Dreizehn
Zu Tonis Erleichterung wurde Norikos Laune gegen Abend bedeutend besser. Ob das nun daran lag, dass Vincent während ihrer Abwesenheit wieder ins Nest zurückgekehrt war oder dass Shane sich noch einmal entschuldigte, konnte er nicht sagen, aber für Toni war im Augenblick vor allem entscheidend, dass die kleine Welt, in der er mittlerweile gefangen war, funktionierte und sich weiterdrehte.
Am späten Nachmittag rief Alfred sie alle zu sich in die kleine Wohnung. Vincent war schon da und saß in dem Sessel, der sonst Alfred als Sitzmöbel diente. Toni stutzte für einen kurzen Moment. Außer im Van hatte er Vincent noch nie sitzen sehen. Und wenn der Anblick auch völlig gewöhnlich – ja sogar banal – war, die Tatsache, dass ein göttliches Wesen dort saß, war es ganz und gar nicht.
Toni konnte die Tatsache, dass Vincent ein Engel war, zwar akzeptieren, ebenso wie er akzeptierte, dass es Dämonen und andere Monster gab, es begreifen und verarbeiten konnte er jedoch noch immer nicht. Vincent würde für immer ein Rätsel für ihn bleiben.
Vielleicht meint Shane das damit, wenn er davon spricht, Vincent wirklich zu sehen, dachte er.
Noch ehe sie sich hingesetzt hatten und Alfred sie fragen konnte, welchen Tee sie trinken wollten, ergriff Vincent auch das Wort. Seine Stimme war durchdringend und wohlklingend. Toni fühlte, wie ihm warm ums Herz wurde, wenn der Engel sprach. Allerdings war das auch der einzige Unterschied zur Stimme eines Menschen, wie er fand.
»Samira hat Nathan bei seinem Plan geholfen«, sagte Vincent.
Shane nickte. »Okay, das ist Kacke.«
»Wie viele konnte er durch ihre Hilfe holen, was denkst du?«, fragte Noriko besorgt.
Vincent zuckte mit den Schultern, wobei er kaum eine Bewegung machte.
Toni fragte sich unwillkürlich, ob der Engel nicht bloß die Idee einer Bewegung per Telepathie in seinen Kopf pflanzte. Eine Illusion, die ihn uns überhaupt erst als menschlich wahrnehmen lässt und seine wirkliche Gestalt verbirgt.
»Was will er überhaupt?«, platzte Toni heraus. Die Frage brannte ihm seit Tagen auf den Lippen, doch sobald er sie laut ausgesprochen hatte, erschien sie ihm dumm und unpassend.
Vincent wandte ihm den Kopf zu, wobei ein Hauch von Langeweile über sein Gesicht zu huschen schien. »Nathaniel will die Tore der Hölle öffnen. Damit Luzifer wieder auf Erden wandeln kann.«
Toni nickte und dachte kurz über die Worte nach. »Ich dachte, nur Gott könnte das?«
»Gott gab den Menschen ein Versprechen«, sagte Alfred und räusperte sich verlegen. Er blickte Vincent fragend an, doch der Engel hatte keine Einwände, dass der Pfarrer die Erklärung lieferte. »Er versprach uns das Paradies auf Erden.«
»Aber Adam und Eva wurden aus dem Garten Eden vertrieben!«, hielt Toni dagegen.
Alfred nickte. »Du darfst nicht alles – vor allem die Texte des Alten Testaments – so wörtlich nehmen, Antonio. Der Sündenfall ist eher ein Gleichnis. Er zeigt auf, dass die Menschheit noch nicht für das Paradies bereit ist.«
»Immer wieder kamen Propheten daher und predigten das Paradies«, warf Shane ein. »Aber sie waren auch immer eine Art Test Gottes. Nimm Jesus als Beispiel. Ob er Gottes Sohn war oder nicht, auch er sprach vom Paradies. Und was ist passiert? Man hat ihn ans Kreuz genagelt.«
Toni nickte langsam, war sich aber nicht sicher, ob er dem Gedanken folgen konnte.
Alfred fuhr fort. »Die Menschheit ist nicht bereit für das Paradies. Noch nicht.«
»Und was geschieht, wenn wir es sind?«
Alfred stand lächelnd auf und verschwand in einem anderen Zimmer der kleinen Wohnung. Wenig später kam er zurück und trug einen tönernen Blumentopf, in dem eine winzige grüne Pflanze inmitten von feuchter Erde saß. Er stellte den Topf feierlich auf den Couchtisch und setzte sich wieder.
Toni wollte bereits eine Frage stellen, als er bemerkte, mit welcher Ehrfurcht die anderen die kleine Pflanze betrachteten. Selbst Vincent schien ergriffen.
»Der Baum des Lebens«, sagte Alfred feierlich. »Oder vielmehr sein Setzling.«
Toni runzelte die Stirn. »Wie ist das möglich?«
»Seit Anbeginn der Zeit«, ergriff Vincent das Wort, »bewachen wir Engel den Keimling. Er ist Gottes Versprechen.«
»Wie soll ein Baum …« Vincents strenger Blick brachte ihn zum Schweigen.
