15. Kapitel

Willkommen in Absurdistan

»Das Leben ist ein Irrenhaus, und wir bei der Astro-Hotline sitzen in der Zentrale« – vermutlich habe nicht nur ich das unzählige Male schon gedacht, sondern auch Sie beim Lesen dieses Buches. Und ich gebe Ihnen hier noch ein paar weitere Gründe dafür.

Die meisten Anrufer erwarteten eine 24-stündige Erreichbarkeit. War ich im Offline-Modus, klingelte alsbald mein Handy, und eine nette Mitarbeiterin vom Support-Team meldete sich.

Support-Team: »Hallo Frau Wagner, hier ist Frau Schnieder vom Astro-Support-Team. Der Kunde Hutzelputz möchte von ihnen umgehend zurückgerufen werden.«

Ich: »Hallo Frau Schnieder, das ist wundervoll, aber ich befinde mich gerade auf meiner weltlichen Arbeit und kann den Kunden Hutzelputz nicht umgehend zurückrufen. Er müsste sich schon bis heute Abend gedulden.«

Support-Team: »Das ist sehr schade, Frau Wagner. Ich werde es dem Kunden so ausrichten und ihm außerdem noch einen anderen Berater vorschlagen.«

Ich: »Tun Sie das. Vielen Dank für den Anruf.«

Ich verabschiedete mich nicht mit »Auf Wiederhören«, es bestand durchaus die Gefahr, dass Frau Schnieder dies wörtlich genommen hätte.

Und glauben Sie nicht, der Kunde Hutzelputz hätte auf einen anderen Lebensberater zurückgegriffen. Kaum hatte ich mich am Abend eingeloggt, klingelte mein Telefon, und das Kundenfenster von Hutzelputz öffnete sich.

Ich: »Guten Abend. Hier spricht Bianca.«

Hutzelputz: »Na endlich, wurde auch langsam Zeit. Guten Abend.«

Ich: »Äh … Was wurde genau Zeit?«

Hutzelputz: »Ich habe den ganzen Tag ständig dein Profil angeklickt, und du warst nicht erreichbar. Außerdem ist mir aufgefallen, dass du in den letzten Tagen nur 14 Beratungsgespräche geführt hast.«

Aha, ein Stalker. Ein ziemlich dreister noch dazu.

Ich: »Schön, dass du mich so genau beobachtest. Wo liegt denn das Problem?«

Hutzelputz: »Du willst wissen, wo das Problem liegt? Ich probiere schon seit mehreren Tagen dich zu erreichen, und nie bist du da. So was kann man doch nicht Kundenservice nennen! Das ist das Problem!«

Erst hatte mich Hutzelputz während der Arbeit anrufen lassen, dann stalkte er mich, stellte sich am Telefon nicht einmal mit seinem Namen vor, und jetzt machte er mir auch noch Vorhaltungen? Irgendetwas lief hier völlig falsch.

Ich: »Lieber Hutzelputz, ich fühle mich durchaus geschmeichelt, dass du so großen Wert auf eine Lebensberatung bei mir legst, aber ich möchte dich darauf aufmerksam machen, dass dir, wenn ich nicht erreichbar bin, mindestens tausend andere Berater zur Auswahl stehen.«

Hutzelputz: »Das ist doch keine Rechtfertigung für deine Nicht-Erreichbarkeit. Und außerdem heiße ich nicht Hutzelputz. Ich bin der Hans-Georg.«

Ich: »Hans-Georg, ich übe meine Beratertätigkeit selbstständig aus, sodass ich flexible Arbeitszeiten habe, die keiner Weisung unterliegen. Das bedeutet im Klartext, ich kann so oft oder so selten erreichbar sein, wie es mir beliebt. Sollte ich nicht da sein, dann greife bitte auf einen anderen Berater zurück.«

