
»Und da kommt ihr zu mir?«
»Lass den Akzent stecken, Vlad«, mischte Noriko sich ein. »Wen willst du damit erschrecken?«
»Imagepflege«, gab Vlad unumwunden zurück – perfekt und akzentfrei. Dann blickte er Toni neugierig an. »Sie wissen nicht, wer ich bin, hab ich recht?«
»Nein, das weiß ich nicht«, gab Toni zu.
Vlad stand kurz auf, um sich tief zu verbeugen. »Gestatten, Graf Vlad Dracul der … ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr … vielleicht der Dritte.«
»Klingt spannend«, rutschte es Toni heraus.
»Ich wurde 1422 in … wie sagt man hier … Schäßburg geboren. Und der Akzent war rumänischen Ursprungs, um Ihre Frage zu beantworten.« Dann ließ er sich geschmeidig in den Sessel zurückgleiten.
Toni hatte aufmerksam zugehört und saß nun mit geschürzten Lippen da. »Guter Witz«, sagte er schließlich. »Nicht schlecht, wirklich. Auch zu erraten, dass ich mich über den Akzent gewundert habe.« Er blickte Shane und Noriko fragend an.
»Du wolltest doch wissen, was wir machen«, sagte Shane.
»Und Vlad hier gehört zu unseren Informanten«, fügte Noriko hinzu.
»Vlad Dracul …«, wiederholte Toni. »Wie in Dracula?«
»Ganz recht«, antwortete Vlad.
»Klar«, schnaubte Toni und verschränkte die Arme vor der Brust.
Shane kicherte kurz. »Zeig’s ihm, Vlad.«
Vlad grinste breit. »Gerne. Aber nur, wenn er nicht auf mich schießt.«
»Wieso sollte ich?«, wunderte sich Toni.
Noriko hingegen nickte. Sie wandte sich zu ihm um, er konnte ihre rötlichen Umrisse vor dem dunklen Hintergrund klar erkennen. »Dir wird jetzt nichts geschehen, bleib ganz ruhig. Aber sieh genau hin, ja?«
»Okay …«, sagte Toni langsam und lehnte sich im Sessel zurück.
Vlad stand indessen auf und postierte sich zwischen seinen Gästen. »Was Sie jetzt sehen, wird Ihr Leben verändern«, versprach er.
Toni beobachtete durch die verzerrte Infrarotsicht, wie Vlad sich anscheinend unter Schmerzen krümmte. Plötzlich erfüllte das Geräusch von zerreißendem Stoff das Wohnzimmer und Vlads Hemd fiel in Fetzen zu Boden. Der hagere Mann schien um einen Kopf gewachsen zu sein und auch deutlich an Muskelmasse zugelegt zu haben. Toni schüttelte verwirrt den Kopf, als Vlads Schultern laut knackten und sich wölbten.
Haut zerriss und in der Infrarotsicht breiteten sich zwei warme Flecken links und rechts des Mannes aus. Toni verstand nicht und zog das Nachtsichtgerät herunter. Zwei rot glühende Augen funkelten ihn wild aus Vlads Kopf an. Shane zog ein Feuerzeug aus der Tasche, und als die kleine Flamme verzweifelt gegen die Dunkelheit des Raumes ankämpfte, konnte Toni es endlich erkennen: ein schwarzes ledriges Flügelpaar.
»Verdammt!«, stieß er aus und warf sich samt Sessel nach hinten, kippte um und fiel. Noch in der Luft ruderte er mit den Armen und begann mit den Füßen zu strampeln, als wollte er davonlaufen. Er landete in zusammengekauerter Position auf den Füßen und starrte auf den fleischgewordenen Albtraum in der Mitte des Wohnzimmers. »Was zur Hölle ist das?«
Das Maul des Monsters öffnete sich und messerscharfe Zähne blitzten auf. Seiner Kehle entrang sich ein gequälter Schrei, der eher zu einem Raubvogel gepasst hätte.