»Wenn die Menschen bereit sind für das Paradies, dann wird der Baum wachsen und gedeihen. Er wird Wurzeln in die Welt schlagen und die Menschen werden wieder im Garten Eden leben. Es wird keine Kriege mehr geben, kein Leid. Ihr werdet weder Hitze noch Kälte mehr kennen. Euer Leben wird vollkommen sein.«
Eine Weile starrte Toni den unscheinbaren Setzling an. Es war kaum mehr als ein zu dick geratener Grashalm, doch auf irgendeine Art spürte Toni, dass der Tontopf mit dem Keimling etwas Erhabenes verströmte. »Und warum lassen wir ihn nicht wachsen?«
Vincent schüttelte den Kopf. »Weil ihr nicht bereit dafür seid. Und vermutlich werdet ihr es niemals sein.«
»Aber wenn Nathan damit die Hölle öffnen kann … warum zerstören wir ihn dann nicht?«
Alfred schüttelte energisch den Kopf und sprang auf, stellte sich schützend vor den Blumentopf. »Nein! Die Menschheit mag jetzt noch nicht dafür bereit sein, aber es wird der Tag kommen. Und dann wird der Himmel auf Erden herrschen.«
»Und es braucht mehr als den Keimling«, sagte Vincent tonlos. »Es fehlt ein geeignetes Gefäß – eine Erleuchtete.«
»Erleuchtete?«
Vincent überging seine Frage, seine Augen starrten ins Leere und er schien in längst vergangene Zeiten abzudriften. »Doch seit Celine gab es niemals wieder eine Frau, die vom Geist berührt war.«
Toni entging nicht, dass Noriko betrübt zu Boden blickte. Wer auch immer Celine war, dachte er, sie muss Vincent viel bedeutet haben … sofern er zu Gefühlen in der Lage ist.
Alfred beantwortete auch diese Frage für den Engel. »Eine Erleuchtete ist eine Frau, die von Gottes Segen erfüllt ist. Sie sieht die Wahrheit in allen Dingen. Sie kann den Baum des Lebens wachsen lassen.«
»Wie?« Toni konnte noch immer nicht fassen, worüber sie da sprachen, aber seit einigen Tagen lag nichts mehr außerhalb des Möglichen.
»Indem einer der Wächter des Baumes ihn in sich aufnimmt und so selbst zur Saat des Lebens wird«, sagte Vincent. »Dann wählt er ein sterbliches Leben und vereinigt sich mit der Erleuchteten. Und aus dieser Verbindung wird das Paradies neu entstehen.«
»Ah … ja …« Toni nickte ungläubig, versuchte das Gesagte zu sortieren. »Aber was hat Nathan davon?«
Vincent zuckte mit den Schultern. »Im Grunde nichts, denn er weiß nicht, dass der Keimling noch existiert.«
»Aber sollte er eine Erleuchtete finden …«, sagte Alfred düster.
»… dann könnte er mit ihrem Körper die Tore der Hölle öffnen«, vollendete Vincent den Satz. »Die Verbindung mit einem Diener Luzifers würde den Lebensbaum korrumpieren und anstelle des Garten Eden die Hölle entstehen lassen.«
Toni runzelte die Stirn. Ihm war nicht entgangen, dass Noriko seit einer Weile schweigsam in ihre Teetasse starrte. Es muss hart für sie sein, dachte er. Zu wissen, dass Vincent für sie niemals die Sterblichkeit wählen würde, weil sie keine Erleuchtete ist. Es muss schwer sein, mit Gefühlen zu leben, die niemals erwidert werden.
»Du hast doch gesehen, was Dämonen mit Menschen anstellen«, sagte Shane. »Nun stell dir vor, einer von den Wichsern greift sich den Lebensbaum und findet dann eine Erleuchtete.«
Vincent erhob sich langsam und anmutig. Seine Bewegungen schienen immer absolut perfekt zu sein. »Ihr solltet euch ausruhen, morgen wird ein langer Tag.«
»Gehen wir heute Nacht nicht raus?«, fragte Shane verwirrt.
Vincent schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wo Nathan morgen Abend sein wird. Und er wird sicher nicht allein dort sein.« Dann verließ er ohne ein weiteres Wort die Wohnung.
»Wo geht er hin?«, fragte Toni.
Shane zuckte mit den Schultern. »Meistens sitzt er unten vorm Altar.«
»Die ganze Nacht?«
Alfred brachte den Setzling zurück in das kleine Zimmer und kehrte mit einem Teeservice zurück. »Vincent hat am Vormittag bereits einen Imp gebannt und war bei Samira. Vermutlich droht uns heute keine unmittelbare Gefahr.«
»Da war er ja wirklich tüchtig im Namen des Herrn«, lachte Shane und goss heißes Wasser in eine Tasse.
»Oder er muss sich einfach ausruhen«, überlegte Toni laut.