Hutzelputz: »Ich wollte aber speziell mit dir reden …«

Ich: »Das tust du gerade. Also, schieß los, was kann ich für dich tun?«

Die Kundenbetreuung war montags bis sonntags bis 24 Uhr erreichbar. Ab dann waren die Kunden sich bis zum nächsten Morgen selbst überlassen. Ich war froh darüber, denn so war ich vor nächtlichen Anrufen vom Kundenservice geschützt. Nachts wurden viele Ratsuchende nämlich erst richtig munter. Wenn ich morgens meine E-Mails checkte, hatte ich durchschnittlich 15 Rückrufbitten aus der Zeit von 24 Uhr bis 6 Uhr morgens. Und das trotz Offline-Modus! Was sich wohl die Kunden dabei dachten? Es ist nachts, und die Beraterin Bianca Wagner ist nicht erreichbar – was könnte das bedeuten? Sie schläft? Bingo! Doch darauf kam längst nicht jeder Kunde. Die durchschnittlich 15 Anrufer schienen zu glauben, dass wir Berater auf dem fernen Stern Esoterika lebten und keinen Schlaf benötigten. Dass sie sich spontan um 3 Uhr nachts dazu entscheiden, aus Jux und Dollerei Karten zu legen. Leider musste ich diese Leute enttäuschen. Wir Berater müssen gelegentlich sogar aufs Klo.

Neben den Stalkern existierten auch die sogenannten »Daily Caller«. Das waren Kunden, die täglich anriefen, um jedes Mal die gleichen Fragen zu stellen. Bei »Daily Callern« handelte es sich zumeist um sehr verunsicherte und ängstliche Personen. Hier galt es Haltung zu bewahren und sich in Geduld zu üben. Sie denken bestimmt, es wäre leicht verdientes Geld, ständig die gleichen Antworten herunterzuleiern. Möglich. Spätestens nach dem zehnten Tag in Folge beginnen Sie sich allerdings zu fragen, wer hier eigentlich verrückt ist – der Anrufer oder gar Sie.

Eines Tages erhielt ich einen besonderen Anruf. Ich hob ab und vernahm ein Knacken in der Leitung.

Ich: »Hallo?«

Nichts.

Ich: »Hallo, ist da jemand?«

Anrufer: »Hallo Bianca, Heike ist am Telefon.«

Die Stimme der Anruferin war nur ein leises Flüstern in meinem Ohr.

Ich: »Hallo Heike, ich höre dich nur ganz leise.«

Anrufer: »Ich kann leider nicht lauter sprechen.«

Ich: »Okay.«

Anrufer: »Ich stecke in einer sehr komplizierten Situation. Im Moment befinde ich mich in der geschlossenen Psychiatrie, und meine Mutter und mein Bruder ebenfalls, aber in einer anderen Klinik.«

Wie in Gottes Namen hat sie es geschafft, bei einer Astro-Hotline anzurufen?

Ich: »Entschuldige, wie kannst du mich dann anrufen? Darf man das denn?«

Anrufer: »Nein, das dürfen wir nicht, und es würde von dem Telefon der Abteilung auch nicht gehen, weil es keine Tastatur hat, mit der man akustische Signale erzeugen kann.«

Ich: »Und womit telefonierst du jetzt gerade?«

Anrufer: »Mein Vater hat mir geholfen, ein Handy einzuschmuggeln, aber ich darf mich damit nicht erwischen lassen.«

Ich war baff.

Ich: »Ach so. Okay. Was kann ich für dich tun?«

Anrufer: »Ich wollte nur nachfragen, ob es in unserer Familie irgendwann mal besser wird und wir alle eines Tages aus der Psychiatrie herauskommen.«

Jetzt musste ich tief durchatmen. Heike und ihr Schicksal berührten mich. Ich legte für sie und ihre Familie ein Kartenbild. Sie, ihre Eltern und Geschwister litten offensichtlich an starken Depressionen. Doch ich konnte ein Licht am Ende des Tunnels für Heike und ihre Familie erkennen. Sie hatten zwar alle noch intensive Therapien vor sich, aber am Ende würden sie ihre Krankheit mithilfe von Medikamenten in den Griff bekommen. Ich führte ein sehr angenehmes Gespräch mit Heike, und zum Schluss bedankte sie sich mehrmals bei mir für die Beratung. Heike rief mich zwar aus einer geschlossenen Abteilung an, doch sie war weitaus bodenständiger, freundlicher und ja, ich würde sogar fast behaupten normaler als einige andere meiner hartnäckigen Fälle, die sich in freier Wildbahn bewegen durften.