»Was passiert hier?«, schrie Toni und versuchte mit zittrigen Fingern seine Pistole zu fassen.
»Bleib ganz ruhig«, sagte Shane gelassen, dann wandte er sich an das Monster. »Ich denke, das reicht, D.«
Toni traute seinen Augen nicht, als die Flügel langsam schrumpften und im Rücken des Monsters verschwanden. Auch die Statur veränderte sich mehr und mehr, bis schließlich derselbe hagere Mann wie zuerst vor ihm stand, jedoch ohne Hemd.
»Entschuldigt mich einen Moment«, sagte Vlad. Seine Stimme klang ein wenig angestrengt, doch Toni schenkte diesem Detail keine Beachtung. »Ich hole mir rasch ein frisches Hemd.«
Vlad ging an Toni vorbei, der rückwärtskrabbelnd vor ihm flüchtete, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Er bekreuzigte sich mehrmals und stammelte: »Herr, sei meiner Seele gnädig.«
»Betest du auch noch das Vaterunser?«, lachte Shane.
»Was … war das?«, fragte er stotternd.
Shane lehnte sich entspannt zurück. »Wonach sah es denn aus?«
Toni schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein«, murmelte er immer wieder. »Das kann es nicht geben … Ich muss hier raus!«
Noriko legte den Kopf schief und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Mitgefühl und Belustigung. »Du sagtest, dass du an Gott glaubst«, begann sie. »Wir haben dir nur gezeigt, dass du recht getan hast … und welche Konsequenzen sich sonst noch daraus ergeben.«
Vlad stand plötzlich neben ihm – er war einfach aus dem Nichts aufgetaucht und Toni fuhr erschrocken zusammen.
»Keine Sorge, Sie sind nicht der Erste, der an seinem Verstand zweifelt, nachdem er mich gesehen hat.« Der hagere Mann reichte Toni einen Eimer. »Bitte, der Teppich ist recht neu …«
Toni nahm den Eimer mit zitternden Händen entgegen und übergab sich mit lautem Würgen. Er blickte auf, konnte jedoch in der Dunkelheit nichts erkennen. Toni versuchte das Nachtsichtgerät wieder aufzusetzen, doch die Gurte hatten sich verdreht und er konnte sie mit seinen nervösen Fingern nicht mehr entwirren. »Ich muss hier raus!«, stammelte er erneut. Er umklammerte den Eimer wie ein Ertrinkender eine Rettungsboje.
»Wir können die Rollläden nun ein wenig öffnen«, sagte Vlad. »Die Sonne geht bereits unter und ich kann ein wenig Licht riskieren.«
»Oder du besorgst dir endlich ein paar Glühbirnen«, kicherte Shane.
»Die brauche ich nicht«, gab Vlad zurück. »Und ich sehe nicht ein, weshalb ich es euch kriecherischen Menschen leichter machen sollte.«
Noriko stand auf und öffnete die Läden einen winzigen Spalt. Vlad ging wieder zu seinem Sessel zurück, passte dabei aber peinlichst genau auf, keinen Lichtfleck zu berühren. Im spärlichen Licht der untergehenden Sonne konnte Toni einen ersten echten Blick auf Vlads Gesicht werfen. Der Mann sah keinen Tag älter aus als fünfzig. Kurzes, schwarzes Haar umspielte seine blasse Haut, und die tief in den Höhlen sitzenden Augen wanderten wach umher.
Was ist er?, fragte Toni sich.
»Ich habe mich doch bereits vorgestellt«, beantwortete Vlad den Gedanken. »Doch im Volksmund bin ich besser bekannt als Dracula.«
Wie ist das möglich?, durchzuckte es Toni. Er liest meine Gedanken?
»Ganz recht, das tue ich«, sagte Vlad. »Eine kleine … Zugabe … zu meinen anderen Fähigkeiten.«
»Verstehst du jetzt, weshalb es keine offene Ausschreibung für die freie Stelle bei uns gab?«, lachte Shane.
