Sieben
Sie musste ihre Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass er da war. Und ihre Augen hätten ihr in der vollkommenen Finsternis ihres Schlafzimmers ohnehin keinen Dienst erwiesen. Es war, als flirrte die Luft wie an einem heißen Tag. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, als würde sie ins Maul einer wilden Bestie blicken, und ein seltsames Gefühl der Ruhe überkam sie. Dass sie all diese Empfindungen auf einmal spürte, verriet ihr, dass sie einen ganz bestimmten Besucher in ihrem Schlafzimmer hatte.
Samira richtete sich langsam auf. »Was willst du?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein.
»Reden«, sagte eine warme Stimme.
Samira atmete erleichtert auf. »Nathaniel?« Sie griff neben sich und schaltete die kleine Nachttischlampe ein. Die Energiesparbirne brauchte eine Sekunde bis zur Zündung, dann hüllte sie den kleinen Raum in gedämpftes Licht.
Nathaniel stand am Fußende des Betts, mit dem Rücken zum Fenster. Die Rollläden waren heruntergelassen wie in jedem Raum der Wohnung. Und Samira war sich sicher, dass sie die Wohnungstür gut verschlossen hatte. Doch ebenso wusste sie, dass nichts von alledem Nathaniel aufhielt.
Der Engel stand einfach nur da, das schwarze Haar zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden, den Kragen des dunklen Mantels hochgeschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Züge zeigten ein müdes Lächeln, der einzige Gesichtsausdruck, den sie neben ausdruckslosem Starren jemals bei ihm gesehen hatte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe«, gestand sie. »Hat Vincent dich noch nicht gefunden?«
Nathan zuckte die Achseln, wobei er sich eigentlich kaum bewegte. Es war mehr die Andeutung einer Bewegung, die Idee davon, die in Samiras Kopf seine Gebärde lebendig wirken ließ. Er versuchte sich so menschlich wie möglich zu geben, doch er konnte niemals so ungelenk sein wie ein bloßer Mensch, das wusste sie. Alles an ihm war perfekt, und je länger sie ihm in die schwarzen Augen blickte, die wie kleine Onyxperlen glänzten, desto mehr und mehr vergaß sie die Zeit um sich herum.
Samira schüttelte heftig den Kopf. »Also, warum bist du hier?«
»Es werden mehr«, sagte Nathan.
Sie wusste, dass er mit nahezu monotoner Stimme sprach, dennoch konnte sie die himmlischen Chöre in sich spüren. Seine Stimme durchdrang jede Zelle ihres Körpers und versetzte sie in Schwingung. Ein Wort von ihm konnte sie in die höchsten Sphären heben oder für immer in den Abgrund stürzen. »Dämonen?«
»Ja.«
»Will Luzifer die Welt der Sterblichen angreifen?«
Wieder zuckte Nathan die Achseln. »Ich weiß es nicht. Darum bin ich hier.«
»Ich kann für dich nicht in die Hölle blicken … nicht noch einmal«, sagte Samira traurig. »Noch ein Blick in Luzifers Reich und meine Seele ist verloren, das weißt du!«
Nathan nickte. »Ich will auch nicht, dass du hinabblickst.«
Samira riss erschrocken die Augen auf. »Du willst es selbst tun?«
Nathan nickte. »Ich brauche Antworten.«
»Aber … aber ist es dir nicht von Gott verboten?«
»Gott hat mich verstoßen.« Selbst jetzt legte Nathan das schmale Lächeln nicht ab. »Für das Leben, das ich genommen habe.«
Samira nickte. »Celine war … kostbar.«
Nathan schüttelte den Kopf. »Nein, was sie beschützte, war kostbar. Celine war eine Heilige.«
Samira blickte ihn neugierig an. »Du hast mir nie erzählt, wie es geschehen ist.«
Nathan nickte. »Und es spielt auch keine Rolle.«
»Für mich schon«, beharrte Samira. »Ich möchte wissen, wer von euch beiden recht hat.«
Nathan schüttelte den Kopf. »Genau diese Frage hat zu dem Dilemma geführt, in dem wir stecken.«
»Wenn du es mir nicht erzählst, werde ich dir nicht helfen.« Sie verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. »Für die Hilfe allein könnte ich schon verdammt werden.«
Nathan seufzte – noch immer das milde Lächeln im Gesicht, das Samira mehr und mehr verstörte. »Also gut. Celine war die Hüterin des Paradieses. Eine Erleuchtete durch und durch. Ihr haben wir den Setzling übergeben, Vincent und ich. Und sie sollte das Paradies wieder zu euch Sterblichen bringen. Aber Luzifer versuchte mit aller Macht, es zu verhindern. Dämonen überrannten das Haus, in dem sich Celine versteckte. Und hätte Luzifer den Setzling in die Finger bekommen, alles wäre verloren gewesen.« Er machte eine Pause, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, schien ein Anflug von Bedauern über sein Gesicht zu ziehen. »Ich habe sie verbrannt. Die Dämonen, das Haus, Celine, den Setzling – alles.«
Samira schluckte schwer. Ihre Kehle war ausgetrocknet und ihr fehlten die Worte.