Eine Dame, der ich umgehend eine Einweisung in die geschlossene Abteilung ausgestellt hätte, war meine Kundin Lightangel. Ihr Anliegen war die sogenannte »Lichtnahrung«. Die Lichtnahrung (oder »Breatharianismus«) ist eine sehr umstrittene esoterische Methode, bei der die für den Menschen notwendige Energie nicht aus fester oder flüssiger Nahrung, sondern rein aus feinstofflicher Energie – nämlich Licht – gewonnen werden soll. Wissenschaftlich konnte bislang nicht nachgewiesen werden, dass man so tatsächlich dauerhaft überleben kann. Medizinisch gesehen würde diese Methode früher oder später zwangsläufig zum Tod führen.

Mit Lightangel hatte ich zuvor schon drei Gespräche geführt. Die Kundin war bereits länger damit beschäftigt, sich selbst zu finden und dabei die gesamte Palette der esoterischen Lebensmethoden auszuprobieren.

Lightangel: »Hallo Bianca, hier ist mal wieder die Bruni.«

Ich: »Hallo Bruni. Wie geht es dir, und was kann ich für dich tun?«

Lightangel: »Danke, sehr gut geht es mir. Ich habe heute eine Frage, zu der ich erst einmal gar nicht so viel erzählen möchte, um dich nicht zu beeinflussen.«

Ich: »Okay.«

Das machte mich ein wenig stutzig. Was jetzt wohl kommen würde?

Lightangel: »Schau mal bitte auf mich und meine Familie. Wir möchten alle zusammen eine Ernährungsumstellung machen. Mich würde interessieren, ob mein Mann, meine Kinder und ich das gut schaffen werden.«

In den Karten konnte ich nur mäßige Erfolge erkennen.

Ich: »Bei deinen Kindern wird es nicht funktionieren, und dein Mann wird ebenfalls nach kurzer Zeit das Handtuch werfen.«

Lightangel: »Schade. Werde ich es denn schaffen?«

Ich: »Du wirst auf jeden Fall länger durchhalten.«

Lightangel: »Ich habe mir ganz fest vorgenommen, das zu schaffen.«

Ich: »Darf ich fragen, um welche Art von Ernährungsumstellung es sich handelt?«

Lightangel: »Es geht um Lichtnahrung. Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast?«

Ich hatte davon gelesen und war gelinde gesagt geschockt, dass es tatsächlich Menschen gab, die sich ernsthaft mit diesem absurden Quatsch beschäftigten.

Ich: »Äh … und was sagt dein Arzt dazu?«

Das war mir so herausgerutscht.

Lightangel: »Ich gehe deswegen doch nicht zum Arzt. Der würde das gar nicht verstehen und mir sicher davon abraten.«

Oder dich in Therapie schicken, dachte ich.

Ich: »Und was hast du genau vor?«

Lightangel: »Ich werde zehn Tage lang nichts essen und trinken, damit sich mein Körper daran gewöhnt, und danach nur noch Wasser zu mir nehmen.«

Ich: »Davon kannst weder du noch irgendein anderer Mensch auf Dauer existieren.«

Wenn das funktionieren würde, würden Milliarden von hungernden Menschen vor Freude in die Hände klatschen.

Lightangel: »Ja, das ist das, was alle Skeptiker sagen. Aber glaube mir, es klappt. Und überlege mal, wie viel Geld für Lebensmittel ich im Monat einsparen werde.«

Hätte ich vorher gewusst, um welches Thema sich diese Beratung drehen würde, hätte ich das Gespräch von Anfang an abgelehnt. Leider kann man aus den Karten nicht jeden Blödsinn ablesen.

Und wo wir gerade bei Blödsinn sind, bleiben wir doch noch ein bisschen und beschäftigen uns mit einem unsichtbaren Buch: der Akasha-Chronik.