Toni schüttelte den Kopf, fasste sich aber so weit ein Herz, dass er wieder aufstand, den Sessel aufrichtete und sich erneut Dracula gegenübersetzte. Jede Faser seines Körpers wollte davonlaufen, doch die Tatsache, dass Shane und Noriko gelassen auf dem Sofa saßen, als wären sie bei einem Bekannten zum Tee, machte ihn neugierig. Ein Teil von ihm glaubte auch immer noch, jeden Moment aus dem Albtraum zu erwachen. »Aber wie ist das möglich?«, fragte er erneut.
Noriko seufzte. »Gott existiert. Und siehst du nicht, was die logische Schlussfolgerung daraus ist?«
Tonis Atem ging schwer, er hatte das Gefühl, jeden Moment einen Herzanfall erleiden zu müssen. Seine rechte Hand griff bereits wieder nach dem Eimer, doch er hatte sich noch unter Kontrolle. »Okay. Gott existiert … und auch Dracula.« Er blickte sich Hilfe suchend um, doch Shane und Noriko sahen ihn nur neugierig an. »Ihr bezeichnet euch als verlängerten Arm der Inquisition …«, fuhr er fort. »Bedeutet das, dass es auch Hexen gibt?«
Shane nickte. »In unserer Umgebung leben nicht weniger als fünf.«
»Werwölfe?«, fragte Toni weiter.
»Ja, aber sie wurden fast ausgerottet«, sagte Noriko.
»Gott existiert … Was ist mit der Hölle?«
Shane beugte sich nach vorn. »Es ist alles wahr, Toni. Alles. Alle Bibelgeschichten, alle Berichte über Fabelwesen, Werwölfe, Vampire, Elfen, Geister, Hexen. All diese Dinge sind Wirklichkeit, Toni.«
Toni wurde schwindelig. »Und was machen wir?«
»Wir sind Paladine«, erklärte Shane. »Heilige Krieger, die dafür sorgen, dass der Frieden gewahrt bleibt.«
»Der Frieden?«
»Zwischen Menschen und Halbwesen«, antwortete Noriko.
Vlad schnaubte verächtlich. »Ihr seid Schafhirten, weiter nichts.«
Toni wedelte mit den Armen. »Okay, okay. Aber was macht Dracula in so einer Absteige?«
Shane lachte, was einen säuerlichen Ausdruck auf Vlads Gesicht zauberte. »D. gehört im weitesten Sinne zu uns.«
Toni runzelte skeptisch die Stirn.
Vlad entrang sich ein Lächeln. »Sehen Sie, ich lebe schon seit 600 Jahren. Und wurde beinahe ebenso lange gejagt. Was glauben Sie, wie oft ich in der Vergangenheit die Kirche bestechen musste, um nicht hingerichtet zu werden?«
Toni zuckte mit den Schultern. Er war sich nicht sicher, ob er wach und bei klarem Verstand oder in einem wirklich schrecklichen Albtraum gefangen war. Er hatte das Gefühl, einfach nur verrückt zu werden, und Angst, dass sie ihn bei diesem Monster zurücklassen könnten. Also versuchte er, sich so gut es ging zusammenzureißen.
Shane deutete auf Vlads rechtes Fußgelenk. »D. steht seit Jahren unter Hausarrest.«
Tonis Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger mit den Augen und erblickte ein kleines Kästchen, das um Vlads Bein geschlungen war. »Ein Peilsender?«
»Man ließ mir die Wahl«, sagte Vlad. »Entweder ich verdinge mich als Informant für die Wächter oder ich werde den Sonnenaufgang sehen.« Er seufzte. »Und da man mir keine Absolution gewähren würde, wäre die Alternative zu diesem … Überleben … die Hölle.«
Toni nickte langsam. »Das alles klingt ziemlich verrückt.«
»Aber es ist wahr«, fuhr Shane fort. »D. hat sich als nützlicher Informant erwiesen.«
»Was mich wieder daran erinnert, dass mir eine bessere Unterkunft versprochen wurde«, warf Dracula ein.