Shane lachte wieder. Diesmal noch lauter. »Ausruhen? Vincent? Du kapierst es noch immer nicht, was?«
Toni seufzte. »Wie soll man das auch verstehen?« Er blickte Alfred fragend an. »Wie soll sich jemand mit einem Baum vereinen?«
Alfred lächelte und nickte verstehend. »Du musst noch lernen, in den abstrakten Mustern des Glaubens zu denken, Antonio.«
Noriko zog den Teebeutel mithilfe der kleinen Schnur wieder aus ihrer Tasse. »In der Mitte des Paradieses – so sagt die Legende – stehen zwei Bäume. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Sie sind eng ineinandergeschlungen und wirken fast wie eine Pflanze.«
»Manchmal wird auch nur von einem Baum gesprochen, der beide Aspekte annehmen kann«, warf Alfred ein.
»Ich kenne die Geschichten«, sagte Toni nickend. »Aber was hat das mit einer Frau zu tun?«
»Wenn wir von einer Erleuchteten sprechen, dann handelt es sich dabei um eine Frau, die wahre Erkenntnis erlangt hat, Toni«, erklärte Shane. »Als hätte sie direkt von den Früchten des Baums gekostet wie Adam und Eva.«
»Und der Baum des Lebens ist der zweite Schlüssel zum Paradies«, warf Alfred ein. »Gott hat das Paradies für die Menschen verschlossen, postierte Cherubim mit flammenden Schwertern vor seinem Eingang, die den Baum des Lebens schützten. Die Menschen verloren ihre Unsterblichkeit.«
Toni nickte zu beinahe jedem Wort. »Wie gesagt, ich kenne das Alte Testament.«
Alfred lächelte gütig. »Aber was dann geschah, das weißt du nicht, denn es steht in keiner Schrift, die ein gewöhnlicher Sterblicher jemals sehen wird. Gott trennte die Bäume voneinander und verschloss so das Paradies. Bis zu dem Tag, an dem man sie wieder zusammenführt. Dann wird das Paradies wieder auf Erden einkehren.«
»Krasser Scheiß, was?«, lachte Shane. »Das steht nicht einmal in den Apokryphen.«
Toni blickte ihn verwirrt an. »Steht da nicht sowieso nur Unsinn drin?«
Shane lachte schallend und Noriko schüttelte energisch den Kopf. »Die Apokryphen dienen der Kirche vor allem als Ablenkung. Wenn die Menschen glauben, dass sie Zugang zum geheimen und verbotenen Wissen haben, dann suchen sie nicht weiter.«
»Im Nikodemusevangelium steht, wie Adams Sohn Set vor den Toren des Paradieses um das Öl des Lebensbaumes bat, um Adam vor dem Tod zu retten. Michael verweigerte es ihm, gab ihm aber einen Zweig des Lebensbaumes. Später wurde aus diesem Holz das Jesuskreuz gemacht«, sinnierte Shane. »Klingt ziemlich verrückt. Jeder Normalsterbliche wird das als unglaublich abtun. Und wird nicht nach den viel verstörenderen Wahrheiten suchen.«
»Jesus verkörperte den Baum der Erkenntnis«, ergänzte Alfred. »Durch seine Kreuzigung waren beide Bäume wieder vereint, und das hätte uns das Paradies bringen sollen …«
»Was ging schief ?«, fragte Toni neugierig. Die Geschichte klang zwar immer unglaublicher, aber sie passte so perfekt in das Bild der letzten Tage, dass er sie keine Sekunde anzweifelte.
»Es funktioniert nicht mit einem toten Baum des Lebens«, sagte Shane und schlug sich dabei mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Eigentlich ziemlich einleuchtend, wenn man darüber nachdenkt.«
»Und dieser kleine Setzling«, begann Toni, »das ist der Baum des Lebens? Dessen Öl unsterblich macht?«
Alfred nickte. »Ganz recht, er ist ein Teil von Gottes Versprechen.«
»Und was macht er dann hier?«
»Vincent ist einer seiner Bewacher«, erklärte Noriko. »Einer der Cherubim, die Gott am Eingang des Paradieses postierte.«
»Und nachdem Gott den Laden dichtgemacht hatte, war es seine und Nathaniels Aufgabe, den Lebensbaum zu bewachen«, warf Shane ein.
Toni verschüttete die Hälfte seines Tees, als die Tasse ihm beinahe aus den Fingern glitt.
Shane klopfte ihm lachend auf die Schulter, wodurch auch noch die andere Hälfte des Tees sich über den Teppich verteilte. »Und du dachtest schon, es könnte nicht mehr verrückter werden, was?«
Toni beeilte sich, die Flüssigkeit mit einer Serviette aufzuwischen, doch Alfred legte ihm lächelnd die Hand auf den Unterarm. »Keine Sorge, Antonio, dieser Teppich hat weiß Gott schon Schlimmeres erlebt.«
Toni atmete tief durch. »Ich muss gestehen, die Stelle hier hält einige Überraschungen bereit.«
Alfred drückte warmherzig seinen Arm. »Aber ich sehe, dass du stark im Glauben bist. Rom hat richtig getan, dich zu uns zu schicken.«
»Und wenn wir eine Erleuchtete finden? Was dann?«
Alfred lächelte verklärt. »Dann erfüllt sich vielleicht Gottes Versprechen.«