Laut einer uralten indischen Überlieferung ist alles Geschehene auf einer feinstofflichen Ebene abgespeichert wie auf der Festplatte eines Computers. Diese universale Datenbank wird als »Akasha-Chronik« bezeichnet. Die darin enthaltenen Informationen sind unsichtbar und immateriell, sie enthalten alles über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der gesamten Schöpfung. Es handelt sich also um eine Art Weltgedächtnis. Angeblich gibt die Akasha-Chronik Auskunft über das vergangene, gegenwärtige und zukünftige Leben eines jeden Menschen. Viele Esoteriker und Wahrsager nehmen neuerdings für sich in Anspruch, diese Aufsehen erregende Chronik lesen zu können.

Auch von mir verlangte man das hin und wieder. Ich wies die Anrufer dann freundlich darauf hin, dass ich eine Kartenlegerin war und aus keinem unsichtbaren Buch, dessen Existenz mehr als fragwürdig ist, die Zukunft ablesen könne. Manchmal hatten die Anrufer sogar ein Einsehen und ließen sich am Ende doch lieber von mir die Lenormand-Karten legen.

Es ist eine Sache, das Profil eines Beraters nicht richtig zu lesen und eine Beratungsmethode zu verlangen, die der Lebensberater nicht im Angebot hat. Eine andere Sache ist es, den Berater am Telefon etwa als Manager einsetzen zu wollen. Genau das ist mir mit einer bekannten TV-Moderatorin passiert.

LadyChick: »Hallo Bianca, ich bin gerade im Auto unterwegs zu einem Termin für Permanent Make-up. Meinst du, ich soll das machen?«

Mal wieder die Frau Moderatorin. Sie stellte sich nie mit ihrem Namen vor, sondern schmiss mich immer direkt ins Gespräch.

Ich: »Du wirst den Termin nicht ohne Grund gemacht haben, oder?«

LadyChick: »Wegen dem Fernsehpreis habe ich den Termin gemacht. Aber jetzt sind noch so viele andere Termine dazwischen gekommen.«

Ich: »Dann geh eben nicht hin.«

LadyChick: »Ich bin doch schon auf dem Weg dorthin.«

Meine Güte. Wenn Kosmetiktermine die einzige Sorge dieser Frau darstellten, dann war wenigstens alles im grünen Bereich.

Ich: »Was soll ich dazu sagen?«

LadyChick: »Du sollst mir sagen, was ich tun soll. Ich bin jetzt gerade angekommen und laufe zum Laden.«

Ich hörte ein Glöckchen bimmeln, als sie die Tür öffnete.

Ich: »Na, wo du einmal da bist, lässt du es eben machen.«

Die Moderatorin hörte mir gar nicht zu, sondern schilderte der Inhaberin des Kosmetikinstituts bereits, dass sie den Termin nicht wahrnehmen konnte.

LadyChick: »Das ist mir zeitlich alles zu knapp. Können Sie den Termin bitte kostenlos streichen?«

Ladeninhaberin: »Nein, tut mir leid. Dafür ist es jetzt zu spät.«

LadyChick: »Einen Moment, meine Managerin ist am Telefon, ich muss gleich zu einem PR-Termin. Hier, bitte.«

Nein! Bitte lass das nicht passieren.

Ladenbesitzerin: »Gruber, guten Tag. Ich kann die Dame leider nicht kostenfrei aus dem Termin lassen. Schließlich muss ich auch sehen, wie ich klarkomme.«

Ich war völlig überrumpelt.

Ich: »Öhm … Ja, das verstehe ich natürlich.«

Die arme Frau!

Ladenbesitzerin: »Danke Ihnen. Ich gebe Sie mal wieder rüber.«

LadyChick: »Ich muss jetzt das Gespräch beenden. Tschüss.«

Ich: »Tschüss.«

Ich blieb eine Weile kopfschüttelnd auf meinem Stuhl sitzen. Ein Blick auf meine Anruferliste lieferte mir den Beweis: Dieses Gespräch hatte wahrhaftig stattgefunden.