»Wir arbeiten dran«, versprach Shane. »Die Kirche hat noch genug Immobilien – da ist bestimmt ein netter Keller für dich dabei.«
Vlad lachte gekünstelt. »Immer zu einem Scherz aufgelegt, nicht wahr?« Er blickte Shane fest in die Augen, und für einen Moment schien sich etwas Raubtierhaftes darin zu spiegeln. »Was machst du, wenn ich jemals wieder freikommen sollte?«
Shane lächelte gelassen. »Dann werde ich dunkle Ecken meiden.«
Dracula lehnte sich wieder entspannt zurück. »Ich denke, er hat nun alles gesehen, nicht wahr?«
Noriko nickte und stand auf. »Kommt, wir schaffen noch ein paar Stationen, bevor Vincent uns erwartet.«
Toni war schon aufgestanden, bevor sie den Satz vollendet hatte. Bloß weg von hier!, dachte er. Weg aus diesem Albtraum. Weg aus dieser Stadt. Weit weg!
Als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fiel, übergab sich Toni erneut keuchend und hustend auf die Marmorfliesen.
Shane tätschelte ihm den Rücken. »Ist okay, lass es raus. Das ging uns allen so am Anfang.«
»Was zur Hölle war das?«, fragte Toni, als er seinen Magen wieder im Griff hatte. »Ein Vam…«, wollte Toni sagen, doch Shane presste ihm die Hand fest auf den Mund.
»Nicht hier«, flüsterte er in ungewohnt ernstem Ton.
Sie zerrten Toni hinter sich her, zurück zum Minivan. Nachdem sie eingestiegen waren, verriegelte Shane die Türen und vergewisserte sich, dass kein Fenster geöffnet war.
»Ja, Vlad ist ein Vampir. Genauer gesagt ist er sogar der Vampir. Der erste seiner Art«, erklärte der Hüne. »Was ist daran nicht zu verstehen?«
»Aber wie ist das möglich?«
Noriko lachte und reichte Toni ein Pfefferminz. »Die eigentliche Frage lautet, wie es nicht möglich sein sollte.«
Shane nickte. »Sie hat recht. Man kann nicht als wahrhaft gläubiger Mensch leben und dann nicht auch an die Hölle glauben. Oder andere Kreaturen, die man am liebsten in die schlimmsten Albträume verbannen würde. Es gibt so viele Berichte, in denen die Kirche gegen Halbwesen gekämpft hat, Toni, die sind keine bloße Erfindung.«
Toni atmete tief durch. »Also schön … ich … glaube euch … Aber was macht Dracula in einer Plattenbausiedlung?«
Shane lachte. »D. ist ein Opfer des Fortschritts. Früher war es einfacher für ihn. Er flog in ein Dorf, schnappte sich eine junge Frau und verschwand. Die Dörfler jammerten, doch schon hinter ihrer Dorfgrenze tat man es als abergläubisches Geschwätz ab.« Er vergewisserte sich mit einem Blick, dass Toni ihm noch immer aufmerksam folgte. »Heute setzt er nur einen Fuß vor die Tür, und fünf Minuten später findet man hundert Fotos bei Twitter und fünf Videos bei YouTube. Alle mit ’ner scheiß Handycam von Minderjährigen gemacht, die eigentlich im Bett sein müssten, sich aber lieber besaufen.«
»Die Medien funktionieren einfach viel besser und schneller«, warf Noriko ein. »Heute ist es für ihn fast unmöglich, ein Versteck zu finden.«
Der Hüne lachte. »Wir haben ihm einmal geraten, sich eine Website zuzulegen. Da könnte er um Spenden bitten oder den Leuten die Verwandlung zum Vampir verkaufen.«
»Und warum tut er das nicht?«, fragte Toni, denn trotz aller Ungeheuerlichkeit klang der Vorschlag auf eine verdrehte Weise vernünftig.