Er blickte ihr in die Augen. Und wenn seine Lippen auch schon wieder jenes Lächeln umspielte, in seinen Augen konnte sie die tiefe Trauer sehen. »Darum bin ich hier.«
»Du hast sie geliebt!«, sagte Samira plötzlich.
Nathan nickte. »Wir haben sie beide geliebt.«
»Aber warum hast du sie nicht gerettet?«
»Das habe ich versucht, doch ich konnte sie nicht erreichen«, sagte Nathan. »Ich konnte nur verhindern, dass Luzifer sie bekommt.«
»Ich verstehe«, sagte Samira. Es ergab tatsächlich einen gewissen Sinn. »Und deshalb macht Vincent Jagd auf dich?«
Nathan nickte. »Unter anderem.«
Samira schlug die Bettdecke zurück und stand auf. »Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, aber ich helfe dir.«
»Danke. Ich muss wissen, was Luzifer plant. In letzter Zeit werden seine Angriffe zahlreicher. Das kann kein Zufall sein.«
Sie führte den Engel ins Wohnzimmer. Dort schob sie den Couchtisch beiseite und rollte den Teppich auf. Darunter war ein Pentagramm in den Dielenboden geritzt. Aus einem kleinen Holzschränkchen holte Samira fünf dicke Kerzen, die sie auf den Eckpunkten des Pentagramms postierte.
»Stell dich in die Mitte«, wies sie Nathan an.
Er sah ihr in die Augen. »Nur ein kurzer Blick, Hexe, das ist alles, was ich will.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich garantiere für nichts.« Dann drückte sie ihm ein kleines Säckchen in die Hand. »Streu das in die Flammen und atme den Rauch ein.«
Nathan nickte. »Lass mich allein.«
Samira zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. »Ich gebe dir fünf Minuten, dann hole ich dich zurück.« Sie schloss die Tür fest hinter sich ab. Was auch immer gleich in ihrem Wohnzimmer geschehen würde, sie wollte es nicht wissen.
Samira hatte bereits einen Blick in die Hölle geworfen, und dabei ihre Seele aufs Spiel gesetzt. Sie wusste, dass sie ihre Begegnung mit Luzifers Welt früher oder später einholen würde, doch für den Moment bewahrte sie sich die Hoffnung auf die Erlösung nach dem Tod.
Die fünf Minuten erschienen ihr beinahe wie eine Ewigkeit. Und wie viel länger mussten sie erst für Nathaniel sein. Oder ist ein Engel vor den Schrecken der Hölle gefeit?, fragte sie sich. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass Luzifer selbst ja einst ein Engel gewesen war. Und selbst das hatte ihn nicht davor bewahrt, dem Schrecken zu verfallen.
Samira öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hindurch. Nathan stand reglos in der Mitte des Pentagramms, Schatten umspielten seine Erscheinung, als würde er von wilden Krähen umkreist.
Samira stieß die Tür beherzt auf und griff nach einem Flakon mit Zerstäuber. Früher war darin einmal teures Parfüm gewesen, nun etwas viel Wertvolleres: die Tränen einer Madonnenstatue.
In einer kleinen Kirche in Spanien hatte sie einst die Statue gefunden. An ihr war im Grunde nichts Besonderes, doch von Zeit zu Zeit begann die Madonna zu weinen. Samira kannte den Trick, es gab Steine, die tagsüber Wasser aus der Luft sogen und es nachts wieder absonderten. Doch an dieser Statue hatte man keinen Schwindel feststellen können. Und bevor der Vatikan sie konfiszieren konnte, hatte sie sich einen Flakon mit den Madonnentränen gefüllt.
Nun sprühte sie das Wasser in die Kerzenflammen und löschte sie.
Dann wartete sie einen Moment. Wird er den Weg zurückfinden?, fragte sie sich. Hat er überhaupt eine Seele, die den Weg zurückfinden könnte?
Plötzlich riss Nathan die Augen weit auf und starrte sie an.
Und zum zweiten Mal in dieser Nacht sah sie einen neuen Gesichtsausdruck an ihm.
Entsetzen.