Shane und Noriko wechselten vielsagende Blicke. »Weil Vincent ihm den Arsch aufreißen würde!«, rief er schließlich. »Und sollte er es dennoch einmal tun, dann sind wir da, um das Schlimmste zu verhindern.«
Toni schüttelte abermals den Kopf. »Das alles klingt total verrückt.«
»Und dennoch sind wir die einzigen Menschen, die wirklich klar sehen«, lachte Shane und startete den Motor.
Er löste die Handbremse und wollte gerade losfahren, als Noriko ihn am Arm berührte und mit dem Kopf in Richtung Toni deutete.
Er saß im Fond des Minivans, vornübergebeugt und den Kopf in beiden Händen. Das ist total verrückt!, dachte er unentwegt. Plötzlich spürte er Shanes Blick auf sich ruhen und sah auf. »Ihr seid verrückt.«
Der rothaarige Mann musterte Toni kritisch, ließ dann aber seine strahlend weißen Zähne in einem breiten Grinsen aufblitzen. »Du siehst aus, als könntest du ’nen Kaffee vertragen.« Er drückte mehrmals einen Knopf am Autoradio, und eine Sekunde später ertönte Musik aus den Lautsprechern. »Sultans of Swing«, lachte er. »Es gibt nichts Besseres, um zu entspannen, als Dire Straits, findest du nicht?«
Noriko seufzte. »Ja, ja, Dire Straits sind die Größten, Mr MacRath, wir wissen es. Herrgott, du kommst nicht mal aus Glasgow.«
Shane grunzte ihre Bemerkung beiseite. »Aber ich hab lange da gelebt, also Klappe.« Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Und du solltest nicht in Seinem Namen fluchen.«
Im dritten Anlauf gelang es Toni schließlich, seine zittrigen Hände zu beherrschen und sich anzuschnallen.
»Na schön«, seufzte Noriko, »aber du musst uns dennoch nicht immer unter die Nase reiben, wie toll Mark Knopfler doch ist.«
Shane schnaubte verächtlich. »Er ist ein Gott an der Gitarre!«
»Ach, du darfst Seinen Namen wohl immer verwenden, was?«, hielt die junge Asiatin dagegen.
Shane kicherte. »Ich bin mir sicher, dass selbst Er sich geschmeichelt fühlt, wenn ich Mark Knopflers Gitarrenspiel mit Ihm gleichsetze.«
Noriko lachte übertrieben laut. »Eines Tages wirst du es Ihm ja selbst sagen können.«
»Könnt ihr endlich den Mund halten?«, schrie Toni plötzlich wütend. »Und mir einfach mal erklären, was hier los ist?«
»Ach ja, Kaffee!«, erinnerte sich Shane und fuhr endlich los.
»Ihr seid doch alle verrückt!«, schrie Toni seine Angst hinaus.
Noriko drehte sich zu ihm herum und sah ihm mitfühlend in die Augen. »Versuch dich zu beruhigen. Wir werden dir alle Fragen beantworten.« Sie machte eine kurze Pause und blickte betrübt zu Boden. »Es gibt jetzt kein Zurück mehr für dich.«
Toni riss entsetzt die Augen auf. »Was soll das heißen?«
Shane seufzte. »Kannst du jemals vergessen, was du gerade gesehen hast?« Er wartete Tonis Antwort nicht ab. »Das meinte Noriko. Entspann dich, du bist in Sicherheit.«
»In Sicherheit …«, wiederholte Toni. »Das Ding hatte Flügel!«
Sie hielten an einem Imbissstand und Noriko bestellte drei Kaffee zum Mitnehmen. Sobald sie wieder eingestiegen war, steuerte Shane den Parkplatz eines Supermarktes an und stellte den Van unter einem großen Baum ab.
Toni hielt den heißen Kaffee mit beiden Händen. Er blies darauf, um ihn abzukühlen, und betrachtete dabei die sich leicht kräuselnde Crema.
Shane nahm, ohne zu zögern, einen großen Schluck, die Hitze schien ihm nicht das Geringste auszumachen. »Ich kann mir vorstellen, dass das gerade etwas heftig war.«
Toni nickte und starrte weiter auf seinen Kaffee.
»Es ging aber nicht anders«, warf Noriko ein. »Was hätten wir sonst tun sollen? Dir stundenlang erzählen, wer wir sind und was wir tun?«
»Das wäre kein schlechter Anfang gewesen«, sagte Toni trocken.
»Das hättest du niemals geglaubt«, lachte der Hüne.
Toni zuckte mit den Achseln, doch Shane schüttelte entschieden den Kopf.
»Wir hätten nur stundenlang diskutiert, ob es Wesen wie Dracula nun gibt oder nicht. Und am Ende wären wir doch zu ihm gefahren.«
»Wir haben das alle durchgemacht am Anfang«, sagte Noriko mitfühlend. »Aber du gewöhnst dich dran.«
»An die Wunder.«
»Wunder?«, fragte Toni ungläubig. »Wie wäre es mit Monster?«
»Sicher. Ein paar fiese Sachen sind auch dabei. Aber dafür gehörst du zu den wenigen Menschen, die die Wahrheit kennen«, versicherte Shane.
Toni schnaubte verächtlich. »Darauf hätte ich verzichten können.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht hätte ich mir einen seriösen Bankjob suchen sollen.«
Shane lachte laut. »Ich für meinen Teil … ich bin zu alt, um seriös zu sein.« Er blickte durch das Fenster des Vans und betrachtete den Eingang des Supermarktes. Sieh sie dir an.« Shane deutete mit einem Kopfnicken hinüber. Eine junge Frau kämpfte gerade mit einem voll beladenen Einkaufswagen und ihren zwei Kindern, die sie beide in unterschiedliche Richtungen zerrten. »Willst du so ein Leben führen?«
Toni beobachtete die Frau einen Moment. Sie hatte sichtliche Mühe mit ihren Einkäufen, aber im Umgang mit ihren Kindern schien sie – trotz allen Stresses – liebevoll und glücklich. Zumindest lächelte sie, und Toni glaubte, dass es von Herzen kam. »Sie scheint mir zufrieden zu sein. Was ist an einem solchen Leben auszusetzen?«
»Gar nichts«, erwiderte Shane. »Aber um ihr behütetes Leben zu ermöglichen, muss es Menschen wie uns geben, verstehst du?«
Toni zuckte stumm mit den Schultern. »Und dieser Vincent …?«
»… ist kompliziert«, warf Noriko ein, bevor Shane etwas sagen konnte.
»Wir zeigen dir lieber erst noch ein paar andere unserer üblichen … Kontakte«, ergänzte Shane. »Vincent lernst du heute Abend kennen.«
Toni nickte und starrte wieder auf seinen Kaffee.
Der Klingelton von Norikos Handy zerriss die aufkommende Stille. »Es ist Alfred«, sagte sie nach einem Blick auf das leuchtende Display und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Ja? … Ich verstehe … Bis gleich.« Sie legte auf und bedachte Shane mit einem ernsten Blick. »Vincent will, dass wir sofort zurück ins Nest kommen.«
»Nest? Nennt ihr so die Kirche?«
»Jep.« Shane leerte den Kaffee in einem Zug und zerknüllte den Becher. »Scheint, als wäre die Tour schon beendet!« Er startete den Motor und schaltete den CD-Player ein. Er klickte sich durch die Lieder, bis er »Live a Lie« von Default fand.
Toni mochte den Song. Er betrachtete den rothaarigen Hünen, wie er mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad trommelte und den Text lautlos mitsprach. Shane wirkte leicht zu durchschauen und unbekümmert, und Toni fragte sich, ob man diese Aufgabe nur so bewältigen könnte. Wie auch immer, dachte er achselzuckend, seine Musikauswahl gefällt mir.
Ihm brummte der Kopf, als wenn ein ganzer Bienenschwarm darin tobte. Was er gesehen hatte, konnte – durfte – nicht real sein, dennoch hatte er es erlebt.
»All die Wunder und Schrecken der Vergangenheit«, flüsterte er vor sich hin.